Egon Erwin Kisch
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Egon Erwin Kisch

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Weihnachtsbescherung

»Umherzuschauen bestellt«, so erklärt Faust der schönen Helena die Aufgabe des Türmers, »scharf zu überspähn, was etwa da und dort sich melden mag.« Meine Aufgabe war die gleiche.

Mochte sich da und dort nur melden, was kaum eine kurze Notiz ergeben hätte, dann machte ich lange Berichte daraus, indem ich es mit Schilderungen des polizeilichen Alltagslebens auffüllte. Einen Raufhandel unter Prostituierten spannte ich in den Rahmen des Sittenpolizeibetriebs, anläßlich der Einlieferung eines Taschendiebs schilderte ich die anthropometrische und daktyloskopische Kartothek sowie das Verbrecheralbum, aus dem Blutfleck auf einer gefundenen Jacke ergab sich das Kriminalogische Laboratorium, und aus dem Abtransport von Bettlern der Fahrplan und die Reisevorschriften des Gefangenenwagens.

Sogar die Redaktion des »Polizei-Anzeiger der k. k. Polizeidirektion Prag« versuchte ich zu beschreiben. Ich sage »sogar« und »versuchte«, weil diese Zeitung unbeschreiblich war, nämlich unbeschreiblich langweilig – der Tatsache zum Trotz, daß sie einen beneidenswert ausgedehnten Telegrammdienst hatte, der sich auf Verbrechen und Vergehen bezog. Aber die Nachrichten bestanden nur aus Aufzählungen, Namen, Abkürzungen und Nummern; im Inlandsteil standen die Verzeichnisse verlorener und gestohlener Gegenstände und die Personalbeschreibungen von Landstreichern, Geflügeldieben und dergleichen, im Auslandsteil die Steckbriefe, die mittels Zirkulartelegramm automatisch von allen Polizeibehörden Europas einlangten.

Ein einziges Mal hatte auch dieses Wochenblatt eine große Originalnachricht enthalten, eine internationale Sensation, aber Herausgeber und Redakteur waren nichts weniger als erfreut darüber. Hätte ich diesen Vorfall erzählen dürfen, 123 dann hätte das für einen Artikel über die Polizeiredaktion genügt. Das durfte ich jedoch damals nicht, denn es handelte sich um folgenden Steckbrief:

»Nr. 1120. Kaiser Wilhelm (Sohn des in Charlottenburg bei Berlin verstorbenen Kaiser Friedrich), 41 Jahre alt, bislang in der Irrenanstalt von Professor Bülow interniert, ist vor einigen Wochen von dort entwichen und in Marienburg unter Anfällen von Redewut gesehen worden. Besondere Kennzeichen: verkürzter rechter Arm, hochgekämmtes Haar, aufwärtsgedrehter Schnurrbart und schnarrende Stimme. Nach demselben, der äußerst gemeingefährlich ist, ist eifrig zu fahnden und ein positives Resultat anher bekanntzugeben.

Pol.-Dir. Prag«

In der Tat wurde nun »eifrig gefahndet«, wenn auch nicht nach dem sub Nr. 1120 steckbrieflich Verfolgten, sondern nach dem Unbekannten, der den Fahndungsbefehl Nr. 1120 eingeschmuggelt hatte. Denn die Deutsche Reichsregierung – von sämtlichen Polizeibehörden diensteifrig aufmerksam gemacht – verlangte eilige Aufklärung und strengste Bestrafung dieser Majestätsbeleidigung. Es war mehr als eine Majestätsbeleidigung, es war ein politischer Protest gegen den Bruch einer Vereinbarung. Nach dem Flotteninterview, das Kaiser Wilhelm II. der »Daily Mail« gegeben und das im Deutschen Reichstag einen Sturm mit beinahe antimonarchistischer Tendenz hervorgerufen hatte, verpflichtete sich Kaiser Wilhelm, fürderhin mit keiner Kundgebung hervorzutreten, die nicht vom Reichskanzler Fürst Bernhard von Bülow gegengezeichnet sei. Und dennoch hatte er nun auf dem Schloß des Deutschen Ritterordens in Marienburg eine säbelrasselnde Rede gehalten.

