Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Mein Vorgänger, Herr Melzer, war es gewesen, der mich einst so beeindruckt hatte, als er den Einbruch beim Juwelier Rummel beschrieben. Noch eine andere Kindheitserinnerung knüpft sich für mich an den Namen Melzer. Sein Vater war der Zuckerbäcker in der Heinrichsgasse, in dessen Schaufenster ein himmelblaues Wappenschild mit drei goldenen Lilien prangte und der Aufschrift: »Lieferant des Königs von Frankreich«. Die Melzerschen Nußbeugel waren das Lieblingsgebäck König Karls des Zehnten. »Sind die Nußbeugel nicht hart geworden, ehe sie nach Frankreich kamen?« fragte ich als Kind und wurde belehrt, daß das französische Volk den König abgesetzt habe, und er nachher mit seinem Enkel in Prag lebte. »Der kleine Bub mag sicherlich nicht mehr nach Frankreich zurück«, sagte ich. (Der »kleine Bub«, seither zum alten Baron von Frohsdorf, dem Gesellschaftslöwen der österreichischen Aristokratie geworden, hatte kurz vorher die ihm von der Regierung Mac Mahon angebotene französische Königskrone abgelehnt.) »Warum glaubst du denn, daß er nicht nach Frankreich zurück will?« fragten mich die Erwachsenen. »Weil er dort keine Melzerschen Nußbeugel bekommt.«
Herr Melzer junior hatte einen anderen Ehrgeiz als Nußbeugel umzubiegen. Er war Journalist geworden, ein guter Journalist, aber nur Quartalsarbeiter. Sogar Morde, seine Spezialität, vernachlässigte er, wenn sie außerhalb seiner Arbeitsperiode fielen. Dadurch unterschied er sich von seinem tschechischen Rivalen Wenzel Vilde, der seine angeborene Faulheit schnell überwand, wenn ein großer Fall der Behandlung harrte. Seine Frau konnte ihn nur aus dem Bett bringen mit dem Ausruf: »Wenzel, schnell, ein Raubmord!«
Was Herrn Melzer anbelangt, war er mit seinem Chefredakteur in stetem Konflikt. Deshalb entschloß er sich nach jahrzehntelanger Reporterlaufbahn, selbst Chefredakteur zu 69 werden, und zwar in der kleinen Stadt Gablonz. Dort vertrug die journalistische Arbeit einige Atempausen, wie der Vermerk beweist, der eines Tages an der Spitze des Gablonzer Blattes erschien: »Auf Wunsch zahlreicher Leser veröffentlichen wir unseren gestrigen Leitartikel heute noch einmal.« Wohlgemerkt, nicht etwa den vorgestrigen oder sonst einen, den die zahlreichen Leser schon weggeworfen haben konnten, sondern den, den sie eben vor sich hatten, als sie der Redaktion den Wunsch kundtaten, ihn morgen wieder im Blatt zu finden.
Nach Herrn Melzers Abgang wurde in seinem alten Amtsbereich, der jetzt der meinige war, noch lange debattiert, ob es eine Degradierung sei, sich mit tausend Lesern zu begnügen, wenn man für vierzehntausend schreiben könne. Ich war zu neu, um mich an diesen Gesprächen beteiligen zu dürfen, aber mir schien, daß nicht die Zahl der Leser den Wert eines Journalisten bestimme. Sonst hätten ja meine neuen Kollegen auf die Redakteure des mehrverbreiteten »Prager Tagblatt« mit Respekt blicken müssen. Das taten sie jedoch nicht, vielmehr verachteten sie die »Kommis von Mercy«.
Das »Prager Tagblatt« war in der Tat ein Geschäftsunternehmen. Gegründet von der Hugenottenfamilie Mercy als ausschließliches Inseratenblatt, fügte es erst nach und nach redaktionellen Text hinzu, den es infolge der Monopolstellung seiner »Kleinen Anzeigen« (Stellungs-, Tausch-, Altverkaufs- und Heiratsangebote) mit großen Mitteln ausbauen konnte. In diesem Textteil nahmen Nachrichten über den Kleinhandel den größten Raum ein; die Zahlungsschwierigkeiten oder der Konkurs eines Krawattengeschäftes, Warenkurse und Preise von Gänsefedern und Schweineborsten wurden mit minutiöser Gewissenhaftigkeit verzeichnet. Als Gesamttitel stand über der Rubrik »Nationalökonomisches«, was jeden Händler mit Gänsefedern und Schweineborsten zum Glauben legitimierte, er sei ein Nationalökonom. Und seine Frau dünkte sich gebildet, wenn sie die mit lateinischen Zitaten geschmückten Artikel von Heinrich Teweles las.
