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II. Kapitel.
Das Buch Virginia.

Es war in einer wunderlauen Sommernacht, als Florian zum erstenmal an einem Atelierfest bei Ysensteins teilnahm. Gedämpft leuchtende Lampions waren spärlich zwischen die bequemen Korbmöbel des Dachgartens verteilt. Der fast volle Mond, eine riesige Laterne, segelte gelbsilbern durch rötlichen Dunst, der ob der großen Stadt lagerte.

Florian, der mit dem Gefühl der Unsicherheit, das ihn stets vor Fremden befiel, und zugleich mit unverhohlener Spannung auf neu Kennenzulernende wartete, schaute lange auf das rätselhafte, erkaltete Gestirn, dessen Einfluß auf irdische Geschicke er aus den Erzählungen des weisen, alten Schäfers seiner Heimat kannte. Nicht ohne Grund bezeichnete der Volksmund den Ausdruck des Mondes als Lächeln. Heute abend freilich deuchte es ihn eher höhnisches Grinsen. Wie geriet er nur jetzt auf diese Vorstellungen seiner ersten Kindheit? Hoffentlich hatte es keine schlimme Vorbedeutung! Die Mondgeister stehen in üblem Ruf.

In diesem Augenblick trat Karl-Heinz zu ihm und bat ihn, eine jugendliche Amerikanerin, die gleich ihm auf der Akademie Musik studierte, aber in diesem Kreise völlig fremd wäre, zu unterhalten. Im Scherz fügte er hinzu: »Sei klug, Florian! Miß Grandisons Vater ist Corned-Beef-Magnat in Chicago!« Dann führte er Florian zu der sehr eleganten Dame und stellte vor: »Mein Freund Florian Windmacher, Metaphysiker – Miß Virginia, Pianistin!«

Florian spähte zusammengekniffenen Auges in den ungewissen Dämmer der Lampions. Miß Grandison besaß, soweit er erkennen konnte, eine kühn vorspringende Nase, ein schmales, scharfes Gesicht, dunkelglänzendes Haar und willkommene Fülle. Alles, was Florian an Frauen liebte. Aus ihrem Profil sprach, wahrscheinlich von irgendwelchen indianischen Vorfahren her, jenes Herrische, dessen Florian aus unterbewußtem Verlangen nach Anlehnung und Leitung zu völligem Glück bedurfte.

Miß Grandison witterte, noch dazu nach Karl-Heinz' Worten, in Florian sofort den bedeutenden Mann. Außerdem reizte seine weise zurückhaltende Art – er prüfte immer erst, nach welcher Richtung hin er sich, ohne Gefahr zu laufen, verausgaben durfte – die Verwöhnte, die ihrer Neigung und Eitelkeit gemäß am liebsten flirtend eroberte. Sein weicher, etwas weibischer Mund verhieß Folgsamkeit und gute Möglichkeiten, ihn mit Launen zu quälen. Seine sicheren Urteile endlich, selbst auf ihrem eigensten Gebiete der Musik, verblüfften sie.

Sie kam just aus Paris und war erfüllt von französischer Musik, die mit ihrer flüssigen Süße amerikanischem Kunstverstand leichter eingeht als die horizontalen Zyklopenmauern der deutschen Neutöner. Namentlich Claude Debussy fand Miß Virginia » awfully clever and quite fascinating«.

Florian, der in Wahrheit die Washington-Post nicht vom Marsch der Toreros zu unterscheiden vermochte, log gelassen, was er neulich dem Gespräch zweier Musiker entfischt hatte: »Ich hörte kürzlich die Premiere von ›Pelleas und Melisande‹ in Berlin. Die Inszenierung war stimmungsvoll, die Besetzung überragend. Aber was wollen Sie, das stumpfe Publikum versagte natürlich!«

Miß Virginia fragte höflich: »Welches Motiv lieben Sie am meisten?«

Diesmal wäre Florian beinahe verwirrt geworden. Doch besann er sich sofort und schwätzte dann, ohne in Verlegenheit zu geraten, in solch bombastischen Ausdrücken über das Schweigen im Walde, die flatternden Tauben und den Springquell, daß Miß Virginia, die infolge ihrer mangelhaften Kenntnis des Deutschen nicht entscheiden konnte, ob hinter Florians Worten Wirklichkeit des Empfindens stand, ihn » quite charming« fand.

Den Ausschlag aber gab ein Streich, den sich Florian später in der Nacht leistete. Fritz Ysenstein trat, als Florian mit Virginia plaudernd am Geländer lehnte, herzu und begann den Freund in seiner sanften Art zu foppen, weil Florian, in dem er immer noch den guten, aber schlampigen Kumpan sah, auf ihn in der gemessenen Maske eines Gesellschaftsmenschen komisch wirkte. Wider Erwarten jedoch geriet Florian in zornige Abwehr, da er nicht wollte, daß Virginia, die ihn entzückte, etwas von seinen Schlampereien erführe.

Er puffte Fritz derb, aber im Scherz, wie es seine Art war: »Sei still, oder ich werfe dich über das Geländer!«

Virginia warf zweifelnd ein, indem sie die beiden jungen Männer mit sportlicher Kennerschaft musterte: »Der Fürst ist kein gutes Match für Sie, Herr Windmacher!«

Da nahm Florian kurzerhand, wie ihn denn öfters solche Anfälle heimzusuchen pflegten, den hoch und breit gewachsenen Freund wie ein Kind auf seine ausgestreckten Arme und hielt ihn, wie eine Amme den Säugling, einige Sekunden lang über das nächtlich ungeheure Taufbecken des Abgrundes.

Alle schauten entsetzt hin. Eine Dame kreischte auf. Karl-Heinz eilte besorgt herbei: »Florian, laß doch den Blödsinn!«

Da hob Florian den etwas bleich gewordenen Fritz wieder herüber, stellte ihn neben sich und klopfte ihm brüderlich auf die Schulter. Sie lächelten einander zu. Sie nahmen sich solche Kleinigkeiten, an die sie vom Stift her gewöhnt waren, nicht weiter übel.

Für Virginia aber stand es nunmehr fest, daß sie diesen Exzentrik, der Genie mit Athletik verband, näher in Augenschein nehmen müßte. Florian durfte sie also nach Hause geleiten, und sie verabredeten, daß sie am andern Tage im Englischen Garten zusammen den Tee nehmen wollten.

*

Obwohl Florian fast nichts getrunken hatte, kam er diese Nacht wie berauscht heim. Nie zuvor hatte er eine junge Dame kennengelernt, die imponierende Weltsicherheit mit Schelmerei, Eleganz mit Geistigkeit verband, wie Virginia. Ihre kokette Bereitwilligkeit deuchte den Unerfahrenen erste Regung einer tieferen Neigung. In seinem schweifenden Denken schossen sofort die weitestgehenden Pläne hoch. Wenn es ihm gelänge, diese seltene exotische Wunderblume zu pflücken!

Eine nicht geringe Rolle in seinem Liebesfieber spielte auch Virginias sagenhafter Reichtum. Dabei war es weniger der Gedanke, egoistisch mit Hilfe ihrer Millionen genießen zu wollen – würde er doch selber dermaleinst Geld genug besitzen –, als vielmehr der glühende Wunsch, dem Alten, der ihn stets als unfähig abgetan, eins zu versetzen. Hinzu kam, daß seine erniedrigte Ichsicherheit immer auf der Suche nach Stütze und Aufmunterung war. Glaubte er auch nur die geringste Spur eines Eindrucks, den er gemacht, zu entdecken, so loderte sofort sein ganzes Wesen in geschwollenem Gehobensein.

Einsichtig hatte er sich bei Karl-Heinz nach Virginias Vater erkundigt, und der Freund hatte lächelnd entgegnet: »Der alte Grandison ist ein Krupp des Rindfleisches!«

In zügelloser Phantasie sah Florian sich bereits als Virginias Mann, als Corned-Beef-Magnaten, im Blitzzug Kontinente durchrasend und mit dem goldenen Bleistift in der Hand Weltrindfleischpreise diktierend. Urbauernschläue erwachte plötzlich trotz seines Rausches. Der Alte sollte staunen! Süßer Kitzel der auch nur möglichen Genugtuung lüsterte seine Seele.

Er nahm sich vor, am nächsten Tage außerordentlich zu sein. Er machte gewissenhaft Toilette, knöpfte alle Knöpfe zu, bürstete seine Kleider, steckte den Henkel des Rockkragens hinein, der sonst gewöhnlich herausstak, putzte sich sogar die Zähne, was höchst selten geschah, rasierte sich, wusch sich selbst den Hals mit Seife und kämmte sich, bis er ganz gepflegt ausschaute.

Im Pavillon des Englischen Gartens war er eine Stunde vor der verabredeten Zeit zur Stelle. Er mußte lange warten. Er durchflog viele Zeitungen und schaute bei jeder neueintretenden Dame auf, ungewiß, ob es noch nicht Virginia wäre. Dann rauchte er zahlreiche Zigaretten, von schlimmer Unruhe gequält, daß all seine gestern erdachten Pläne hinfällig werden würden.

Da endlich, drei Viertelstunden zu spät, kam sie, in einfachem, weißem Kostüm mit schwarzen Besätzen, trotz der Einfachheit so auffallend, daß alle sich nach ihr umwandten. In bezauberndem Lächeln enthüllte sie perlmatte Zähne und drückte dem Verwirrten schüttelnd und schmerzhaft kräftig die Hand.

Sie plauderte so viel, daß Florian zu seinem Bedauern das ganze Rüstzeug seiner zusammengestohlenen Kenntnisse in der Scheide stecken lassen mußte. Dafür hielt er sich schadlos, indem er ungestört das goldene Elfenbein ihres Ausschnittes studierte.

Virginia wußte genau, daß sie gefiel, hier wie überall. Seine zurückhaltende Art belustigte sie, ja reizte sie. Sie gestand ihm, er wäre ganz undeutsch und beinahe ein Gentleman. Dabei fuhren ihre blanken Augen wohlgefällig über seine kräftigen Schultern: »Sie müßten sich Ihre Jacketts auf amerikanische Art machen lassen! Boxen Sie? Nein? Oh, warum nicht?«

Florian war zwar etwas enttäuscht, daß sie gar nicht auf seine geistigen Qualitäten einging, schlug aber nachgiebig und gewandt eine Volte ins Sportliche und berichtete von seinen Turniererfolgen. Unbekümmert um die Herumsitzenden, die viel nach der laut sprechenden, eleganten Dame hinsahen, befühlte Virginia kameradschaftlich die mächtig springenden, eisenharten Muskeln seines Oberarms. »Ihnen fehlt ein gutes Training, das ist alles!« bemerkte sie kennerisch.

