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Einen schönern Anblick als heute hat die Gasse schon lange nicht gehabt. Es ist Cholemoed, und wie ein lustigtoller Junge, der in seiner Seeligkeit nicht weiß, was er früher anfangen soll, geht er im Ghetto auf und nieder und lacht und scherzt und treibt ausgelassene Possen. Wir bemerken für Diejenigen, denen die Sprache der Offenbarung – wie hottentotisch klingt, daß der Cholemoed jene schöne Zeit der Halbfeiertage ist, die jährlich zweimal, am Ostern- und am Laubhüttenfest einfällt. Denn wie man weiß, sind diese beiden Feste sehr langathmiger Natur; sie dauern durch volle acht Tage. Da hat aber der kluge Gesetzgeber, der sehr wohl wußte, daß es der Mensch in Leid und Freud nie lange aushält, den Cholemoed hineingeschoben. Das ist ein Tag wie jeder andere; man kann seinen Geschäften nachgehen wie sonst, auch nimmt die Synagoge nicht den größten Theil des Vormittags weg; wie überhaupt tausend Zeichen, die man aber mehr empfinden als sehen muß, es beweisen, daß heute nicht ›Jontef‹ (Feiertag) ist. Dennoch blickt eben derselbe ›Jontef‹ überall hindurch; es ist, als ob man den Leuten verboten hätte, davon zu sprechen, und sie ließen nun in Ermanglung dessen, ihre Kleider, Gesichter und Geberden es einander zurufen. Über allem Thun und Treiben liegt ein eigenthümlich festlicher Duft, nirgends tönt der grelle Schrei des ›Geschäftes‹, und nur, um gleichsam nicht aus der Übung zu kommen, geht der tägliche Erwerb auch heute seine gewöhnlichen Wege. Aber es waltet nicht der sonstige Geist der Betriebsamkeit; man sieht es dem Rücken, der sich unter dem Packe mit Kattuntücheln und Westenstoffen krümmt, an, daß er sich lieber an die weichen Polster eines Sabbatsitzes lehnen, und den Augen, die einen Sack Wolle mustern oder ein Stück Seidenband abrauschen lassen, daß sie sich weit lieber am Dufte der Jontefspeisen weiden möchten! –
Der Cholemoed ist, um ›hoch‹ zu sprechen, gleichsam das vermittelnde Princip zwischen den stummen Lippen des Sabbats und der hastigbeweglichen Gestikulation eines gewöhnlichen Werkeltages. Daher auch sein so eigenthümlicher Charakter!
Muß man es nicht geradezu sagen, daß selbst die Natur heute Cholemoed hält? Singen die Vögel nicht lauter, scheint nicht die Sonne freudiger? Wie goldene Knäuel wirft sie ihre Strahlen über die engen Giebeldächer des Ghettos! Oben ist Licht, unten halbe Dämmerung. Wo aber die Gasse breiter ist, da lösen sich die goldenen Fäden auf und fallen gewaltig hinab; wer dann zufällig darunter geht, dessen Gesicht wird ganz angestrahlt und sonnig, beinahe ganz vergoldet! –
Da kommt mir gerade so ein sonnigvergoldetes Gesicht in den Weg! Ich kenne und grüße dich, Jaikew Lederer, und möchte dir gerne ›Salem Alechem‹ zurufen, wüßte ich nicht, daß der Friede schon in deinem Herzen ist! Die ganze Woche hat er sich auf den Märkten herumgetrieben, und mit schlechtem böhmischen Accent sein: laczini, laczini (wohlfeil) geschrien, die Elle hat in seiner Hand geklappert, und vielleicht hat er doch nichts ›gelöst‹. Aber heute ist er zu Hause geblieben und der Cholemoed findet kein gläubigeres, ihn tiefer ehrendes Gemüth als das gehetzte Menschendasein unseres Jaikew Lederer!
Wie er da geht mit den nachlässig ineinanderschlenkernden Händen auf dem Rücken, ein ›Jontefliedel‹ vor sich hin murmelnd, das der Vorsänger gestern zum ersten Male in der Synagoge angestimmt, auf seinem Haupte den wohlausgebürsteten Sabbathut, und auf dem Leibe den alten auf so vielen Dorfwanderungen erprobten, etwas fadenscheinigen Rock, über den jedoch ein weißes Halstuch die milde Poesie des Feiertags herableuchtet, mit diesem lächelnden, auseinandergefalteten, ruhig sichern Antlitz – ist Jaikew Lederer nicht der leibhaftige Cholemoed selber?
