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Estland

I.
Reval

Für dreißig amerikanische Cent bekommt man in Reval heute riesige Portionen kalte gebratene Pute, Roastbeef, Gänsebraten, Entenbraten, Schweinebraten, Spickaal, Gurken und Kalbfleischsülze.

Man kriegt dafür auch Schüsseln mit Zunge in Aspik, Hering, Lachs im Stück, gefülltem Fisch, Sardellenbrötchen, mariniertem Aal, Speck, Eiern mit Sardellen, gefüllten Eiern, Hecht mit Tomatensauce, Schinken, roten Rüben, gebackenem Schinken, italienischem Salat und Lachsbrötchen.

Außerdem bekommt man Rührei auf Toast, Zwiebelsalat, Fleischsalat, Essigmelone, Wildsalat, Hecht mit Mayonnaise, Salzsigi, Leberkäse, Eier mit mariniertem Hering, Hering in Sahne, Schweinerouladen, Kaviarbrötchen mit Mayonnaise, Aalbrötchen, Kaviar mit Zwiebeln, Rollmops, Lachsscheiben, Käsebrötchen, Lachs, Eier, russischen Salat, Fischsalat und Kartoffelsalat, Fischpastete und gefüllten Kohl.

Für seine dreißig Cent bekommt man sämtliche oben genannten siebenundvierzig kalten Schüsseln. Nicht nur eine davon. Sämtliche. Aber das ist noch immer nicht alles. Für dieselben dreißig Cent bekommt man auch ein großes warmes Gericht: mit Kalbfleisch gefüllte Kohlrouladen, Wurst und Speck, Schweinebraten mit Kohl, »Komm morgen wieder« – das ist eine mit Hackbraten gefüllte Pastete – Hasenbraten, Entenbraten, ein Stew aus Hering und Kartoffeln und heiße Würstchen.

Die dreißig Cent, von denen die Rede ist, sind dreißig amerikanische Cent Jahrgang 1935. Vor der Dollarabwertung konnte man all dies für achtzehn amerikanische Cent bekommen.

Es ist wirklich so. Das ist der sogenannte »Sexer-Tisch« im Restaurant du Nord. Sexer-Tisch ist die estnische Bezeichnung für die Sakuska, den Smörgas Bord, die Vorspeise, die Hors d'oeuvres. Es ist bloß das, was man vor der eigentlichen Mahlzeit zu sich nimmt. Wenn man mit dem fertig ist, was man für diese dreißig Cent bekommt, fängt man an, etwas zu essen.

Man kann jedes Gericht auf dem Sexer-Tisch ganz aufessen, und man kann so viele Gerichte essen, wie man will. Dann trifft man seine Wahl auf einer Karte, die einundachtzig Gerichte, von Rebhuhn in Sahne bis zu Eierkuchen mit Kaviar, aufzählt, und von alledem kostet eine geradezu ungeheure Portion im Durchschnitt fünfundzwanzig amerikanische Cent.

Das erinnert daran, wie es einmal im alten Rußland war. Im neuen Rußland gibt es so etwas nicht mehr. In Tolstois »Anna Karenina« haben wir von dem freundlichen, rundlichen Gesellen gelesen, der unter dem großen Fliederzweig am Sexer-Tisch steht. In der einen Hand hält er ein Glas Wodka, während er mit der anderen dem Kellner ein Gericht nach dem anderen zeigt, bis das Essen auf seinem Teller sich hoch türmt.

Die Ernährung ist das wesentlichste Element des Lebensstandards. Im neuen Rußland ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln im Verlauf von achtzehn Jahren manchmal gut, manchmal schlecht, manchmal katastrophal gewesen. Immer aber war sie einigermaßen unsicher, und stets waren die Lebensmittel so teuer, daß die Nahrungsfrage bei allen Familien im Mittelpunkt des konzentriertesten Interesses stand.

Kann in diesem Teil des alten Rußland nur der reiche Mann dreißig Cent am Sexer-Tisch ausgeben und alles essen, was er will?