Als es Zeit zum Abendessen war, nahm sie Florians Einladung in den Speisesaal eines der ersten Hotels ruhig an, zahlte aber, trotz Florians Protest, wenn auch zu seiner heimlichen Erleichterung, selbst, was sie verzehrt hatte. Nach dem Essen brachte Florian sie heim. Virginia drängte sich unabsichtlich, wie Florian annahm, in der Lebhaftigkeit des Gesprächs des öfteren an ihn. Er wich dann jedesmal, eine Entschuldigung murmelnd, mit Ehrfurcht aus.

Vor der Haustür, die er erst nach einigen vergeblichen Versuchen öffnen konnte, ließ sie ihre Hand so lange in seiner, bis er sich erkühnte, einen Kuß darauf zu drücken. Sie schob, wie um es ihm bequem zu machen, fröhlich lachend ihren Arm an seinen Mund.

Florian war unsicher. Er hatte wohl ein dunkles Empfinden, daß Virginia ihm viel Wohlwollen entgegenbrachte, aber er wußte keineswegs, wie weit er gehen durfte. Außerdem war ihm gar nicht nach fürderen Zärtlichkeiten zumute. Zwar reizte ihn Virginias glatter, dunkelroter Mund sehr. Aber es ging doch nicht an, daß er die Millionärserbin wie ein Dienstmädchen im Haustor bedrängte. Da gehörte ein ganz anderer Rahmen dazu! Und hatte sie ihn nicht einen Gentleman genannt?

Während er sich solchermaßen über innere Verlegenheiten hinwegtäuschte, lächelte sie die ganze Zeit über dies bestrickend liebenswürdige Lächeln, in dem verruchteste Lockung und Harmlosigkeit nebeneinander wohnen und auf das sich nur Amerikanerinnen verstehen. Schließlich lud sie ihn freimütig auf den folgenden Tag zum Tee in ihre Wohnung ein. Das bedeutete für Florian mehr, als er jemals zu hoffen gewagt hatte. Nun war da wieder ein Ziel für den nächsten Tag! Also entschloß er sich rasch, Abschied zu nehmen. Freilich war die Schwierigkeit nicht aufgehoben, sondern nur auf morgen verschoben!

Zu Hause angekommen, fand er lange keinen Schlaf. Er überlegte in einem fort, wie er, der nichts war und nichts leistete, ihr, der an Jahren Älteren, die vermöge ihrer Beziehungen sicherlich die erlesensten Geister aller Kulturen kannte, einen möglichst unauslöschlichen Eindruck hinterlassen könnte. Nach langem Forschen nahm er endlich ein leeres Blatt Papier und machte sich in äußerster Spannung daran, den Plan dessen, das er morgen vorbringen wollte, auszuarbeiten. Er entschied sich für sein Spezialgebiet, die Metaphysik, und legte sich, nachdem er sich das entworfene Gespräch eingeprägt hatte, zufrieden nieder.

*

In erregter Beklemmung ließ sich Florian am anderen Nachmittag vom Portier nach Virginias Wohnung hinauffahren. Sie bewohnte, wie er mit Genugtuung feststellte, ein eigenes Appartement. Ein Diener öffnete. Florian war von Reitzenau her an Dienerschaft gewöhnt, sonst hätte ihn der frech musternde Blick des öligen Burschen, der mit stark englischem Akzent sprach, noch mehr aus der Fassung gebracht, als es sowieso schon der Fall war.

Kaltschnäuzig sagte der Diener, indem er eine Tür öffnete: »Miß Grandison bitten den Herrn, im Drawingroom auf sie zu warten!«

Dann verschwand er. Florian schaute sich um. Das war also ein original amerikanischer Drawingroom, von dem er soviel hatte rühmen hören! Er entdeckte enttäuscht die banalen Möbel der üblichen Mietwohnung, die freilich durch Virginias Geschmack eine persönliche Note bekommen hatten. An den Wänden hingen neben einem japanischen Kalender mit englischem Aufdruck Gibsongirls, sehr korrekt küssende, sehr jugendliche Paare, mit höchstens sehr unkorrekt roten Lippen, die Reiterin, die sich zärtlich an den Pferdekopf schmiegt, und ähnliche Erzeugnisse amerikanischen Kunsttriebes. Florian lächelte. Dieser Kitsch gab ihm Haltung und Sicherheit.

Seiner neugierigen Art gemäß, öffnete er rasch alle Bücher, die auf Tischen und Kommoden herumlagen. Wenn er auch von sich aus schloß, daß Leute, die Bücher auslegten, sie wahrscheinlich gleich ihm nicht gelesen hatten, so war es doch angebracht, sich über Virginias literarische Neigungen zu orientieren.

Leider waren alle Bücher in englischer Sprache, außer ein paar der wie üblich gelb broschierten französischen Romane. Florian verstand zu seinem Bedauern kein Wort Englisch und sehr wenig Französisch. Aber gleich morgen wollte er sich englische Unterrichtsbriefe kaufen. Vermöge seines Gedächtnisses, auf dessen unwahrscheinliche Aufnahmefähigkeit er sich unbedingt verließ, würde er binnen vierzehn Tagen leidlich Englisch sprechen, sicher aber verstehen und mindestens lesen können. Daß er nicht schon gestern darauf verfallen war! Er fuhr durch sein Haar, erschrak dann und trat ärgerlich vor den Spiegel, um zu sehen, ob sein Rockkragen noch sauber wäre. Sodann zog er sein Konzept hervor und sagte sich vor dem Spiegel, indem er sein Gesicht entsprechend komponierte, noch einmal das gestern verfaßte Gespräch auf. Er beherrschte es fließend.

Da Virginia noch immer nicht erschien, ging er an ihren Schreibtisch, auf dem achtlos mehrere Briefe und Karten lagen. Er lauschte einen Augenblick. Es rührte sich nichts, weder auf dem langen Flur noch in den Nebenzimmern. Hemmungslos forschte er in brennendem Interesse. Leider waren es nur Rechnungen und Benachrichtigungen von der Bank, in denen allerdings erfreulich hohe Ziffern auftraten. Nur ein Brief war in englischer Sprache.

Gerade als er, in seiner deuterischen Hellfühligkeit gepackt, diesen Brief studierte, dessen Handschrift unzweifelhaft die eines Mannes war, der sich in großer Erregung befunden haben mußte, tat sich mit leisem Schüttern eine Schiebetür auf. Florian erschrak. Er warf den Brief hin und gab sich vermöge seines angeborenen Verstellungstalentes das Aussehen, als ob er ganz in die Betrachtung einer der vielen Photographien vertieft gewesen wäre, die den Tisch zierten. Dann erst wandte er sich mit gut geheuchelter Überraschung um.

Virginia reichte ihm mit liebenswürdigstem Lächeln die Hand. »Entschuldigen Sie, bitte, daß ich Sie wieder habe warten lassen. Aber ich bin, wie ich schon sagte, eine sehr, sehr unpünktliche Frau! Wollen Sie dort Platz nehmen?«

Damit wies sie Florian einen tiefen Sessel an, der neben dem Diwan stand, auf den sie sich niederließ. Dann schellte sie, worauf der Diener mit der unverschämten, starren Miene erschien. Er rollte ohne Aufforderung einen fahrbaren Teetisch heran, auf den er zuvor eine silberne Teemaschine mit kochendem Wasser gesetzt hatte. Danach ging er ebenso stumm hinaus, indem er lautlos die Tür hinter sich schloß.

Florian imponierte dieses Zeremoniell sehr. Er machte große Augen, als Virginia sich mit der Fertigstellung des Tees beschäftigte und sich dabei mit vielen kleinen Fragen aufmerksam nach seinen Wünschen erkundigte. Er stellte fest, daß diese englische Art, den Tee zu bereiten, einer koketten Frau wie Virginia mancherlei Gelegenheit bot, ihre Anmut zu zeigen. Zugleich beschwichtigte sich seine Erregung durch die zahlreichen, harmlosen Antworten, die er auf ihre ebenso harmlosen Fragen zu geben hatte. Er bewunderte nun erst recht die Japaner, die Erfinder des Teezeremoniells. Sie allein verstanden etwas von gesellschaftlicher Kultur! Er hatte nämlich gerade vor einigen Tagen bei Ysensteins jemand erzählen hören, daß es bei den östlichen Völkern eine ganze Literatur über die vorschriftsmäßige Art, den Tee zu bereiten, gäbe.

Wenn es ihn schon befremdend deuchte, daß eine junge Dame aus Virginias Kreisen ihn nach so kurzer Zeit allein empfing, so wunderte er sich noch mehr über Virginias weißseidenes Teegewand, das ihn, er konnte sich nicht helfen, an Lea erinnerte, an die er, als sein erstes erotisches Erleben, immerdar gebunden sein würde.

Aber da seine hohen Gefühle für Virginia, je länger er sie kannte – es waren nun schon drei Tage –, desto inniger wurden, unterdrückte er mühelos jene niederen Regungen.

Virginia hatte eine reizende Art, in ihrem drolligen Kauderwelsch, das ihr, zu der Florian eigentlich aufsah, etwas ausgleichend Kindliches verlieh, allerhand Spaßiges zu sagen. So fand Florian keine Gelegenheit, von seiner ausgearbeiteten Konversation über Metaphysik Gebrauch zu machen. Deshalb rückte er oft etwas ungeduldig in seinem Sessel hin und her, was Virginia sehr zu belustigen schien.

Er errötete und hätte sich beinahe hinter dem Ohr gekratzt, wenn ihm nicht noch im letzten Augenblick eingefallen wäre, daß es hier galt, gute Erziehung zu zeigen. Virginia hatte ihn einen Gentleman genannt, und er hatte irgendwo sagen hören, daß angloamerikanische Rassen größten Wert auf Sauberkeit und Hygiene legten.

So rauchte er denn, hilflos ihrer koketten Überlegenheit preisgegeben, eine Zigarette nach der anderen und kam nur selten zu Worte.