Wahrhaftig jenes alte Mütterchen, das dort an der großen Stiege einen Detailhandel mit schimmeligem Käse und runzligen Citronenschalen treibt, hat uns ganz aus der Seele gesprochen, wenn sie dem Vorbeischreitenden zuruft: Gehst du heut' nicht aufm Dorf, Jaikew? weil wir zugleich wußten, welche Antwort ihr der geben werde.
»Wo fallt ihr aus, Muhm Eitel?« sagt er, »heut' auf'm Dorf gehen!! Soll denn der Bauer das ganze Jahr kein Ruh' vor mir haben? Oder soll nur der reiche Schmul Brandeis bei Weib und Kind daheim bleiben können und Küchel essen, und ich Jaikew Lederer mit dem Pack herumlaufen, weil ihm Gott ein paar ›Pehm‹ mehr bescheert hat, als mir? Heut' ist Cholemoed und mich bringt kein Mensch aus der Kille (Gemeinde) fort!«
Damit schreitet er weiter und das Jontefliedel auf seinen Lippen, das er wieder angestimmt hat, verhallt in dem muntern Getöse des Ghettos.
Denn auch anderwärts erblicken wir die Lebenszeichen des Halbfeiertages. In den Gewölben stehen die geputzten Hausfrauen, oder sitzen in Gruppen, plaudernd und scherzend davor! Das ›Geschäft‹ ist heute Nebensache; aber seht nur diese buntbebänderten Hauben, diese goldenen Halsketten, diese schimmernden Perlschnüre! Gönnt ihr diesen armen Frauen nicht ebenfalls ihren Cholemoed, wo sie das Alles ins gehörige Licht stellen können? –
Zwischendurch rennen lärmende Knaben; die brauchen heute keinen Schulstaub zu schlucken. Da steht eine Mutter umringt von drei Schreiern, die Geld zum Spielen begehren. Der eine rankt sich hinauf, ihr freundlich liebkosend, der andere hätschelt ihr die Hände, während der dritte und kleinste feinlistig an der Schürze zerrt, wo sich die klingende Münze befindet. Sie widersteht lange, endlich ergibt sie sich.
»Und was werdet ihr mit dem Geld anfangen?« fragt sie.
»Heut' ist Cholemoed«, antworteten die Schreier im Dreiklang und rennen mir ihrer Beute davon. –
Man müßte die ganze Tiefe eines Mutterherzens zu deuten wissen, wollte man jenes Lächeln verstehen, wenn die Mutter, nachdem sie einen langen Blick den davoneilenden Knaben nachgeworfen, sich zu einer nebenan stehenden, reich gekleideten Frau wendet und zu ihr spricht:
»Sehen Sie, Madame Vögele, das hat man davon, wenn man Kinder hat!«
Und warum fällt aus den Augen jener Reichgekleideten bei diesen Worten ein so gallicht grüner Schein heraus? Wurde sie beleidigt? – Die Frau hat nämlich keine Kinder. –
Dort an der alten Synagogenmauer, wo die drei Nußbäume stehen, die dem ›Schameß‹ (Schuldiener) so gute Nüsse aufs ganze Jahr geben, ist ein Haufe spielender Knaben beisammen. Sie üben sich im ›Kopf und Adler‹. Eine Münze nähmlich wird an die Wand geworfen und da muß man entweder auf den ›Kopf‹ des Kaisers oder sein Wappen, den ›Adler‹ gewettet haben, um wie eines von beiden fällt, zu gewinnen oder zu verlieren. Dem rothhaarigen Burschen mit dem sommerfleckigen Gesicht lacht eine häßliche Freude aus den Augen; er trägt das Geld seiner meisten Spielkameraden in der Tasche. Einem andern mit sanften lieben Zügen rinnen helle Thränen über die Wange. Er hat alles verloren, was ihm die Mutter zum Cholemoed gegeben...