Langten spätabends noch Inserate ein, dann fielen ganze Seiten redaktionellen Textes weg, oder, wie man 70 euphemistisch sagte, »in den Übersatz«. Wenn sich der Verfasser eines geopferten Artikels darüber beschwerte, konnte er vom Administrationschef die Sentenz hören: »Unsere Abonnenten lesen tausendmal lieber Inserate als eure Weisheiten.«
Selbstverständlich gab es auch Ereignisse, die vor solcher Gefahr gefeit waren, und für die man Raum und Geld opferte. Während des Hilsner-Prozesses im Städtchen Pisek hatte das »Prager Tagblatt« die Weltpresse mittels der allerneuesten Erfindung überholt. Alle Korrespondenten mußten auf das Freiwerden des einzigen Telefondrahts warten, nur die des »Prager Tagblatt« jagten in einem Automobil – sie rühmten sich mit zwanzig Kilometer Stundengeschwindigkeit – nach Prag und schrieben dort ihren Bericht.
Bei der »Bohemia« dagegen herrschten patriarchalische Verhältnisse. Sie war achtzig Jahre alt und ein vornehmlich politisches Blatt. Ihre Stellungnahme galt als die aller Deutschen in Böhmen, wurde von den Provinzzeitungen nachgedruckt und an ausländische Zeitungen telefoniert. Der Prager Korrespondent der allmächtigen Wiener »Neuen Freien Presse«, Herr Hermann Katz, war gleichzeitig Redakteur der »Bohemia«, auch die Prager Korrespondenten anderer Wiener und Berliner Zeitungen saßen in unserer Redaktion.
Die Innenpolitik war ein Seilziehen darum, ob die Deutschen oder die Tschechen von seiten der österreichischen Regierung benachteiligt seien, ob der neue Postbote der Landgemeinde Melnik ein Tscheche oder ein Deutscher sein müsse, ob auf den Wegweisern im Böhmerwald die tschechischen Ortsnamen oberhalb oder unterhalb der deutschen stehen sollten. Von einer wissenschaftlichen Behandlung des Nationalitätenproblems, um das sich in jener Zeit die sozialistischen Theoretiker, insbesondere Otto Bauer und der eigens nach Österreich gekommene Kaukasier Josef Stalin ernsthaft bemühten, war keine Rede. Nur mit einigen, sich immerfort wiederholenden Zitaten versuchte die »Bohemia« der sterilen Polemik einen gebildeten Anstrich zu geben, mit einer Äußerung Mommsens über die böhmische Schädelform, oder mit dem Vers von Friedrich Hebbel: 71
Auch die Bedientenvölker rütteln
Am Bau, den jeder tot geglaubt,
Die Tschechen und Polaken schütteln
Ihr strupp'ges Karyatidenhaupt.
Als Beweis für die Bedeutungslosigkeit und Unbekanntheit der Tschechen wurde immer wieder angeführt, daß Shakespeare im »Wintermärchen« das Land Böhmen an die Meeresküste verlegt. Bei jeder Gelegenheit wurde die Fälschung der Königinhofer Handschrift aufs Tapet gebracht; ein Chefredakteur der »Bohemia«, Josef Willomitzer, hatte eine Parodie der Handschrift in Buchform veröffentlicht, der Journalist Friedrich Mauthner einen satirischen Roman »Die Böhmische Handschrift«.
