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»Wann laufen wir in den Hafen von New-York ein, Herr Kapitän?«
»Diese Nacht, Sir.«
»Können Sie die Zeit nicht genauer bestimmen?«
»Es wird gegen Mitternacht werden.«
»Das paßt mir vortrefflich. Danke, Herr Kapitän.«
Der Frager, welcher auch diese letzte Aeußerung getan hatte, schlenderte davon, und ehrerbietig blickte der Kapitän, verwundert blickten alle Passagiere der eleganten Gestalt des jungen Mannes nach.
Des ›jungen‹ Mannes?
»Er ist noch keine zwanzig Jahre alt,« hatte ein amerikanischer Passagier zu seinem Freunde gesagt.
»Was sagen Sie?« rief der andere erstaunt. »Noch keine zwanzig Jahre? I, wo denken Sie denn hin!!! Der ist mindestens vierzig Jahre alt.«
»Sie sind verrückt! Der ist höchstens achtzehn Jahre alt.«
»Sprechen Sie denn nur wirklich im Ernst?«
»Gewiß, es ist mein völliger Ernst. Ich gehe jede Wette mit ein, daß dieser junge Herr, der sich im Kajütenbuch als Eugen Salden eingetragen hat, jedenfalls ein Deutscher, noch nicht zwanzig Jahre alt ist.«
»Und ich behaupte, daß er die vierzig schon überschritten hat. Wetten?«
Gut, also wetten! Es ging um den Fahrpreis der ersten Kajüte, um 200 Dollar.
Der eine Yankee näherte sich dem fraglichen Herrn bei Gelegenheit, knüpfte mit ihm ein gleichgültiges Gespräch an ... aber merkwürdig, er brachte es nicht fertig, diesen Mr. Salden nach seinem Alter zu fragen. Es war geradezu, als ob dieser es schon wisse, was jener von ihm wolle, und als ob er nicht geneigt sei, sein Alter anzugeben. Sobald der Amerikaner nach einer Einleitung mit seiner Frage herausrücken wollte, blickte Mr. Salden ihn etwas schärfer an, und jenem blieb die Frage förmlich in der Kehle stecken, er wurde unter dem Blicke verlegen, begann schnell von etwas anderem Gleichgültigen zu sprechen.
»Lächerlich,« sagte der andere, als der erste unverrichteter Dinge zurückkam, er habe den Herrn nicht nach seinem Alter fragen mögen, »ich glaube gar, Sie genieren sich.«
Jetzt ging also der zweite hin. Aber merkwürdig, auch dieser kam nicht zum Ziel. Mr. Eugen Salden antwortete einsilbig, und als die Frage kommen sollte, blickte er jenen scharf an und ließ ihn verlegen stehen.
Kurz und gut, die beiden Yankees konnten ihre Wette während der ganzen Reise nicht austragen, denn sie brachten es nicht über sich, diesen Herrn nach seinem Alter zu fragen, sie wagten nicht, ihn noch einmal anzusprechen. Aber warum eigentlich nicht, das war und blieb beiden ein Rätsel, und es ist leicht begreiflich, daß sie dann nicht mehr gern darüber sprachen.
»Ich glaube, es ist ein Raubtierbändiger,« sagte der eine nur noch, »er hat einen so eigentümlichen Blick.«
Ja, über diesen eigentümlichen Blick war auch von anderer Seite schon oft gesprochen worden.
»Wenn er seine Augenlider niederschlägt, wie er so oft tut, so ist es, als wenn ein zweischneidiges Schwert in die Scheide gesteckt würde.«
So hatte sich eine poetisch veranlagte Dame geäußert.
»Aber Luzy!« rief entrüstet ihre jüngere Freundin. »Der hat doch die schönsten, sanftesten Augen!«
»Na, ich danke!« meinte aber jetzt der alte Vater. »Das ist doch der reine Basiliskenblick!«
Doch nicht nur um seinen Blick ging an Bord des Schnelldampfers der allgemeine Streit.
»Was für edle, männliche Züge!« hieß es bewundernd auf einer anderen Seite.
»Männlich? Ein richtiges Mädchengesicht!«
Und so stritt man sich über alles und jedes, was an diesem Manne, der sich Eugen Salden nannte, nur zu beobachten war, und jetzt, am zehnten Tage der Reise, kurz vor New-York, war man sich immer noch nicht klar, ob er jung oder alt, ob männlich oder weibisch, ob dick oder dünn, ob kräftig oder zierlich – ja, obgleich er sich selbst für einen Deutschen ausgab, kam jemand auf die Ansicht, daß jener trotz seines blonden, schlichten Haares ganz gewiß ein Türke sein müsse.
Zuletzt empfand man denn auch das Humoristische dieser verschiedenen Ansichten, die gar nicht aufhören wollten, man lachte sich gegenseitig aus. Aber während sich alles ausschließlich mit dem rätselhaften Manne beschäftigte, kümmerte dieser selbst sich um niemanden, still schritt er auf dem Promenadendeck hin und her, still saß er an der Tafel, nur in seine Teller vertieft, und dennoch beherrschte er durch einen einzigen Blick die ganze Gesellschaft, er brauchte nur einmal aufzusehen, so verstummte alles und erwartete seine Ansprache, obgleich diese nie erfolgte.
Den stärksten Beweis seiner geheimnisvollen Macht hatte Salden aber jetzt geliefert.
Der Kapitän der ›Persepolis‹ war ein Grobsack erster Güte. Wenn er aus Versehen einmal von einem Passagier angeredet wurde, so schnob er ihn grimmig an, und da machte er keinen Unterschied, und wenn es der Prinz von Wales gewesen wäre, die Hände hätte er doch nicht aus den Hosentaschen genommen, noch weniger die Pfeife aus dem Munde.
Da, wie der Kapitän gerade einmal an Deck stand, hatte der vorübergehende Salden an ihn jene Frage gestellt, wann das Schiff in den Hafen einlaufen würde, zwar höflich, aber doch auch in bestimmtem Tone.
Himmel, solch eine Frage hätte einmal ein anderer Passagier wagen sollen.
»Wenn wir dort sind!! Das werden Sie schon noch zeitig genug erfahren!! Was geht das Sie überhaupt an, was, he?!«
Und was tat der Kapitän jetzt? Er sah den auf sich gerichteten Blick, diese scharfen, kalten Augen – und schnell riß er die Hände aus den Hosentaschen und die Pfeife aus dem Munde und gab einen höflichen Bescheid.
Aber nicht nur das, der Passagier war mit der Antwort nicht zufrieden, wollte die Zeit noch genauer erfahren – und wahrhaftig, der bärbeißige Kapitän gab ihm auch noch eine genauere Antwort! Und dann wurde er von einem grimmigen Aerger gepackt, über diesen › bloody Dutchman, ‹ und noch mehr über sich selbst – aber nun war es zu spät, und wie er wieder auf die Kommandobrücke ging, konnte er sich selbst nicht begreifen. –
Salden begab sich nach dem Mitteldeck. Dort befand sich im Gespräche mit einem anderen Herrn ein dicker, jovialer Mann, welcher gleichfalls erste Kajüte fuhr. ›Mr. Cunning, London, Tabaksagent‹ hatte er sich eingeschrieben. Er war dem Schiffspersonal schon bekannt, hatte bereits mehrmals die ›Persepolis‹ benutzt, wenn er wegen seiner Tabaksgeschäfte nach Amerika ging.
Den Hut lüftend, trat Salden auf diesen zu.
»Verzeihung. Bitte, mein Herr, würden Sie nicht die Güte haben, mir einmal in meine Kabine zu folgen? Es handelt sich um ein wichtiges Geschäft.«
Daß der so plötzlich mit solch eigentümlichen Worten Angeredete mitten im Satz stockte, war begreiflich.
»Was ... was ... was ... ich ... ich ... ich kenne Sie ja gar nicht!«
»Salden ist mein Name.«
»Mein Name ist ... ist ... ist ... Cunning, jawohl, James Cunning. Was denn für ein Geschäft?«
»Bitte, wollen Sie mir nicht in meine Kabine folgen, es läßt sich nicht gut hier abwickeln.«
Salden sah ihn fest an – und der Dicke folgte, wie von einer geheimnisvollen Macht getrieben, obgleich er doch zu zögern schien.
Auch Salden hatte eine einschlafige Salonkabine, in diese führte er den Herrn und bat ihn, Platz zu nehmen. Mechanisch setzte sich der dicke Herr auf das kleine Sofa, Salden ließ sich ihm gegenüber nieder.
»Ein Geschäft?«
»Mein Herr, ich befinde mich in großer Geldverlegenheit ...«
»Ja, aber,« unterbrach ihn der andere erstaunt, »wie komme denn ich dazu? Ich kenne Sie doch gar nicht.«
»Salden ist mein Name,« wiederholte jener mit unerschütterlicher Ruhe.
»Sehr angenehm, aber ... wie komme ich denn nur dazu?«
»Allerdings handelt es sich um ein Geschäft, um ein sehr günstiges für Sie. Sie sind doch Juwelier oder ...«
Als wäre dies eine ungeheure Beleidigung, mit solch ungestümer Hast fuhr der dicke Herr empor, plötzlich purpurrot im Gesicht.
»Juwelier? Ich? Keine Ahnung! Ich bin ein Londoner Tabaksagent, ein ganz bekannter Mann, alle Zollbeamten in New-York kennen mich, passen Sie auf, wie die vor mir den Hut ziehen werden. Wie kommen Sie denn darauf, daß ich Juwelier sein soll?«
»Ich dachte, weil Sie Ihren dicken Spazierstock mit Diamanten gefüllt haben.«
Ach du großer Schreck!!! Der dicke Mann knickte zusammen, als hätte er einen Hexenschuß bekommen, und blieb wie ein geprellter Frosch auf dem Sofa liegen.
Es war in der Tat so, obgleich Cunning weder ein Juwelier noch ein Schmuggler von Profession war. Es war dies das erstemal, daß er Diamanten, überhaupt etwas nach Amerika zu schmuggeln versuchte.
Mr. Cunning war wirklich ein ehrlicher Tabaks-Händler, hatte schon viel des hochbesteuerten Krautes von Amerika herüber und von Holland fertige Zigarren hinüber gebracht, aber noch niemals geschmuggelt. Da hatte er vor kurzem einen alten Freund wiedergetroffen, einen holländischen Diamantenhändler ... »Höre du, du reist doch immer hin und her, dich kennen doch schon die amerikanischen Zollbeamten, du hast schon Zoll genug bezahlt, dir traut man doch so etwas nicht zu ... wollen wir einmal zusammen ein Schmuggelchen machen?«
Mr. Cunning war der Versuchung unterlegen, in zehn Tagen 100 000 Mark verdienen zu können. Auf seinen Reisen führte er ständig einen dicken Spazierstock mit sich, den Zollbeamten in New-York auch schon wohlbekannt. Aber noch keiner hatte ihn jemals einer Untersuchung gewürdigt, und so wußte auch niemand, daß er hohl war. Der Spazierstock barg nämlich in seinem Innern einen dicken Stoßdegen. Dieser wurde oben, dicht am Griff, abgebrochen und nun die Oeffnung mit jenen kleinen, geschliffenen Steinchen ausgefüllt. Und was da alles hineingegangen war! Für eine halbe Million!
Wenn Mr. Cunning auch sonst auf ein reines Gewissen hielt, beim Skatspiel mogelte er doch manchmal, und dann verriet er sich nicht durch Erröten, und ebensowenig ward er verlegen, wenn er einmal jemanden mit einer Ladung minderwertigen Tabak anschmierte. Ueber solche Kleinigkeiten also war er erhaben. Mr. Cunning hatte an Bord den so wertvoll gewordenen Spazierstock mit demselben Gleichmut wie sonst gehandhabt, hatte ihn wie sonst nur manchmal, wenn er an Deck promenierte, mit hinaufgenommen, sonst hatte er es riskiert, die Schatzkammer unten in seiner Kabine stehen zu lassen. Wahrhaftig, kein einziger Mensch konnte auch nur ahnen, daß der Spazierstock überhaupt hohl sei!
Und nun, und nun!! Vor allen Dingen waren die Diamanten im Werte von einer halben Million unwiderruflich futsch. Und dann mußte noch extra die doppelte Steuergebühr bezahlt werden, so gegen 200 000 Mark, und wenn das Mr. Cunning nicht konnte oder wollte, so durfte er auf Sing-Sing, der New-Yorker Strafinsel, ein bis zwei Jahre lang Baumwolle spinnen.
»Ein Detektiv! Ich bin ruiniert!!« stöhnte der geprellte Frosch.
»Sie irren,« entgegnete aber Mr. Salden, »ich bin kein Detektiv, bin niemals Detektiv gewesen. Fassen Sie sich, mein Herr. Sie haben von mir absolut nichts zu fürchten. Meinetwegen schmuggeln Sie so viel Diamanten, als sie wollen, mich soll es nur freuen, wenn Sie dieselben glücklich durchbringen. Ich habe in meinem Leben selbst genug geschmuggelt, noch ganz andere Sachen, ganze Schiffsladungen, und das aus keinem anderen Grunde, als weil es mir Spaß machte, meine Schlauheit mit der des Zollbeamten zu messen. Und Sie werden die Diamanten auch glücklich durchbringen, denn wenn Sie selbst nicht geplaudert haben, so ahnt an Bord kein Mensch, daß Sie in Ihrem Spazierstock etwas verborgen haben, Sie erregen nicht den geringsten Verdacht.«
Der geprellte Frosch richtete sich etwas auf und sah den so Sprechenden mit offenem Munde an.