Die Scene ändert sich mit einem Male. Am Anfang der Gasse zeigt sich eine Kutsche, auf dem Bocke sitzt ein rothgejackter Postillion, der die Peitsche lustig knallen läßt. Einen Augenblick darauf sieht man einen jungen Mann heraussteigen, der kommt gerade auf das Ghetto los! Bei seinem Anblick geht ein Zischeln stiller Verwunderung durch die Gewölber, durch die geputzten Hausfrauen. Neugierige Mädchenköpfe erscheinen an den Fenstern; selbst die Knaben rasten für einen Augenblick. Der junge Mann, wie ein ›Prinz‹ gekleidet, blitzende Ringe an allen zehn Fingern, die einen magischen Glanz um sich warfen, um den Hals eine vornehm atlassene Cravate geschlungen, ist vor einem Gewölbe stehen geblieben und hat sich dort nach der Wohnung des Rebb Schmul Brandeis erkundigt.
Bei dieser Frage sieht man plötzlich aus dem Rudel der Knaben einen herausstürzen, der gleichsam mit verhängten Zügeln auf das Haus von Rebb Schmul Brandeis losrennt. Der Glückliche! Er wird der Erste sein, der dort die Nachricht von der Ankunft der Kutsche verbreiten wird. Das schönste ›Beckenbrod‹ wartet dann seiner! –
»Dort wird's heut einschlagen«, meinte die Mutter jener drei Schreier zu der Reichgekleideten; »ich hab' den Schadchen das ganze Jahr da hinauflaufen sehen.«
»Hat auch schon Zeit«, entgegnete die andere darauf mit spöttischem Lächeln, »Sie klaubt sich mit ihren zehntausend Gulden schon lang genug herum. Die' schönsten Parthien sind ihr schon geredt worden; vielleicht bleibt sie doch einmal hängen.«
»Kriegt sie denn wirklich zehntausend Gulden?«
»Baare zehntausend Gulden und eine Ausstattung – eine Prinzessin kann sie nicht schöner haben.«
Die beiden Frauen hatten es getroffen; der junge Mann in der atlassenen Cravate mit den blitzenden Ringen war wirklich zu der Tochter von Rebb Schmul Brandeis auf die ›Beschau‹ gekommen. –
Das alles aber, der junge Mann und die Tochter von Rebb Schmul Brandeis und ihre zehntausend Gulden und die ›Beschau‹ wird jetzt über einen andern Anblick vergessen. Aus dem Hause des Rabbiners kommt jetzt eine Schaar ›Kaules‹ (Bräute) und Bräutigame heraus. Die gehen jetzt einen schweren Gang – sie müssen nähmlich aufs ›Kreisamt‹, wo sie aus dem ›Bne Zion‹Nach den bestehenden Gesetzen muß jede Braut und jeder Bräutigam des Ghettos, bevor sie an das ›Einkommen‹ um die Heirathsbewilligung denken dürfen, zuvor aus dem religiös moralischen Lehrbuch ›Bne Zion‹ in Gegenwart des Kreishauptmanns und des Kreisrabbinen geprüft werden. Dieses Lehrbuch, in seinen Formen veraltet, ist jetzt durch ein neues und zeitgemäßeres, von Dr. Wessely in Prag, ersetzt worden. werden geprüft werden. Diese Furcht ist besonders einigen unter ihnen, stämmigen Gestalten, die man an der bäuerischen Aussprache des Jargons als ›Dorfmaden‹ und ›Landmotzen‹ erkennt, nicht zu verargen. Sie treten vielleicht zum ersten Male aus dem stillen Bereiche ihrer Heimath und sollen nun in Gegenwart des Kreishauptmanns Rechenschaft ablegen, was sie von der Religion ihrer Väter wissen oder nicht wissen. Bei andern ist der Blick wieder stolzer und sicherer. Denen ist die Prüfung nichts, sie haben das ›Bne Zion‹ im kleinen Finger; sie lachen auch die furchtsamen ›Dorfmaden‹ aus. Mit denen hat sich freilich der Hauslehrer nicht durch ein halbes Jahr geplagt, ehe ihnen die ›Moral‹ in den Kopf ging. Sie werden auch hochdeutsch antworten und schon im Voraus freuen sie sich auf die verkehrten Antworten so einer ›Dorfmad‹ oder eines ›Landmotz‹ – die glücklichen, eingeschulten hochdeutschen Mädchen des Ghettos! – –
Durch alle diese Auftritte und gleichsam wandelnden Bilder war das lächelnde Cholemoedgesicht Jaikew Lederers durchgeschritten. Er hatte sich nirgends aufgehalten, keinen Augenblick war das Jontefliedel auf seinen Lippen verstummt; wie ein Grundton zog es sich durch die verschieden klingenden und tosenden Laute des Ghettos. Nur als er an den zur Prüfung gehenden Bräuten und Bräutigamen vorüberkam, war er still geworden; er sah ihnen lange nach, bis sie um die Ecke des ›Kriminals‹ verschwunden waren. Jetzt war er in die Nähe der spielenden Knaben an der Synagogenmauer gekommen; es war gerade ein heftiger Streit unter ihnen ausgebrochen.