So »eifrig gefahndet« auch wurde, ein »positives Resultat« wurde nicht bekanntgegeben, wenigstens nicht, soweit es die Person des Mystifikators betraf. Der Prager Polizeidirektor wurde in die Wüste geschickt und der Redakteur des »Polizei-Anzeigers« ins Gefangenenhaus – er konnte von Glück sagen, daß er nur als Verwalter hinkam und nicht als Häftling. An 124 seine Stelle trat ein junger Pedant, der beim Einlauf von Manuskripten scharf aufpaßte, und besonders auf solche mit dem Anfangsbuchstaben K.

Er vermochte mir nichts zu raten, was ich zum Anlaß einer Schilderung seiner »Zeitung« nehmen könnte, versprach mir jedoch, darüber nachzudenken.

Ohne Zweifel, die anderen Departements waren ergiebiger. Reichten die Erklärungen der Beamten nicht aus, so konnte ich in kriminalogischen Büchern Ergänzungen finden. Ich begann diese Art von Büchern zu sammeln und blieb ihnen fast dreißig Jahre lang treu – viertausend Werke über historisch gewordene Verbrechen, Prozesse, Kerker, Hinrichtungen enthielt meine Bibliothek und sollte dereinst als Symptomatologie und Typologie zur wissenschaftlichen Bekämpfung des Verbrechens beitragen; 1933 aber ist sie den Verbrechern selbst in die Hände gefallen und kann ihnen nun als Lehrbehelf dienen.

Wochentags ging ich nur einmal täglich zur Polizei umherzuschauen, scharf zu überspähn, was etwa da und dort sich melden mag, am Sonnabend jedoch erschien ich zweimal und überspähte noch schärfer, denn es war Ehrensache, am Sonntag einen Solokarpfen im Topf zu haben.

Begreiflicherweise wollte ich einen besonders fetten in der Weihnachtsausgabe auftischen, aber keiner ließ sich angeln, so nahe auch das Fest heranrückte. Alle Abteilungen der Polizei hatte ich bereits überspäht, vergeblich. Mehr aus Verzweiflung denn aus Hoffnung kehrte ich in der langweiligen Redaktion des langweiligen »Polizei-Anzeigers« ein.

»Nichts Neues«, sagte der Kommissar-Redakteur, und ich wollte eben gehen, als ihm ein Telegramm gebracht wurde.

»Das ist meine Weihnachtssensation«, durchzuckte es mich. Es konnte mich leicht durchzucken, da ich nichts anderes gefunden, was mich hätte durchzucken können. Ich fragte nach dem Inhalt der Depesche. Der Kommissar reichte sie mir mit boshafter Bereitwilligkeit, denn es war nur eine jener zahllosen Zirkulardepeschen, die selbst der emsigste Reporter 125 verschmäht. Sie lautete: »nachtrag zu sechzehn doppelpunkt körpergröße wolodarski nicht ungefähr hundertsechzig sondern hundertsiebzig polizeidirektion przemysl.«

Dennoch verlangte ich den Fahndungsbefehl sechzehn zu sehen, den das Telegramm richtigstellte, und fand ihn seltsamerweise nicht unter dem Schlagwort »Wolodarski«, sondern unter dem Schlagwort »Wasinski« in einer vierzehn Tage alten Nummer des »Polizei-Anzeigers«. Der Fahndungsbefehl begann mit folgenden Daten: 16. September: E., Steueramt Przemysl; 4. Oktober: E., Stadtkasse Kaschau; 20. Oktober: E. mit Wg. (2 T.) Regierungsgebäude Teschen; 6. Dezember: E., Finanzamt Olmütz. (»E.« bedeutet Einbruchdiebstahl, »Wg.« Waffengebrauch und »T.« Totschlag.)