»Ja, aber ... aber ... woher ...«
»Woher ich es dann weiß? Ja, bei mir ist das etwas anderes. Mir hat die Natur ein ganz besonders geschliffenes Auge eingesetzt. Ich habe sofort gemerkt, als ich Sie zum ersten Male mit dem Spazierstock sah, daß es wohl derselbe Stock ist, den Sie immer tragen, daß er aber nicht ganz genau dasselbe Gewicht hat, an welches Sie sonst gewöhnt sind. Ich kalkuliere, der Stock ist um eine Kleinigkeit leichter geworden. Sie stießen mit dem Stocke an Deck auf, und ich hörte sofort, daß der Stock nicht durchweg aus Holz bestehen könne. Ich kalkuliere, daß er einst einen Stockdegen enthalten hat, den Sie abgebrochen haben, und was anderes, als Juwelen sollte man denn in solch einem kleinen Raume schmuggeln wollen? Sollte ich nicht recht haben?«
Mr. Cunning riß seinen Mund nur noch weiter auf. Aber seine furchtbare Angst verließ ihn durch diese Erklärungen noch nicht, und das mußte auch der Mann, der das Gras wachsen sah und hörte, bemerken.
»Fürchten Sie doch nichts,« fuhr er deshalb fort, »wie gefügt, kein anderer Mensch, als nur ich allein wird solche Beobachtungen angestellt haben, und ich tue Ihnen nichts. Allerdings haben wir einen Detektiv der Zollbehörde an Bord ...«
»Einen Detektiv?«
»In der ersten Kajüte, der Steward mit der großen Glatze ...«
»Ach wo, den kenne ich ja schon seit lange!!«
»Und ich sage Ihnen, mein Herr, dieser so unschuldig aussehende Steward ist ein Detektiv! Das habe ich nicht von anderer Seite gehört, das hat er mir nicht selbst gestanden, sondern das sehe ich ihm auf den ersten Blick an. Wodurch, das kann ich Ihnen hier nicht erklären, das ist eben bei mir eine besondere Gabe. Eine diesbezügliche Wette dürfte ich als Ehrenmann gar nicht annehmen, denn ich bin meiner Sache todsicher. Da ich nun diesen Detektiv in bezug auf Sie beobachtet habe, so kann ich Ihnen die Versicherung geben, daß er nicht die geringste Witterung auf Ihren Spazierstock hat.«
Mr. Cunning begann etwas ruhiger zu atmen.
»Mein Herr, Sie bergen mit Ihrem Beobachtungstalent eine Goldquelle in sich. Und Sie sind in Geldverlegenheiten?«
»Ja. Aber denken Sie nicht etwa, ich will jetzt aus Ihnen Geld herauspressen. Ich bin ein Ehrenmann. Hiermit genug. Dies alles wäre gar nicht nötig gewesen, hätten Sie meine Frage, ob Sie ein Juwelier seien, bejaht. Auf irgend eine Weise muß doch ein Geschäft angeknüpft werden,«
»Was für ein Geschäft?«
Mr. Salden knöpfte seinen eleganten Rock auf und zog aus der Westentasche an schwergoldner Kette eine große, goldne Uhr, ließ zwei Deckel aufspringen.
»Diese Uhr habe ich mir erst kürzlich in der Schweiz gekauft. Sie kostete 500 Francs.«
Der Tabaksagent verstand wirklich etwas davon.
»Das glaube ich gern.«
»Wollen Sie 50 Dollar geben? Gerade die Hälfte. Sie machen ein gutes Geschäft dabei.«
»Mit Vergnügen!!« jauchzte der dicke Mann förmlich auf, denn er fühlte plötzlich einen Zentnerstein von seinem Herzen fallen.
»Diese Kette kostete mich 250 Mark. Jedes Glied ist gestempelt. Geben Sie mir dafür 40 Dollar?«
»Mit Vergnügen!«
»Hier,« Mr. Salden zog aus seinem Schlips eine Nadel, offenbar ein Kunstwerk. »Wieviel sie gekostet hat, weiß ich nicht. Es sind mir schon einmal 1000 Dollar dafür geboten worden ...«
»1000 Dollar? Mit Vergnügen!!!«
Es war eine prachtvolle Nadel, die verschiedensten Edelsteine strahlten ein wahres Feuermeer aus, die Nadel war schon oft genug bewundert worden, der rätselhafte Fremde mußte ein reicher Kauz sein.
Jetzt freilich stellte sich das Gegenteil heraus. Aber warum sollte er nicht in Geldverlegenheit gekommen sein? Und die Steine waren echt, das erkannte auch der Tabakshändler. Dieser Mann konnte die Nadel auch nicht gestohlen haben, konnte überhaupt kein Gauner sein. Denn erstens hätte er dann die Nadel doch nicht so öffentlich getragen, und zweitens, wäre er ein Gauner gewesen, so hätte er doch vor allen Dingen dem entlarvten Diamantenschmuggler den Daumen aufs Auge gesetzt.
»Aber mein lieber Herr, berauben Sie sich doch nicht Ihrer Wertsachen. Wenn Sie in Geldverlegenheiten sind, so bin ich ja gern bereit ...«
»Bitte sehr, ich war einst ein reicher Mann, jetzt gehe ich nach Amerika, um zu arbeiten, ein Arbeiter braucht keinen solchen Schmuck, es sind auch keine Andenken. Also geben Sie 1000 Dollar für diese Nadel?«
»O, die ist noch viel mehr wert ...«
»Bitte,« unterbrach ihn Mr. Salden abermals, »ich bin kein Handelsjude, mein einmal geforderter Preis gilt. Also 1000 Dollar?«
Der sich gerettet fühlende Schmuggler konnte seiner Dankbarkeit nicht einmal Ausdruck geben.
Dann löste der merkwürdige Mann aus seinem Oberhemd noch drei Brustknöpfchen und zwei Manschettenknöpfe, ebenfalls alles massives Gold mit Diamanten, und bot den ganzen Satz gleichfalls für die runde Summe von 1000 Dollar an.
Der Tabakshändler mußte dies alles wohl oder übel nehmen, er hatte nämlich in seiner Freude lieber mehr gegeben, und es lag auch klar auf der Hand, daß er dabei ein ausgezeichnetes Geschäft machte. Geld genug hatte er bei sich, er entnahm seiner Brieftasche 2090 Dollar, und als er dann die Kabine verließ, wußte er nicht, was er von dem jungen Manne und diesem ganzen Geschäft denken sollte.
– – –
Unterdessen war es Abend geworden. Bald würde die Schiffsglocke zum letzten Male zur Mahlzeit rufen.
Auch Salden verließ seine Kabine, schlenderte langsam durch die Korridore und betrat das Zwischendeck. Ehe er vom Schiffe Abschied nahm, wollte er wohl noch einmal dieses obskure Reich besichtigen.
Ja, in dem mit Menschen vollgepfropften Raume – zu jener Zeit wurden noch Männlein und Weiblein ungetrennt in das Zwischendeck eingepfercht – sah es auch arm genug aus.
Bei dieser Reise machte das Zwischendeck einen noch jämmerlicheren Eindruck als sonst, weil sich darin eine große Schar von Irländern mit Frauen und Kindern befanden, vor kurzem noch gutsituierte Bauern, welche aber durch ein verruchtes Gesetz von Haus und Hof vertrieben, zu Bettlern gemacht worden waren, und nicht einmal in ihrer Heimat durften sie bleiben, fort mit ihnen aufs Schiff, nach Amerika! Dort bekommt ja jeder Einwanderer freies Land. Diese Aermsten der Armen würden sich einen Pflug erst leihen müssen, und während die Männer die Bäume zum einstigen Hause fällten, mußten Frauen und Kinder vor dem Pfluge die Zugtiere vertreten.
Salden unterhielt sich mit diesem und jenem der Irländer, ließ sich den Führer des Trupps vorstellen, einen alten Mann, der schon in Amerika gewesen war und die Verhältnisse kannte, der seine unglücklichen Landsleute nur abholte.
»Schauderhaft! Hier, nehmt.«
Und dabei hatte er dem alten Manne einige Tausenddollarnoten in die Hand gedrückt, nicht nur die beiden, welche er von dem Tabakshändler erhalten, sondern auch noch drei andere. Also der seltsame Mensch hatte noch genug Geld gehabt, hatte gar nicht nötig gehabt, seine Schmucksachen zu verkaufen!!
Die Leute wollten es erst gar nicht glauben, von einem Unbekannten plötzlich so viel Geld geschenkt bekommen zu haben, daß sie in ihrer neuen Heimat gleich als existenzkräftige Farmer beginnen konnten. Auch das anwesende Schiffspersonal staunte, so etwas war an Bord der ›Persepolis‹ noch nicht vorgekommen.
Aber damit war es noch lange nicht genug. Salden ging weiter durch das Zwischendeck und streute mit vollen Händen das Geld aus, und wieder zeigte es sich, daß er noch reichlich versehen gewesen war, so z. B. teilte er ja auch Silber- und Goldstücke aus, während er von dem Agenten nur Papier erhalten hatte.
Allerdings gab er ohne Ansehen der Person, drückte achtlos das Geld in alle Hände, die sich ihm entgegenstreckten, oder schüttete es dort einer alten Frau in den Schoß – und dennoch, er machte einen Unterschied!
Ein alter, schmieriger Jude näherte sich ihm, von seiner hungernden Familie eine Jeremiade erzählend.
»Schmuhl, du hast mehr unter deinem Kaftan, als wir alle zusammen, oder ich will heute nacht nicht lebendig das amerikanische Festland erreichen!«
Der Jude machte, daß er verschwand.
Zuletzt nahm Salden noch einige junge, dürftig gekleidete Leute mit in seine Kabine und verteilte unter diese seine gesamte Garderobe. –
Im Speisesalon fand die letzte Mahlzeit statt. Von dem Verkaufe seiner Schmucksachen war nichts bekannt geworden, wohl aber hatte sich schnell verbreitet, wie er im Zwischendeck viele tausend Dollar verteilt, wie er seine ganze Garderobe verschenkt hatte. Was sollte man davon denken? Salden saß mit an der Tafel, aber auch in der letzten Minute löste er nicht das Rätsel, das ihn umgab, war unnahbar wie immer.
Und der Schluß dieser Reise sollte erst den Anfang des allergrößten Rätsels bilden.
Auf dem einsamen Meere wurde es lebendig, überall tauchten Lichterchen auf, deren Zahl ständig zunahm. Man näherte sich der Küste, dem Hafen, wenn man auch noch immer einige Stunden davon entfernt war.
Es war eine warme Sommernacht, aber stockfinster.
Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht war es, als sich vorsichtig, manchmal um sich spähend, ein Mann nach dem äußersten Hinterteile des Schiffes schlich, wo sich das Reserve-Steuerrad für die höchste Not befindet, gerade über der Schraube, welcher Teil des Schiffes für die Passagiere streng geschlossen ist.
Es war Salden. Dort, wo das von der Schraube aufgewühlte Kielwasser phosphoreszierend brandete, angelangt, blickte er nochmals um sich. Kein Matrose, kein Mensch war in der Nähe. Schnell zog er aus der Brust eine Brieftasche, entnahm ihr einige Papiere, zerriß diese und ließ die Stückchen über Bord flattern. Dann warf er die Ledertasche selbst ins Wasser.
»Vernichtet für immer ist mein Name,« murmelte er, »nun gilt es bloß noch meine eigene Persönlichkeit.«
Ehe er den Satz vollendet, hatte er die Hände auf die Bordwand gelegt und ...war mit einem Hechtsprung kopfüber in der Flut verschwunden!
Als er wieder auftauchte, war er außerhalb des Bereiches der gefährlichen Schraube, aber dort rauschte die ›Persepolis‹ als ein feuriges Ungetüm mit Hunderten von glühenden Augen mit ungeschwächter Schnelligkeit davon, und kein Ruf ›Mann über Bord!‹ war erschollen.
Und der Selbstmordkandidat befand sich in der heitersten Stimmung.
»Willkommen, mein liebes Meer!« erklang es jauchzend aus den schäumenden Wogen. »Kennst du mich noch? Bisher bin ich deinem unersättlichen Magen unverdaulich gewesen, denn schon dreimal verschlucktest du mich, und dreimal spiest du mich wieder aus. Hast du es diesmal anders mit mir vor? Nun, Meer, schlag zu; wir wollen sehen, wer stärker ist, ich oder du! Und wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben!«
Mit diesen Worten hatte er sich den Kragen abgeknöpft – also nicht abgerissen, wie es wohl jeder andere gemacht hätte, wenn er sich im Wasser dieses Kleidungsstückes entledigen wollte – sondern hatte ihn fein säuberlich abgeknöpft. Einstecken tat er ihn freilich nicht, sondern ließ ihn mit dem Schlipse schwimmen. Dann zog er den schwarzen Gehrock aus, hierauf kamen die Stiefeletten daran, und daß er dabei mit dem Kopfe unter das Wasser mußte, genierte ihn nicht im mindesten, wie man überhaupt auf den ersten Blick bemerkte, daß er ein gottbegnadeter Schwimmkünstler war, eine Seehundnatur. Als auch die Strümpfe von den Füßen waren, kamen die Hosen daran, dann die Unterwäsche, und das alles wurde so recht hübsch gemächlich ausgezogen, da wurde kein Band abgerissen, schließlich streifte er sich auch noch das Hemd über den Kopf, und nun, so wie ihn der liebe Gott erschaffen hatte, ging es mit mächtigen Stößen vorwärts, dorthin, wo in der Ferne die meisten Feuer leuchteten.