»Trinken Sie noch eine Tasse?«

»Danke, nein!«

»Nun, dann kann John abräumen.«

Sie schellte. Der Diener erschien, rollte, ohne daß ihm ein Wort gesagt wurde, den Teetisch fort und verschwand stumm, das benutzte Geschirr mit hinausnehmend. Als er gegangen war, streckte sich Virginia gerade vor Florian, der seinen Augen nicht traute, lang auf dem Diwan aus. Sie kreuzte die Beine hoch übereinander und wippte mit dem freien, sehr kleinen Fuß.

Florian saß stumm da und schaute beklommen auf das schöne Mädchen, das ihn, eine Zigarette im Mund, anblinzelte. Er wußte keineswegs, was Virginia von ihm erwartete. Er hatte sie bei Ysensteins kennengelernt, also war sie sicherlich Dame, sogar sehr große Dame! Andererseits war ihm noch nie eine Dame der Gesellschaft so schnell und so weit entgegengekommen. Aber bei diesen merkwürdigen Amerikanerinnen sollte man sich auskennen! Nun kratzte er sich wirklich hinter dem rechten Ohr, und zwar ausgiebig.

Virginia blickte erstaunt hin. Sofort erwacht, ließ Florian die Hand sinken und schaute aus Verlegenheit auf seine Uhr. Froh, einen Vorwand gefunden zu haben, um die peinliche Situation zu beenden, erhob er sich und erdichtete irgendeine Ausrede.

Virginia machte eine unergründliche Miene, als sie ihm die Hand reichte und die seine zum Abschied lange und fest drückte. Florian deuchte, in ihren geliebten Zügen flackerten Ironie und Erstaunen. Ihm deuchte ferner, als ziehe diese harte und feste Hand an seiner. Allein er wagte nicht zu entscheiden, was bei ihr Flirt, was Ernst war.

So ging er denn, etwas traurig, und kam fast täglich wieder, wohl an die zwei Wochen lang. Je blühender sein Rausch gedieh, desto mehr nahm auch seine Unsicherheit zu. Er verlor völlig seine Haltung, trotz aller schauspielerischen Künste, die er sich zugetraut hatte.

Heute zum Beispiel trug Virginia wegen der Hitze einen so hauchdünnen Kimono, daß man ihre wundervollen Schultern hindurchschimmern sah. Florian strömte alles Blut zu Kopf. Er starrte auf das weiße Spitzengekräusel am Aufschnitt, das so aufreizend lockte. Da merkte Virginia ihre Nachlässigkeit, ordnete gelassen ihr Gewand und bat, schelmisch lächelnd, um Entschuldigung.

Was in Gottes Namen hatte das zu bedeuten? Gedachte sie etwas herauszufordern, wozu er keineswegs, jedenfalls nicht unmittelbar, aufgelegt war? Er wollte von seiner Liebe zu ihr sprechen, von seinem Rausch, von den seltsamen Zuständen der Entrücktheit, die er durchmachte, seit er sie kennengelernt hatte. Sein Wesen lebte allein nur noch in ihrem. Er spürte ein nie dagewesenes kosmisches Verwobensein mit ihr. Und in nächtlich dämonischen Phantasmagorien deuchte ihn oft, als wäre er ihr Kind und sie seine schöne, angebetete Mutter.

Dennoch fürchtete er im Widerspruch dazu nichts mehr, denn vor ihr, der Spöttischen, als Mann lächerlich zu erscheinen. Darum zwang er sich heute und griff, wie es ihm schien, mit übermenschlicher Kühnheit, ganz ohne Vorbereitung nach ihrer Hand, die dicht vor seinen Knien herunterhing. Sie duldete es wie selbstverständlich und wie, als ob sich ihre Hand seit langem gerade dies gewünscht hätte.

Zu Florians Verdruß fiel ihm nichts ein, was er hätte sagen können. Tief aufseufzend, begann er darum, mit seiner anderen Hand Virginias Arm zu streicheln. Zu seiner Überraschung hielt sie stand und schloß die Augen, wie um die Liebkosung genießerisch besser auszukosten.

Plötzlich preßte sie zwischen den Zähnen hervor: »Was machen Sie mit mir? Aus Ihren Fingern strömt irgendeine Kraft in mich, gegen die ich nichts ausrichten kann.«

Da schöpfte Florian Mut und begann in ehrfürchtiger Erregung die längst ausgearbeitete Erklärung, die er in seiner Unwissenheit bei solcher Gelegenheit für unbedingt erforderlich hielt: »Virginia, seit ich Sie kennengelernt habe, ist irgendeine qualvolle Veränderung in mir geschehen. Ich wandle einher als wie verzaubert. Ich habe ein Empfinden, als wäre mir mein intelligibles Ich genommen, als wäre ich nur noch in Ihnen, durch Sie. Das foltert mich! Nur Sie können mir wieder zu mir verhelfen. Ich flehe Sie an – – –«

Virginia öffnete die dunklen Augen, wie allzu plötzlich aus beglückendem Rausch gerissen, und blickte ihn fast ärgerlich an, so daß er in seiner oft memorierten Ansprache steckenblieb. Dann lachte sie: »Die deutschen Männer sind komisch! Entweder sind sie zudringlich, oder aber sie reden von Gefühlen. Können Sie nichts Unterhaltsameres finden? Das habe ich schon oft gehört.«

Sie entzog ihm gelangweilt ihre Hand, schüttelte den weiten Ärmel zurück und verschränkte die Arme unter dem Kopf, indem sie Florian lauernd ansah.

Florian, in seiner eigenen wie in seiner Stammesehre verletzt, von wütender, rückgewandter Eifersucht auf die Männer, von denen sie gesprochen, gepackt, warf sich über sie und versuchte sie zu küssen.

Doch hatte er ihre Kraft unterschätzt. Bald bekam sie ihre Arme frei, richtete sich halb auf und wehrte ihm. Da spannte Florian mit äußerster Willensanstrengung seine gefürchteten Muskeln an, umklammerte Virginia, warf sie zurück und küßte sie, wohin er traf.

So kam es denn, daß er unerhört glücklich wurde, ohne recht zu begreifen warum. –

Zu seiner Trauer konnte Virginia den Abend nicht mit ihm verleben, da sie eingeladen war und, was ihn wurmte, nicht absagen wollte.

Dennoch schlafwandelte er, in seliger Benommenheit, die Geliebte endlich gewonnen zu haben, heim durch die Straßen, die von abendlich goldenem, mildem Licht verklärter waren als am Tage. Obwohl er sich zerschlagen fühlte, hatte er das Bedürfnis, rastlos zu schreiten. Durstig ging er in ein Café und bestellte, indem er den Namen mit unendlicher Zärtlichkeit aussprach, einen Lemonsquash. Es war zwar dasselbe wie Zitronenlimonade, aber die wenigen Laute aus der Mundart der Geliebten genügten, um einen heißen Strom von Glück über sein Herz zu schütten. Er stürzte das kalte Getränk in hastigen Zügen hinunter. Ihm brannte der Leib, und sein Hirn schwindelte.

Ein dicker, älterer Mann an einem der Nebentische beobachtete ihn und sagte: »Na schaun's, junger Herr, wenn dös Ehna guet tut!«

Florian stand auf und schüttelte dem Unbekannten die Hand, obwohl er sonst einen Abscheu vor südlicher Vertraulichkeit empfand. Denn er fühlte von jeher zwischen sich und den gewöhnlichen Menschen Grenzen gesetzt, die er nur schwer und in den meisten Fällen überhaupt nicht zu überschreiten vermochte. Nun aber hatte Virginia auf einmal Alliebe und Allgüte in ihm geweckt.

Noch bangte ihm um dieses allzu rasche Glück. Warum nur mochte Virginia, die Stolze, gerade ihn erhört haben?

Dazu quälte ihn eine neue Angst. Ihm fiel ein, daß er ganz vergessen hatte, von seinen ernstlichen Absichten zu sprechen. Was nur mochte Virginia von ihm denken? Ob sie sich für verlobt mit ihm hielt?

Endlich fiel ihm zu seinem Schrecken ein, daß sie kein Wiedersehen vereinbart hatten. Nun, er würde morgen in aller Frühe anrufen. Er mußte sie bald wiedersehen! Er konnte nicht mehr leben, ohne sie wenigstens einmal am Tage gesprochen und gestreichelt zu haben.

So wehte er denn durch die Straßen, bis sie dunkel wurden, von süß-schmerzlicher Unrast vorwärts gepeitscht, den geierhaften Blick ins Wesenlose gespannt, mit der geistigen Schau nach innen lebend, ohne der Außenwelt zu achten. Übermüdet wankte er endlich nach Hause. Er machte Licht. Ihm war, als seien trotz der Müdigkeit seiner Seele Flügel gewachsen, als drängte das Chaos seiner Innengefühle nach außen. Mit quälender Spannung nahm er ein Kollegheft vor, riß die wenigen beschriebenen Blätter heraus und kratzte mit vielem Fleiß in den schwarzen Wachstuchdeckel:

 

Das Buch Virginia.

Dann begann er wie inspiriert zu schreiben. Da er mit niemand reden mochte, um wie ein Geiziger den Schatz seines Geheimnisses ganz für sich zu behalten, mußte er wenigstens mit dem Papier Zwiesprache halten, um nicht von der Macht dessen, was in seiner übervollen Seele durcheinanderquoll, erdrückt zu werden.

Und Florian schrieb: »Es ist Nacht. Ich bin allein. Heut schenktest du dich mir! Gleich als vor Wochen mein Auge dich in sich trank, fühlte ich die geheimen Fäden, die zwischen unseren Seelen von längst verstrichenen Zeiten her geknüpft sein müssen. Denn wie sonst ist dies tief innerliche Grüßen unserer Seelen zu erklären, als daß sie einander von jeher zubestimmt waren, von einer unbekannten Wesenheit, die wir armen Blinden Schicksal, Zufall heißen. Evoe! Ich grüße dich, Schwester! Schwester? Nein, Mutter! Deine reife Fülle ist die einer Mutter, meiner Mutter! Wie ein Kind, wie dein Kind möchte ich mein uraltes, von schlimmen Leiden meiner Jugend greisenhaft müdes Haupt in deinen Schoß betten, um zu ruhen und zu träumen von unserer Verschmelzung. –

Ein fremder Pfahlbürger sprach mich heute nacht an. Die verabscheute empirische Welt wollte, ohne mich zu fragen, an das Ding an sich meines Wesens, das allein von deinem Wesen erfüllt ist, dringen! Wie hätte ich mich sonst empört gegen diesen Übergriff der Materie! Heut aber antwortete ich gütig! Du Übergütige hast auch mich gütig gemacht! Ich sinke vor dir Schönen, Klugen in die Knie und küsse als dein demütiges Kind deine Füße, deine kleinen Füße!