Unter diesen Angaben dehnte sich ein Tümpel von Ziffern und Buchstaben, auf dem wie Inseln einige Namen lagen. Die »Dechiffrierung« ergab, daß der fünfundzwanzig Jahre alte ehemalige Eisendreher Wassili Wasinski aus Przemysl (besondere Kennzeichen: Daumen und Zeigefinger an der linken Hand fehlen) eine Einbrecherbande von sieben bis acht Männern befehligte: den ehemaligen Schmied und Wanderathleten Franz Adamski, geboren in Zloczow, dreißig Jahre alt, ein Meter zweiundneunzig groß, pockennarbig, Tätowierung auf dem rechten Oberarm, darstellend zwei Hanteln und ein Herz mit dem Namen »Wanda«; den etwa zweiundzwanzigjährigen Handelsangestellten Boris Brünner aus Lemberg, schwarzes oder dunkelbraunes Schnurrbärtchen, spricht polnisch, deutsch und russisch; den siebzehnjährigen Gelegenheitsarbeiter Paul Szafranski, hellrotes Haar, linkes Ohr verstümmelt; drei oder vier unbekannte Männer und jenen ungefähr hundertsechzig – nein, hundertsiebzig Zentimeter langen, achtundzwanzig Jahre alten Schlosser Wladimir Wolodarski aus Kolomea, dem die Nachtragsdepesche galt.

Die Einbrüche der Wasinski-Bande waren Ereignisse im fernen Osten der Monarchie, ich aber bedurfte eines Prager Lokalfalles und mußte daher die Verbrechergruppe auf irgendeine Weise mit Prag in Zusammenhang bringen, wenigstens in der Form, daß die Prager Polizei vor ihr gewarnt worden sei. 126 (Daß die Warnung an alle Polizeibehörden Europas ging, brauchte ich ja nicht zu erwähnen.)

Die Nummern der Przemysler, Kaschauer, Teschener und Olmützer Zeitungen, in denen über die Amtseinbrüche berichtet wurde, waren leicht beschafft, und ich studierte sie. In jeder Stadt hatte sich mein dortiger Kollege selbstverständlich nur mit dem dortigen Ereignis befaßt. Der Przemysler Reporter hatte noch nicht gewußt, daß der Einbruch im Steueramt von der Wasinski-Bande verübt wurde, hingegen verfügte er über eine Personenbeschreibung von zweien der Täter. Genauere Angaben brachte die Kaschauer Zeitung; sie stammten von einem Bürger, dessen Mieter, Polen, plötzlich verschwunden waren, unmittelbar nach dem Raub in der Stadtkasse. In Teschen war die Kolonne im Regierungsgebäude überrascht worden, konnte aber entkommen, nachdem sie zwei ihrer Verfolger durch Kopfschüsse getötet und die anderen eingeschüchtert hatte. Vor dem Gebäude des Olmützer Finanzamts war am Tage des Einbruchs ein etwa sechzehnjähriger Bursche mit Pelzmütze aufgefallen, der dort mehrere Stunden lang gewartet hatte.

Summiert ergaben der Steckbrief und die Zeitungsberichte aus den vier Städten ziemliche Klarheit über die Rollenverteilung und die Taktik der Einbrecher. Sie hatten zum erstenmal ihre Tätigkeit aus Galizien in ein Nachbarland verlegt; daß sie hier der Landessprache unkundig waren und deshalb auffallen mußten, schien ihnen kein so arger Nachteil wie der, daheim allzu polizeibekannt zu sein. Dieses Prinzip bauten sie aus: nach der ungarischen Stadt Kaschau wählten sie, anstatt irgendeinen nahen Ort in Ungarn heimzusuchen, das schlesische Teschen zum Arbeitsgebiet und nachher das mährische Olmütz, um nicht wieder in dem Land aufzutreten, in dem ihr letztes Verbrechen die Behörden und Zeitungen noch beschäftigte. Nie kehrten sie in einem Hotel ein, sondern mieteten eine oder zwei private Wohnungen unter den Namen Kriwow, Elsnerowicz, Dembitzky und Radowicz, auf welche ihre Papiere lauteten. Mit den Vorarbeiten zum Einbruch 127 begannen sie an Samstagabenden, um zur eigentlichen Ausplünderung die sonntägliche Amtsruhe zu benützen.