In den letzten Tagen war die See sehr aufgeregt gewesen, jetzt wieder geglättet, wenigstens hatte man von dem hohen Schiffe aus nur eine leicht gekräuselte Wasseroberfläche gesehen ... aber wenn man selbst im ›leicht gekräuselten Ozean‹ liegt – ei die Dunnerwetter! würde da wohl mancher sagen – denn da geht's noch immer bergauf und talab, das Wasser schlägt dem ungeschickten Schwimmer noch oft genug über dem Kopfe zusammen.
So ward also auch Salden noch tüchtig vom Wellenschlag des Ozeans geschaukelt, aber er war eben ein ausgezeichneter Schwimmer, mit jedem Stoß legte er mindestens zwei Meter zurück, und dann ging es wieder einmal Hand über Hand.
Ein in weiter Entfernung vorüberstreichender Dampfer verkündete durch acht Glasenschläge die Mitternachtsstunde. Schon eine Stunde also schwamm Salden so kraftvoll, und da war noch keine Spur von Ermüdung zu merken.
Noch eine Stunde verging, aber dem Schwimmer nicht die Kraft. Jetzt hatte er sich ein bestimmteres Ziel gewählt. Das große Lichtermeer, dem er immer näher kam, ließ er links liegen und hielt auf einen kleineren Komplex von erleuchteten Fenstern zu, welche einsam aus der dunklen Nacht hervortraten.
»Die Insel Manhattan, auf welcher New-York liegt, ist es auf alle Fälle,« murmelte er, »und meiner Ansicht nach, welche bei einem neugeborenen Kinde freilich nicht viel gilt, ist das dort ein einsames Bade-Hotel, und wenn sich das neugeborene Kindlein nicht irrt, so sollte mich das sehr freuen, dann würde ich mich dort gleich in die Wiege legen, und bei dieser Geschichte bekommt man auch Appetit.«
Noch eine halbe Stunde, und er bekam bei einem Versuche, Grund zu finden, feinen Sand unter die Füße, er begann zu waten, und immer deutlicher konnte er jetzt die Umrisse eines großen Gebäudes mit einigen erleuchteten Fenstern erkennen.
Er hatte noch immer lange Zeit zu waten, der Badegrund stieg nur allmählich an. Als ihm das Wasser nur noch bis an die Knie ging, zuckte er plötzlich etwas zusammen, blieb stehen und hob den einen Fuß, um den Splitter daraus zu entfernen, den er sich eingetreten hatte.
»Eine Stecknadel! Wahrhaftig, eine Stecknadel! Der Himmel hat mir für meinen neuen Lebenslauf das erste Bekleidungsstück geschenkt!! «
Er behielt dieses erste ›Bekleidungsstück‹ in der Hand und hatte nun bald den trockenen Strand erreicht. Auf diesem standen viele elegante Badehütten, er untersuchte einige Türen und fand sie alle fest verschlossen, aufbrechen tat er keine.
Da sah er im Dunkeln am Boden etwas Weißes leuchten, er hob es auf – ein Bogen Zeitungspapier.
»Aaagh, Adams Feigenblatt ist auch schon gefunden! Wenn der Himmel weiter mir so gnädig gesinnt ist, betrete ich dort das Hotel noch als tadellos gekleideter Gentleman. Ein Glück nur, daß ich die Stecknadel aufgehoben habe. Ich habe es ja immer gesagt: der Mensch soll sparsam sein, soll auch gar nichts fortwerfen, nicht einmal eine Stecknadel. Also machen wir Toilette.«
Sein Körper war bei dem langen Waten im seichten Wasser schon trocken geworden, so wickelte er sich den Bogen Papier um die Hüften und steckte die Ränder mit der Nadel fest.
So kostümiert, marschierte er direkt auf das hellerleuchtete, noch geöffnete Portal zu, in welchem er mehrere Personen unterscheiden konnte, und was er da sah, das genierte ihn alles nicht, das Portal zu betreten.
Es war richtig ein Hotel, ein Badehotel, welches nur in der Sommersaison ständige Gäste aufnimmt.
Jetzt, in der zweiten Nachtstunde, war schon alles ruhig. Aber das Dienstpersonal, weibliches und männliches, hatte doch noch bis jetzt zu tun gehabt, soeben gaben alle die, welche Schlüssel unter sich hatten, diese an der Portierloge ab.
» Good morning Ladies and Gentlemen. «
Einen Moment Todesstille, und dann ein furchtbares Kreischen, und verschwunden war plötzlich alles, was einen Weiberrock getragen hatte.
Steht da plötzlich mitten unter ihnen ein nackter Kerl! Ein Glück nur, daß die Stecknadel das bißchen Papier zusammenhielt.
Der Portier aber und die Kellner und die anderen dienstbaren Geister männlichen Geschlechts reckten den Hals immer weiter heraus und machten immer größere Augen.
»Was – ist – denn – das?!«
Der nackte Mann ließ sich nicht beirren, und jetzt war er ein total anderer als noch vor zwei Stunden an Bord der ›Persepolis‹.
Gravitätisch setzte er das eine nackte Bein vor, stemmte die eine Hand in die Hüfte, die andere streckte er aus, und so sagte er in schnarrendem Tone mit abgerissenen Worten:
»... ääääääähhhh ... ein Zimmer ... erste Etage ... vornheraus ... mit Salon ... mit Bad ...mit Wasserklosett ... mit musikalischem Wasserklosett ... wenn man sich draufsetzt, muß es den Priesterchor aus der Zauberflöte mit voller Posaunenbegleitung und Paukenschlag spielen ...«
So schnarrte der nackte Mann im affektiertesten Tone. Und was sagten der Portier, die Kellner und die anderen dazu?
So etwas, wie hier geschildert, und was dann noch weiter geschah, ist in keinem anderen Lande möglich als nur in Amerika – um einen modernen und äußerst zutreffenden Ausdruck zu gebrauchen: im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten.
In Deutschland und in jedem anderen Lande, England vielleicht nicht ausgeschlossen, wäre doch sofort die Polizei geholt und der nackte Eindringling, der sich so benahm, auf die Wache oder gleich ins Irrenhaus gebracht worden. Nicht so in Amerika.
Dazu aber müssen wir den nackten Mann erst einmal mit den Augen des Hotelpersonals betrachten.
Sie sahen eine schlanke Männergestalt, aber der Körper ausgebildet wie der eines Athleten, die kleinste Muskel trat wie gemeißelt hervor – und sie sahen die wohlgeformten Füße, ebenso mit peinlicher Sorgfalt gepflegt wie die schlanken Hände – und im Augenblick war ihnen alles klar; das war so ein Faxenmacher vom Athletic-Klub, dem vornehmsten Klub New-Yorks, dem lauter solche Dandies angehören, welche nicht wissen, wie sie Zeit und Geld totschlagen sollen, hier handelte es sich einfach um eine tolle Wette.
Also die dienstbaren Geister verbissen ihr aufsteigendes Lachen und waren wie die Ohrwürmchen um den sonderbaren Gast herum, denn da gab es natürlich dann, wenn es zur Auflösung kam, fürstliche Trinkgelder.
»Sehr wohl, mein Herr, ein Zimmer vornheraus. Wünschen der Herr vielleicht noch zu speisen?«
»Speisen, jawohl ... auf meinem Zimmer ... Weinkarte ... und eine Spielkarte ... ganz neu ... und ein Nachthemd ... braucht nicht ganz neu zu sein.«
»Sehr wohl, mein Herr.«
Gut, der späte Gast, dessen ganzes Gepäck in einer Stecknadel und in einem Zeitungsblatt bestand, ward in ein prachtvolles Schlafzimmer geführt, in dem nichts weiter fehlte als das Wasserklosett mit Musik. Zuerst brachte ihm der Kellner ein langes Nachthemd, Salden, wie wir ihn vorläufig noch nennen wollen, bestellte eine Flasche des teuersten Champagners, die Küche lieferte noch immer ein ausgewähltes Souper. Auf einem Teller lagen auch die gewünschten Spielkarten.
»Wünschen der Herr sonst noch etwas?«
»Nein, für jetzt nichts mehr. Morgen früh den New-Yorker Herald und andere Morgenzeitungen.«
»Sehr wohl, mein Herr.«
Der Kellner wünschte gute Nacht und ging, der Gast schloß sich ein, um die Mahlzeit im Nachthemd einzunehmen, und dann konnte der kuriose Kauz für sich allein auch noch eine Partie Karten spielen – oder für sein künftiges Schicksal sich die Karten legen.
Unterdessen wälzten sich unten die Kellner und Dienstmädchen vor Lachen. Besonders über das ›musikalische Wasserklosett mit Posaunenbegleitung und Paukenschlag‹ konnten sie sich gar nicht wieder beruhigen. Wenn nur erst der helle Tag anbräche, daß man sehen konnte, wie sich das noch weiter entwickelte, was sich aus dem nackten Fremdling noch entpuppte. –
Die Morgenzeitungen waren nach und nach gekommen, und da der rätselhafte Gast sie doch auf sein Zimmer bestellt hatte, durfte der Kellner es wagen, die Zeit des Wiedersehens abzukürzen, er klopfte an die Tür.
» Come in! «
Der Riegel konnte durch einen Mechanismus vom Bett aus zurückgeschoben werden, der Kellner trat ein.
Salden lag noch im Bett, die Schüsseln und die Flasche waren geleert, aber das Spiel Karten verschwunden.
»Hier sind die gewünschten Morgenzeitungen.«
»Geben Sie her!«
»Befehlen der Herr das Frühstück?«
»Jawohl, das Frühstück. Es darf etwas ausgiebig sein. Und Seife und Kamm usw.«
Der Kellner brachte mit mehreren Gängen alles Verlangte. Salden las im Bett die Zeitungen.
»Halt,« kommandierte er, als sich der Kellner wieder entfernen wollte, »wem gehört dieses Hotel?«
»Mr. Ephram.«
»Ist er anwesend? Ist er zu sprechen?«
»Während der Saison ist Mr. Ephram immer anwesend. In einer Stunde wird er zu sprechen sein.«
»Gut, ich möchte ihn dann sprechen. – Halt! Kennen Sie die dem Meere entstiegene, schaumgeborne Venus, auch Aphrodite genannt?«
Der Kellner machte ein sehr dummes Gesicht.
»Nein, diese Dame ist mir leider unbekannt.«
»Schade. Die bin ich auch nicht – aber ihr Bruder. Rufen Sie den Hotelier, ich muß ihn sprechen, ehe ich hier noch mehr Schulden mache.«
Als sich der Kellner entfernte, war ihm etwas unwirsch im Kopfe. Wenn er den Herrn sonst auch gar nicht verstanden hatte, so summte ihm doch immer das fatale Wort ›Schulden‹ in den Ohren.
Der Hotelbesitzer kam. Er hatte schon von seinen Leuten alles erfahren, es hatte ihn sehr amüsiert, schließlich war er doch auch ein Mensch, freilich mehr noch Geschäftsmann.
Salden hatte das Bett verlassen und sich gewaschen, sonst aber empfing er den Hotelier natürlich im Nachthemd.
»Sie wünschten mich zu sprechen, mein Herr? Ich bin der Besitzer dieses Hotels. Ephram ist mein Name.«
Das Nachthemd machte eine tadellose Verbeugung.
»Sehr angenehm. Nobody ist mein Name. «
Auch den Hotelbesitzer befiel plötzlich eine unangenehme Empfindung. Jetzt hätte der vornehme Faxenmacher wenigstens seinen Namen nennen müssen. Denn ›Nobody‹ heißt auf deutsch ›Niemand‹. Das war also der Herr Niemand. Nun gibt es im Englischen allerdings diesen Namen, auch im Deutschen, aber ... die ganze Geschichte gewann jetzt doch den Anschein, als habe man es mit einem Individuum zu tun, das seinen Namen nicht nennen wolle.
Und das sagte der vormalige Salden dem Hotelier denn auch gleich offen heraus, immer höflich, aber auch etwas von oben herab, und den Mann dabei immer fest anblickend.
»Sie werden erfahren haben, unter welchen außergewöhnlichen Umständen ich diese Nacht Ihr Hotel betreten habe. Ich schulde Ihnen ein Zimmer, ein Souper, ein Flasche Champagner und noch mehreres andere. Ehe ich noch weitere Schulden mache, teile ich Ihnen mit, daß ich keinen Cent besitze, vollständig mittellos bin, und bitte Sie dennoch, mich nicht für einen Hochstapler oder Zechpreller halten zu wollen.«
Wohl stutzte der Wirt noch mehr als zuvor, aber war dies die Sprache und das Benehmen eines Hochstaplers?
Und dann diese merkwürdigen Augen, sie schlugen den Hotelier wie in einen Bann.
»Ja, wer sind Sie da aber, mein Herr? Wo haben Sie Ihre Kleider gelassen? Wie sind Sie überhaupt in solch eine Lage gekommen?«
Mr. Nobody, wie er sich jetzt nannte, nahm vom Tisch den ›New-Yorker Herald‹ und hielt ihn dem Hotelier entgegen, auf eine bestimmte Stelle deutend.