Der Rothhaarige nähmlich, der mit dem sommerfleckigen Gesicht, hatte falsch gespielt. Als er sah, daß sich die kugelnde Münze nicht zu seinem Vortheil wies, hatte er ihr durch eine schnelle Bewegung des Fußes eine ihm günstige Wendung gegeben. Die Andern schrien Verrath und Betrug. Namentlich der Knabe mit den sanften, lieben Zügen war darüber untröstlich; denn er stand gerade mit dem Rothhaarigen in der Wette. Der wollte sich aber nicht so ruhig ergeben, er behauptete seinen Betrug. Wie feurige Streiter für Recht und Wahrheit stürzten die Andern auf ihn los und bald war der Rothe eingekeilt zwischen den Fäusten der jugendlichen Rächer.
»Wart' nur,« rief er zähneknirschend dem sanften Knaben zu, »wart' mir du Bankert; denn so einer bist du, dein Vater hat so ohne Rischojin geheirat!«
Der Knabe fing laut zu weinen an. –
Jaikew Lederer war nun ganz nahe getreten; er hatte den Schimpf des Rothhaarigen und das Geschrei des sanften Knaben vernommen. Mit einer hastigen Bewegung fuhr er in den Kreis, ergriff den Weinenden beim Arm und führte ihn, ohne ein Wort weiter zu sprechen, mit sich fort.
Und wie er jetzt durch das Ghetto ging, den Knaben an der Hand, der sein eigenes Kind war, ihr hättet den frühern Jaikew Lederer nicht mehr erkannt. Verstummt war das Jontefliedel auf seinen Lippen, dafür zuckte darauf ein bitterer Schmerz, der sich sogar bis in die Augen zu erstrecken schien, weil sie so feucht glänzten – verschwunden war das lächelnde Cholemoedgesicht!
Diese plötzliche Wandlung unseres Jaikew Lederer hatte ihren guten Grund. Wir hätten den auch früher schon erwähnen sollen, aber es ging wahrhaftig nicht an! Wie konnten wir dem seeligen schönen Cholemoed so etwas gerade ins Gesicht hineinsagen?
Dieser Jaikew Lederer hatte wirklich ohne Bewilligung geheirathet, und da der Rothhaarige in seinem Grimme einige Blätter aus Jaikew Lederers Leben und Dasein zurückgeschlagen hat, so wollen wir sie schon festhalten und nicht eher weitergehen, bis wir sie gelesen haben. –
Durch eine sonderbare Fügung des Schicksals hatte Jaikew Lederer eine ganz auffallende Ähnlichkeit mit seinem Urahnen gleichen Namens, nähmlich den Patriarchen Jakob. Ja, wenn das schöne duftige Stück Romantik von der Liebe Jakobs zu Rachel nicht als verbürgte Thatsache verzeichnet stünde im ersten Buche Moses, im so und so vielten Kapitel, man wäre versucht zu glauben, das Ganze sei nur eine Allegorie auf die künftigen Schicksale unseres Jaikew Lederer!
Auf viel Romantik darf man sich freilich nicht gefaßt halten, denn wir sind im Ghetto! und da haben die Leute etwas ganz anderes zu thun, als müßig an den Cisternen zu stehen und den schönen Rahels die schweren Brunnensteine wegwälzen zu helfen. Die Leute sind da selbst Steine und müssen sich schieben und wälzen lassen, wie man nur will. Dergleichen Unähnlichkeiten werden überhaupt noch mehrere vorkommen. Das ist aber nicht unsere Schuld. Eines hatten sie aber Beide gemein; sie hatten jeder ihren Laban; – den unseres Jaikew wird man alsogleich erkennen.