Mein Artikel gipfelte in dem Schluß, der Trupp, von Przemysl über Kaschau nach Teschen und Olmütz kommend, könne als nächste Station nur Prag gewählt haben. »Da Wasinski und seine Leute«, so schloß ich, »mit Vorliebe am Samstag und Sonntag arbeiten, werden sie gewiß die Stille des Heiligen Abends zur Vorbereitung eines großen Coups benutzen und gegebenenfalls vor einer Bluttat nicht zurückschrecken, so daß die Prager Detektive diesmal keine Weihnachtsruhe werden halten können.«

Es ist wahr, diese Folgerung war eigentlich die Voraussetzung meines Artikels. Ohne sie hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, ihn zu schreiben, hätte irgendeinen Bericht über irgendeinen Vorfall aus irgendeinem ausländischen Blatt ausschneiden können. Nur durch diese Konklusion war der Artikel zu einem lokalen gestempelt, erst durch sie war seine Ausführlichkeit begründet.

Aber so apodiktisch wurde ich nur, weil sich, während ich schrieb, die Glieder der Verbrechenreihe lückenlos ineinanderfügten und die logische Folge sich mit solcher Selbstverständlichkeit ergab, daß ich schließlich überzeugt war, die galizischen Einbrecher seien bereits in Prag und mitten in ihrer Arbeit. Zum erstenmal erlebte ich das Phänomen, durch schriftliche Festlegung eines Sachverhalts, durch graphische Deduktion zu einer Lösung des Problems zu gelangen.

Am Weihnachtsabend wird in allen Zeitungsdruckereien die Festnummer um sechs Uhr abends fertiggestellt, und Arbeiter und Angestellte verlassen den Betrieb, um im Kreise der Ihren an der Bescherung teilzunehmen. Ich aber ging, sosehr ich mich über mich lustig machte, zur Kleinseite hinüber, dem Stadtteil der Ämter, in der Hoffnung, einer Gruppe polnisch sprechender Männer zu begegnen oder vor der Staatskasse einen jungen Mann, die Pelzmütze über ein beschädigtes Ohr und rotes Haar gestülpt, Schmiere stehen zu sehen. Selbstverständlich traf ich, so scharf ich auch den wirbelnden Schnee durchspähte, nichts dergleichen an. Nur eilende 128 Menschen mit Geschenken und die letzten Spielzeugverkäufer sah ich und den Abtransport unverkaufter Tannenbäumchen.

Am nächsten Morgen erschien die Weihnachtsnummer der »Bohemia«, Leser und Leserinnen lasen meine Prophezeiung für den gestrigen Abend, als sie durch den Ruf »Extra-Ausgabe« unterbrochen wurden . . .

In der stillen Heiligen Nacht hatte sich nämlich folgendes begeben: In einem Hause nahe dem Hauptpostamt ging gegen acht Uhr abends eine Köchin in den Keller, um Wein zu holen. Unten vernahm sie Axtschläge, die ihr am Weihnachtsabend besonders verdächtig vorkamen, und sie alarmierte die Nachbarn. Als diese in den Keller hinabsteigen wollten, knallten ihnen Schüsse entgegen. Erschreckt liefen die Hausbewohner, darunter zwei als Weihnachtsmänner verkleidete Familienväter, auf die Straße. Sie sahen zu ihrem Staunen einige Männer aus dem – Nachbarhaus herausstürzen und eilten ihnen nach. Die Flüchtigen schossen und verletzten vier ihrer Verfolger.

Zufällig kam der Gefängnisaufseher des Strafgerichts, Kautsky (ein Vetter des sozialistischen Theoretikers Karl Kautsky), des Weges; mit beruflichem Griff packte er einen der Fliehenden an der Schulter, aber dieser feuerte eine Revolverkugel auf Kautsky ab, riß sich los und verschwand im Neubau eines Eckhauses. Ein anderer, ein Hüne, stolperte und stürzte zu Boden. Bevor er sich aufzurichten vermochte, umklammerten Passanten seine Arme und Beine und hielten ihn fest, bis die Polizei ihm Handschellen anlegte. Die übrigen entkamen.