»Haben Sie diesen heutigen Artikel schon gelesen?«
Ein mysteriöser Vorfall an Bord des Schnelldampfers ›Persepolis‹.
So lautete die fettgedruckte Ueberschrift des Sensationsartikels. Als die ›Persepolis‹ heute früh bei Tagesanbruch am Quai beigelegt hatte, waren, wie gewöhnlich, die Berichterstatter der verschiedenen Zeitungen an Bord gekommen, um über eventuelle bemerkenswerte Begebenheiten während der Reise zu forschen.
Ja, da konnte man allerdings etwas erzählen. Ein Passagier war heute über Nacht plötzlich verschwunden, hatte anscheinend Selbstmord begangen.
Als die ›Persepolis‹ Long-Island passierte, waren – unvermutet früh – die amerikanischen Zollbeamten mit der üblichen Polizeibegleitung an Bord gekommen, die noch schlafenden Passagiere wurden mit amerikanischer Rücksichtslosigkeit sofort geweckt, um zunächst ihr Handgepäck untersuchen zu lassen.
Ein Passagier fehlte – Mr. Eugen Salden. Ein Steward begab sich zunächst nach der Kabine, an deren Tür er vorhin stark geklopft hatte, er tat es auch jetzt, keine Antwort, er öffnete die unverschlossene Tür, Mr. Salden war nicht darin – aber sofort erblickte der Steward ein großes Stück Pappe, auf welches mit dicken Buchstaben geschrieben war:
»Ich, der ich mich Eugen Salden nannte, springe heute nacht um elf Uhr über Bord.«
Der Selbstmordkandidat verhinderte durch diese letzte Mitteilung das Durchsuchen des ganzen Schiffes nach seiner fehlenden Person.
Ein Selbstmordkandidat? Jetzt begannen die rätselhaften Aussagen der Passagiere und Angestellten, welche ihn beschreiben wollten – rätselhaft dadurch, daß sich ihre Angaben so widersprachen.
Bartlos, ja, darin waren sie sich einig, aber das war auch das einzige.
»Noch nicht zwanzig Jahre alt. – Mindestens vierzig. – Klein. – Mir kam er sehr groß vor. – Ein rücksichtsloser Patron. – Ungemein höflich und zuvorkommend ...«
Und so ging es weiter, bis schließlich wieder alle darin übereinstimmten: »Es war eine ganz eigentümliche, rätselhafte Persönlichkeit, die jedem sofort auffallen mußte.«
Bevor er in den Tod ging, hatte er alles verschenkt, was er besaß. Es wurde konstatiert, daß er im Zwischendeck fast 6000 Dollar verteilt hatte, dem irländischen Auswanderertrupp hatte er ja allein 5000 Dollar geschenkt. Jetzt erzählte auch der Tabaksagent, wobei er sich gar nicht zu kompromittieren brauchte, wie ihm jener Mann seine Wertsachen angeboten hatte, er zeigte die goldene Uhr und die anderen Kleinodien. Seine Koffer, die er mit Restinhalt dem Steward geschenkt hatte, mußten geöffnet werden. Alles aufs feinste. Allein das große Toilettennecessaire verriet den geborenen Elegan. Aber kein Name, kein Monogramm in der Wäsche, gar nichts.
Warum hatte er Selbstmord begangen? Aus Geldnot sicherlich nicht. Der nächste oder sogar der erste Grund ist immer die Liebe.
»Gewiß, er trug eine unglückliche Liebe in seinem Herzen,« flötete eine Dame, »ich sah es ihm sofort an, ich ahnte ein Unglück, er sah so unsäglich melancholisch aus.«
»I Gott bewahre, der hatte überhaupt gar kein Herz im Leibe, er sah aus, als ob er das Phlegma selber wäre.«
Warum hatte er den Selbstmord erst kurz vor New-York begangen, wo er doch auf dem hohen Ozean viel sicherer seinen Tod gefunden hätte?
»Er hat die Ausführung seines entsetzlichen Vorhabens immer und immer wieder hinausgeschoben, es fehlte ihm an Mut, er sah auch so energielos aus.«
»I Gott bewahre! Das war ein Mann, der nicht in der Ausführung eines einmal gefaßten Entschlusses schwankt; das war ein Mann mit einer rücksichtslosen Energie, die alles unter die Füße tritt.«
Je mehr man fragte und über den Fall grübelte, desto unergründlicher wurde das Rätsel nur.
Die Zeitungsreporter bemächtigten sich dieser Sache mit Heißhunger und fabrizierten in aller Geschwindigkeit die sensationellsten Berichte. Wohl waren diese etwas übertrieben, aber aus Wahrheit beruhten sie dennoch – ja, sie gaben die Größe des Rätsels nicht einmal wieder, wie es in Wirklichkeit war. Das konnte erst mit der Zeit geschehen.
»Ich habe diesen Artikel bereits gelesen, es steht davon in allen Zeitungen,« sagte der Hotelier, und mit einem erstaunten Blick auf den Mann im Nachthemd setzte er hinzu: »Das sind doch nicht etwa Sie?!«
»Ja, das bin ich, aber jetzt nicht mehr Eugen Salden, was auch nur ein angenommener Name war, sondern Nobody – ein Niemand. «
»Sie haben den Tod in den Wellen nicht finden können?«
»Nicht finden wollen. Ich habe nicht daran gedacht, einen Selbstmord zu begehen. Ich sprang in der Nähe des Hafens ins Wasser, um schwimmend die Küste von Amerika zu erreichen, im Wasser entkleidete ich mich vollständig, und das weniger deshalb, weil mich die Kleidung am Schwimmen hinderte, als vielmehr, weil ich das amerikanische Festland völlig mittellos, so wie Gott jeden Menschen zur Welt kommen läßt, betreten wollte ...«
»Ah, es handelt sich um eine Wette?!« rief der Hotelier, der als Yankee, wenn auch sonst ein trockener Geschäftsmann, für alles Exzentrische schwärmte.
»Nehmen Sie an, es handele sich um eine Wette. Erst aber etwas anderes. Ich mußte wohl länger als zwei Stunden schwimmen ...«
»Zwei Stunden im offenen Meere, kolossal!!«
»Es war ein Zufall, daß ich gerade hier vor ihrem Hotel landete. Ich hatte Hunger und Durst und war müde. Ich bestellte, ohne zu sagen, daß ich nicht bezahlen könne. Ich kann es auch jetzt noch nicht. Mein ganzes Besitztum besteht in einer Stecknadel und einem Bogen Zeitungspapier, und auch das gehört eigentlich Ihnen, denn ich habe es auf Ihrem Grund und Boden gefunden. Sie könnten mich jetzt als Zechpreller der Polizei ausliefern ...«
»O, mein Herr!« unterbrach ihn der Hotelier mit abwehrender Handbewegung. »Für wen halten Sie mich denn? Sie haben doch den armen Leuten im Zwischendeck 6000 Dollar geschenkt!«
»Halt! Dies ändert an der Sachlage nichts. Ich habe das Geld eben verschenkt, und ich bin nicht der Mann, ein Geschenk wieder zurückzufordern. Doch Sie haben recht, wenn Sie nach allem, was Sie hier gelesen haben, mir vertrauen. Es handelt sich tatsächlich um eine Wette, nur daß ich diese nicht mit einem anderen, sondern nur mit mir selbst abgeschlossen habe. Das heißt, ich habe mir die Ausführung eines Experimentes vorgenommen. Zahllose Auswanderer landen alljährlich in Amerika, mehr oder weniger mit Geld ausgestattet, sie alle sind von den optimistischsten Hoffnungen beseelt, sie alle gedenken in der neuen Welt eine sichere Existenz zu finden, mehr noch, träumen gleich von Reichtümern, die sie sich durch Arbeit oder Spekulation erbeuten werden, und je mehr jemand Kapitalien mitbringt, desto schneller hat er sich im Traume zum zweiten Vanderbilt gemacht. Wie diese Träume meistenteils zu Wasser werden, ist Ihnen selber bekannt.
Ich aber wollte diesen Erdteil hilflos und nackt betreten, wie mich der liebe Gott erschaffen hat, fremd, unbekannt, kein einziger Mensch soll wissen, wer ich bin, wie ich früher hieß – und noch an demselben Tage, also heute will ich ein Einkommen von jährlich mindestens 100 000 Dollar besitzen.«
»Von ... wieviel?«
»Von 100 000 Dollar – mindestens.«
Daß der Wirt jetzt ein etwas ungläubiges Gesicht machte, war begreiflich. Er mußte auch daran denken, ob er nicht vielleicht einen Geistesgestörten vor sich hatte.
»Zunächst,« fuhr der kleine Krösus im geborgten Nachthemd fort, »muß ich Ihnen beweisen, daß ich auch wirklich kreditfähig bin. Es ist Ihnen vielleicht bekannt, daß ich mir vom Kellner eine Spielkarte geben ließ?«
Der Hotelier bejahte sehr verwundert. Auf welche Weise wollte der sich denn durch diese Spielkarte Kredit verschaffen?
»Ich führe an, daß ich eine Spielkarte bei mir habe, damit Sie sich vor mir nicht etwa fürchten,« lächelte Nobody. »Uebernatürliche Kräfte besitze ich nicht, auch bei mir geht alles mit natürlichen Dingen zu. Geschwindigkeit ist keine Hexerei.«
Mit diesen Worten hatte er den rechten Aermel des Nachthemdes bis weit zur Schulter aufgekrempelt, und auch der Hotelier staunte über den Arm, den er zu sehen bekam – nicht riesenhaft, nicht herkulisch, aber dennoch von einer Muskelentwickelung, wie der Mann so etwas eben noch nicht gesehen hatte.
»Sie sehen meine Hand, ich habe nichts darin.«
Dicht vor den Augen des Wirtes drehte er die erhobene Hand mit gespreizten Fingern hin und her. Auch diese Hand fiel dem Hotelier auf, so schlank, so wohlgepflegt und dennoch strotzend von Muskeln. Jetzt wußte der Wirt, daß er einen Taschenspieler vor sich hatte. Doch was für ein außergewöhnliches Kunststück will man denn heutzutage mit Karten noch vormachen?
»Ich habe nichts in der Hand?«
»Gewiß nicht.«
»Welche Karte soll ich aus der Luft greifen?«
»Pik-As.«
Wie es geschah, d. h., welchen Eindruck es machte, läßt sich nicht beschreiben. Der Taschenspieler griff in die Luft, die Karte wuchs ihm aus dem dem Beobachter abgekehrten Handteller heraus, durch die eigentümliche Bewegung aber sah es gerade so aus, als zöge er die Karte aus der Luft – kurz und gut, plötzlich hielt er zwischen seinen Fingern das Pik-As.
Der Hotelier war starr vor Staunen. Wohl hatte er derartige Kunststücke und auch ganz dieses selbe schon oft genug gesehen, aber doch nie in solcher Nähe, so dicht vor den Augen, und dann war die Täuschung auch niemals eine solch überzeugende gewesen; der Hotelier hätte gleich schwören mögen, dieser Mann hatte die Karte wirklich aus der Luft gegriffen.
»Wie in aller Welt machten Sie denn das? Wo bekamen Sie die Karte denn nur plötzlich her?«
Der Taschenspieler blieb die Erklärung schuldig.
»Geschicklichkeit ist so wenig Hexerei wie Geschwindigkeit. Nennen Sie eine andere Karte.«
»Herz-Dame.«
Genau wieder dasselbe, und so noch mehrmals. Der Taschenspieler zog die gewünschte Karte aus der Luft, aus dem Knie des Hoteliers, aus dessen Nase, also immer dichter vor seinen Augen, und der Mann konnte absolut nicht begreifen, woher jener die Karten nahm, wie er sie plötzlich in seine Hand schmuggelte.