Wir besuchten Oskar Janberg, von Beruf Schmied in einer Metallfabrik, in seiner Wohnung Oskarstraße 45. Bevor er an diesem Morgen um sieben Uhr zur Arbeit ging, hatte er mit seiner Frau zum Frühstück Kaffee, Weißbrot mit Butter, Sardellen und Wurst gegessen. Um halb ein Uhr mittags hatte er ein belegtes Brot und Tee zu sich genommen, der Tee war von der Fabrik geliefert. Um drei Uhr war er mit der Arbeit fertig gewesen, und um halb vier hatte er Mittag gegessen: Kartoffelsuppe, frischen Schweinebraten, marinierten Hering, Roggenbrot mit Butter und Gurkensalat. Um acht Uhr abends vor dem Schlafengehen verzehrten sie Tee, Weißbrot mit Butter, Wurst, Käse und kalten Schweinebraten.

Wir besuchten Rudolf Rant, der ganz in der Nähe wohnte. Rant ist als ungelernter Arbeiter in derselben Metallfabrik beschäftigt. Er hatte mit seiner Frau und seinen zwei Kindern zum Frühstück Kaffee, Weißbrot mit Butter, Wurst und Käse; zum Mittagessen Suppe, gesottenes Hammelfleisch, Butterbrot; zum Abendessen Tee, Brot, Butter, Wurst und Käse.

Wir besuchten Johannes Norman in der Koldestraße, Mechaniker in den Eisenbahnwerkstätten. Er aß mit seiner Mutter, seiner Frau und seiner Tochter zum Frühstück Kaffee, Weißbrot und Schwarzbrot mit Butter, Speck, Käse und kaltem Fleisch; mittags machten sie sich an eine Kohlsuppe mit den Ingredienzien heran, die den Schtschi berühmt gemacht haben, an frisches Schweinefleisch, Pfannkuchen mit Marmelade; vor dem Schlafengehen nahmen sie Tee mit Milch zu sich, Weißbrot, Butter und Käse. Die Familie trinkt täglich drei Liter Milch.

Schließlich besuchten wir eine sehr arme Frau in der Sitsistraße 4, Lena Letto, eine Witwe, deren unverheiratete Tochter in der Spinnerei arbeitet. Sie hatten zum Frühstück Kaffee, Weißbrot mit Butter und Käse; mittags und abends aßen sie Kohlsuppe, gepökeltes Schweinefleisch, Brot und Butter.

Janberg verdient achtzig Kronen (21,60 Dollar) im Monat. Rant verdient siebzig Kronen (18 Dollar). Norman verdient 100 Kronen (27 Dollar). Lena Lettos Tochter verdient 45 Kronen (12,10 Dollar) im Monat. Diese Löhne geben ein gutes Bild vom estnischen Lohnniveau.

Alle diese Familien von den üppigen Normans bis zur verarmten Lena Letto aßen viel besser als die Familien, die wir in Moskau gesehen hatten. Sie waren auch weitaus besser gekleidet.

Sie wohnten in viel besseren Zimmern und hatten mehr Lebensraum. Janberg hatte mit seiner Frau zwei Zimmer. Rants vierköpfige Familie wohnte in zwei Zimmern und einer Küche. Normans gleichfalls vierköpfige Familie bewohnte zwei Zimmer, Küche und Badezimmer. Lena Letto hatte nur ein Zimmer, aber die Familie bestand nur aus zwei Mitgliedern. Der Moskauer statistische Durchschnitt beträgt vier Personen auf ein Zimmer.

Diese Leute waren nicht zur Erzielung eines günstigen Eindrucks ausgewählt. Wir sahen sie alle in Begleitung eines Sozialisten, der uns den Durchschnitt zeigen wollte. Sie alle lesen Zeitungen, gehen ins Kino und scheinen ganz vergnügt zu sein.