Auf dem Bürgersteig vor dem Neubau lag röchelnd Gefängnisaufseher Kautsky und starrte auf die beiden über ihn gebeugten Greise mit Bärten aus Schnee und sternbesäten Mänteln. Ein Arzt stellte fest, daß für Kautsky keine Hilfe mehr möglich sei, und wandte sich den anderen vier Verletzten zu. Aus allen Fenstern schauten Menschen auf die Straße hinab, und hinter ihnen glitzerte der Glasschmuck der Weihnachtsbäume. 129

In dem Neubau, in dem der Mörder Kautskys verschwunden war, suchten Polizeimänner und Polizeihunde die Gerüste ab, die Materialaufzüge, die Ziegel- und Bretterhaufen. Ebenso wurde das Haus durchforscht, in dessen Keller die Männer überrascht worden waren; sie hatten die Wände zu den Kellern der beiden Nachbarhäuser durchbrochen, um im Falle einer Entdeckung nach verschiedenen Seiten flüchten zu können. Aus dem an die Hauptpost grenzenden Privathaus war ein Weg zum Kassenraum der Post freigelegt. Dort, wo viermalhunderttausend Kronen in bar und Postwertzeichen für etwa eine halbe Million Kronen lagen, hatten die Einbrecher während der Feiertage ihr Werk tun wollen.

Der gestolperte und festgenommene Mann war auf die Polizeiwachstube gebracht worden. Als ich dort ankam, hörte ich, wie man in allen Sprachen auf ihn einredete, denn aus einigen unverständlichen Worten, die die Fliehenden einander zugerufen, schloß man, daß es sich um Ausländer handle. Aber der flachstirnige Riese reagierte auf keines der englischen, italienischen und französischen Worte, teilnahmslos schaute er ins Leere. Neben einem verlöschten Christbaum saß er, den Rücken an die Stuhllehne gepreßt, den Kopf steif hochgereckt, die Beine gefesselt, die Hände mit Handschellen vor dem Bauch aneinandergeschlossen. Er sah aus wie ein Entfesselungskünstler bei Beginn der Vorstellung, und das Wort »Wanderathlet« fiel mir ein, das ich heute in meinem Artikel verwendet hatte.

Hinter dem Weihnachtsbaum stehend, rief ich »Adamski.«

Im gleichen Augenblick vernahm man das Klirren aneinanderschlagenden Metalls. Polizisten sprangen auf den Verhafteten zu und packten ihn an den Armen, denn sie dachten nichts anderes, als daß er seine Fesseln gesprengt habe. Aber er hatte sich nur jäh umgewandt.

Was also hatte so unheimlich geklirrt? Man tastete ihn nun gründlich ab und entdeckte sechs je einen Meter lange Eisenstäbe, die er auf den Rücken geschnallt trug, und eine Stahlschere. Die Stöcke ließen sich ineinanderschrauben, so daß die Hebellänge der Schere sechs Meter betrug. Eine Maulstange 130 von dieser Länge, deren Handhabung mehrere Männer erforderte, war noch niemals bei Geldschrankknackern gefunden worden, selbst Papacosta, der Bahnbrecher der modernen Einbruchstechnik, hatte mit einer Maulstange von nur zweieinhalb Metern gearbeitet.

Während der Besichtigung dieses erstaunlichen Instruments wandte sich Regierungsrat Olitsch an mich: »Was haben Sie denn gerufen?«

»Ich habe seinen Namen genannt.«

»Seinen Namen? Welchen Namen? Wieso wissen Sie seinen Namen?«

»Der Mann heißt Franz Adamski, ist ein Meter zweiundneunzig groß, dreißig Jahre alt, gewesener Schmied und Wanderathlet aus Zloczow und gehört der Einbrecherbande Wasinski an.«

Regierungsrat Olitsch fragte den Gefesselten: »Franz Adamski?« Der Riese hatte seinen Blick ins Leere wiedergefunden. »Tlupa Wasinski?« Er blieb stumm.

Ich ging an ihn heran und wies auf seinen Oberarm: »Wanda?« Aus pockennarbigem Gesicht richteten sich fassungslose, drohende Augen gegen mich. Man löste die Handschellen (an ihre Stelle traten mindestens zwölf Polizistenhände) und entblößte seinen Arm: zwei gekreuzte Hanteln und ein flammendes Herz mit dem Namen »Wanda«.