»Bitte, da sagen Sie mir doch, wie Sie das nur machen,« schmeichelte immer wieder der Yankee, der sonst gar nicht danach aussah, als ob er über solche Kunststückchen die Fassung verlieren könnte. »Wo haben Sie nur die Karten? Wenn Sie es mir nicht erklären, glaube ich wirklich noch an Zauberei.«
»Es geht ganz natürlich zu, aber solch ein Geheimnis darf man nicht verraten. Glauben Sie, daß ich sofort von einer Variété-Bühne engagiert werde? Und ich kann nämlich noch ganz andere Sachen.«
»Aber natürlich,« rief der Hotelier begeistert. »Mann, Sie sind ja im Besitze einer Goldquelle!! 25 Dollar für jede Vorstellung – nein, 50 Dollar und noch mehr – wenden Sie sich sofort an Mr. Lewis, ich kenne ihn persönlich, er ist mein Freund, er kommt gleich her, wenn ich zu ihm schicke ...«
»Wer ist das, Mr. Lewis?«
»Der artistische Direktor vom Atlantic-Garden. Kennen Sie den Atlantic-Garden? Das größte Vergnügungsetablissement von New-York, der Variété-Saal faßt 8000 Zuschauer. – Doch nein, solche Kartenkunststücke sind auf der Bühne in einem so großen Saale nicht wirksam. In Klubs müssen Sie sich produzieren, 100 Dollar für die Vorstellung, Sie brauchen nur erst einmal einen Anfang gemacht zu haben, dafür kann ich sorgen, dann haben Sie für jeden Abend eine Bestellung, die reichen Klubs überbieten sich ...«
»Und ich sage Ihnen, ich werde dennoch im Atlantic-Garden auftreten, und das schon heute abend, aber nicht für 25 Dollar, sondern für 250 Dollar, denn, wie schon erwähnt, ich kann noch etwas ganz anderes, was in Amerika noch kein Mensch gesehen hat. – Jetzt, Mr. Ephram, wollte ich Sie bitten, mir den Berichterstatter einer großen Zeitung, womöglich des New-Yorker Herald, zuzuführen, der mich interviewt.«
»Das wollte ich Ihnen bereits vorhin sagen,« beeilte sich der Hotelier zu entgegnen, »und das paßt vortrefflich. Mr. Law, der für den New-Yorker Herald berichtet, ist gerade hier bei mir ...«
»Ein gewöhnlicher Reporter?«
»O nein, was meinen Sie wohl! Das ist kein Reporter, welcher sofort den Bleistift vom Leder zieht, wenn ein Droschkengaul stürzt. Mr. Law ist Korrespondent und politischer Interviewer, im letzten Kriege bekam er einen großen Dampfer zur Verfügung gestellt, mit dem er die englische Kriegsflotte begleitete, der steht sich glänzend, und er hätte es nicht einmal nötig, er hat die Tochter von H. P. World geheiratet, sein einziges Kind. Sie kennen doch H. P. World?«
»Wer ist das?«
»Der größte Verlagsbuchhändler von New-York, von Amerika, ein vielfacher Millionär.«
»Was verlegt er?«
»Romane, Jugendschriften. Er verlegt alles, wenigstens immer das, womit ein Geschäft gemacht wird. Die ganze Familie ist jetzt bei mir zur Sommerfrische.«
»Bitte, wenn sich Mr. Law zu mir bemühen will. Im Hemd kann ich ihm wohl nicht meine Aufwartung machen.«
»Nein, nein, Sie müssen auch noch Ihr Hemd ausziehen,« rief der Hotelier, schon in der offenen Tür stehend, noch zurück.
» Glück wie immer, « murmelte Nobody, als er allein war, griff in die rechte Achselhöhle und brachte aus diesem Versteck die Karten zum Vorschein, welche er vorhin nicht gezogen hatte.
Er mußte ziemlich lange warten. Mr. Law mochte noch nicht aufgestanden sein, und dann zeigte es sich auch, daß ihm der Hotelier erst alles erzählt hatte, was er von dem rätselhaften Gaste zu hören und zu sehen bekommen.
Dann kam der Hotelier zurück mit Mr. Law, einem noch jungen Manne, dieser in Begleitung eines älteren, gar klug dreinblickenden Herrn, den er als seinen Schwiegervater vorstellte. Der weltgewandte Berichterstatter bat um Entschuldigung, aber Mr. World interessiere sich höchlichst für den ›Löwen des Tages‹, und so ging es zuerst, wie es bei derartigen Gelegenheiten unter gewandten Männern immer geht, es wurden Entschuldigungen und Komplimente gewechselt, aber ebenso verstanden diese Männer die Einleitung auch auf die notwendigsten Zeremonien zu beschränken. Dann hatten sie sich einander gegenübergesetzt, auch der Hotelier blieb, und der Zeitungsschreiber hatte ›vom Leder gezogen‹, d. h. Notizbuch und Bleistift zur Hand genommen.
»Wer sind Sie, mein Herr?«
»Das bleibt mein Geheimnis.«
»Auf diese Weise hat der Interviewer einen sehr schweren Stand,« scherzte Mr. Law.
»Das tut mir leid, aber über meine Vergangenheit spreche ich nicht, ich habe einen Grund dazu. Die Vergangenheit ist hinter mir begraben, im Meere versenkt, ich bin ein neugeborener Mensch, ein vom Klapperstorch frisch aus dem Teich gebrachtes Kindlein.«
»Haben Sie ein Verbrechen begangen?« fragte der amerikanische Zeitungsmensch so gelassen, wie man jemand fragt, ob er mit Mehl oder mit Kohlen handelt.
»Nein,« entgegnete der Mann im Nachthemd ebenso gelassen, »ein Verbrechen habe ich nicht begangen, nichts, was mich einer polizeilichen Verfolgung aussetzte. Der Grund, daß ich über meine Vergangenheit absolutes Schweigen beachten werde, ist ein ganz anderer.«
»Sie stammen aus einer angesehenen Familie, für welche Sie als tot gelten möchten.«
»Wenn Sie solchen Scharfsinn zutage legen, dann muß ich etwas offener sein: ja, so ist es.«
»Aus einer aristokratischen Familie?«
»Ja.«
»Aus einer fürstlichen Familie?«
»Ja.«
»Aus einem regierenden Fürstenhause?«
»Halt! Jetzt ist es genug. Aus einer fürstlichen Familie, mehr sage ich nicht.«
»Deutscher?«
»Nein, ja, nein, ja, nein, ja. Wählen Sie sich nach Belieben aus.«
»Dann erlauben Sie wenigstens, daß ich Sie als einen Germanen bezeichne.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Aus Ihren echt germanischen Gesichtszügen.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht.«
Nobody stand auf, nahm ein Handtuch, schlang sich dieses geschickt wie einen Turban um den Kopf – trat, den Herren den Rücken kehrend, vor den Wandspiegel, tastete einige Augenblicke mit den Händen im Gesicht herum, es war, als ob er dieses durch Striche massiere, drehte sich schnell wieder um und setzte sich.
Das Staunen der Herren war grenzenlos, zuerst fanden sie gar keine Worte. Der Mann, der vorhin auf dem Stuhle, auf diesem Stuhle gesessen hatte, war nämlich ein vollkommen anderer gewesen.
»Das ist ja ein Chinese!!!« stieß Mr. World endlich in der größten Bestürzung hervor.
Ja, jetzt waren es plötzlich die charakteristischen Gesichtszüge eines Chinesen oder doch eines Mongolen, und da brauchte man auch nicht im geringsten die Phantasie zu Hilfe zu nehmen.
Vor allen Dingen die geschlitzten, schiefstehenden Augen, das lange Gesicht mit den hervortretenden Backenknochen, die schmalen Lippen, die eingedrückte Nase –
ein richtiges Mongolengesicht. Der Turban verdeckte die blonden Haare, so daß diese nicht störten.
»Na, nun sagen Sie bloß in aller Welt, wie machen Sie denn das nur?!«
Der Chinese griff sich in das Gesicht, man sah, wie er die Hautfalten verschob, warf den Turban ab – und saß wieder als der vorige da.
»Unglaublich!! Sie sind Verwandlungskünstler.«
»Nicht professioneller. Eine Anlage dazu, meine Gesichtsmuskeln zu verschieben, mag ich immer gehabt haben, aber zu dem, was ich jetzt darin leiste, habe ich mich erst in der Einsamkeit ausgebildet. Ich bin noch nie in der Öffentlichkeit aufgetreten. – Hat Ihnen Mr. Ephram von dem Kartenkunststückchen erzählt, das ich ihm vorhin zeigte?«
»Ja, er tat es, und ich möchte Sie bitten, uns das noch einmal vorzumachen.«
»Ich werde Ihnen dann noch etwas ganz anderes zeigen, möchte Sie aber vorher auf etwas aufmerksam machen. Wie ich schon gestand, stamme ich aus einem angesehenen, sehr bekannten Hause ...«
»Aus einem Fürstenhause,« ergänzte der Berichterstatter.
»Meinetwegen. Außerdem bin ich seit meiner frühesten Jugend, oder doch seit meinem Jünglingsalter, abgesehen von einer langjährigen Pause, rastlos in der Welt umhergewandert, ich bin überall gewesen, und zwar als ein vermögender, als ein reicher Mann. Ich bin einmal ein Krösus gewesen. Aber ich bin auch immer ein Verschwender gewesen. Ich habe wiederholt große Summen in die Finger bekommen.«
»Durch Erbschaft?«
»Das sage ich nicht. Das letztemal waren es ungefähr zehn Millionen, und ich habe diese zehn Millionen innerhalb von zwei Jahren durchgebracht ...«
»Zehn Millionen ... Mark?« fragte der Reporter hinterlistig.
Allein der Mann im Nachthemd ging nicht in die ihm gestellte Falle.
»Zehn Millionen. Sagen Sie das nur einfach in Ihrem Bericht, Wenn man in zwei Jahren zehn Millionen durchbringt, so ist es ziemlich gleichgültig, ob es Mark oder Dollars oder Pfund Sterling gewesen sind. Eine außerordentliche Leistung bleibt es immer. Das heißt, ich will mit dieser meiner Verschwendung nicht etwa renommieren. Oder meinetwegen auch, gut, ich renommiere damit. Mir ganz egal ...«
»Sie sind überhaupt auf jeden Fall ein ganz außergewöhnlicher Mensch.«
»Ein Abenteurer bin ich. Ein Abenteurer comme il faut. Eine geborene, rastlose Abenteurernatur. Und für seinen Charakter kann niemand. Also, was ich sagen wollte: in zwei Jahren habe ich zehn Millionen durchgebracht, jetzt in den letzten zwei Jahren, und zwar immer in der tollsten Weise an den belebtesten Orten zwischen einer internationalen Lebewelt. Nun sage ich aber, daß von jetzt an mich niemand mehr kennen wird. Wie ist das möglich? Sollte ich denn nicht einmal mit jemandem wieder zusammenkommen, der mich von früher her kennt? Denn so groß ist die Erde gar nicht.«
»Ja, wie wollen Sie das verhindern?«
»Ich habe es bereits verhindert, indem ich mich unter dem Publikum niemals in meiner wahren Gestalt zeigte. Abenteurer und Schauspieler sind sehr verwandte Naturen, und ich bin auch ein geborener Schauspieler. Das Komödiespielen ist meine Lust. So bin ich nie in meiner wahren Gestalt aufgetreten, sondern immer in den verschiedensten Masken, sogar als Dame ...«
»Als Dame?«
»Als junge und als alte Dame, wochenlang, monatelang. Aber auch noch in ganz anderen Charakterrollen, als ... o, Sie würden es ja nicht glauben, wenn ich Ihnen erzählen wollte, wie toll ich es getrieben, was ich für Abenteuer erlebt, wie ich das Publikum, die ganze Welt düpiert habe. Deshalb schweige ich lieber gleich ganz davon. Aber jetzt habe ich die Vergangenheit hinter mir begraben, als neugeborener Mensch habe ich die neue Welt betreten. Als ich das Schiff bestieg, welches mich nach Amerika bringen sollte, waren 4000 Dollar der letzte Rest meines einst immensen Vermögens. Was sollten mir die? Ich warf sie von mir. Kein neugeborener Mensch hat Geld bei sich.«
Er schilderte noch einmal, wie schon dem Hotelier, warum er nicht die Landung des Dampfers abgewartet, sondern ins Meer gesprungen war, um schwimmend das Festland zu erreichen. Eben eine romantische, abenteuerliche, bizarre, exzentrische Natur, die immer am liebsten das tut, was sonst keinem vernünftigen Menschen einfällt.
»Ich verstehe,« sagte der Journalist, »Sie sind ein ganz außergewöhnlicher Mensch, selbst Ihre Exzentrizität ist genial. – Nun haben Sie sich doch geäußert, noch heute wollten Sie ein Engagement abschließen, welches Ihnen ein jährliches Einkommen von 100 000 Dollar sichert. Darf ich fragen, was Sie da im Auge haben? Wollen Sie durch Vorstellungen so viel verdienen?«
Nobody lehnte sich zurück und schlug unter dem Nachthemd die Beine übereinander.
»Ein Engagement? So habe ich vorhin zu Mr. Ephram gesagt, aber das habe ich eigentlich nicht gemeint. Ich habe noch viel mehr vor. Ich will etwas vollbringen, was einzig in der Welt dasteht. Ich, ein vollständig mittelloser, gänzlich unbekannter Mann, will noch heute der Mitinhaber einer Millionenfirma sein.«
Das war ein bißchen ein starker Tobak. War dieser Mann nicht etwas gar zu sehr von sich eingenommen? Nur die Höflichkeit duldete es nicht, daß die Herren ungläubig lächelten.
»Hier in Amerika?«
»Hier in Amerika!«
»Doch nicht gar eine New-Yorker Firma?«
»Eine New-Yorker Firma.«
»Irgend eine, oder haben Sie Ihr Auge schon auf eine ganz bestimmte Firma gerichtet, in welche Sie noch heute als Kompagnon eintreten wollen?«
»Eine ganz bestimmte.«
»Ach, das ist ja höchst interessant! Bitte, nennen Sie mir doch den Namen dieser Millionenfirma.«
»Gewiß, Sie kennen dieselbe, Mr. Law. Sie heißt: Verlagsbuchhandlung H. P. World.«
Dieser Tobak war nun freilich gar zu kräftig! Dachte der vielleicht, wenn, er über seine Abenteuer ein Buch schrieb und es in jenen Verlag gab, er könnte da gleich Mitinhaber der Verlagsbuchhandlung werden? Und er hatte doch auch von einem jährlichen Einkommen von 100 000 Dollar gesprochen.