Willomitzer und Mauthner gehörten übrigens nicht mehr zur journalistischen Gilde, als ich in sie eintrat. Willomitzer war gestorben und Mauthner im Ausland der große Sprachphilosoph geworden, zu dessen siebzigster Geburtstagsfeier sich die Akademien und gelehrten Gesellschaften rüsteten. Aus diesem Anlaß interviewte ich seine Schwester, eine hochbetagte Arztgattin, über seine Jugendzeit. »Ja, ja«, sagte mir die alte Dame in Erinnerungen versunken, »der Fritz, das war ein begabter Junge.« Aber plötzlich wurden ihre Züge ganz streng: »Der hätte ganz gut sein Doktorat machen können!«
Aus diesen Worten sprach das deutsche Prag. Wer keinen Titel hatte und nicht reich war, gehörte nicht dazu. Das deutsche Prag! Das waren fast ausschließlich Großbürger, Besitzer der Braunkohlengruben, Verwaltungsräte der Montan-Unternehmungen und der Skodaschen Waffenfabrik, Hopfenhändler, die zwischen Saaz und Nordamerika hin- und herfuhren, Zucker-, Textil- und Papierfabrikanten sowie Bankdirektoren; in ihrem Kreis verkehrten Professoren, höhere Offiziere und Staatsbeamte. Ein deutsches Proletariat gab es nicht. Die 25 000 Deutschen, nur fünf Prozent der Bewohnerschaft Prags, besaßen zwei prunkvolle Theater, ein riesiges Konzertgebäude, zwei Hochschulen, fünf Gymnasien und vier Oberrealschulen, zwei Tageszeitungen, die morgens und 72 abends erschienen, große Vereinsgebäude und ein reges Gesellschaftsleben.
Mit der halben Million Tschechen der Stadt pflog der Deutsche keinen außergeschäftlichen Verkehr. Niemals zündete er sich mit einem Streichholz des Tschechischen Schulengründungs-Vereins seine Zigarre an, ebensowenig ein Tscheche die seinige mit einem Streichholz aus einem Schächtelchen des Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein Tscheche im Deutschen Casino. Selbst die Instrumentalkonzerte waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffeehäuser und Geschäfte. Korso der Tschechen war die Ferdinandstraße, Korso der Deutschen »der Graben«.
In der Hussitenzeit hatten die Kirchen Prags den Utraquismus durchgesetzt, indem sie das Abendmahl in beiderlei Gestalt verabreichten. Jetzt waren sie nicht einmal in sprachlicher Beziehung utraquistisch, die Deutschen hatten ihre Stammkirchen, die Tschechen die ihren.
Die deutsche und die tschechische Universität, die tschechische und die deutsche Technische Hochschule waren einander so fern, als wäre die eine am Nordpol, die andere am Südpol. Jeder von den hundert Lehrstühlen hatte sein Pendant auf der anderssprachigen Seite, aber es gab kein gemeinsames Gebäude, keine gemeinsame Klinik, kein gemeinsames Laboratorium, keine gemeinsame Sternwarte (die eine hatte die astronomischen Instrumente Tycho de Brahes, die andere die des Johannes Kepler geerbt), keine gemeinsame Fachbibliothek und keine gemeinsame Leichenkammer. Für den Botanischen Garten der einen Universität wurde vom Südsee-Archipel eine Pflanze bestellt, die man im Botanischen Garten der anderen Universität hätte blühen sehen können, wenn dies nicht eine Mauer verhindert hätte.
Was jedem Prager selbstverständlich war, und jedem Nichtprager als unglaubwürdig erscheinen muß, um so mehr, wenn man die damalige Rolle des Theaterlebens in Betracht zieht, war dieses: kein tschechischer Bürger besuchte jemals das 73 deutsche Theater und vice versa. Gastierte im tschechischen Nationaltheater die Comédie Française oder das Moskauer Künstlertheater oder ein berühmter Sänger, so nahm die deutsche Presse nicht die geringste Notiz davon, und die Kritiker, die tagtäglich die Namen Coquelin, Stanislawski oder Schaljapin jonglierten, verfielen gar nicht auf die Idee, einer solchen Vorstellung beizuwohnen. Andererseits vollzogen sich Gastspiele im Deutschen Theater, ob es nun solche des Wiener Burgtheater-Ensembles, von Adolf von Sonnenthal oder Enrico Caruso waren, ohne Kenntnisnahme durch die tschechische Öffentlichkeit.
Daß diese Barriere zwischen den beiden nationalen Ghettos nimmermehr überschritten werde, darüber wachte auf deutscher Seite die »Bohemia« mit flammendem Schwert. Der Versuch einiger deutscher und tschechischer Schauspieler, »sich an einem Stammtisch zusammenzufinden, wurde von ihr als nationaler Verrat gegeißelt, und in diese Geißelung fiel auch die tschechische Presse ein.