Die am schlechtesten bezahlten Arbeiter Revals sind die Mädchen in der Spinnerei. Wir gingen hin. Sie stehen den ganzen Tag lang auf den Beinen und vollführen immer wieder dieselbe monotone Bewegung, bei deren Anblick dem Zuschauer schließlich schwindlig wird. Sie haben eine Arbeit, um die man sie nicht beneiden kann. Dasselbe ist bei den Textilarbeitern in der Sowjetunion der Fall.

Die Mädchen in der Revaler Fabrik arbeiten acht Stunden im Tag für einen Durchschnittslohn von fünfzig Kronen im Monat. Die Mädchen in der Melangefabrik, die wir in Iwanowo-Wosneschensk in Rußland aufsuchten, arbeiten sieben Stunden im Tag bei einem Durchschnittslohn von 150 Rubeln im Monat. Das ist auch der statistische Durchschnittslohn aller Industriearbeiter in Sowjetrußland.

Eine sorgfältige Berechnung zeigt, daß die fünfzig estnischen Kronen so ziemlich dieselbe Kaufkraft haben wie die 150 russischen Rubel. Die Reallöhne der ärmsten estnischen Arbeiter scheinen sich also ungefähr mit den Reallöhnen der russischen Durchschnittsarbeiter zu decken.

Ein Revaler Fabrikmädchen könnte also an einem freien Tag das Ergebnis fünfstündiger Arbeit ausgeben und seine Wahl treffen zwischen siebenundvierzig kalten Schüsseln und acht warmen Gerichten. Aber der höchstbezahlte Mann der Sowjetunion könnte heute das neue Rußland von Wladiwostok bis Minsk absuchen und vergeblich nach einem Sexer-Tisch Ausschau halten.

 

Estland

II.
Reval

Gellend wie das Signal, das in amerikanischen Strafanstalten gegeben wird, wenn ein Gefangener ausgebrochen ist, kreischt die große Sirene an der Spitze des Doms im Regierungsviertel Revals Alarm. Augenblicklich stimmen in der ganzen Stadt zehn, zwölf andere Sirenen ein.

Im selben Moment beginnen in den Schlafzimmern aller Minister, Regierungsbeamten, Polizei- und Schutzwehr-Offiziere in ganz Reval elektrische Klingeln ohrenzerreißend zu bimmeln.

Männer stürzen auf die Straße, manche vom Kamin, manche aus den Betten, etliche im Abendanzug, andere sich noch rasch zuknöpfend. Ein jeder hat einen gewaltigen Feuerwerkskörper in der Hand, und bald hallt es in den gewundenen Straßen der alten Stadt von Detonationen wider.

Ist Reval verrückt geworden? Ist das eine Kombination des Abends vor Allerheiligen und des Vierten Juli in Amerika?

Durchaus nicht. Es ist ein alter baltischer Brauch. Das ist der Kommunistenalarm. Er bedeutet: »Alles heraus zum Kampf gegen die Roten.«

Auf Schiffen werden Feueralarm- und Kollisionsalarm-Übungen abgehalten. Im Baltikum hält man die Rote Putschalarm-Übung ab.

Für gewöhnlich haben die Staaten ihren Bürgern beim Schutz gegen Verbrechen, Feuer und Krieg zu helfen. Darum haben sie Polizei und Einbrecheralarm, Feuerwehr und Feueralarm, Kriegsamt und Kriegsalarm. Im Baltikum hat man das Kommunistenabwehramt und den Kommunistenalarm. Ein Druck auf einen Knopf mobilisiert alles, was der Nation zu ihrer Verteidigung gegen Aufruhrversuche zur Verfügung steht.

Das bestausgebildete Alarmsystem hat Estland. Dieser kleine Staat hat sein System zur Kommunistenabwehr wohl deshalb noch sorgsamer ausgebildet als die anderen, weil Estland einmal eine böse Schreckenszeit durchmachte. Viele Amerikaner haben vielleicht vergessen, daß im Dezember 1924 eine kleine Schar von rund 200 Kommunisten sehr nahe daran war, die Macht in Estland an sich zu bringen. Wäre das gelungen, so hätte die ganze europäische Geschichte einen anderen Verlauf genommen.