Kurz, diese Herren, welche die Verhältnisse kannten, den Hotelier nicht ausgeschlossen, blickten verblüfft auf den dem Meere entstiegenen Mann im gepumpten Nachthemd, der mit solch unverfrorener Keckheit so etwas behauptete! Und am allerverblüfftesten war natürlich Mr. World selbst.
»Oho,« brachte der Schwiegersohn endlich hervor, »ohoooo!!«
»Nu nööööhh!« folgte der Schwiegervater nach, wenn er sich dabei auch eines entsprechenden englischen Ausdrucks für sein abwehrendes Staunen bediente.
»So ist es,« sagte aber Nobody mit Seelenruhe, »so wird es kommen, oder aber, Mr. World, Sie treten Ihr Glück mit Füßen. Aber Sie werden darauf eingehen, denn ich habe Sie bereits erkannt, und ich irre mich nie in einem Menschen. Also ich behaupte, bis heute Mitternacht werden Sie meinen Plan akzeptiert haben, mit mir zusammen eine Zeitung herauszugeben, welche, mit einem ganz geringen Kapital zur Begründung, nur einen einzigen Redakteur nötig habend, uns einen jährlichen Reingewinn von einer Million abwirft, und das schon im ersten Jahre.«
Lag es im Tone, lag es in dem eigentümlichen Blicke, lag es in dem ganzen Wesen dieses Mannes, daß selbst bei solchen Fachleuten, welche doch wüßten, wie schwer es ist, eine neue Zeitung einzuführen und rentabel zu machen, gar kein Zweifel an der Richtigkeit dieser kühnen Behauptung aufstieg?
»Was für eine Zeitung?!!« riefen der Journalist und der Verlagsbuchhändler hastig aus einem Munde.
»Eine Zeitung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat,«
Das Gespräch wurde durch einen Kellner unterbrochen, welcher die Ankunft von Mr. Lewis meldete. Denn der artistische Leiter des Atlantic-Garden war bereits von dem Hotelier durch einen Boten schriftlich benachrichtigt worden, um was es sich handelte, und wenn es eine neue ›Attraktion‹ zu erwerben galt, doppelt zugkräftig durch eine vorhergehende Sensation, die den zu Engagierenden schon vorher populär gemacht hatte, so war Mr. Lewis stets zur Stelle.
Die Herren kannten sich, zuerst mußte dem Neuangekommenen doch erläutert werden, daß der Mann im Nachthemd der geheimnisvolle Passagier und wieder lebendig gewordene Selbstmörder sei – dann ging es gleich noch einmal los mit den Kartenkunststückchen.
Nobody machte genau dasselbe, was er dem Hotelier schon gezeigt hatte, nichts weiter, ganz in derselben Weise. Am meisten staunte der alte World, er wollte durchaus wissen, woher die Karten kamen, und wohin sie wieder verschwanden; der Artisten-Direktor erklärte, daß er derartiges zwar schon oft gesehen habe, aber noch niemals ausgeführt mit solch einer Vollkommenheit.
»Ja, aber woher nimmt er nur die Karten?!« rief World immer wieder. »So sagen Sie es uns doch! Sie müssen es doch auch wissen, Mr. Lewis.«
»Ich weiß es auch nicht. Das kann auf die verschiedenste Weise geschehen. Da hat jeder hervorragende Eskamoteur sein eigenes Geheimnis, und so etwas wird nicht verraten. – Ja, geehrter Herr, für meine Bühne ist das aber nichts.«
»Jetzt gebe ich auch nur eine Privatvorstellung im engen Zirkel. Ich will als Einleitung nur beweisen, daß ich ganz originelle Kunststückchen kann. Will mir einer der Herren einen kleinen Gegenstand geben, den ich in der Hand leicht verberge?«
»Hier, nehmen Sie meinen Siegelring,« sagte der Direktor, den Ring vom Finger streifend.
Der Taschenspieler hatte noch den rechten Aermel bis zur Schulter aufgestreifelt. Bei den nachfolgenden Experimenten, wie aber auch schon bei denen mit den Karten, gebrauchte er nur die Vorsicht, daß niemand hinter ihn und auch nicht seitwärts von ihm treten durfte. Die vier Herren mußten immer vor ihm eng in einer Reihe stehen.
Er streckte die rechte Hand dicht vor dem Direktor flach aus und legte den Ring hinein.
»Sie sehen den Ring in meiner Hand.«
»Gewiß.«
Nobody schloß über dem Ring die Finger und drehte die Faust langsam herum.
»Nun legen Sie Ihre Hände um meine Faust.«
Mr. Lewis tat es.
»Habe ich den Ring noch in meiner Faust, befindet er sich also auch noch zwischen Ihren Händen?«
»Ganz gewiß.«
Es konnte auch gar nicht anders sein. Daß er etwa den Ring habe fallen lassen oder so etwas Aehnliches, daran war gar nicht zu denken.
»Ich behaupte aber, daß der Ring aus meiner Hand verschwunden ist, kraft meines Willens.«
»Nicht möglich.«
»Wetten?«
»Ach, lassen wir das. Ich bin doch auch etwas Fachmann, und ich glaube nicht, daß Sie den Ring aus Ihrer Hand haben eskamotieren können.«
»Ich setze mein ganzes Vermögen ein, daß der Ring nicht in meiner Hand ist.«
»Nein, nein, gewettet wird nicht,« lachte Ephram, »so lassen Sie doch sehen.«
»Oeffnen Sie meine Hand.«
Der Direktor tat es, ganz, ganz vorsichtig; ohne die Hand loszulassen, sie immer krampfhaft am Gelenk gepackt haltend, schlug er einen Finger nach dem anderen zurück und ... der Ring war noch drin!
Die Herren lachten aus vollem Halse. Das negative Resultat wirkte eben dadurch komisch, weil der Direktor gar so vorsichtig untersucht hatte.
»Sehen Sie,« sagte Nobody trocken, »hätten Sie doch mit mir gewettet, dann hätten Sie mir jetzt mein ganzes Vermögen abgewonnen – die Stecknadel und den Bogen Zeitungspapier.«
Die Herren lachten noch stärker.
»Also noch einmal. Ich muß meine Willenskraft mehr zusammennehmen, denn nur diese zaubert den Ring aus meiner Hand.«
Dasselbe wurde wiederholt, ganz wie zuvor, Lewis hielt die Faust umklammert.
»Ist der Ring jetzt noch drin?«
»Ohne alle Zweifel.«
»Was wetten Sie, daß er nicht mehr in meiner Faust ist?«
»Na, meinetwegen,« lachte der Direktor, »und ich setze gleich tausend Dollar daran, er muß noch darin sein, ich wette sogar meinen Kopf dafür.«
»Die tausend Dollar nehme ich nicht an, aber ... der Kopf ihm ab, ich will nicht eher zu Abend speisen!« zitierte Nobody aus Shakespeares Richard dem Dritten. »Oeffnen Sie meine Hand.«
Wiederum ließ der Direktor keine Vorsicht außer acht, so wenig wie er es beim Schließen der Hand getan hatte, er bog die Finger zurück und ...
» Goddamn! « stieß er in grenzenlosem Staunen hervor.
Der Ring war verschwunden. Hier gab es keine Erklärung – wenigstens für die vier Herren nicht. Aber unter diesen war eben einer, der doch alle Taschenspielertricks kannte, und auch dieser fand keine Erklärung, wie der Ring aus der Faust, die von seinen eigenen Händen umspannt worden war, herausgekommen sein könnte.
»Sie sehen also, meine Hand ist leer,« fuhr Nobody fort, seine flache Hand wiederholt vor dem Journalisten hin- und herdrehend.
Langsam ballte er die Hand, Mr. Law mußte sofort zugreifen, die Faust also zwischen seine Hände nehmen.
»Glauben Sie, daß jetzt der Ring schon wieder drin ist?«
»Nein, das können wir unmöglich glauben!!«
Wirklich, der Ring war wieder in seiner Hand!
Er wiederholte dasselbe Experiment noch mehrmals, ließ den Ring bald verschwinden, bald wieder in seiner Hand sein. Diese Herren, welche doch schon genug solch Gauklerzeug gesehen hatten, wollten das einfache Experiment immer und immer noch einmal sehen, und jedesmal waren sie von neuem außer sich vor Staunen.
Ein einziger Umstand ließ erkennen, daß man es doch nur mit einem Taschenspielerkniff zu tun hatte. Wenn der Mann die Hand zeigte, leer oder mit dem Ringe, so hatte er die Handfläche stets nach oben gekehrt; dann schloß er die Finger und drehte die Faust erst herum, ehe er sie von fremden Händen umschließen ließ. Dieses ›Herumdrehen‹ hatte ganz offenbar etwas mit dem Hokuspokus zu tun, aber wie ... das war und blieb ein Rätsel. Der Direktor lugte wie ein Fuchs, vergebens, er konnte nicht einmal eine Mutmaßung aufstellen, wohin der Ring ging, und woher er wieder kam.
»Fabelhaft! Nun sagen Sie doch bloß, wie Sie das machen!«
Allein der Taschenspieler gab keine Erklärung.
Wieder legte er den Ring in seine Hand und schloß die Finger darüber.
»Wollen Sie nun einmal Ihre Hände um meine Faust schließen, damit der Ring ja nicht heraus kann?«
Es geschah, acht Hände ordneten sich um die Faust.
»Sind Sie davon überzeugt, daß sich der Ring noch in meiner Hand befindet?«
Wären die Herren nicht schon Zeugen von den vorigen Experimenten geworden, so hätte jetzt jeder von ihnen, wenn es eine Wette gegolten, Haus und Hof und seinen Kopf dafür eingesetzt, daß der Ring sich noch in der von ihren Händen umspannten Faust befand. Mr. Lewis hatte ja auch schon einmal seinen Kopf verspielt.
»Jetzt nehme ich dieses Glas ...«
Nobody stand neben einem Tischchen, aber doch so weit davon entfernt, daß er, um von diesem ein kleines Wasserglas nehmen zu können, den linken Arm weit ausstrecken und auch noch den Oberkörper stark seitwärts neigen mußte. Auf diese Weise also nahm er das Glas und erläuterte weiter, was die Herren zu tun hätten.
Sie sollten einmal ihre ineinandergeschlungenen Hände möglichst still halten, er wolle auf den Rücken der obersten Hand das Wasserglas setzen, er tat so, und als es stand, zog er seine linke Hand zurück.
»Eins – zwei – drei!!!«
Klirr!!! Oben von der Decke war senkrecht durch die Luft ein blitzender Gegenstand gesaust gekommen und mit voller Wucht in das Wasserglas gefallen – – es war der Ring! Und Nobodys rechte Hand war natürlich leer, wie er zum Ueberfluß noch zeigte.
»Jetzt bleibt mir der Verstand stehen,« murmelte Mr. Lewis, als er tiefsinnig seinen aus dem Glase genommenen Siegelring betrachtete.
»Mensch – Mann – Nobody,« rief dagegen der Journalist, förmlich außer sich, »Sie müssen sich in Klubs produzieren!! Sie werden mit Gold überschüttet!!«
Nobody blieb kalt.
»Nun bloß noch ein einziges Experiment, aber ein ganz anderes, welches nichts mit Taschenspielerei zu tun hat. Mr. Ephram, wollen Sie mir eine elfenbeinerne Billardkugel verschaffen, womöglich noch ganz neu. Sprünge darf sie wenigstens nicht haben.«
Der Wirt klingelte einem Kellner und gab ihm einen diesbezüglichen Auftrag.
»Meine Herren,« nahm inzwischen Nobody wieder das Wort, »was Sie bis jetzt gesehen haben, war nichts weiter als Taschenspielerei. An Geister und andere übernatürliche Dinge glauben Sie doch nicht ...«
»Bitte, ich bin Spiritist,« sagte Mr. World.
»Pardon. Sie haben mich unterbrochen. Ich wollte nämlich fortfahren: oder aber, wenn einer der Herren Spiritist sein sollte, so würde er doch nicht glauben, daß ich diese Kunststückchen, das Verschwinden des Ringes in meiner Hand mit Hilfe von Geistern zustande bringe – kurz: daß ich wirklich übernatürliche Kräfte besitze. Oder doch?«
»Nee,« meinte Mr. World trocken, »das weniger.«
»Nun gut. Ich kann aber noch ganz andere Sachen. Ich bin nämlich ebenfalls auf Spiritismus, und was damit zusammenhängt, eingerichtet. Das heißt, ich kann auch auf spiritualistischem Gebiete die wunderbarsten Erscheinungen hervorrufen. Aber es ist alles nur Taschenspielerei. Wenn man solch eine Gabe besitzt und sie zur Vollkommenheit ausbildet, und man ist kein redlicher Charakter, so kann solch eine Gabe unter der Menschheit großes Unglück anrichten. Die Herren verstehen wohl, was ich damit meine. Ich könnte behaupten, ein Medium zu sein. Rufen Sie die Ungläubigen zusammen, ich will sie überzeugen, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Lassen Sie die berühmtesten Physiker kommen, die schärfsten Beobachter und Denker, sie sollen mich binden und knebeln und mich mit allen ihren Meßapparaten umgeben – und ich will ihnen dennoch Dinge vormachen, daß ihnen die Haare zu Berge stehen und sie dann vor aller Welt verkünden: bei Gott, jetzt glauben auch wir! Es ist kein leerer Wahn! – Ich aber lache die Dummköpfe aus, denn es war doch alles nur Taschenspielerei. – Genug davon! Ich will mit dem Spiritismus nichts zu tun haben. Ich trete auch nicht als Anti-Spiritist auf. Die Spiritisten sind gar keine so üblen Leute, ich möchte es mit ihnen nicht verderben. Jeder mag in seinem Glauben glücklich sein. Ich habe auch noch einen anderen Grund, meine Fähigkeiten nicht öffentlich zu zeigen. Es ist nicht gut, die Menschheit auf ein Mittel, ein lächerlich einfaches Mittel, durch welches man die wunderbarsten Erscheinungen erzeugen kann, aufmerksam zu machen. Also genug davon. Was ich Ihnen jetzt ...«
»Bitte,« unterbrach der Journalist den Sprecher, »darf man nicht erfahren, wie und wo Sie sich diese Fähigkeiten und Geheimnisse angeeignet haben? Sie müssen doch einen Lehrer gehabt haben?«
»Allerdings. Und hierüber, will ich wenigstens etwas den Schleier lüften. Zu diesen taschenspielerischen Fertigkeiten habe ich allerdings immer Talent besessen, aber in solcher Weise ausgebildet habe ich sie erst während einer achtjährigen Gefangenschaft.«
Ah, das war ja interessant!
