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Nach langem Streiten ließ sich der Kommissar dazu bereit finden, die Leichen freizugeben. Sie sollten in der Nacht, um alles Aufsehen zu vermeiden, abgeholt und zeitig am nächsten Morgen beerdigt werden. Genf war gerade voll von Fremden, und die Polizei war bemüht, sie durch eine so düstere Mordaffäre nicht zu erschrecken. Also bekamen die drei Sendboten die Erlaubnis, ihre unseligen Landsleute in aller Stille beiseite zu schaffen.
»Es sind Thrazier,« sagte der Kommissar zu Roland, als sie nach der Unterredung allein in seinem Zimmer saßen. »Der Balkan ist an sich schon eine wilde Gegend, aber Thrazien ist dort unten die Gegend, wo die wildesten der Wilden wachsen.«
Thrazien? Roland erinnerte sich dunkel, einmal von einer Mordgeschichte gelesen zu haben, in der Thrazier verwickelt waren. Ein junges Mädchen erschoß mitten in Paris auf dem Boulevard Haussmann einen Verräter an der Sache ihres Landes und tötete sich nach gelungener Tat auf der Stelle selbst!
»Thrazier? War da nicht vor zwei Jahren in Paris eine Geschichte – –?«
»Ja, ja – ganz recht. Eine junge Thrazierin knallte auf offener Straße einen Regierungsspitzel nieder. Eine fanatische Gesellschaft, Mr. Bowers! Ich gäbe was drum, wenn ich wüßte, wer der Mann ist, dem Sie so gleichen!«
»Ich auch!« stöhnte Roland und ärgerte sich selber darüber, daß er den Kommissar anlog, der ihm vielleicht mit einem Schlage aus dieser furchtbaren Lage helfen konnte. »Ich werde auf jeden Fall heute noch aus Genf verschwinden.«
Niedergeschlagen saß er dann in seinem Zimmer und mühte sich mit einem Briefe an Margot ab. Dreimal fing er an und kam nicht recht weiter. Aller Humor war ihm verschwunden und mühselig stilisierte er schließlich eine Epistel zusammen, die, wie er sich selbst sagte, absolut nicht dazu dienen konnte, etwa aufsteigenden Argwohn Margots zu zerstreuen. Er schrieb:
»Mein liebes Mädchen,
anstatt, wie ich hoffte, heute abend bei Dir zu sein, muß ich Dir diesen Brief schreiben, der Dir ankündigt, daß Du Deine Sehnsucht, mich wiederzusehen, noch auf vier Wochen spannen mußt. Der Zufall wollte es, daß ich hier in Genf am letzten unserer Aufnahmetage von einem französischen Unternehmen einen überaus günstigen Antrag erhielt, den ich unter keinen Umständen ablehnen konnte. Vier Wochen Engagement, Gage fünftausend Pfund! So etwas kann man nicht ausschlagen, nicht wahr? Ich lasse Dir heute durch die Bank zweitausend Pfund überweisen, die Du auf unser Konto einzahlen kannst. Selbstverständlich steht es bei Dir, darüber zu disponieren, wie Du für gut befindest. Vielleicht kaufst Du den Mercedes-Roadster, den wir uns schon so lange gewünscht haben. Ich kenne verschiedene Kollegen, die zerspringen würden, wenn sie uns in so einem Wägelchen erblickten. Also auf jeden Fall eine gewinnbringende Anlage.
Eine Sache darf ich Dir jedoch nicht verheimlichen. Die Aufnahmen werden vermutlich im Atlasgebirge stattfinden und nicht ganz gefahrlos sein. Alle Mitwirkenden sind deshalb versichert worden. Sollte mir etwas zustoßen, so gehst Du mit meinen Heimatsdokumenten – Du findest sie in meinem Safe – zu Notar René Sylvain, Genf, Rue de Marché Nr. 25, der Dir die nötigen Abschriften ausfolgen wird, mit denen Du dann beim Schweizerischen Bankverein 80 000 Franken abhebst, die dort auf Deinen Namen hinterlegt worden sind. Ferner habe ich Vorsorge getroffen, daß Du für den Fall, daß mir etwas Menschliches passiert, die zweite Hälfte meines Honorars, 2500 Pfund, bei der Dresdener Bank in Berlin beheben kannst.