»Der von uns angekündigte Amtseinbruch in der Weihnachtsnacht – die Bluttat Wasinskis wirklich verübt«, stand großspurig als Überschrift auf der Extra-Ausgabe, die wir am Weihnachtsmorgen herausbrachten. Als Motto war der Schluß meines gestrigen Artikels gewählt, und der Bericht begann so: »Diese Worte haben wir gestern geschrieben. Unsere Voraussage hat sich wörtlich erfüllt. Die Prager Detektive konnten keine Weihnachtsruhe halten. Sie forschen nach der Bande Wasinskis, die den von uns angekündigten ›großen Coup‹ am Heiligen Abend mitsamt der von uns prophezeiten Bluttat in Prag verübte . . .«

Das Meldeamt war noch in der Nacht nach den Namen, die ich den galizischen, schlesischen und mährischen Zeitungen 131 entnommen hatte, ohne Ergebnis durchforscht worden. Am frühen Morgen jedoch erschien bei der Polizei ein Hausbesitzer, der von dem Verbrechen noch nichts wußte, aber im Bericht der »Bohemia« den Namen Elsnerowicz gelesen hatte; er meldete, daß in sein Haus vor ein paar Tagen ein Ingenieur Elsnerowicz mit seinen Brüdern eingezogen sei. Eilig fuhren Polizeibeamte zur Wohnung. Die Mieter waren verschwunden. Man durchsuchte die Räume und verhörte den Hausbesorger.

Inzwischen standen wir Journalisten auf dem Korridor, umgeben von den Hausbewohnern, die sich als Nachbarn von solch wichtigen Verbrechern sehr wichtig vorkamen. Sie bemühten sich, uns ihre Beobachtungen zu vermitteln, zum Beispiel, diese Kerle hätten jeden Tag ein ganzes Kilo Schinken zum Frühstück verzehrt! Aufgeregt stieß der Friseur, der im Haus seinen Laden hatte, auf uns zu, um die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, daß er einen von diesen Kerls vorgestern rasierte, und der habe es abgelehnt, sich nachher das Gesicht mit Alkohol abreiben und pudern zu lassen!

Schon das Kilo Schinken bot für die Ausforschung der Täter wenig Anhaltspunkte, wenn man es auch allenfalls in einen Zeitungsbericht einfügen konnte, aber mit dem Verzicht auf Puder und Alkohol ließ sich gar nichts anfangen.

Ein Mieter, er betonte Oberbuchhalter zu sein, wollte es unbedingt gedruckt sehen, daß ihm die Kerle gleich nicht gefallen hätten; er könne für sein diesbezügliches Urteil eine Reihe von Zeugen anführen, seine Frau zum Beispiel. Eine Mutter stellte uns ihr dreizehnjähriges Töchterchen vor, das vorgestern zu spät zum Mittagessen gekommen war, weil es einen von diesen Kerlen zum Postamt auf dem Comeniusplatz führte. Ein anderer Hausbewohner hatte einem dieser Kerle das nächste Wäschegeschäft gezeigt, wo er . . .

Der Oberbuchhalter unterbrach ihn mit der Frage an uns, ob er seine Bemerkung, daß ihm die Kerle gleich nicht gefallen hätten, den Herren von der Polizei melden solle; er habe Zeugen, seine Frau, zum Beispiel, erinnere sich ganz genau. 132

Die Mutter des dreizehnjährigen Mädchens schrie über ihn hinweg, ihr Kind sei eine volle Stunde zu spät zum Essen gekommen, wie leicht hätte der Kerl es in dieser Zeit umbringen können.