Der Putsch war klassisch vorbereitet. Einige ausgesuchte Leute sollten sich unmittelbar vor der Morgendämmerung mit einem Überraschungsmanöver der strategisch wichtigen Punkte in der Stadt, insbesondere der Telegraphen- und der Radiostation, bemächtigen. Sowie die Arbeiter morgens zu den Fabriken kamen, sollten sie bewaffnet werden und, so erwartete man, sich am Aufstand beteiligen. Mittlerweile sollte die sozialistische Sowjetrepublik Estland im Rundfunk proklamiert und ein dringender Appell an die Sowjetunion gerichtet werden, sie möge die Regierung gegen die Konterrevolutionäre unterstützen.

Damals saß in Moskau Trotzki fest in seinem Sattel, und die Weltrevolution war eines der Hauptziele der Sowjetunion. Unmittelbar jenseits der estnischen Grenze wartete die rote Armee. Sobald damit zu rechnen war, daß die Revaler Roten sich halten könnten, bis die rote Armee die Stadt erreichte, sollte diese in Marsch gesetzt werden.

Sie marschierte niemals. Die estnischen Arbeiter waren nicht genügend vorbereitet worden. Sie rissen bloß den Mund auf, als ihnen Waffen ausgehändigt wurden. Militär und Polizei überwältigten die winzige Gruppe gewerbsmäßiger Roter, und die baltischen Staaten waren gerettet.

Aber der Zwischenfall jagte diesem Teil Europas einen gewaltigen Schrecken ein. Heute ist in der Sowjetunion Stalin an der Macht, und seine Politik, die der Trotzkis genau entgegengesetzt ist, geht dahin, zunächst den Sozialismus in Rußland aufzubauen und die Weltrevolution sich selbst zu überlassen. Trotzdem wollen die Randstaaten nichts riskieren.

Mehr als eine Viertelmillion Mann steht heute in Finnland, Estland, Lettland und Litauen bereit, dem Kommunistenalarm mit dem Gewehr in der Hand zu entsprechen. Finnlands Schutzwehr zählt 110 000 Mann, viermal soviel wie das reguläre Heer, nahezu ebenso viel wie das gesamte reguläre Heer Amerikas.

Sie hat eine zureichende Infanterieausrüstung, Maschinengewehre, Kavallerie, Artillerie, Signaltruppen; sie ist in der Tat mit allen Waffen außer Flugzeugen und Tanks versehen. Die finnische Schutzwehr kostet im Jahr rund 2 000 000 Dollar – eine gewaltige Summe für Finnland, die ungefähr zu 60 Prozent vom Staat und zu 40 Prozent aus Privatmitteln aufgebracht wird.

Es ist bezeichnend, daß 51 Prozent der Schutzwehrsoldaten Bauern und Fischer sind, ungefähr 30 Prozent Vertreter des Mittelstandes und nicht mehr als 20 Prozent Arbeiter. Die Mitgliedschaft ist freiwillig. Die Angehörigen exerzieren mindestens vierundzwanzig Stunden im Monat und haben je eine siebentägige Lagerübung im Sommer und im Winter.

Die estnische Schutzwehr zählt 35 000 Mann. Ihre Spezialität ist das Scharfschießen, und jedes Jahr werden 1 800 000 gedachte Rote umgelegt – das ist die Anzahl der Patronen, die beim Scheibenschießen verbraucht werden.

In Lettland hat die Schutzwehr 30 000, in Litauen 52 000 Mitglieder. Sie sind alle nach denselben Grundsätzen organisiert und dienen demselben Hauptzweck, obgleich, je weiter man in den Süden kommt, auch Deutschland immer mehr als möglicher Feind in Betracht gezogen wird. Von allen diesen Staaten steht Finnland Rußland mit der größten und Deutschland mit der geringsten Feindseligkeit gegenüber, während andererseits in Litauen Deutschland am meisten und Rußland am wenigsten gehaßt ist. In Lettland halten sich diese Gefühle die Waage, und Deutsche und Russen sind ungefähr gleich verhaßt.