Du siehst, liebe Margot, ich habe alles getan, um Dich sicherzustellen. Ich weiß, die ganze Sache klingt etwas mysteriös, aber ich gebe Dir mein Wort, daß sie lange nicht so gefährlich ist, wie sie aussieht, und daß alle diese Vorsichtsmaßregeln nur den Zweck haben, Dich zu beruhigen. Es wird mir schon nichts geschehen, und ich bin überzeugt, daß wir in vier Wochen recht vergnügt beieinander sitzen und die Reiseroute studieren, die wir mit unserem neuen Wagen nehmen wollen. Ich schlage Dir Holland, Belgien, Normandie mit Abschluß in Deauville vor. Dort ist dann gerade Hochsaison und wir können etwas haben für unser Geld. Du wolltest ja immer schon Deauville kennenlernen. Ich verspreche Dir auch, ich werde mich dem Spieltisch nur als kühl interessierter Zuschauer nähern.
So, da hast Du die ganze Neuigkeit, Margot! Ich habe Dir nichts verschwiegen, denn Du bist eine Frau, mit der man deutsch reden kann. Du wirst auch nicht in hysterische Krämpfe verfallen, sondern ruhig Deine Arbeit weitermachen und warten. Bis dahin laß es Dir gut gehen, grüße mir Deinen Chef, Generaldirektor Eilitz, recht schön und zerfließe nicht in Angst und Sorge, wenn Du in der Zwischenzeit wenig oder gar nichts von mir hörst. Ich spiele einen reichen Schafzüchter aus Sydney in Australien, der von geheimnisvollen Banditen entführt und weiß Gott wohin geschleppt wird. Alles echteste Naturaufnahme. Sahara, Atlas, Kamelkarawanen – nicht Rüdersdorfer Kalkberge mit dem Marstall vom Zirkus Busch. Bin selbst schon neugierig!
Auf Wiedersehen in vier Wochen! Bestimmt auf Wiedersehen!
Dein Richard.«
Roland las den Brief zweimal durch und war jedesmal unzufriedener damit. Zu wenig Herzlichkeit! Dann wieder allzu geheimnisvoll! Und wo war ihm nur der Ausdruck des Schmerzes geblieben, den er über die unvorhergesehene Trennung empfand? Hätte er nicht davon sprechen sollen, daß man bei seiner Rückkehr daran gehen sollte, die Installierung des eigenen häuslichen Herdes vorzubereiten? Margot hatte allerdings selbst von allem Anfang erklärt, daß an Heirat nur bei einer vollkommen gesicherten finanziellen Basis gedacht werden dürfte. Waren nun hunderttausend Mark nicht so etwas wie eine gesicherte finanzielle Basis? Selbst Margot –
Er zuckte die Achseln. Er war zu müde und zu abgespannt, um einen anderen Brief zu schreiben, der allen Anforderungen besser entsprach. In vier Wochen – vier Wochen waren keine Ewigkeit –
Auf dem Stuhle vor dem Schreibtisch schlief er ein. Als er erwachte, hatte er eine Idee. Er schrieb einen zweiten Brief an Margots Chef, Generaldirektor Eilitz von dem Mitteleuropäischen Industriekonzern, dem er gleichfalls sein geheimnisvolles Filmengagement, Aufnahmen in den Atlasbergen, echte Kamele, echte Banditen auseinandersetzte, und zum Schluß dringend ans Herz legte, seiner Braut, falls diese plötzlich einen Urlaub »in allerwichtigster Personalangelegenheit« verlangte, rundweg »nein« zu sagen. »Meine ganze Karriere hängt, Herr Generaldirektor, von Ihrer Festigkeit ab, den Bitten Margots zu widerstehen.« Mit diesem Appell schloß der Brief. Ob Margot Geldern sich durch ein dreimal festes Nein ihres Chefs davon abhalten ließ, das durchzuführen, was ihr notwendig erschien, war allerdings zweifelhaft.
Roland nahm seine Briefe zum Portier hinunter, dem er sie zur Besorgung übergab. Ferner bestellte er seine Rechnung und erklärte mit lauter Stimme, mit dem Nachtzuge nach Bern abreisen zu wollen. Ein Zimmer war für ihn im Bellevue zu bestellen. Wo er eigentlich hinwollte, wußte er selbst noch nicht. Irgendwo auf der Strecke wollte er verschwinden.
Als er sich vom Pult des Portiers abwandte, um wieder in sein Zimmer hinaufzufahren, sah er in einem der Fauteuils in der Nähe einen stattlichen Herrn mit langem weißen Bart sitzen. Er hatte den Eindruck, als fixierte ihn der Alte unter seinen buschigen Brauen hervor. Doch mit seinen Sorgen und Plänen beschäftigt, kümmerte er sich nicht weiter um ihn. In seinem Zimmer angekommen, stürzte er sich auf das Gepäck. In die Handtaschen stopfte er alles Notwendige, um über ein, zwei Tage hinwegzukommen. Den großen Schrankkoffer gedachte er allein die Reise nach Bern machen zu lassen.