»Weswegen verbüßten Sie die Gefangenschaft?«
»Nicht wegen eines Vergehens, sondern weil ich im Besitze eines Geheimnisses war, welches man mir erpressen wollte.«
»Was für ein Geheimnis?«
»Dieses Geheimnis bleibt mein Geheimnis.«
»Erpreßte man Ihnen das Geheimnis?«
»Nein. Nach acht Jahren brach ich aus.«
»Wann war das?«
»Sage ich nicht.«
»Wo wurden Sie gefangen gehalten?«
»In Asien.«
»Ah, in Indien! Sie haben die Gauklerkünste von indischen Fakirs gelernt!«
»Denken Sie, was Sie wollen. Ich wurde auf Befehl eines asiatischen Machthabers acht Jahre gefangen gehalten, mit noch anderen zusammen, von diesen lernte ich die Gaukelei – mehr sage ich nicht hierüber. – – Also der Zweck, zu welchem ich eine Billardkugel forderte. Ich will Nobody heißen und will ein Niemand bleiben. Aber ich bedarf einer Legitimation. Mit dieser Elfenbeinkugel werde ich etwas ausführen, was mir kein einziger Mensch auf der Erde nachmacht, und das soll meine Legitimation sein.«
Der Kellner brachte die Billardkugel, der Hotelier versicherte sich, ob sie aus dem von ihm bezeichneten Kasten genommen sei.
»Es ist ein ganz neuer Satz, noch niemals damit gespielt worden,« sagte er, als Nobody den geäderten Elfenbeinball aufmerksam betrachtete.
»Es ist Elfenbein von einem afrikanischen Elefanten, welcher das beste liefert. Nun, meine Herren,« fuhr er fort, als sich der Kellner wieder entfernt hatte, »es ist wohl nicht nötig, daß Sie diese tadellose Billardkugel erst einer Prüfung unterziehen, und Sie glauben doch nicht etwa, daß unser Hotelier hier mit mir unter einer Decke steckt und die Kugel etwa erst präpariert hätte. Außerdem führe ich das Experiment mit jeder anderen Billardkugel aus, die Sie mir geben, und das immer wieder. So passen Sie denn auf.«
Er nahm die Billardkugel in die linke Hand, ballte die rechte zur Faust, so bewegte er die ausgestreckten Arme mehrmals auf und ab, er tat, als wolle er fliegen, dabei sah man, wie unter dem Hemd seine Brust immer mehr und mehr schwoll, bis er plötzlich mit der rechten Faust in die linke Hand auf die Billardkugel schlug – aber nun wie er schlug! – es war ein schmetternder Blitz – eine weiße Materie spritzte in dem Zimmer umher – und verschwunden war die Billardkugel – sie war zersplittert, zu Staub zermalmt!
»Da – das ist Mister Nobodys Legitimation – und es gibt auf der ganzen Erde keinen Menschen, der mir das nachmacht.«
Das war kein Staunen mehr, das war lähmendes Entsetzen, mit welchem die vier Herren auf den Mann blickten, der mit einem Schlage seiner Faust eine Elfenbeinkugel in Atome zerschmetterte!
»Daß ich es mit jedem Steinschläger, wie sie sich öffentlich produzieren, aufnehme, dürfen Sie mir wohl glauben,« fügte Nobody lächelnd noch hinzu, »und hätte ich ein anderes Publikum vor mir gehabt als gebildete Herren, so hätte ich auch lieber einen großen Stein oder ein rundes Stück Gußeisen genommen. Schmiedeeisen dürfte es nicht sein. Aber die Herren wissen, was es bedeutet, eine Elfenbeinkugel so zu zerschmettern.«
Ja, diese vier Herren wußten es! Sie konnten es sich wenigstens denken.
Am ersten hatte sich Mr. Lewis gefaßt. Er setzte seinen Klemmer auf und betrachtete einen der Splitter.
»Es hat aber einmal einen Menschen gegeben, welcher ebenfalls mit einem Faustschlage eine elfenbeinerne Billardkugel zermalmen konnte,« meinte er.
»Wer war das?«
»Der Altmeister der modernen Taschenspielerei – der Italiener Bosco.«
»Sie sagen es – Bosco senior, Bartolomeo Bosco – ja, ich weiß es, der konnte es auch, ich hatte davon gehört und habe mich acht Jahre lang geübt, bis ich es ebenfalls fertig brachte, und jetzt behaupte ich, daß es außer mir keinen Menschen mehr gibt, der sich so weit ausgebildet hat.«
»Halt!« rief da plötzlich aufgeregt der Journalist. »Jetzt weiß ich auch, wo Sie gefangen gewesen sind!«
»Nun?«
»In China! Sie sind bei chinesischen Gauklern in die Lehre gegangen, vielleicht gleich bei einem chinesischen Zahnarzt, jetzt sehe ich es auch schon Ihren Händen an!«
Der chinesische Zahnarzt! Das hatte auf die Staunenden wie ein erlösendes Stichwort gewirkt. Jetzt wußten sie wenigstens, daß dieser Mann ›auch nur ein Mensch‹ war. Denn es waren lauter Amerikaner, und in Amerika gibt es Chinesen genug, in New-York ein ganzes chinesisches Viertel, in dem man die Söhne des himmlischen Reiches wie in ihrer Heimat beobachten kann.
Der deutsche Leser aber bedarf wohl einer Erklärung, und es ist auch ein lehrreiches Beispiel, wie man durch einseitige Uebung gewisse Kräfte und Fähigkeiten bis zu einer schier unglaublichen Vollkommenheit ausbilden kann.
Wer einmal nach Amerika kommt, der versäume nicht, den Laden eines chinesischen Zahnkünstlers zu betreten und sich, wenn nicht sich selbst einen Zahn ziehen zu lassen, die Sache doch anzusehen.
Der schmerzensreiche Klient setzt sich auf einen Stuhl, der bezopfte Dentist guckt ihm in den Mund, besieht sich den kranken Zahn, der muß heraus, er legt dem Klienten die linke Hand auf die Stirn, greift mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand in den Mund, packt den Zahn, ein kleiner Ruck – und wenn es der hartnäckigste Backzahn ist, bei dem der beste europäische Zahnkünstler mehrmals mit der Zange ansetzen muß – dieser Chinese zieht ihn scheinbar ohne Anstrengung ganz einfach mit den Fingern heraus, und es braucht auch nur ein Stümpfchen zu sein, das er eben noch zwischen Daumen und Zeigefinger fassen kann.
Wie ist so etwas möglich?! Dieser Chinese ist kein herkulischer Riese, vielleicht ein dürres Männchen. Man muß es gesehen haben, um es glauben zu können.
Das ist das Resultat einer systematischen Ausbildung. Der Zahnzieher gehört in China zur Kaste der Gaukler. In diesen Kasten selbst muß der Sohn immer wieder das werden, was der Vater ist, wenigstens der älteste. Sobald solch ein kleines Kind eben begreift, was es tun soll, wird es vor ein Brett gesetzt, in welches Löcher eingebohrt sind, es werden Pflöckchen hineingesteckt, spielend muß das Kind diese herausziehen, immer und immer wieder. Wenn's nicht will, bekommt es nichts zu essen, und dann merkt schon das vielleicht zweijährige Kind, was man von ihm will. Und dann wächst der Junge heran, und er ist ein geduldiger Chinese, welcher gar keine Nerven zu haben scheint, es mag auch mit in dem vieltausendjährigen Kastenwesen liegen, der Junge tut also von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts weiter, als er zieht immer nur die hölzernen Pflöckchen aus den Löchern des Brettes, und immer fester werden diese eingetrieben, zuletzt mit Hämmern, immer kleiner wird die Angriffsfläche, aber immer systematisch – na, und wenn er zum Manne herangewachsen und im Vollbesitze seiner Kräfte ist, dann rupft der Kerl eben alles heraus, was er nur mit Daumen und Zeigefinger packen kann.
Wenn man daraufhin die rechte Hand solch eines chinesischen Zahnziehers betrachtet, wird man das auch erkennen. Der Daumen und Zeigefinger zeigen eine ungeheure Muskulatur, gegen diese erscheinen die anderen Finger, wenn sie auch normal sind, wie verkümmert. –
Was sonst noch in dem Hotelzimmer verhandelt wurde, brauchen wir nicht zu wissen, wir werden das Resultat der Verhandlungen kennen lernen.
Nur eines sei hervorgehoben.
»Nein, heute abend können Sie noch nicht auftreten,« sagte Mr. Lewis, »da muß ich erst für Reklame sorgen.«
»Brauche ich nicht,« entgegnete Nobody, »meine Reklame besteht darin, daß ich keine Reklame mache.«
Und er sollte recht behalten. Eine solche Reklame, dadurch, daß er keine machte, war in dem Lande der Reklame noch nie gemacht worden, und daher auch der beispiellose Erfolg.
Dann schrieb Mr. Law für seine Zeitung über das Gehörte und Gesehene einen Bericht, wie nur so ein Zeitungsschmierer schreiben kann, 500 Zeilen in rasender Geschwindigkeit, ohne ein Wort auszustreichen. Was der Bericht enthielt, interessiert uns jetzt ebenfalls nicht mehr. Der Skribifax wußte schon sein Ding zusammenzubauen.
Die Tinte war noch nicht ganz getrocknet, als sich dieser Bericht schon in der Setzerei des ›New-York Herald‹ befand.
Die Erscheinungsweise der amerikanischen Zeitungen ist eine ganz andere als die der deutschen. Die großen amerikanischen Zeitungen erscheinen täglich sechsmal und noch öfters. Jedes wichtige Ereignis, welches der Redaktion zutelegraphiert wird, veranlaßt eine neue Nummer, in welcher zugleich alles andere erledigt wird, das während der letzten Stunden auf der Redaktion eingelaufen ist, und da ist niemals Mangel. Möglich ist dies nur durch den in Amerika eigentümlichen Straßenverkauf, welcher sich aber nur auf die betreffende Stadt und die nächste Umgebung erstreckt. Das wichtigste und interessanteste aus diesen täglichen Auflagen wird dann in einer Wochennummer zusammengedrängt, welche in alle Welt hinausgeht, wie der ›New-York Herald‹ seine Wochenausgabe sogar in Paris in französischer Sprache erscheinen läßt.
Einige Stunden später also wußte das New-Yorker Publikum, daß der geheimnisvolle Passagier der ›Persepolis‹ noch lebe, ganz nackt den Strand erreicht habe, usw. – der Journalist hatte eben den Bericht abzufassen verstanden.
Der Saal des Atlantic-Gardens, welcher 8000 Menschen fassen kann, wobei man auch noch am Biertisch sitzt, war an dem heißen Sommerabend mit kaum 1000 Zuschauern besetzt, welche, da es hier für gewöhnlich nur einen Preis gibt, sich möglichst nahe an die Bühne drängten.
Es war eine Bier-Unterhaltung mit Komikern, pikanten Chansonetten und exzentrischen Clowns, fein geht es bei diesen Volksabenden durchaus nicht zu, im Gegenteil, das Publikum singt und spielt manchmal mit, besonders wenn die Vorstellung so schwach besucht ist. Dann wird es erst richtig gemütlich.
An einem der hinteren Tische machte sich ein Gast sehr unangenehm bemerkbar. Es war ein sehr alter Mann mit langem, weißem Vollbart, das eingefallene Gesicht voller Runzeln, er mußte die Schwindsucht haben, er hustete in einem fort auf eine entsetzliche Weise, und dann mokierte sich der alte Kerl auch noch in lauter, unverschämter Weise über die auftretenden Künstler und Künstlerinnen. Wenn er Deutsch gesprochen hätte und aus Berlin gewesen wäre, so hätten seine stereotypen Bemerkungen etwa gelautet:
»Et is jar nischt, jar nischt is et!«
Er trieb dies auf eine Weise, daß der ganze Saal auf ihn aufmerksam wurde, und wenn es nicht eine schöne Tugend des Yankee wäre, das Alter zu ehren, so wäre der alte Radaubruder schon längst an die frische Luft gesetzt worden.
»Na, da machen Sie es doch besser!« rief einer seiner Tischnachbarn erzürnt.