Nie zuvor habe ich meinen Weg gekannt! Als ein Blinder taumelte ich durch die Hallen des Lebens, durch die Reiche des Geistes und der Kunst. Nun ich dich liebe, liegt auf einmal alles klar vor mir. Ich werde arbeiten, ich werde leisten, um deiner würdig zu werden und dich für immer zu erringen.«

Bald danach schlummerte Florian ein. Aber ein entsetzlicher Traum quälte ihn.

Er stand mit Virginia in der Fleischfabrik ihres Vaters in Chicago. Mister Grandison, ein grauhaariger Herr mit roten, gesprenkelten Backen, lief, eine Fleischerschürze über den Abenddreß gebunden, verzweifelt hin und her. »Es sind Millionenaufträge eingegangen, und gerade jetzt ist kein Schwein aufzutreiben!«

Da trat hinter einem Stapel von leeren Corned-Beef-Büchsen der Fähnrich von Steffens, Florians alter Feind, vor, klappte mit den Hacken und wies auf Florian. »Zu Befehl, Mister Grandison! Fahnenjunker Windmacher ist das gigantischste Schwein des Kontinents!«

Grimmig lächelnd, trat Vater Grandison auf Florian zu und schleifte ihn mit herkulischer Kraft vor eine der schrecklichen Maschinen, wo vorn ein ganzes Schwein hineingesteckt wurde, das hinten als Schinken, Wurst oder Paste wieder herauskam.

Trotz aller Todesangst bemerkte Florian, wie Virginia sich vor Lachen wand! Und das tat weher als die gräßlichen Hackemesser der Maschine, die ihn nun bearbeiteten.

In diesem Augenblick traten hinter demselben Stapel von Büchsen, zum Morgenbummel formiert, die Slawonen, bildeten einen Halbkreis und sangen:

»Nun zu guter Letzt
Geben wir dir jetzt
Auf die Wandrung das Geleite!«

Als gerade sein Kinn von der Maschine zermalmt wurde, sah er, wie Virginia sich vor allen Zuschauern von Steffens küssen ließ. Sein Herz, das noch nicht versehrt war, schmerzte ihn mehr als das Knacken seiner Knochen.

Obwohl er nun mit großer Geschwindigkeit von Hacken, Zangen, Sägen und Beilen zerlegt wurde, blieb sein Bewußtsein wie auch sein Ichgefühl über all dem Brei unzerlegt, unentdoppelt und klar. Wie ein erhabener Zuschauer thronte er über all dem Graus. Er empfand ein mysteriöses Innewerden von der Unzerstörbarkeit seines intelligibeln Charakters durch alle Ewigkeiten hin. Diese Erkenntnis beglückte ihn tiefer, als ihn alles Leid um Virginias Herzlosigkeit verwundete.

Während er nun mit stummer Fassung apperzipierte, daß seine Oberschenkel zu Schinken gekerbt, seine Eingeweide zu Leberpaste gemalmt wurden, gewahrte er, wie oben am Rand der Maschine ein Heer von Ratten, die groß und fett wie Ottern waren, hineingeworfen wurde.

Da empörte sich sein ethisches Gefühl, daß er, der hochgezüchtete Metaphysiker, mit Ratten, diesen Geschöpfen des Teufels, zusammen in einen Wurstdarm gestopft werden sollte. Er begann in der Maschine so rasend zu kreischen und trotz seiner Zerstücktheit um sich zu schlagen, daß er erwachte.

Er saß lange traurig auf und überdachte die Bedeutung des Traumes. Wußte er doch aus Angelesenem und Angelauschtem, daß im Schlaf tief aus dem Unterbewußtsein die geheimsten Gedanken ans Licht traten. Also würde Virginia ihn so bald verraten? Und was mochte sie vor ihm erlebt haben? Er wollte sie gleich morgen danach fragen, sobald er ihr seine Absicht, sie zu heiraten, kundgetan hätte. Vornehm, wie sie war, würde sie nicht mit einem Geheimnis vor ihm in die Ehe treten wollen. Und daß irgend etwas Beunruhigendes in ihrem vergangenen Leben oder ihrem gegenwärtigen Zustand war, das fühlte er. Nur so ließ sich dieser merkwürdige Traum deuten, der in wunderlicher Weise Unsicherheiten, die er sich lieber verschwiegen hätte, mit Befürchtungen über Virginias Charakter verband, die er sich im Wachen niemals eingestanden haben würde.

Er schlief noch einmal ein und erwachte gegen neun Uhr morgens. Nachdem ihm die Wirtin das Frühstück hereingebracht hatte, entdeckte er zu seiner Bestürzung erst jetzt, daß gestern der 21. Juni gewesen war, ohne daß er auf diesen seinen Schicksalstag geachtet hätte. Wieder bedrückten ihn die gräßlichen Gesichte des Traumes, die unverrückt vor seiner inneren Schau standen.

Um sich vom Spuk des Unterbewußtseins zu befreien, ging er an das Telephon. Der Diener kam an den Apparat und sagte kurz: »Miß Grandison sind erst sehr spät nach Hause gekommen und schlafen noch. Da ich keinen Auftrag habe zu wecken, müssen der Herr sich später noch einmal bemühen.«

Florian hing mit bitteren Gefühlen ab. Obwohl sich eigentlich alles ganz natürlich aufklärte, setzte sich Virginia bei feinstem Abwägen dennoch ins Unrecht dadurch, daß sie nicht nach ihm verlangte. Er litt bitterlich, wie jeder Liebende leiden muß, der mehr liebt und mit weniger Erfahrung als der andere. Er wagte nicht, Virginias Schlaf zu stören. Auch scheute er den Diener. Es war immerhin möglich, daß John sich weigerte seinen Auftrag auszuführen. Und darauf wollte es Florian nicht ankommen lassen.

Wenn er sich auch tausendmal sagte, daß er keinen tatsächlichen Grund zur Trauer hatte, aß er doch mit Kummer sein Frühstück, brachte nicht die zu sorgfältigem Anziehen nötige Entschlußkraft auf und schlenderte, um nur nicht mit seinem grenzenlosen Gefühl in die engen Mauern des Zimmers gesperrt zu sein, durch die Straßen.

Gegen zehn war er vor Virginias Haus angelangt, wußte nicht mehr aus noch ein und schellte mit verstörtem Gesicht an ihrer Tür. Der ihm bereits verhaßte Diener öffnete und lächelte, wie es Florian schien, über seine verwüstete Miene.

Dann sagte John eisig: »Miß Grandison haben soeben ihr Frühstück an das Bett bestellt!«

»Fragen Sie, ob mich Fräulein Grandison empfangen kann!« schnob Florian, aufs äußerste gereizt.

John schickte sich mit einer Grimasse an, den Auftrag auszuführen. Jedoch unterließ er nicht, die Wohnungstür gerade vor Florian zuzuschlagen. Florian verwirrte die Wut! Wenn er diesen Burschen einst zu fassen bekam, dann Gnade ihm Gott! Er würde ihn gewissenlos, nein, sogar mit tiefstem Glücksgefühl kaltgemacht haben! Er wollte Virginia veranlassen, daß sie diesen Flegel bei der ersten Gelegenheit abschaffte. Sonst könnte er eben nicht mehr zu ihr kommen.

Nach geraumer Zeit hörte er den Diener zurückkehren, erst umständlich Kette und Sicherung des Schlosses entfernen und dann öffnen. Er bestellte: »Miß Grandison lassen Herrn Windmacher« – er sprach Florians Namen, als ob es ihm schwer fiele, langsam und überdeutlich – »bitten, ein paar Minuten im Drawingroom zu warten.«

Er nahm Florian nicht den Hut ab, so daß dieser gezwungen war, sich die Garderobe im Dunkel des Flurs selbst zu suchen. Florian atmete auf, als sich die Tür des Raumes, der ihn gestern so glücklich gesehen hatte, hinter ihm schloß. Wieder unternahm er Entdeckungsfahrten in Bücher und Briefe mit demselben Mißerfolg wie am Tag zuvor.

Sodann stellte er sich vor den Spiegel und übte ein glückliches, ein trauriges und ein empörtes Gesicht. Er wurde zufriedener mit sich. Denn das empörte Gesicht kleidete ihn wirklich gut.

Nachdenklich ließ er sich in einen Stuhl fallen und überlegte genau, was er Virginia sagen wollte. Dabei fing plötzlich sein linkes Ohr an zu jucken. Er räumte es gründlich aus. Endlich erinnerte er sich, daß er sich die Nägel noch nicht gesäubert hatte. Flott knipsend holte er es nach. So verstrich fast eine Stunde.

Er hielt das Warten kaum noch aus. Auf einem Tisch standen Zigaretten. Da er, wie gewöhnlich, keine bei sich hatte, bediente er sich freimütig, rauchte eine nach der andern und reinigte zwischendurch rüstig seine Nase.

Endlich tat sich die Tür auf, und Virginia erschien, strahlend vor Frische. Ein leiser Duft von Lavendel war um ihre schlichte, weiße Bluse, durch deren dünnen Stoff ihre bronzene Haut schimmerte. Gleich verjagte eine glückliche Erinnerung jeglichen Mißmut. Bewegt küßte er ihre Hände.

»Entschuldige, Dear, aber ich mußte mein Bad nehmen und hatte den Friseur und die Manikure bestellt. Aber pfui, du hast das ganze Zimmer voll Rauch geblasen!«

Elastisch schritt sie zum Fenster und riß es auf. Florian war enttäuscht. Der Lärm der lebhaften Straße vernichtete all seine Hoffnungen auf ein vertrautes Beisammensein. Um sich die gewöhnlichsten Dinge zu sagen, mußte man schreien. Wie sollte er da von den Schauungen sprechen, die er gestern nacht erlebt hatte!