Das Telephon schrillte in seine Arbeit hinein. Mit höchst gemischten Gefühlen nahm er es zur Hand. Vielleicht wieder eine Botschaft Mr. Bowers'?
Der Polizeikommissar war es, der ihn anrief. Er atmete beruhigt auf.
»Ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen,« sagte der Mann mit einer Stimme, der man Aufregung anmerkte. »Kann ich Sie noch sprechen, bevor Sie abreisen?«
»Selbstverständlich. In einer halben Stunde ist das Diner. Wie wäre es, wenn Sie mir dabei die Ehre erwiesen?«
»Mit dem größten Vergnügen!«
Sie saßen an dem gewohnten Ecktische Rolands und der Kommissar schoß noch vor der Suppe seine Neuigkeit ab.
»Ich habe eine ganz gute Idee gehabt, Mr. Bowers. Wie verabredet, sollten ja unsere thrazischen Freunde ihre Toten so um zehn Uhr herum abholen. Ich habe sie mir aber noch einmal kommen lassen und ihnen erklärt, ich könne die Leichen nicht freigeben, wenn sie sich nicht verpflichteten, dafür zu sorgen, daß Sie, Mr. Bowers, fernerhin von allen Attentaten verschont blieben. Diese Versicherung haben sie mir gegeben, schriftlich, mit ihren Namen unterzeichnet.«
»Großartig! Kann ich das Dokument einmal sehen?«
»Mit Vergnügen.«
Zwei Namen. Stanko Wolopoff und Boris Sadeff.
»Wer ist Wolopoff?« fragte Roland.
»Der Mensch mit der lauten Stimme. Er ist Redakteur der Zeitung, die die Thrazier hier herausgeben. » La Thrace enchaînée«. Boris Sadeff ist der junge Mann mit dem verkrüppelten Bein.«
»Und der dritte?«
»Der gehört nicht recht zu ihnen. Er heißt Vuiè und ist ein Montenegriner, der hergekommen ist, um mit den Thraziern gemeinsame Sache zu machen.«
Vuiè? Also eine neue Verkleidung? Was führt der Mann eigentlich im Schilde? begehrte Roland zu wissen.
»Werden die Herrschaften ihr Wort halten?«
»Hier in Genf vorläufig bestimmt. Ob in der übrigen Schweiz – das kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall haben wir erreicht, daß Sie Ihre Abreise nicht zu überstürzen brauchen.«
»Ausgezeichnet. Immerhin werde ich heute noch nach Bern abdampfen. Ich habe mir im Hotel Bellevue ein Zimmer bestellt.«
Man sah es dem braven Kommissar an, daß ihm diese Nachricht einen riesigen Stein der Verantwortung von der Seele nahm. »Ich werde Sie durch zwei meiner Leute begleiten lassen,« erklärte er.
Roland bestellte eine Flasche Champagner und rückte vertrauensvoll mit seinem Plan heraus – irgendwo zwischen Genf und Bern sich in Luft aufzulösen. Die Agenten des Kommissars konnten ihm dabei behilflich sein, indem sie etwaige Verfolger auf falsche Spuren weiterlockten.
»Wohin wollen Sie denn gehen?« fragte der Beamte.
»Ich habe selbst noch keine Ahnung. Aus der Schweiz möchte ich mich nicht gern herausrühren; hier gibt es eine Menge kleiner, fernab gelegener Winkel, wo man sich für ein paar Wochen verstecken kann. Ich hoffe ja, daß die thrazischen Herrschaften inzwischen zur Vernunft kommen und einsehen, daß ich nicht der fluchwürdige Verräter an der heiligen Sache ihres Vaterlandes bin. Thrazien ist gewiß ein sehr schönes Land, aber wenn Sie mich ehrlich fragen, wäre es mir lieber in der Gegend, in der der Pfeffer wächst.«
Der Schauspieler war ein unverbesserlicher Sanguiniker.
Die Mitteilung des Kommissars, seine eigenen Worte, der Champagner hatten seinen Mißmut zerstreut. Der helle, in üppigem Kerzenlicht strahlende Saal mit seiner wohltuenden Atmosphäre kosmopolitischer Eleganz war auch kein Ort, um Trübsal zu blasen. Überall, wohin der Blick fiel, gut angezogene, kultivierte Menschen. Sogar sehr hübsche Frauen darunter. Die beiden kecken Griechinnen erweckten neuerdings das Wohlgefallen Rolands und er hob mehr als einmal sein Glas, um einen kühnen Gruß zuzutrinken, der auch prompt erwidert wurde. Ein vielversprechender Anfang, der jedoch zu seinem größten Bedauern nur Anfang bleiben mußte.