»Man müßte alle Ausländer aufhängen«, schlug eine korpulente Dame vor, »dann werden die Verbrechen in der ganzen Welt gleich aufhören. Schreiben Sie in die Zeitung, meine Herren, man soll einfach alle Ausländer aufhängen!«

Ich wandte mich an das kleine Mädchen: »Sag' mal, warum hast du den Mann nicht zum Postamt in der Tylstraße geführt? Das ist doch näher.«

»Dorthin sind wir zuerst gegangen, aber dort sagten sie ihm, man kann von dort nicht telegrafieren. So habe ich ihn zur Post auf dem Comeniusplatz geführt.«

»Die Suppe war eiskalt geworden«, rief die Mutter, »eine Stunde wegzubleiben! Na, ich hab's ihr aber gegeben.«

Ein Telegramm? Das könnte eine Spur sein. Aber würde ein Einbrecher den Anhaltspunkt zu solcher Spur in das Haus legen, das bald alarmiert sein mußte?

»Hat er dich hier im Haus angesprochen?« fragte ich das Kind.

»Nein, in der Prokopstraße, ich kam aus der Schule.«

Das Telegramm war eine Spur. Auf dem Postamt Comeniusplatz eruierte die Polizei das vorgestern mittags aufgegebene Telegramm. Es war an einen Villenbesitzer in Czernowitz (Bukowina) gerichtet, und der Absender Fritz kündigte an, er werde nach den Feiertagen mit Frau und Kind zu Besuch kommen.

Die Czernowitzer Polizei wurde verständigt, sie drang durch Tür und Fenster in die Villa ein und überwältigte Wasinski und seine Leute trotz ihrer und ihrer Revolver Gegenwehr. Einer von den beiden, die in diesem Kampf erschossen wurden, war mein Wolodarski. Er starb, ohne zu wissen, daß er den ersten Anlaß zu dem Debakel gegeben hatte, weil er zehn Zentimeter länger war, als ein Fahndungsbefehl angab.

So episch auch der Wasinski-Fall war, so elegisch sang ihn nach entsprechendem Zeitablauf der blinde Methodius in 133 unserem Hof. Diese Transponierung ins Sentimentale war einem Schmachtfetzen zu danken, der damals durch die Welt tremolierte: »Zu jener Zeit, wie liebt' ich dich, mein Leben, Ich hätt' geküßt die Spur von deinem Tritt, Hätt' gerne alles für dich hingegeben, Und dennoch: du, du hast mich nie geliebt . . .« Den Erfolg des Liedes hatte der Verfasser des Bänkels in seinen Dienst gestellt, indem er den Text umdichtete.

Die Familie des braven Kerkermeisters Kautsky harrt am Heiligen Abend ihres Ernährers, ohne zu ahnen, daß dieser zur gleichen Stunde mit dem bösesten Feind der Menschheit ringt, mit Wasinski. Während die Kinder beschenkt werden, verblutet der Vater auf dem kalten Pflaster der Heinrichsgasse.

Fehl wäre es zu glauben, eine so triste Moritat habe kein Anrecht auf ein ebenso häppisches Happy-End wie ein Rührfilm. Zwar hat der Himmel die Familie Kautsky gestraft (wofür?), aber gleichzeitig ist der Himmel voller Barmherzigkeit und verwandelt das Unglück in Glück, denn am gleichen Tage avanciert der Bruder des Getöteten zum Wachinspektor, so daß er nunmehr die verwitwete Schwägerin und die verwaisten Neffen unterstützen kann.

Für mich hatte der Wasinski-Fall nicht einmal einen so bescheidenen glücklichen Ausgang. Meine Ankündigung des Verbrechens gab dem Sicherheitsbüro nur Anlaß zu Mißtrauen gegen mich, man glaubte mir nicht, daß ein großer Zufall und eine kleine Kombination die Grundlage der Voraussage war, am unglaubhaftesten aber schien meine Behauptung, ich hätte den »Polizei-Anzeiger« gelesen.

»Gehört etwa auch das Telefonbuch zu Ihrer Lektüre?« fragte mich Regierungsrat Olitsch sarkastisch.

Eher vermutete er, daß ich überirdische oder unterirdische Beziehungen unterhalte, als daß ich meine Weisheit aus dem amtlichen Blättchen geschöpft.

Die Beamten verhielten sich von nun an reserviert gegen mich. Selbst irgendeine gewöhnliche Ergänzung zu irgendeinem gewöhnlichen Steckbrief zeigte man mir nie wieder. 134

 


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