Zu seiner Beunruhigung erschien plötzlich eine Falte auf Virginias Stirn. Sie musterte sein Gesicht, seinen Anzug und schien mit jedem Blick erstaunter. Da erst besann er sich, daß er unrasiert war und vergessen hatte, sich zu kämmen. Ob er sich gewaschen hatte, darauf konnte und wollte er sich nicht mehr besinnen. Allein was taten diese Äußerlichkeiten, wo in ihm ein überirdischer Garten mit geisterhaften Blumen der Liebe aufgeblüht war! Wenn Virginia ihn gleich stark liebte, mußte sie über so geringfügige Nachlässigkeiten hinwegsehen.

Nachdem sie sich eine peinliche Weile stumm gegenübergesessen hatten, faßte er sich einen Mut, stürzte zu ihren Füßen und verwühlte seinen Schopf in ihrem dunklen Rock.

Sie hob mit spitzen Fingern seinen Kopf aus ihrem Schoß: »No, Darling, du solltest erst ein Shampoon haben!«

Er errötete: »Ich leide um dich, Virginia! Wie einen Verschmachtenden, der Meerwasser getrunken hat, immer heftiger dürstet, so verlangt mich nach süßem Wasser der Liebe. Sage mir nur ein einziges Mal, daß du mich liebhast!!« Er küßte wie ein Unsinniger ihre duftenden Hände.

»Laß, Dear, du bist nicht rasiert. Du kratzt meine Hände rot!«

Floria zuckte zusammen. Er litt unsäglich ob ihrer Kälte und Vernünftigkeit. Demütig nahm er ihren Fuß und küßte anbetend den Spann, der hell durch die glänzende Seide schimmerte. Da erhob sie sich. »Nicht jetzt, Florian.« Sie drohte ihm mit dem Finger wie eine Mutter ihrem Kinde: »Ganz artig sein, my little boy! Ich habe um zwölf Uhr meine Klavierstunde. Du darfst mich begleiten.«

Als Florian kurze Zeit darauf mit ihr durch die mittäglich heißen Straßen schritt und viele Augen auf Virginia, die groß und elegant an seiner Seite schritt, gerichtet sah, schwand sein Kummer. Er sonnte seine arme, geschlagene Eitelkeit mit in ihrem Triumph und bemerkte strahlend gar nicht die befremdeten Blicke, die ihm galten, der lotterig, übernächtig und überzwerch neben der Straffen, Jungen mit flatterndem Hosenbein hastete. Er bemerkte auch nicht Virginias mit jedem Schritt wachsende Verstimmung. Er fühlte sich neben ihr geborgen wie ein Kind, das seine Mutter gefunden hat. Und dies Gefühl bedeutete für Florian das erste Glück am heutigen schwarzen Tage.

Aus seiner frohen Laune heraus faßte er auch den Entschluß, sich über den Diener zu beklagen. »Hast du John schon lange?«

»Ja, ich habe ihn vor Jahren in England entdeckt. Nur dort gibt es brauchbare Leute. Die Franzosen sind schmutzig. Die Deutschen sind plump und träge. John hingegen ist wohlerzogen und zuverlässig. Außerdem sieht er sehr smart aus, nicht wahr?«

Florians Mut sank. »Du findest ihn wirklich wohlerzogen?«

»Ja, er ist wie ein englischer Gentleman jeder Situation gewachsen.« Sie lächelte.

Florian, den ihr Lächeln erbitterte, holte mit nachzitternder Empörung aus: »Ist es bei euch in Amerika Sitte, daß ein Diener einem Gentleman, den er bereits kennt, die Tür vor der Nase zuschlägt? Und ihn draußen warten läßt? Bei uns zu Lande würde man einen solchen Flegel sofort hinauswerfen!« Er bebte von neuem wegen der erlittenen Schmach.

Sie schaute ihn befremdet an. »Wahrscheinlich hat dich John nicht wiedererkannt. Denn, entschuldige, Dear, du machst heute einen saloppen, wenig vertrauenerweckenden Eindruck!«

Florian verbiß seine Erregung. So nahm sie also gegen ihn für diesen Unverschämten Partei! Mit zitternden Lippen brachte er endlich heraus: »Ich hoffe jedenfalls, daß du ihm bedeutest, in Zukunft höflicher zu sein, wenn ich komme. Es könnte sonst eintreffen, daß ich ihm etwas deutsche Höflichkeit beibringe!«

Virginia zuckte mit den Achseln. »John ist Schwergewicht und hält die Boxmeisterschaft seiner Grafschaft. Im übrigen, wenn es dir Vergnügen macht, dich mit einem Bediensteten zu messen, können wir ja in meinem Salon ein Match veranstalten.«

Sie verabschiedete sich so kühl von ihm, daß Florian seine Heftigkeit sofort bereute. In ängstlicher Erwartung fragte er, ob er sie heute noch sehen könnte. Sie überlegte eine Weile. Dann erst antwortete sie: » Well, du kannst bei mir das Lunch einnehmen.«

Florian blickte ihr niedergeschlagen nach. Er erfuhr die schmerzliche Wahrheit, daß sich Träume eines Liebenden nur selten mit der Wirklichkeit decken. Schon jetzt erlebte er den Geschlechterfluch, daß trotz allen Trachtens nach Einheit entweder die Seelen oder die Leiber auseinanderstreben. Virginia war heute so fremd und kalt, als ob sie nicht seit gestern auf ewig mit ihm verbunden wäre. Wie konnte sie darüber verletzt sein, daß er ihren Diener tadelte! Hatte er doch viel mehr Grund, gekränkt zu sein, weil sie mit angelsächsischem Dünkel an Deutschen und deutschen Sitten Kritik übte. Seinem Zartgefühl nach war es geschmacklos, das Volk, bei dem man zu Gast weilte, dessen Kunst und Kultur man, um zu lernen, in Anspruch nahm, herabzusetzen.

Wenn er sich auch freute, bei ihr sein zu dürfen, so war da wieder das Hindernis des frechen Dieners, das genommen werden wollte und ihm jegliche Unbefangenheit verdarb. Sooft er sich auch sagte, daß John eigentlich mit seinem Glück nichts zu tun hätte, der Gedanke an das süffisante Lächeln des Burschen breitete sich wie ein eitriges Geschwür in seinem Gehirn aus und unterdrückte alles Blühen und Schweifen seiner Liebe.

Um Virginia Freude zu machen, ließ er sich inzwischen rasieren und shampoonieren. Mit dadurch aufgefrischtem Selbstbewußtsein stellte er sich, da er Virginias Unpünktlichkeit nun kannte, absichtlich eine Viertelstunde später als verabredet ein, um sich nicht wieder mit dem Diener in Verhandlungen einlassen zu müssen. Denn er konnte nicht mehr dafür einstehen, daß er den Menschen nicht niederschlug. Er ging über Leichen, wenn es darauf ankam.

Aber John schien Anweisungen erhalten zu haben, Florian höflicher zu empfangen. Er machte Ansätze zu einer grußartigen Verbeugung, nahm ihm den Hut ab und führte ihn sogleich in das Speisezimmer, wo Virginia bereits wartete und gereizt mit den Fingern auf dem Tisch trommelte, als Florian eintrat.

»Du bist sehr spät, Dear! Ich muß dich bitten, pünktlich zu sein, da ich meine Leute niemals warten lasse!«

Florian nahm verblüfft ihr gegenüber Platz. Also auf seine Zeit wurde keine Rücksicht genommen, aber das Personal mußte geschont werden!

Virginia drückte einmal auf eine Klingel, die flach auf dem Tisch lag. Darauf erschien eine ältliche, sehr mitgenommen aussehende Dame mit einem rundlosen Kneifer auf der spitzen Nase. Florian erhob sich erstaunt, und Virginia stellte sehr nachlässig vor: » My chaperon – Mister Windmacher

Darauf erfolgte ein kurzes englisches Gespräch, von dem Florian nichts verstand. Das also war das Beisammensein mit der Geliebten, auf das er sich gefreut hatte!

Virginia drückte zweimal auf die Klingel. John erschien und trug in lächerlich kleinen Tassen irgendeine Brühe auf. Florian, der hungrig war, nahm, da der Inhalt verlockend roch und nicht dampfte, einen tüchtigen Schluck. Die Brühe war glühend heiß. Schmerzlich auffahrend, ließ er einen Teil seines Mundinhalts wieder in die Tasse laufen, schaukelte den Rest zwischen den Backen hin und her zur Abkühlung, als ob er nach Kinderart gurgelte, und verschluckte sich dabei. Virginia warf ihm einen unwilligen Blick zu.

Danach gab es nur eben angebratenes, noch ganz blutiges Roastbeef mit einem augenscheinlich ohne Gewürz und Pfeffer zubereiteten Wirsingkohl, der infolgedessen nach nichts schmeckte. Florian bekam eine recht geringe Meinung von der angloamerikanischen Küche. Das mußte ganz anders werden, wenn er erst etwas zu sagen haben würde. Er schaute sich suchend nach Pfeffer und Salz um. Das zierliche, silberne Gefäß stand bei der ihm nur unvollkommen vorgestellten Dame. Da Florian weder ihren Namen wußte noch ihre Sprache verstand, wagte er nicht, sie darum zu bitten. Weil er morgens aus Kummer über den Traum kaum etwas zu sich genommen hatte, spürte er starke Eßlust, ließ den nach nichts schmeckenden wässerigen Kohl links liegen und hielt sich an Braten und Kartoffeln schadlos.

Virginia und ihr Chaperon hatten an allem nur genippt und waren längst fertig, als Florian, immer noch in das Kauen des zähen Fleisches vertieft, am Rest der dritten Scheibe würgte. Virginia warf bereits gelangweilte Blicke umher. Es dauerte eine Weile, bis Florian ihre Ungeduld merkte. Sofort begriff er, daß sie wahrscheinlich mit ihm allein zu sein wünsche, und erklärte gegen seine Überzeugung, vollständig gesättigt zu sein.

Es ließ sich nicht leugnen, daß er von der Speisenfolge recht enttäuscht war. Er hätte nie geglaubt, daß es im Haushalt einer Milliardenerbin so plötrig zuginge! Wenn er damit die ausgedehnten Mahlzeiten daheim in Reitzenau verglich! Wo weise gewürzte Suppen den Appetit ankitzelten, fertig gebratenes Fleisch und wohlzubereitetes Gemüse ihn befriedigten, um ihn dann nach und nach in Kompotten und Süßspeisen ersterbend hinsiechen zu lassen. Du meine Güte!