In erster Linie jedoch ist diese Viertelmillion Mann gegen den Kommunismus organisiert. Das gibt ein besseres Bild als alles andere davon, wie die Nachbarn des Kommunismus über ihn denken. Sie haben ihre Erfahrungen gemacht. Jeder von ihnen hatte einen Bürgerkrieg gegen seine Roten durchzufechten. Jeder von ihnen hatte gegen Rußland zu kämpfen. Jeder hatte eine Zeitlang den roten Terror durchzumachen und hatte nachher Tribünensitze, von denen er das weitere Wirken des Terrors innerhalb Rußlands beobachten konnte.

»Wir wissen besser als alle anderen in der Welt«, äußerte mir gegenüber ein hochgestellter Lette, »was der Kommunismus für uns bedeuten würde, wenn er in die Randstaaten eindränge.

In anderen Ländern können die Menschen mit der Idee spielen, über die theoretischen Vorteile des Kommunismus nachdenken, seine Segnungen debattieren und sich darüber auseinandersetzen, ob er eine gesteigerte Produktion und eine gerechtere Verteilung des Reichtums bringe, ob er uns vor dem kapitalistischen Kriege retten würde und so fort. Aber wir wissen eines, was er mit Bestimmtheit für uns alle bedeuten würde. Das ist der Tod. Darum werden wir, wenn es notwendig sein sollte, im Kampf gegen ihn fallen. Und das ist eine Quelle unserer Stärke.«

Es gibt in allen Ländern der Welt Salon-Rote. Im Deutschland der Vorhitlerzeit pflegte man sie »Klubsesselspartakisten« zu nennen. In den Randstaaten gehört jeder, der sich einen Klubsessel leisten kann, der antikommunistischen Schutzwehr an.

 

Estland

III.
Petseri

Im Gasthaus zur Schwarzen Katze saß ein junger Mann an einem Tisch und jodelte vor sich hin. Zwei bärtige Bauern redeten aufeinander ein. Ein anderer taumelte hinaus und schleifte einen völlig Erledigten mit sich.

Im Zimmer zur Rechten brüllte ein Chor estnische Worte zur alten deutschen Melodie von »Trink, trink, Brüderlein, trink«. Ein scharfer Dunst nach Schaffellen, Wodka und Kohlsuppe beherrschte den Raum.

Es war erst Mittag, aber der Halbmonatsmarkt in Petseri, unten in der Südostecke Estlands gleich an der russischen Grenze, war in vollem Gange. Man sagte mir, Petseri sei der ärmste Ort Estlands. In dieser Gegend lag seinerzeit eine der ersten Hauptstädte im Rußland Ruriks. Hier leben die Bauern jetzt noch so, wie sie vor einem halben Jahrhundert in Rußland lebten. Hier herrscht von allen Gegenden der Randstaaten die größte Ähnlichkeit mit dem alten Rußland. Es müßte also ein guter Ausgangspunkt sein, um Vergleiche mit dem neuen Rußland anzustellen.

Ein Setuweib in cremefarbenem schwerem Wollrock und zahllosen Unterröcken ging, mit einem ironischen Lächeln nach ihrem Mann suchend, geräuschlos vorbei. Die Setu sind ein Stamm, der weder russisch noch estnisch ist. Sie leben separiert, arbeiten angestrengt und sparsam und führen ein ordentliches Leben. Die anderen nennen sie »Bauernjuden«.

In einer Ecke drüben spielte ein Blindgeborener auf einem Akkordion eine traurige russische Melodie. Ein Bauer schob sich durch die Menge, packte einen Stuhl und schob einen Sack darunter. Aus dem Sack drang das verzweifelte Quieken eines Schweines.

