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In den Randstaaten sind die Individuen handfest und tatkräftig, und niemand lacht über den Individualismus dieser Prägung. Im kommunistischen Rußland gleich jenseits der Grenze haben sie ihre handfesten und tatkräftigen individualistischen Bauern, mindestens 5 000 000 an der Zahl, zur Strafarbeit nach Sibirien geschickt.
In den kapitalistischen Ländern Litauen, Lettland und Estland pflegten und belohnten sie ihre energischen individualistischen Bauern und halfen mindestens einer Million von ihnen seit dem Krieg bei der Erwerbung von Land.
Viele Jahre hindurch verringerten sich also Ernten und Viehbestand in der Sowjetunion, in den Randstaaten aber stiegen Ernten und Viehbestand unablässig. In Rußland haben die Bauern weniger als früher. In den Randstaaten haben sie mehr als früher.
Jonas Ambrozevicius aus dem zwanzig Meilen von Kowno entfernten litauischen Dorf Veiverai ist ein lebendiges Beispiel für den Unterschied zwischen diesem Teil des alten Rußland und dem, der jetzt die Sowjetunion bildet. Wenn Jonas jenseits der Grenze lebte, wäre er ein Kulak. Ein Kulak ist ein tatkräftiger Individualist, er ist ein Bauer, der angestrengt genug gearbeitet hat, um ein paar Pferde und ein paar Kühe besitzen zu können.
Die Kulaken wurden als eine Gefahr für den kommunistischen Staat angesehen, weil sie, die schwerer gearbeitet hatten, sich eines höheren Lebensstandards erfreuten als der Durchschnitt. Die Kollektivgüter konnten nicht damit rechnen, von Anfang an einen höheren Lebensstandard zu haben als der Durchschnitt ihrer Mitglieder. Deshalb konnte man von den Kulaken nicht erwarten, daß sie an den Kollektiven Freude finden oder sie unterstützen würden. Und darum wurden sie von ihren Höfen geholt und in ferne Gegenden verschickt.
Wenn die Bolschewisten nach Litauen kämen, würde Jonas sicherlich in so einer fernen Gegend leben müssen. Die Geschichte Jonas' ist ein Epos von jener persönlichen Tüchtigkeit, die das kapitalistische System in den Tagen seiner Heimsuchung aufrecht erhält. Es ist eine Geschichte, die sich Millionen Male auf einer Million Höfen von Finnland bis hinunter nach Polen wiederholte, und sie bietet die Erklärung dafür, weshalb dieser Teil der Welt nicht von sich aus kommunistisch werden wird.
Jonas ist heute 54 Jahre alt; als er 1920 aus dem Krieg auf seinen kleinen Hof mit 50 Morgen Land zurückkehrte, fand er alles bis auf den Grund verbrannt. Nicht einmal ein Hühnerstall war übrig geblieben.
Er machte sich an die Arbeit. Fünfzehn Jahre lang arbeitete er mit seiner Frau. Sie hatten keinen Pfennig baren Geldes und hatten niemals einen Pfennig Kredit. Heute hat Jonas im Schweiße seines Angesichtes und mit den Muskeln seiner Arme den Besitz geschaffen, den er hat, der ihn hier zu einem geachteten Mann macht und in Rußland zum Verbrecher stempeln würde.
Er hat ein Haus von fünf Zimmern. Er und seine Frau, in Strümpfen, um die Fußböden zu schonen, zeigten es uns. Es ist nett, sauber, gut gehalten, und jeder amerikanische Farmer würde Ehre damit einlegen. In seiner Speisekammer hing ein Dutzend Pökelfleischseiten.
Er besitzt sechs Pferde, neun Kühe, fünfundzwanzig Schweine, vier Schafe und dreißig Hühner.
Das Vieh lebt in zwei großen, guten Ställen, die Jonas zum größten Teil mit seinen eigenen Händen gebaut hat. Gleich daneben liegt eine geräumige Scheune, in der bis zur Decke duftendes Heu gelagert ist. Neben ihr ist ein Kornspeicher mit hohen Haufen goldgelben Weizens und rotbraunen Roggens, hellgelben Hafers und grüner getrockneter Erbsen.