Nach dem Essen zog sich die verwitterte Dame mit dem Kneifer zurück. Virginia ging voran in den Drawingroom, wo sie Florian Zigaretten anbot und sich dann auf dem Diwan ausstreckte.

Florian glaubte es nunmehr an der Zeit, von seiner Liebe reden zu sollen. Er erzählte ihr, die die Arme ihrer Gewohnheit gemäß unter dem Nacken verschränkte, wie er den gestrigen Abend und die Nacht verbracht hatte.

Virginia schwieg noch immer. Durch ihr Schweigen ermutigt, zog er »Das Buch Virginia« aus der Brusttasche und las leise und mit ehrfürchtiger Ergriffenheit vor, was ihm die Stimmen der Nacht eingegeben hatten. Zwischendurch warf er spähende Blicke auf die Geliebte, um zu sehen, welchen Eindruck seine beschwingte Prosa auf sie mache. Sie lag ruhig, wie aufmerksam lauschend da.

Als er die Schlußworte: »Ich werde arbeiten, ich werde leisten, um deiner würdig zu werden und dich für immer zu erringen!« wie ein feierliches Gelübde mit etwas erhobener Stimme gesprochen hatte, beugte er sich ergriffen über sie. Sie hatte die Augen geschlossen, ihre schöne Brust hob und senkte sich, sie schlief!

Florian fand es so süß, den Schlummer der Geliebten zu hüten, daß er ihr gutmütig verzieh, über seinen Worten, die aus den Tiefen seines Blutes stammten, eingeschlummert zu sein. Bedeutete es doch höheres Glück und tiefere Verknüpfung als alle Leidenschaft, nun, wo Virginia nicht mehr unmutig oder gelangweilt dreinschauen konnte, die kühne Schönheit ihrer edelscharfen Züge zu betrachten. Wie liebte er ihre stolze Seele, die ihn leiten, ihn formen sollte, der er sich ganz hingeben wollte.

*

»Das Buch Virginia« bedeckte sich mehr und mehr mit Florians Schriftzügen. Es war, als hätte er sich wie zur Selbstgeißelung diejenige von allen Frauen erwählt, die ihm am meisten von allen leiden machen mußte. Virginia, die als Amerikanerin doppelt streng auf alle Verstöße gegen die Zivilisation achtete, fand in einem fort an Florians Äußerem, an seiner mangelhaften Körperpflege und an seinen derben Gewohnheiten etwas auszusetzen. Sie war von Natur aus wie auch infolge langer Gewöhnung an verliebtes Fechten launisch, reizbar und leicht verletzt.

Dazu kam, daß sie reifer an Jahren und Erfahrung war als Florian, der in Wahrheit zum erstenmal Liebe, und zwar Liebesknechtschaft, erlebte. Wenn er nur die feine Wissenschaft der Witterung, die ihn in geistiger Hinsicht auszeichnete, auch in leidenschaftlichen Dingen besessen hätte. So aber geschah es bisweilen, daß er gerade, wenn Virginia, vom stundenlangen Üben ermüdet, nach Ruhe verlangte und schweigend und nachsichtig seinem für sie schwer faßbaren Redestrom lauschte, es für angebracht hielt, sie mit knabenhaften Zärtlichkeiten zu erbittern. Wehrte sie dann schroff ab, so zog er sich verwundet zurück, verfiel ebenfalls in drückendes Schweigen, und das Beisammensein endete mit Verstimmung und Zerwürfnis.

War hinwiederum Virginia voll heißer Spannung, so traf ihre leidenschaftliche Erwartung häufig auf völlige Verständnislosigkeit bei Florian, der womöglich gerade in den abseitigen Welten seiner mystischen Seelensensibilität weilte. Enttäuscht rächte sie sich durch höhnische Quälereien.

Bis zu einem gewissen Grad liebte Florian diese Quälereien, wie manche Leute einen dämonischen Hang zu gerade dem Gift verspüren, das sie verdirbt. Konnte er, hilfslos gegenüber den feinen Rapieren ihres Hohns, die Qual nicht mehr ertragen, so schlug er mit den Knütteln grober Drohungen, die er nie in Taten umsetzte, auf sie ein oder raste fort wie von Sinnen.

Kam er von solchen Auftritten nach Haus, so tat ihm seine Schroffheit bereits wieder leid. In übermenschlicher Güte maß er sich allein die Schuld an allem Unerquicklichen bei und eilte ans Telephon, um reumütig um Vergebung zu flehen und ein liebes Wort zu erbetteln.

Es kam vor, daß Virginia sich verleugnen ließ. Oder der unleidliche Diener sagte mit einer Stimme, in der der Hohn lächerte: »Miß Grandison üben gerade. Ich habe strengsten Befehl, nicht zu stören!«

Florian ging vernichtet in sein Zimmer zurück und warf sich auf sein Bett. Die Tränen liefen still über sein bleiches Gesicht, ohne daß er es hindern konnte. Das also war Virginias Liebe! All die zärtliche Neigung, die Versöhnung heischend zu ihr drängte, ließ sie kalten Herzens durch den Diener abfertigen. Er wußte genau, daß sie nicht übte! Sie mußte sofort zur Stunde und hatte gar nicht mehr Zeit dafür! Denn er kannte ihre Tageseinteilung bis auf die Minute, da er zärtlich und eifersüchtig bestrebt war, an allen Einzelheiten ihres Lebens teilzunehmen.

Kurz darauf siedete ihm die Wut durch alle Adern. Er sprang vom Bett, raste durchs Zimmer, hob einen Stuhl und schlug ihn krachend zu Boden. Dann stieß er, um sich Luft zu machen, mit dem Fuß nach dem schweren Tisch, daß er donnernd rutschte. Hätte er nur diesen schuftigen Diener, den er im Verdacht hatte, eigenmächtig zu handeln, erwürgen können! Hätte er ihn wenigstens einmal prügeln dürfen!

Solche Ausbrüche endeten meist damit, daß er sich an den Schreibtisch setzte und in fliegender Hast an dem »Buch Virginia« schrieb, aus dem hier eine weitere Probe gegeben sei: »Als ich gestern zu Virginias Füßen saß, schloß ich die Augen, weil sie die ihren auch geschlossen hielt. Ich wurde kleiner, immer kleiner. Ich ward Kind und endlich Embryo. Und irgendeine Macht, die ich nicht nennen kann, zog mich in ihren Leib. Da drinnen ward mir, wie es einer armen Schächerseele im Paradies zumute sein mag. Ich spürte mit tiefgeheimem Schauder das heilige Blut aus ihren Adern durch meine rauschen, ich spürte ihr Atmen im Gleichklang mit meinem, ich spürte in Liebe das Arbeiten selbst der niederen Funktionen. Mir war warm und wohlig wie der Frucht im Mutterschoß. Ihr stolzes, ach, zu stolzes Herz schlug einen Takt mit meinem, ich war in ihren Blutlauf eingezirkelt, ich ruhte in ihr als wie der Mystiker in Gott!

Da ich die Augen auftat und ihr von dieser ekstatischen Vision berichtete, lachte sie nur: ›Nonsense!‹ Oh, wie ich sie hasse dafür, wenngleich ich sie immerdar lieben muß! Wie barbarisch, zu lachen, weil man in flächiger Erdgebundenheit nicht mitkann auf den seltsamen Pfaden intuitiven Erlebens!

Warum muß ich immer tiefer lieben, immer umfassender, immer erfassender, da ich doch so grenzenlos leide! Es ist in Wahrheit kein ander Band von ihr zu mir denn die Leidenschaft! Wenn ich von meinen Träumen erzähle, lacht sie, wenn ich von den höchsten Dingen spreche, lacht sie, wenn ich frage, ob sie ihr Geschick für immer an meines ketten will, lacht sie! Immer dies in Ewigkeit verruchte Kundrylachen des Weibes!

Warum nur löse ich mich nicht von ihr?

Weil es nicht mehr in meiner Macht steht, weil ich nicht mehr Macht über mich habe, weil es süß ist, sich von der Geliebten vernichten zu lassen, weil ich ohne sie nichts bin, mich nicht mehr fühle, weil sie zuerst mein Wesen zum Rausch gesteigert hat! Ich mag den Rausch nimmermehr missen, nimmer zurück ins Nichts wie vordem, da ich meines Wesens noch nicht inne geworden war! Wie schlichen meine Tage dahin, ehe denn ich Virginia kannte! Leere Blüten auf unfruchtbarem Stiel! Seit ich sie habe, quellen und schwellen trotz aller Qual, jede Stunde, die ich bei ihr weilen darf, neue, unbekannte Welten in mir.

Manchmal frage ich mich, wohin dies Quellen und Schwellen mich treibt. Bin ich vielleicht zum Dichter geboren? Doch wenn ich versuche, die Gesichte meiner Ekstasen zu formen, lähmt klägliches Zagen die schwachen Flügel meines Willens.

Und was mag es auf sich haben mit den geheimnisvollen Kräften, die, wie Virginia sagt, aus meinen Händen strömen? Ich habe nie gewußt, daß ich ein sonderer Mensch bin. Nun bäumt sie sich, sobald ich meine Fingerspitzen ihr nähere. Bin ich wirklich ein Magier? Wohin verschlägt mich mein Geschick? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich, ach, unsäglich leide!« –

*

Florian sah in diesem Sommer kränker noch als sonst aus. Seine Haut war fahl und schlaff. Tiefe Falten furchten durch die mächtige Stirn. Aus mageren, kreidigen Wangen sprang raubvogelartig die schmaler gewordene Nase. Aus den Lidern endlich, die durch Nachtwachen und Weinen gerötet waren, schoß sein einst durchdringender Geierblick unsicher ins Leere.

Auf Fritz Ysensteins mitleidige Fragen hatte er als Antwort nur das Lächeln des Gekreuzigten. »Danke, mir geht es gut!« war alles, was der besorgte Freund erfahren konnte.

Beide Ysensteins sowie der große Kreis ihrer Bekannten nahmen an, daß Florians auffällig verändertes Wesen in irgendeinem leidenschaftlichen Zusammenhang mit Virginia stünde. Florian allein lebte in dem Wahn, daß niemand etwas von seiner Liebe vermutete. Machte doch dieser Wahn des Geheimnisses seine Qual um so süßer.