Ein Mädchen hinter der Theke schenkte Wodka in großen Wassergläsern aus, das Glas zu sechs amerikanischen Cent. Ununterbrochen mußte sie aus der Küche noch mehr hereinbringen lassen. Es sah ganz aus wie im alten Rußland.

Auf dem Markt herrschte Vollbetrieb. Scharen von Bauern spazierten auf und ab zwischen Reihen von Buden und Fuhrwerken, an denen Verkäufer ihre Ware ausriefen: Brot, Fleisch, Eier und Fisch; in Heimarbeit hergestellte Spinnräder, handgeschmiedete Messer; Fäßchen, Zuber und Tonnen; Körbe und Matten; alte Kleider und neue Stiefel; Zaumzeug und Mützen und Spielzeug und Bänder, alles in Hülle und Fülle. Hier herrschte freier Handel, kapitalistischer Handel, alles war voll Leben und Betriebsamkeit.

Gleich jenseits der Grenze lag Sowjetrußland. Flugzeuge erinnerten uns daran. Sie schwebten über unsere Köpfe hinweg, und die Bauern rissen das Maul auf und staunten. Soldaten erinnerten uns daran. Sie sausten, jeder den Karabiner am Rücken, in Schlitten vorbei, die von raschen Pferden gezogen wurden. Heute wurde eine kleine Luftübung in Petseri abgehalten, damit an der Sowjetgrenze alles in Ordnung bleibe.

Gleich jenseits dieser Grenze, von dort bis zu den japanischen Gewässern, ist heute kein zweiter Markt wie dieser zu finden. Es gibt wohl Märkte in der Sowjetunion, aber sie haben kein Leben und keinen Glanz mehr. Denn aller Handel in der Sowjetunion ist Staatshandel, alle Erzeugung, selbst die des Handwerks, ist in Trusts, Syndikaten und Kartellen organisiert. Niemand arbeitet für sich, jedermann arbeitet für den Staat.

Das hier ist wahrlich eine arme Gegend Estlands, es wäre eine arme Gegend in jedem Lande. Aber die Leute schienen sich wunderbar zu amüsieren. Die Nüchternen trieben Pferdehandel. Für sechs Dollar konnte man ein Pferd kaufen. Brüllendes Gelächter wurde laut, als der Verkäufer sagte, das Pferd sei vier Jahre alt. »Vierzehn«, schrien die Zuhörer.

Ein großes Schwein konnte man für drei Dollar bekommen, und ein Zweiwochenkalb für zwei Dollar. Ein Händler hatte als Spezialität »Hoffnungstruhen für Bräute«. Sie waren mit der Hand gezimmert, mit der Hand bemalt wie die Dekorationen der russischen Balletts, und kosteten fünf Dollar.

Scharenweise drängten sich die Bauern zum Büfett, an dem sie für den Gegenwert von zehn amerikanischen Cent eine Mahlzeit verschlingen konnten, die aus Kohlsuppe, Schweinebraten mit Zwiebeln, Weißbrot mit Butter, Gurkensalat und Tee bestand. Große Mengen standen herum und debattierten darüber, ob zehn Kronen, ungefähr 2,50 Dollar, zu viel seien für ein Paar kniehoher Lederstiefel, die mindestens fünf Jahre hielten.

Alle aßen herzhaft, auch der abstoßend entstellte Bettler machte keine Ausnahme, der am Tor des alten russischen Klosters seinem Gewerbe nachgegangen war und jetzt, den Löffel verachtend, aus einem Napf Suppe trank. Ein Grammophon spielte vor staunenden Zuhörern, und ein Fischhändler mit einem Korb rief aus, er verkaufe seine allerbesten Heringe, das Kilogramm zu 10 estnischen Cent, ungefähr einem amerikanischen Cent für das Pfund.