Gleich bei meinem Eintritt in die Redaktion schärfte man mir die goldenen Regeln ein: kein tschechisches Wort ohne deutsche Übersetzung, denn wir muten unseren Lesern nicht zu, tschechisch zu verstehen. Bei Slava-Rufen muß in Klammern bemerkt werden, daß es sich um Hoch-Rufe handle, bei Hanba-Rufen, daß es »Nieder« bedeute. Der häufige tschechische Frauenname Blazena heißt bei uns Beatrice, Bozena bei uns Theodora (die Genannten hätten sich unter diesen Taufnamen selbst nicht erkannt). Die Brücke am Podskaler Kai, vom Stadtrat zu Ehren des großen Tschechen »Palacky-Brücke« benannt, bleibt für unsere Leser die Podskaler Brücke. Der »Sokol«, eine nach Hunderttausenden zählende Organisation, heißt »tschechische Turnervereinigung Falke«.
Als Kaiser Franz Joseph nach Prag kam, um die tschechische Jubiläumsausstellung zu besuchen, wurden Empfang, Dekorationen, Ovationen und jede Drehung der Hofkaleschenräder spaltenlang beschrieben – doch unvermittelt brach die Schilderung mit dem Satz ab: »Hierauf betrat Seine Majestät das Ausstellungsgelände.« Denn die Ausstellung wurde von 74 deutscher Seite totgeschwiegen. Nur über eine mißglückte Ballonfahrt in der Ausstellung wurde berichtet, natürlich mit Spott. Aber die Tschechen spotteten selbst darüber, und der blinde Methodius sang: »Schiffe niemals in die Luft, Daß dir nicht die Luft verpufft.«
Die »Deutsche Fortschrittspartei« war bestenfalls in der Judenfrage fortschrittlich, in nationaler und sozialer Beziehung war sie so unduldsam wie möglich – getreues Abbild der Wiener Liberalen. Selbst in Kunstfragen erwies sich die liberale Wiener und Prager Presse als konservativ, oft als reaktionär. Gegen Richard Wagner veröffentlichte sie seine »Briefe an die Putzmacherin«, Oscar Wilde warf sie Homosexualität vor, und Rodin Effekthascherei.
Wenn oben gesagt wurde, daß sich die jungen Schriftsteller und Künstler von den offiziellen deutschen Kreisen fernhielten und ostentativ im zweisprachigen Café Central verkehrten, so muß hinzugefügt werden, daß diese Fortschrittspartei sich gar nicht um sie bemühte. Die intellektuelle Jugend lehnte auch das Treiben der farbentragenden, mensurenschlagenden und kneipenden Studentenkorporationen ab. Deren Mitglieder waren »Deutschböhmen« oder »Südmährer« (den Begriff »Sudetendeutsche« gab es damals noch nicht) und der Mehrheit nach Anhänger des Abgeordneten Georg Ritter von Schönerer. Dieser Ritter Georg wollte das Schicksal aller deutschsprachigen Gaue auf Gedeih und Verderb mit dem der Hohenzollern verknüpfen. Er hatte einen Überfall auf die Redaktion des »Neuen Wiener Tagblatt« geleitet, weil dieses durch eine falsche Nachricht vom Tode Kaiser Wilhelms »eine Majestätsbeleidigung an unserem angestammten Herrn« begangen habe.