Fritz fragte wohlmeinend: »Hast du Lust, am Sonnabend bei uns zu tanzen?«

»Danke, lieber Freund! Sehr liebenswürdig, alter Junge, daß du an mich denkst. Aber entschuldige, mir ist nicht nach Tanzen zumute. Außerdem bin ich bereits anderweitig versagt!«

Fritz blickte ihn erstaunt an und sagte vorsichtig: »Ich habe vorhin Fräulein Grandison angerufen. Sie hat bestimmt versprochen, zu kommen.«

Florian erbleichte.

Da Fritz befürchtete, wider Willen etwas Törichtes angerichtet zu haben, ermöglichte er gütig ein Einlenken Florians: »Wenn ich mich recht entsinne, gefiel dir Fräulein Grandison an jenem Abend recht gut? Vielleicht läßt es sich doch noch machen –«

»Natürlich, lieber Fritz, wenn dir daran liegt, sage ich die andere Einladung halt ab! Ich komme viel lieber zu euch! Du tust mir sogar einen sehr großen Gefallen!« –

Am Freitagnachmittag war Florian bei Virginia und wartete darauf, daß sie von dem Fest bei Ysensteins spräche. Sie erwähnte kein Wort davon. Als er beim Abschied fragte: »Sind wir morgen wie gewöhnlich zusammen?«, runzelte sie die Augenbrauen: »Es geht leider nicht! Ich erhalte Besuch von einer guten Freundin aus Chicago, die mit dem Nachtzug ankommt. Wir können aber am Vormittag eine Stunde spazierengehen.«

Florian ging in zitternder Erregung fort. Wie ruhig sie diese offenbare Lüge vorbrachte! Aber warum log sie? Augenscheinlich wollte sie nicht, daß er mit zu dem Fest bei Ysensteins käme. Also war da ein anderer, mit dem sie zusammentreffen wollte!

Von wild flackernder Eifersucht aufgestört, sehnte er sich in seiner Qual nach nichts weiter, als einmal die Stolze, die ihn leiden machte, der Lüge zu überführen und so zu demütigen. Blind vor Rachsucht, dachte er keinen Augenblick darüber nach, wohin das Schiff seiner Liebe steuerte.

Erst als er am anderen Morgen mit ihr spazierenging und sie fast gütig zu ihm war, wollte er beinahe sein Vorhaben bereuen. Wie Sterbende ihr ganzes Leben im letzten Augenblick noch einmal übersehen, so erlebte er in dieser Stunde, voll vom berückenden Reiz des Verspielens, noch einmal, was Virginia ihm war. Schon wollte er alles aufdecken, da raunte ihm die Schlange, die an seinem Herzen nagte, zu: »Sie ist nur gut zu dir, weil sie sich schuldig fühlt!«

Und so schwieg er!

Einsilbig schritt er neben der munter Plaudernden, die ihm von der erwarteten Freundin erzählte, einher. Manchmal huschte eine kränkliche Hoffnung durch sein Herz, daß vielleicht an dem Besuch doch etwas Wahres sein möchte.

Der Abend kam. Florian zog sich sorgfältig an. Allein, so lange er auch vor dem Spiegel versuchte, die schwarze Smokingschleife gut zu binden, es gelang ihm nicht. Sie war und blieb unansehnlich. Niemals würde er es lernen, sie so zu knüpfen, daß die Enden gleichmäßig und keck gebauscht standen wie Flügel. Er hatte zwar, worauf er sehr stolz war, aus Rachsucht dereinst die Maxime geprägt: daß die Eleganz des Butterflys in umgekehrtem Verhältnis zum Volumen des Großhirns stünde. Allein, er hätte gerade heute sämtliche Auswüchse seines Schädels und sein geniales Profil dazu gegeben, wenn er durchschnittlicher, unauffälliger und dafür ebensogut ausgesehen hätte wie einer dieser jungen Diplomaten, die sicher wieder heute bei Ysensteins tanzen würden.

Weit besser als der hohe Kragen, das zwängende Hemd und der alberne Smoking schickte sich für sein kantiges Gesicht ein bequemer Jackenanzug, ein Sporthemd und ein weicher Kragen. Er fand, daß er heute aussah wie ein Kranich, den man in Menschenkleider gesteckt hatte, wie eine dieser Attrappen für Bonbons, die in Konfitürenläden jahraus, jahrein eine kläglich verstaubte Rolle spielen.

Einen Augenblick überlegte er, ob er nicht besser im Kostüm eines Römers käme, das er von einem Maskenfest noch daliegen hatte. Die Toga ließ seinen antikisch knorrigen Hals frei, und der messingene Stirnreif gab seiner kahlen Stirn eine unverkennbare Ähnlichkeit mit Cäsarenbüsten. Es waren bei Ysensteins immer einige Künstler, die in Ermangelung des gesellschaftlichen Plunders im Faschingsaufzug erschienen. Doch fiel ihm ein, daß Virginia bei allen Gelegenheiten das Förmliche bevorzugte, und er blieb, wie er war.

Er langte eine Stunde nach der festgesetzten Zeit in großer Erregung an. Es waren schon viele Gäste in dem geräumigen Atelier, das an den Dachgarten grenzte. Karl-Heinz saß am Flügel und spielte auf. Der Tanz war in vollem Gange.

Gleich als Florian das Atelier betrat, sah er, daß Virginia mit dem Legationsrat von Schmettow tanzte. Schmettow, der soeben von der Gesandtschaft in Washington zurückgekehrt war, wurde von allen Damen gern gesehen wegen der neuesten Bostonschritte, die er aus Amerika mitgebracht hatte. Virginia trug ein schwarzseidenes Kleid, das Florian noch nicht kannte.

Schmettow, hünenhaft und doch geschmeidig gewachsen, umspannte mit seiner bloßen Hand Virginias nackten Arm. Er hielt sie so dicht, daß ihre Brust eng an seiner atmete. Sie unterhielten sich auf englisch, das jener wie seine Muttersprache beherrschte.

Bitter befiel es Florian, daß er trotz aller Anpreisungen der Schnellernmethode nur bis zum vierten Unterrichtsbrief gelangt war, daß er sozusagen auch das Englische nur angelesen, besser angelernt hatte. Im übrigen zog ihn Virginia seiner, der vielgerühmten Selbstunterrichtsmethode zum Trotz, ungeschickten Aussprache halber so auf, daß er das Erlernen der ihm blöd dünkenden Quietsch- und Lispellaute aufgesteckt hatte, obwohl sie ihm andererseits aus Virginias Mund lieblich im Ohr klangen.

Während er mit gegensätzlichen Gefühlen dastand und den ihm immerdar unbegreiflich bleibenden Verrenkungen des Tanzes zuschaute, ward es ihm klar, daß er es seiner Würde schuldig war, nichts zu unternehmen, sondern alles an sich herankommen zu lassen. Aber er wollte Virginia so anschauen, daß sie es spüren sollte!

Er sammelte also alle Kraft seines Willens und brannte sie durch die Linsen seiner Augen gerade auf sie, die, das schöne Haupt herausfordernd zurückgebeugt, ihren Tänzer anlächelte.

Es mußte wirken, und es wirkte auch!

Wie durch ein Wunder wurde Virginia unruhig. Ihr Lächeln erstarb. Sie löste sich ein wenig aus der unziemlichen Umklammerung ihres Tänzers und suchte, unaufmerksam auf das, was er sagte, das Atelier ab. Da fiel ihr Blick, angezogen durch Florians magisches Starren, endlich in seine Geieraugen, die hohl aus bleichen Wangen zerrten, loderten, drohten.

Sie fuhr so zusammen, daß Schmettow eine verwunderte Frage tat, auf die sie nicht antwortete. Sie hörte einen Augenblick auf zu tanzen. Dann faßte sie sich, bemerkte lächelnd etwas zu ihm und tanzte weiter. Nur daß sie sich jetzt in schicklicherer Entfernung von Schmettow hielt.

Als Karl-Heinz mit Spielen aufhörte, trat sie allein auf Florian zu und sagte mit lauter, harter Stimme: »Wie kommst du hierher? Spürst du mir nach?«

»Ich bin hier, weil ich genau wie du eingeladen wurde!«

»Warum hast du mir es verschwiegen?«

Ihm schoß das Blut zu Kopfe über ihre Unverfrorenheit. Er entgegnete schroff: »Warum hast du mich belogen?«

»Wie kannst du es wagen, mich so zu beleidigen? Geh, du bist kein Gentleman! Ich verachte dich!«

Sie wandte sich ab von ihm und trat wieder zu Schmettow, der verwundert diesen Wortwechsel beobachtet hatte und sich aus Mienen und Gebärden der Beteiligten das richtige Bild machte.

In Florian war düsteres Durcheinander. Er fühlte, er würde über Leichen gehen! Sollte er sich auf Schmettow stürzen? Aber nein, das wäre Wahnsinn! Denn was wußte jener von Virginia und ihm? Außerdem verfügte er seinem Aussehen nach über achtbare Körperkraft. Da Florian Virginias herrschsüchtige Eitelkeit gut kannte, mußte er annehmen, daß sie ihm die soeben vernommene Wahrheit über ihr Verhalten niemals verzeihen würde. Trotz seines bohrenden Schmerzes beim Gedanken an einen auch nur möglichen Bruch war ein wilder Triumph in ihm, daß er einmal ihren unerträglichen Stolz gedemütigt, sich einmal für alle Qual gerächt hatte, einmal Sieger geblieben war.

In diesem, wenn auch schmerzlichen Rausch selten gefühlter Mannheit beschloß er, sich nicht mehr um Virginia zu kümmern. Er fand eine hübsche, rundliche Kunstgewerblerin, der er gefiel. Sie zog den wie Geistesabwesenden in einen Nebenraum und machte Anstalten, ihn, der sich verstört immerzu umwandte, zu erobern. Gerade, als sich Florian von dem Mädchen, das sein Widerstreben in Flammen setzte, geduldig stillhaltend küssen ließ, trat Virginia zu den beiden.