Wie sein Ältervater, der Patriarch, hatte auch unser Jaikew das Unglück ein Spätgeborner zu sein, ja er übertraf ihn noch; er war der Viertgeborne unter seines Vaters Söhnen. Die alten jüdischen Mütter, die noch im Lande Kanaan ihre Kinder säugten, wie freuten sie sich und priesen den Herrn, wenn sie sich an der Kraft vieler Söhne weiden konnten! Sie würden es kaum glauben, wenn wir ihnen den Jammer unserer Mutter erzählten, die sich weit mehr nach Mädchen als nach Knaben sehnen. »Wo wird mein Jüngel eine FamilieDie Zahl der ansässigen Juden in Böhmen ist seit langer Zeit auf einige tausend ›Familien‹ beschränkt; sie reicht aber nicht mehr aus, da sich die Popularisationsverhältnisse seitdem so verändert haben. Die ›Besitzer‹ solcher Familien, die erblich sind, genießen mancherlei Begünstigungen; sie sind auch verkäuflich oder werden von den Gutsherrn und Magistraten vergeben. Oft geht die halbe Aussteuer für den Ankauf einer solchen Familie hin und nur der diplomirte Gelehrte oder der besteuerte Handwerker unterliegen dieser Bestimmung nicht. Ihre Kinder sind deswegen doch ›familienlos‹. – hernehmen?« hört man sie oft rufen und dieselbe Frage hat auch die Mutter unseres Jaikew schon in den ersten acht Tagen nach seiner Geburt – ohne Beantwortung an sich gerichtet.
Sein Vater, Rebb David Lederer war zwar ein Familiant; das ging aber unsern Jaikew gar nichts an. Denn nach dem Gesetz mußte sein ältester Bruder Ruben die Familie ererben. Der war wirklich beneidenswerth, er hatte schon eine Familie, noch ehe er im Stande war, den Begriff dieses Wortes aufzufassen. Sein zweiter Bruder Nathan war noch ebenfalls glücklich zu nennen, er war ein Gelehrter d.h. Doktor geworden und konnte ohne Familie heirathen. Anschel, sein dritter Bruder genoß als ehrlicher Schneider dieselbe Begünstigung wie der Doktor; er hatte gleichfalls ohne Familie sich eine schaffen können, nur Jaikew selbst, der weder Erstgeborner noch Doktor, noch Handwerker, sondern ein ›Dorfgeher‹ geworden war, durfte von Staatswegen, auf keine Familie Anspruch machen! –
Es ist sonderbar, wie man so geboren werden und fortleben kann, wenn man eigentlich weiß, daß man ein Staatsverbrecher ist. Denn so einer war doch unser Jaikew, man mag nun sagen, was man will. Es ist wahr, die Erstgeburt konnte man ihm so wenig als Rebekka ihrem zweiten Sohn verschaffen, aber warum wurde er nicht gleichfalls ›Doktor‹ oder ›Schneider‹? warum verkannte er so Zweck und Absicht der ›Familien‹? Da er nun aber, vielleicht schon der Abwechselung wegen, den Beruf eines ›Dorfgehers‹ gewählt hatte, was ließ sich da an der Sache ändern? War Jaikew also, da ihm schon von vorhin eine jede Aussicht auf eine ›Familie‹ benommen ward und er doch nach aller menschlichen Berechnung den Willen hatte, sich eine zu verschaffen, nicht schon beim Eintritt in die Welt ein sogenannter ›Staatsverbrecher‹?
Jaikew war auch wirklich in jene Jahre getreten, wo er diesen Willen und auch den der Natur thätig beurkunden wollte. Er hatte seine Augen auf ein schönes ›Resele‹ geworfen; sie war die Tochter eines armen Dorfgehers, wie er selbst war. Diese Wahl machte unserm Jaikew alle Ehre, denn seine Resel war wirklich eine holde Blume des Ghettos, als ›Parthie‹ war sie aber nicht die beste; denn die Aussteuer betrug nur etliche hundert Gulden. Dennoch, als beim Tnoimschreiben nun schon die Schale zum Zerbrechen hergelangt wurde, zum Zeichen, daß Jaikew und Resel Chosen (Bräutigam) und Kalle (Braut) geworden seien, fragte man: »Wo wirst Du aber eine ›Familie‹ hernehmen, Jaikew? Du bist ja ein Viertgeborner.« »Erst will ich ein Chosen sein«, antwortete er, »für die Familie wird Gott schon sorgen!«
Giebt es nicht eine Menge Leute, die alt werden und grau und zuweilen auch sterben, ohne einen richtigen Begriff vom ›Staate‹ mit sich zu nehmen? Er trat nur zu bald in eine genaue Bekanntschaft mit diesem räthselhaften Wesen, dem sich keiner so ganz entziehen kann, weil man es vor, hinter und neben sich hat – wie jenen berühmten Zopf – –