In den Wahlbezirken der Schönerer-Partei blühte der Tschechenhaß, lange bevor man der Welt melden konnte, daß die Sudetendeutschen durch den tschechoslowakischen Staat politisch unterdrückt und durch die Prager Machthaber wirtschaftlich vernichtet würden. Damals gab es keinen tschechoslowakischen Staat und die Machthaber saßen in Wien und waren Deutsche. 75
Gegen die tschechischen Sportvereine bestand ein Boykott, verhängt nach der Dezemberrevolte des Jahres 1897, von der ich als Kind am verdunkelten Fenster einen flatternden Ausläufer gesehen hatte. In jener turbulenten Woche war das Klubhaus des deutschen Ruder- und Fußballklubs »Regatta« auf der Kaiserwiese in Brand gesteckt worden von Demonstranten, die angeblich der Kapitän des tschechischen Sportklubs »Slavia«, Herr Freya, anführte. Deshalb Spielverbot. Nicht nur gegen die »Slavia«, sondern gegen alle tschechischen Sportvereine. Ein Vierteljahrhundert lang, über den Weltkrieg hinaus, dauerte dieser Boykott. Der Deutsche Fußballklub, abgekürzt D.F.C, spielte nicht gegen die Tschechen, aber es geschah, daß diese in Berlin oder Wien oder Budapest sich mit einer Mannschaft maßen, die eine Woche darauf gegen den D.F.C. antrat. Dadurch entstand eine mathematische Wissenschaft, genannt die »Papierform«; sie suchte mit Hilfe von Goal- und Eckenzahlen zu errechnen, ob D.F.C., ob »Slavia« besser sei.
Nur ein einziger deutscher Klub beteiligte sich nicht an diesem Boykott, der Fußballklub »Sturm«, dessen linker Außenstürmer ich war.
So unüberwindlich auch der Abgrund zwischen der deutschen und der tschechischen Presse klaffte, es gab dennoch geheime Brücken. Vor unserem Redaktionsgebäude sprach mich eines Tages ein tschechischer Abgeordneter an, der Präsident der Böhmischen Landes-Findelanstalt. Er wolle mir, wenn ich ihm das Redaktionsgeheimnis zusichere, eine wichtige Information geben. In einer einsamen Weinstube zeigte er mir das Verzeichnis der öffentlichen Schulen, denen die Pfleglinge der Findelanstalt zugeteilt wurden. Es waren durchweg tschechische Schulen. Demnach wurden die Findelkinder aus den deutschen Gebieten Böhmens (dreißig Prozent) ihrer Nation entfremdet, slawisiert.
Ich übergab das Verzeichnis unserer politischen Redaktion, die Zeter und Mordio schrieb. Daraufhin verteidigte die tschechische Presse das Vorgehen ihrer Findelanstalt. Der Präsident der Anstalt antwortete auch selbst »auf den 76 niederträchtigen Angriff aus dem deutschen Lager« und druckte den Jahresbericht der Wiener Landes-Findelanstalt ab, aus dem hervorging, daß die es mit den slawischen Kindern ebenso mache. Dies aber und nur dies sei verwerflich, weil Wien seine Stellung als Reichshauptstadt zur Germanisierung von Kindern aus nichtdeutschen Kronländern mißbrauche.
Immer schärfer ging die Polemik hin und her, beschäftigte Landtag und Reichstag, Verwaltungsgericht und Obersten Gerichtshof, und zog sich bis zum Amtsablauf des Präsidenten hin. Vor Beginn der Affäre hatten seine Konnationalen aus verschiedenen Gründen beschlossen, ihn nicht mehr zu kandidieren. Nunmehr wurde er einstimmig wiedergewählt – unmöglich konnte man einen Mann fallen lassen, der mitten im Kampf gegen den nationalen Feind stand.
Ich selbst schrieb keine Politik, die nationalen Streitereien gefielen mir nicht. Meine Fußballvereinigung »Sturm«, gegen die die »Bohemia« die heftigsten Notizen geschleudert hatte, bevor ich in die Redaktion eintrat, spielte weiter mit tschechischen Mannschaften. Von den Telefonistinnen des Postamts verlangte ich die Verbindung tschechisch und telefonierte aus der Redaktion mit tschechischen Beamten in ihrer Sprache. Meine Kollegen knurrten: »Wie können wir verlangen, daß man auf den Ämtern deutsch sprechen soll, wenn unsere eigenen Herren tschechisch sprechen!«
Nun wird vielleicht der Leser fragen, wieso ein journalistischer Anfänger sich solche Abweichungen von der Haltung seiner Zeitung leisten könne. Wird denn nicht selbst ein erfahrener Redakteur, der die Richtung seiner Zeitung zu bestimmen glaubt, weit mehr von ihr bestimmt?
Ja, das ist so. Aber ich hatte eine Sonderstellung. Ich verdankte sie nur der Tatsache, daß ich jung war. Die Redaktion war überaltert, und die alten Herren ließen den gewähren, der ihnen Arbeit abnahm. 77