Zornig herrschte sie Florian an: »Ich wünsche, mit dir sofort zu sprechen!«

Obwohl nun Florian am liebsten aufgestanden wäre, da er fühlte, daß die Lage zwischen ihm und Virginia jetzt gleich war und insofern einer Versöhnung günstig, trieb ihn der Dämon der Rachwollust, daß er, ohne sich von seiner freundlichen Gefährtin zu lösen, den Tod im Herzen, aber scheinbar unbefangen, lächelte: »Du siehst doch, daß ich augenblicklich keine Zeit habe!«

Voll Verachtung maß Virginia das muntere Mädchen, das nun höchst unbehaglich dasaß. Virginia war es nicht gewöhnt, daß ihr ein Wunsch, namentlich aber von Florian, abgeschlagen wurde. Ihre Brust ging heftig. Sie begann einen Satz: »Wagen Sie nicht – –«, dann besann sie sich, nahm den Rock mit der Hand auf und ging zurück in das Atelier.

Florian hatte genau gespürt, daß dies endgültig war. Nun der Rausch der Rache verflog, konnte er es neben dem guten Mädchen, das ihn mit teilnehmenden Fragen bestürmte, nicht mehr aushalten. Er verließ sie alsbald und suchte, von bleicher Angst entstellt, wie ein störender, gespenstischer Gast in allen Winkeln nach Virginia.

Er fragte Fritz Ysenstein nach ihr, und der Freund entgegnete: »Fräulein Grandison ist vor ein paar Minuten gegangen. Sie wollte eine Freundin abholen, die mit dem Nachtzug aus Rom ankommt. Schmettow hat sie begleitet.«

Nun brach Florian fassungslos zusammen. Also hatte er ihr Unrecht getan? Oder war es nur eine List, um ihn noch nachträglich mit dem Stachel der Reue zu quälen? Vielleicht saß sie längst mit Schmettow daheim und lachte über ihn.

Wie ein Besessener stürzte er da fort. In ihre Straße, unter ihre Fenster. Er konnte trotz der sorgfältig zugezogenen Vorhänge sehen, daß in dem Drawingroom noch Licht war. Er schaute auf die Uhr. Es ging auf drei! Er glaubte, den Verstand verlieren zu sollen über dem Gedanken an das, was sich hinter diesen dichten Vorhängen abspielte. Er trat in ein nahegelegenes Café, das noch geöffnet war, und ließ sich am Büfettelephon eine Nachtverbindung geben. Doch es meldete sich niemand bei Virginia! Er biß die Zähne auf die Lippen, um nicht wie ein Rasender zu brüllen. Also hatte sie den Apparat abgestellt!

Verzweifelt, mit leerem Hirn und ödem Herzen, irrte er den Rest der Nacht hindurch vor Virginias Haus umher. Das Licht droben war erloschen. Niemand verließ das Haus. Oder war Schmettow gegangen, während er im Café am Telephon gewartet hatte?

Am Ende seiner Kraft, schleppte er sich schließlich heim, sank auf das Lager, nahm mehrere Tabletten und schlief bis gegen Mittag.

Gleich nach dem Erwachen rief er von seiner Pension aus bei Virginia an. Der Diener kam an den Apparat. Als Florian seinen Namen genannt hatte, sagte John sehr kurz: »Miß Grandison sind nicht zu sprechen!«

»Wann ist Fräulein Grandison zu Haus?«

»Das weiß ich nicht. Miß Grandison sind fortgegangen, ohne Bescheid zu hinterlassen.«

Florian rief noch einige Male an diesem Tage an und erhielt stets denselben Bescheid. Virginia machte es deutlich genug, was sie wünschte. Am liebsten wäre er zu ihr geeilt! Denn er glaubte ersticken zu müssen, wenn er sie nicht mehr sehen, sie nicht mehr besitzen sollte! An ihrer Tür zu schellen wagte er nicht, weil er zu ahnen glaubte, daß es sonst mit ihm und John ein unwürdiges Ende nehmen möchte.

Es kam keine Antwort.

Da lauerte er ihr auf. Er mußte sie sprechen! Sie sehen! Er ließ sich nicht so schnell abspeisen! Er ging über Leichen, wenn es sein mußte! Mochte kommen, was wollte!

Weil er ihre Tageseinteilung genau kannte, wählte er eine Zeit, wo sie jeden Augenblick aus der Tür treten mußte, um sich zu ihrem Lehrer zu begeben.

Während er von gegenüber scharf nach ihrem Hauseingang lugte, bewegte sich droben, ohne daß er es merkte, ein Store vor einem der Fenster.

Zur erwarteten Zeit trat John aus dem Nebeneingang des Hauses und hielt ein Droschkenauto an. Er wartete am Wagen, bis Virginia herunterkam, warf den Schlag hinter ihr zu, und das Auto jagte davon!

Florian, der um alles in der Welt nicht von dem Diener gesehen zu werden wünschte, barg sich beschämt in einem Hausflur, wo ihn der griesgrämige Portier mißtrauisch beobachtete, und schlich sich erst nach einer geraumen Weile von hinnen.

Er begab sich auf dem schnellsten Wege nach dem Haus, wo Virginias Lehrer wohnte, und stellte sich dort an geschützter Stelle auf. Wenn sie glaubte, ihn so leichten Kaufs abzuschütteln, irrte sie sich! Sie sollte ihn kennenlernen! Schlimmstenfalls würde er sie in der guten Gesellschaft unmöglich machen, indem er sie wie eine Dirne preisgab und bloßstellte. –

Da – er traute seinen Augen nicht –, fünf Minuten vor der Zeit, wo Virginias Stunde vorüber war, kam Schmettow um die Ecke und schlenderte vor dem Haus auf und ab.

Dieses Mal vermeinte Florian, sein Herz bliebe stehen! Er fror und zitterte und konnte nicht von der Stelle. Schmettow, der ihn nur flüchtig kannte, musterte ihn jedesmal, wenn er an ihm vorüberkam, wie einen Verdächtigen. Als sich ihre Blicke einmal begegneten, machte er eine Bewegung, als ob er grüßen wollte. Da Florian hinwegsah, ließ er den halberhobenen Arm rasch sinken und klopfte sich ein Stäubchen vom Ärmel seines gutsitzenden Rockes. Dann klemmte er mit modischem Schneid den Stock unter den Arm, schaute zum Fenster herauf, wo Virginias Lehrer wohnte, und zündete sich, indem er an einer silbernen Kette allerlei Berlocks aus der Tasche zog, umständlich eine Zigarette an.

Als Virginia erschien, reichte sie ihm mit diesem Lächeln, das nur sie zu lächeln verstand, in dem Unschuld und Hingabe miteinander stritten, ihre Hand, die er länger als nötig küßte. Dann ging sie an seiner Seite davon, ohne Florian bemerkt zu haben. Nur als Schmettow mit dem Arm eine Hindeutung nach Florian machte, wandte sie sich überrascht um und zuckte, da sie ihn, der hinter einen Baum getreten war, nicht erblickte, verächtlich mit den fürstlichen Schultern. Im tiefsten aufgewühlt, zitterte Florian, der noch eben über Leichen hatte gehen wollen, kraftlos in den sonst so kräftigen Gliedern. Dieser Schwächeanfall war so stark, daß er sich an die Kastanie, hinter der er stand, lehnen mußte. Als er sich dann nach den beiden umschaute, waren sie verschwunden.

Er eilte auf dem kürzesten Wege zurück vor Virginias Haus und stellte sich, qualvoll wartend, im Nebeneingang auf, so daß sie ihn sehen mußte. Dann sagte er sich, daß er, falls Schmettow sie heimgeleitete, eine gar zu klägliche Rolle gespielt haben würde. Nicht daß er in dem Aufruhr, der sein klares Denken knechtete, jenen gefürchtet hätte, aber er wollte nicht wie ein Bettler dastehen, wenn der andere triumphierte.

Darum überquerte er, von seinen Gedanken wie in einen blind machenden Nebel gehüllt, den breiten Fahrdamm. Plötzlich heulte mit teuflischem Grölen eine Hupe. Etwas, dessen Luftstrom ihn in seinen Wirbel riß, noch ehe er es wahrnahm, glitt heran. Ein höllisches Knarren der überscharf angezogenen Bremsen ertönte. Eine versoffene Stimme schalt unflätig. Da endlich machte Florian, noch kaum erst erwacht aus seinem Dämmern, einen gewaltigen Satz und lief, komisch humpelnd, davon, als ob er in Wirklichkeit überfahren worden wäre. Als er die rettende andere Seite des Fahrdammes erreicht hatte, schaute er sich um.

Das Auto, das ihn fast getötet hätte, war, vom Chauffeur im letzten Augenblick zur Seite gesteuert, über die Bordschwelle gerannt. Ihm entstiegen etwas bleich Schmettow und Virginia. Während Schmettow noch mit dem Chauffeur wegen einer zerbrochenen Scheibe verhandelte, bildete sich ein Auflauf von Neugierigen.

Virginia wartete am Gittertor des Vorgartens und trat dann mit Schmettow ins Haus. Florian sah, wie Schmettow sich in der Haustür noch einmal forschend umwandte. Und das brachte die Überreizung der letzten Tage zum Ausbruch! Von Sinnen, stürzte er, während die beiden den Aufzug benutzten, die Treppen hinauf. An der Wohnungstür lauschte er einen Augenblick. Er hörte sie drinnen scherzen. Er schellte. Der Diener machte nichtsahnend die Tür auf. Florian herrschte ihn mit zitternder Stimme an: »Melden Sie Fräulein Grandison, daß ich sie zu sprechen wünsche!«

Drinnen verstummten urplötzlich Plaudern und Lachen.

John entgegnete vielgewandt: »Miß Grandison sind nicht zu sprechen!« und wollte die Tür zuwerfen. Da drängte sich Florian in den Türspalt, hieb unvermittelt auf den Ahnungslosen ein, packte ihn am Hals und würgte ihn, indem er zischte: »Krepier, du Schuft, du Aas!« Der Engländer, der sich des Angriffs nicht versehen hatte, erholte sich bald von seiner Überraschung. Da er Florians wie im Krampf erstarrten Griff nicht lösen konnte, trommelte er nach Boxerart mit beiden freien Fäusten so lange auf Florians Schädel, bis dieser, blind vom Blut, das ihm über die Augen rann, im Flur zusammenbrach.

Bis dann Schmettow sich von seiner Bestürzung erholte, hinzusprang und die beiden trennte, hatte Florian, ungewohnt der schweren Erschütterungen, die wohlgezielt immer wieder sein empfindliches Hirn trafen, längst das Bewußtsein verloren!


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