Jonas, seine Frau und seine zwei Kinder essen so gut wie amerikanische Farmer, unvergleichlich viel besser als jeder russische Bauer. Heute hatten sie zum Frühstück Eier, Kaffee, Brot und Butter; zum Mittagessen dicke Kohlsuppe, Schweinebraten mit Kartoffeln, Brot und Buttermilch; nachmittags nahmen sie Tee, Brot, Butter und Käse zu sich; zum Abendbrot aßen sie Weizenbrei mit Milch und Sahne. Die Familie verbraucht zehn Liter Milch und durchschnittlich zehn Eier im Tag.
Er ist ein sehr frommer Katholik. Das Haus ist voll von Christus- und Marienbildern. Im vergangenen Jahr errichtete er in der Mitte seines Obstgartens, der aus hundert Apfel- und Kirschbäumen besteht, ein Denkmal zu Ehren des Heiligen Jahres. Er trinkt nicht. Er besitzt zwei scharfe Kettenhunde, die seine Stallungen bewachen. Aus diesen dringt das Blöken von Schafen und das Jammern eines kleinen Kalbes. Seine Hühner sind beste amerikanische Rasse.
Er ist stolz auf seine große Katze. Er ist stolz auf seinen amerikanischen Benzinmotor, auf seine Kinder, die zur Schule gehen, auf seine Dreschmaschine, auf die Nähmaschine seiner Frau, auf die sechs Wochenschriften, die er abonniert hat, und er ist stolz auf sich selbst.
»Vor fünfzehn Jahren war nichts da«, sagte er schlicht. »Einfach nichts. Ich habe niemals von jemand auch nur einen Pfennig bekommen. Ich schulde keinem Menschen etwas. Freilich, jetzt verdienen wir kein Geld. Früher haben wir verdient, aber jetzt, wo die Preise so gefallen sind, kommen wir gerade so durch. Trotzdem ...«
Er sah sich auf dem, was er geschaffen hatte, um. Es konnte wirklich seinen Stolz rechtfertigen. Das ist ein Mann von der Art, wie ihn die Sowjetunion zum Exil verurteilen würde. Er ist der vollkommene Kulak. Er ist ein Mann von der Art, wie sie die Randstaaten mit allen Kräften zum Rückgrat ihres Wirtschaftsgebäudes zu machen versucht haben.
In allen diesen Staaten ging die Hauptpolitik der neuen Regierungen dahin, den kleinen Landbesitzer zu fördern. Er war die sicherste Garantie gegen den Bolschewismus. Vor dem Krieg gehörte das beste Land zu den großen Latifundien, und während die Hälfte der Bauernschaft keinen Boden hatte, besaßen ungefähr 10 Prozent der Bevölkerung das ganze Land.
Weil die meisten der Großgrundbesitzer landfremde Russen, Deutsche und Polen waren, die zudem als Unterdrücker der Esten, Letten und Litauer gegolten hatten, wurde ihnen für ihre Ländereien nur sehr wenig Entschädigung gewährt. Sie durften in manchen Fällen ihre Gutshäuser mit einem kleinen Kern ihres ehemaligen Besitzes behalten, in anderen kleine Güter von nicht mehr als zwei- bis vierhundert Morgen.
So schützten sich die neuen Staaten mit Hilfe von Maßnahmen, die den Großgrundbesitzern als bolschewistisch erschienen, gegen den wirklichen Bolschewismus. Heute gibt es in den Randstaaten nur wenige ehemalige Großgrundbesitzer, die diese Form der Enteignung nicht der bei den Sowjets geübten vorzögen.
Damit schufen die Randstaaten auch ein landwirtschaftliches System, das nach der Ansicht der besten Fachleute in Europa heute als das für alle Betroffenen vorteilhafteste angesehen wird. Für Rußland ist die hervorragendste ausländische Autorität auf dem Gebiet der Sowjetlandwirtschaft der Ansicht, daß das System der Kollektivgüter am Ende produktiver sein werde als das System der Zwergbauerngüter, das vor der Kollektivisierung bestand. Aber nach Ansicht dieser selben Autorität spricht alles, was man beobachtet hat, dafür, daß weder die Kollektive noch die Zwergbauerngüter jemals so produktiv sein können wie das System der mittelgroßen, von »tatkräftigen Individualisten« geleiteten Bauerngüter.