Als wir genug von diesem Tollhausbetrieb hatten, sprangen wir in einen Schlitten und fuhren zu dem von Russen bewohnten Dorf Ragozina hinüber. Es lag düster und traurig in einer Einöde unendlichen Schnees. Mitten in dem Dorf stand ein armseliges Häuschen. Mitten in dem Haus stand ein Bett und darauf lag Mihail Krupenin, das Oberhaupt der Familie. Drei Töchter, eine zwanzig-, eine achtzehn- und eine sechzehnjährige, wurden rot und hörten zu. Sie waren hübsch. Der einundzwanzigjährige Sohn lauschte verdrossen. Die Mutter sprach.

Sie hatten dreieinhalb Morgen Land, zwei Kühe, ein Pferd, zwei Schweine, zehn Hühner und ein Schaf. Sie lebten ärmlich, hatten aber genug zu essen, indem sie alles verbrauchten, was das Gütchen hergab. Der Alte bekam eine Pension von dreißig Kronen, etwa 7 Dollar im Monat. Sonst hätten sie nicht auskommen können. Jeder der Dorfbewohner hatte einen Nebenverdienst. Von dem bißchen Land konnte niemand leben.

Semin Umblaya in dem eine halbe Stunde entfernten Setudorf Liapa war etwas, wenn auch nicht viel, besser daran mit seiner vierköpfigen Familie auf den fünfzehn Morgen Land, die er besaß. Zehn Morgen waren Wald und taugten nicht viel. Er hatte eine Kuh, ein Kalb, ein Schwein, ein Schaf, sieben Hühner und wollte im Frühjahr ein Pferd kaufen. Heute hatten sie zum Frühstück Kartoffeln und Brot, zu Mittag gepökeltes Schweinefleisch, Kartoffeln und Milch, am Abend Kohlsuppe und Brot. Keine Butter.

Das niedrige Zimmer war unordentlich gehalten. Die fünfzehnjährige Tochter hatte noch nie ein Kino gesehen. Die Mutter konnte nicht lesen.

Noch besser war Pawel Luik im Nachbardorf Golovina daran. Luik ging barfuß, und in dem Schnee auf dem Platz vor der Hütte waren auch die Abdrücke bloßer Kinderfüße zu sehen. Die Familie war siebenköpfig, sie besaß achtunddreißig Morgen Land, von denen aber nur sechs bebaut waren, doch waren drei Kühe da, ein Pferd, ein Schwein, zwei Schafe und acht Hühner.

Es lagen keine Teppiche auf dem Fußboden, das Mobiliar bestand aus einem Tisch, einigen Bänken und Betten. Sie aßen zum Frühstück Kartoffelsuppe, gepökelten Schweinebraten und Brot, zum Mittagessen gepökelten Schweinebraten und Brot, zum Abendessen Mehlbrei und Milch. Mutter und Schwester konnten nicht lesen, aber Vater und Sohn verstanden sich darauf. Sie bekamen dreimal in der Woche eine Revaler Zeitung, hatten aber kein Radio und gingen nie ins Kino, weil es zu weit und zu teuer war.

»Warum lassen Sie Ihren zweijährigen Sohn bei diesem Wetter barfuß gehen?« fragte ich Luik, der ein freundlicher Mann war. »Wird ihm nichts schaden. Er ist es gewohnt«, gab er mir zur Antwort.

Luik war der Meinung, daß es ihm wahrscheinlich besser gehe als den meisten Bauern in seiner Gegend. »Weil ich nicht trinke«, sagte er.

Auf dem Rückweg begegneten wir den letzten vom Markt Kommenden, die uns in der Abenddämmerung von ihren Schlitten mit Flaschen zuwinkten. Trunkene Lieder erklangen in der Einöde, und phlegmatische Setuweiber hielten mit einer Hand ihre Männer aufrecht, während sie mit der anderen kutschierten.

Im Hotel Aristide Briand, wohin wir unsere Post bestellt hatten, bot uns die Wirtin, falls wir länger als eine Woche bleiben wollten, Zimmer mit voller Verpflegung für 75 amerikanische Cent im Tag an.


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