Man erhob sich, um in den großen Salon zu steuern, wo die Zigarren und der Mokka harrten. Während Roland neben dem kleinen, beweglichen Polizeikommissar durch den Speisesaal schritt, hatte er plötzlich das Gefühl, daß ihm scharfe Blicke folgten. Irgendein sechster Sinn zuckte in ihm auf. Warnte ihn. Langsam und unauffällig drehte er sich in der Tür um.
An einem Ecktisch saß der Greis mit dem Patriarchenbarte, der ihm schon vorhin in der Halle aufgefallen war. Neben diesem wuchtete ein breitschultriger Mann, der, wohl etwas jünger als der andere, immerhin bereits am Ende der Fünfzig sein mußte. Er hatte eisgraues, militärisch kurzgestutztes Haar und ein hart, doch klug geschnittenes Gesicht. An Rolands großen Kollegen Paul Wegener erinnerte dieser kantige, grobknochige Sarmatenschädel. Zwischen den beiden Männern saß ein junges Mädchen, das so schön war, daß Roland unwillkürlich stehen blieb, als sein Auge es traf. Diese drei Personen waren es, deren Blicke er auf seinem Rücken gespürt hatte.
Und jetzt, da er zu ihnen hinsah, starrten sie ihn an. Ja, sie starrten ihn an. Mit unverkennbarer Feindseligkeit die Männer, mit seltsam traurigem Blick das schöne Mädchen.
»Kennen Sie die Leute?« wandte sich Roland an den Kommissar.
Der schüttelte den Kopf. Der Portier wurde befragt und gab Bescheid. Die Herrschaften waren mit dem Mittagszuge aus Zürich gekommen. Der alte Herr hatte sich als Stratoff, Kaufmann aus Rustschuk, der Graukopf unter dem Namen Wanijeff aus Sofia eingetragen. Die junge Dame war seine Tochter.
Also Bulgaren! Auch Balkan! Am Ende unter falschem Namen thrazische Patrioten, die gleichfalls hinter Mr. Bowers recte Pawel Petroff her waren? Roland mußte, als er neben dem Kommissar in einem der tiefbequemen Fauteuils lehnte, immer an den Blick des Mädchens denken! Seine heitere Laune zerrann wieder. Warum hatten ihn die drei Menschen so angestarrt? Er fühlte, daß sie, so vornehm sie aussahen, gefährlicher sein mochten als die armseligen jungen Burschen, die nichts anderes wußten, als sich und andere umzubringen.
Das Mädchen aber! Das Mädchen! Dieses leuchtende schwarze Haar! Der zierliche Mund in dem schmalen, feinen Gesichtchen! Welche Farbe wohl die Augen hatten, in denen er in jener einzigen Minute des Umdrehens den traurigen, kummervollen Blick aufgefangen hatte? Dieser Blick, der ihm etwas zuzurufen schien. Etwas, das er nicht verstand.
»Ich reise ab,« sagte er zum Kommissar. »In einer Stunde geht mein Zug.«
»Mit Ihrer Erlaubnis werde ich Sie auf die Bahn begleiten.«
»Das ist mehr als ich hoffen konnte.«
Als Roland in sein Zimmer hinaufkam, um sich zur Abreise umzukleiden, fand er ein verschlossenes Hotelkuvert auf dem Nachttisch. Kein Name darauf. Argwöhnisch drehte er es hin und her, ehe er es öffnete. Ein Zettel war darin, der eine Zeile in cyrillischer, also für ihn unlesbarer Schrift enthielt.
Wie kam das Kuvert hier herein? Er läutete dem Zimmerkellner. Der hatte keine Ahnung. Das Zimmermädchen mußte kommen. Diese gestand, daß sie den Brief überbracht hatte.
»Wer hat Ihnen das Kuvert gegeben?
»Der Herr auf Nr. 21.«
»So? Und wer ist der Herr?«
»Wanijeff oder Wassinoff oder so heißt er, glaube ich.«
»Hm. Welches Zimmer bewohnt seine Tochter?«
»Das auf Ihrer anderen Seite, Herr Bowers, Nr. 23.«
»Ei, wie interessant! Nur noch eins: hat der Herr eine Antwort verlangt?«
»Nein, er hat nichts gesagt!«
»Schön. Gehen Sie zu ihm und bestellen Sie ihm, ich ließe sagen, es sei in Ordnung.«