Jawohl, dazu sei er bereit, man solle ihn nur auf die Bühne stellen. Das geht im Atlantic-Garden an solchen Volksabenden nun alles zu machen, da braucht gar nicht erst der Direktor darum gebeten zu werden.
In einer Pause also humpelt der hustende Alte am Krückstock durch den Saal, klettert mit Mühe die Bühne hinauf, flüstert dem Kapellmeister etwas zu und beginnt ein bekanntes Lied zu singen, die Klage eines alten, armen Veteranen aus dem amerikanischen Bürgerkriege.
Wäre dieses Volkslied von einem anderen Künstler vorgetragen worden, so hätte der ganze Saal mitgesungen, aber das Publikum ist vor Staunen starr, denn immer mächtiger schwillt die herrliche Baßstimme des Alten an, bis die Kronleuchter klirren; so hat dieses Lied, hier wenigstens, noch niemand singen hören.
Ehe nach Beendigung des Liedes das Publikum in Applaus ausbrechen kann, kommt der Direktor auf die Bühne gestürzt, fragt den Alten, ob er sich engagieren lassen wolle, ob er noch etwas anderes könne – jawohl, das könnte er – und schnell zieht er seine großen Galoschen aus, streifelt seine Hosen bis zu den Knien auf, und das geht alles so blitzschnell, daß man kaum bemerkt, wie er jetzt an den Füßen zierliche Lackstiefelchen trägt – und dann reißt er den Rock herunter, man wundert sich nur, daß er gar keine Hemdärmel hat und daß seine Brust so nackt ist – und erst, wie er auch den weißen Bart abreißt, da beginnt man zu ahnen, daß der Alte nicht nur so zufällig auf die Bühne gekommen ist – – da aber fliegt ihm schon von unsichtbarer Hand auf den Kopf ein Chignon und über den Kopf mehrere weiße Spitzenröcke, denen ein schillerndes Kostüm folgt – – und plötzlich ist aus dem Alten eine reizende Chansonette geworden, welche mit unverfälschter Sopranstimme ihre frivolen Gassenhauer hinausschmettert, dazu exzentrische Tänze aufführt, daß die Röcke fliegen, und dazwischen einmal nach allen Regeln der Kunst ein Rad schlägt. –
Na, das war ja nun so etwas für die Yankees! Das Publikum tobte vor Entzücken, und tausend Menschen können schon einen gehörigen Skandal machen. Und das war erst die Einleitung gewesen, eine Verwandlung folgte der anderen, zunächst wurde wieder aus der feschen Chansonette ein Neger, welcher seine ›Shandies‹ sang und dazu Step tanzte, und die Seele des Witzes liegt in der Kürze, die Verwandlung ging immer so schnell vor sich, daß man ihr gar nicht mit den Augen folgen konnte. Dann kamen bekannte Charaktermasken daran, politische Persönlichkeiten und andere, jede von einem entsprechenden › song ‹ begleitet, und die frappante Aehnlichkeit blieb nicht nur auf der Bühne bestehen, der Verwandlungskünstler ging zwischen den Tischen hindurch, und er war wirklich die Person, welche er vorstellte, und das Publikum staunte und jubelte und heulte vor Entzücken.
Aber wer war dieser gottbegnadete Verwandlungskünstler denn? Auf dem Programm stand nichts davon, man erfuhr auch jetzt noch nicht seinen Namen.
Am anderen Morgen aber erfuhr man es, dafür sorgten die Zeitungen in spaltenlangen Berichten. Er war es, derjenige, welcher ... der geheimnisvolle Passagier der ›Persepolis‹, welcher den neuen Weltteil nackt und hilflos betreten hatte, welcher eine Billardkugel mit einem Faustschlage zermalmen konnte, usw. usw. Er würde weiter im Atlantic-Garden auftreten, und nun ging es los:
»Sind Sie schon im Atlantic-Garden gewesen? Was, Sie haben noch nicht den Nobody in seinen Verwandlungen gesehen?!«
Er hatte recht gehabt. Er selbst machte keine Reklame, das überließ er dem Publikum. Freilich, von der anderen Seite betrachtet, hatte er alles von vornherein auf die allerstärkste Reklame zugeschnitten gehabt.
Jetzt aber wurde die Sache anders gehandhabt, die Biertische wurden entfernt, es gab nur noch Elite-Vorstellungen, wobei die Plätze nach amerikanischer Sitte verauktioniert wurden, bis zu hundert Dollar der Stuhl, und er war es wert. Da gab es keine Wiederholung, jeden Abend konnte man hineingehen und bekam doch immer wieder etwas Neues zu sehen, was man noch nie gesehen hatte und nie für möglich gehalten hätte, und wenn er den berühmten englischen Schauspieler Kean, den gewaltigsten Shakespeare-Darsteller, oder gar die Sara Bernhard in ihren Glanzrollen wiedergab, so hätte jeder darauf schwören können, diese Personen wirklich vor sich zu haben, und das sogar in der nächsten Nähe.
Nur zwei Beispiele, wie so etwas in Amerika bezahlt wird. Barnum, ganz mit Unrecht verächtlich ›der König des Humbugs‹ genannt, engagierte die gefeierte Jenny Lind für neun Monate zu einer Rundreise durch die Vereinigten Staaten, zahlte ihr für den Abend 500 Dollar, und er selbst hat in diesen neun Monaten einen Reingewinn von neunmalhunderttausend Dollar in die Tasche gesteckt; dabei aber ist die Sängerin durchschnittlich in der Woche nur dreimal aufgetreten. – Gegenwärtig unternimmt der ungarische elfjährige Geigenvirtuos Franz Vecsey eine amerikanische Tournee, erhält für jedes Spiel 1000 Dollar und außerdem noch den zehnten Teil der Brutto-Einnahme; und sein Impresario will doch auch etwas an dem Wunderkinde verdienen!
Dabei ist es gar nicht nötig, daß die Leistung, welche solch immense Honorare einbringt, etwas mit der ›wahren Kunst‹ zu tun hat. Diavolo, wie sich der Radkünstler nannte, welcher zum ersten Male die bekannte Todesfahrt in der Schleife machte, bekam, bis er sich glücklich den Hals brach, für jede Produktion, welche doch nur wenige Augenblicke währt, im ›Royal Aquarium‹ zu London 300 Pfund Sterling oder 6000 Mark. Ja, wenn sich jemand auf den Kopf stellt und mit den Beinen zappelt, und er versteht dadurch jeden Abend den großen Saal zu füllen, so erhält er ganz das gleiche Honorar – (auf deutsch Ehrensold.) –
So hätte Nobody wohl auch darin recht behalten, daß er ein Einkommen von jährlich 100 000 Dollar besaß. Aber er hatte doch auch gesagt, daß er sich dies in anderer Weise dachte, und am allerunglücklichsten wurde dadurch der Direktor des Atlantic-Gardens. Dieser hatte schon von Extrazügen und von Gott weiß was geträumt, aber vergebens sicherte er dem zugkräftigen Verwandlungskünstler Berge von Gold zu – Nobody ließ sich nur zu acht Vorstellungen verpflichten, und dabei sollte es auch bleiben.
Wir versetzen uns an jenen ersten Abend zurück.
Kurz nach Schluß der Vorstellung im Atlantic-Garden, gegen 11 Uhr, finden wir Mr. Law und Mr. World wieder in dem Zimmer eines benachbarten Hotels beisammen.
Sie brauchten nicht lange zu warten, so trat auch Mr. Nobody ein, jetzt aber als ein tadellos gekleideter Gentleman.
»Nobody, Sie sind wahrhaftig ein Allerweltskerl!« rief der Journalist, als er ihm mit ausgestreckter Hand entgegenging. »Verzeihen Sie, aber ehrlicher kann ich meine Bewunderung für Sie nicht ausdrücken.«
Die erste Frage war dann, ob er sich von Mr. Lewis habe fest engagieren lassen,
»Nein,« lautete Nobodys Antwort, »nicht fest, nur für acht Tage, obgleich Mr. Lewis Himmel und Hölle in Bewegung setzte, mich länger an sich zu fesseln. Allein ich kann es nicht, länger als acht Tage würde ich es nicht aushalten. Ich bin ein Abenteurer, ich habe Zigeunerblut in meinen Adern, rastlos muß ich wandern, immer wandern, als mein eigener Herr – und dennoch will ich mich jetzt in den Dienst einer Zeitung stellen, um meiner Abenteuerlust eine nützlichere Richtung zu geben.«
Ja, die Zeitung, die Zeitung!! Und deshalb hatte Nobody die beiden Herren ja auch hierherbestellt.
»Für die acht Vorstellungen erhalte ich 10 000 Dollars, diese werde ich in acht Tagen bar in Händen haben, und diese würden vollkommen genügen, um die von mir geplante Zeitung zu gründen. Tue ich dies nicht, suche ich dazu einen kapitalkräftigen Kompagnon, so tue ich dies nur deshalb, weil ich selbst mit der Redaktion und dem Vertriebe nichts zu schaffen haben will, ich will eben frei und ohne Sorgen in der Welt herumschweifen können, alles Geschäftliche meinem Kompagnon überlassend.«
Man brauchte diesen Mann nicht erst aufzufordern, sich offen auszusprechen. Es war also nur eine Gnade, wenn er einen Kompagnon nahm, mit dem er den jährlichen Gewinn von einer Million teilte, er hatte es gar nicht nötig.
»Bitte, zuerst den Titel der Zeitung, das ist die Hauptsache.«
Nein, für Nobody gab es doch noch eine andere Hauptsache: seinen pekuniären Vorteil. Er stellte folgende Bedingungen: als Entschädigung für Reisespesen erhielt er einen festen Gehalt von jährlich 10 000 Dollar; die wöchentlich erscheinende Zeitschrift durfte nicht mehr als 5 Cents kosten; für je 1000 verkaufter Exemplare erhielt er 5 Dollar; die Zeitschrift durfte nur in englischer Sprache erscheinen; das Recht der Buchausgabe und der Uebersetzung gehörte nach einer gewissen Zeit ihm.
»So, das ist alles. Ich gebe den Herren genau eine Viertelstunde Zeit, um ihre Entscheidung zu treffen. Ich bemerke gleich, daß nur ich allein imstande bin, diese Zeitung in Gang zu bringen. Würden Sie meine Idee benutzen, ohne mich auf besagte Weise zu beteiligen, so würde ich Ihr Unternehmen innerhalb eines Monats tot machen. Deshalb genügt mir vorläufig Ihre mündliche Zusage, dann offenbare ich mich Ihnen. Wollen die Herren während der Viertelstunde allein sein?«
Wenn es so war, dann war der Entschluß bereits gefaßt. Dieser Mann hatte eine Art und Weise, zu sprechen, sein ganzes Wesen war ein solches, daß ein Zweifel gar nicht aufkommen konnte.
»Ich bin mit allem einverstanden,« sagte World, »sprechen Sie.«
Nobody brachte aus der Tasche ein Paket von Zeitungsausschnitten zum Vorschein, sensationelle Artikelchen, wie sie in deutschen Zeitungen immer unter der Rubrik ›Vermischtes‹ erscheinen. Bemerkt muß werden, daß die englischen und amerikanischen Zeitungen an derartigen Artikeln viel, viel reicher sind als die deutschen, sie wimmeln von ihnen, einige Zeitungen, wie die Wochenschrift ›Weekly News‹, verdanken ihre Millionenauflage nur solchen ›Nachrichten aus aller Welt‹, ohne eine Garantie für ihre Wahrheit zu geben. Das sensationslüsterne Publikum liebt eben so etwas. Von Wichtigkeit ist ferner, zu wissen, daß derartige Artikelchen-, in der Journalistensprache ›Miszellen‹ genannt, wenn sie, Tagesneuigkeiten betreffen, nicht unter dem › copyright ‹ stehen, also von jeder Zeitung nachgedruckt werden dürfen. Wenn daher irgend eine Zeitung eine besonders interessante Tagesneuigkeit bringt, so darf man versichert sein, daß dieselbe bald in jeder anderen Zeitung des In- und Auslandes zu lesen ist.
Hierauf nämlich beruhte Nobodys Plan.
Er erklärte, daß diese Zeitungsausschnitte aus den drei letzten Nummern des ›New-York Herald‹ stammten, und las sie der Reihe nach vor. Wir geben ganz kurz ihren Inhalt wieder, und zwar nur von einigen.
In den Straßen von Cordova war eines Morgens eine frisch abgeschnittene Damenhand gefunden worden, reich beringt, eine vornehme Damenhand; alle Recherchen der Kriminalpolizei sind bisher erfolglos gewesen. – – In Paris nimmt in erschreckender Weise die Manie zu, an hochgestellte Personen vergiftete Torten und andere Nahrungsmittel zu schicken; noch kein einziger der anonymen Absender konnte ermittelt werden, für jeden einzelnen Fall ist eine Prämie von 3000 Francs ausgesetzt. – – Auf Java macht sich wieder das gespenstische Steinwerfen bemerkbar; ein Distrikt droht durch diesen Unfug, ob derselbe nun von Geistern oder von Menschen verursacht wird, entvölkert zu werden, nicht nur die abergläubischen Eingeborenen, sondern auch die phlegmatischen Holländer fliehen vor dem Spuk; etwas Wahres muß doch daran sein, vorurteilsfreie Reisende haben schon zu oft davon berichtet; so wurde dem Gouverneur von Madura, als er sich mit seiner Familie in einem Zimmer befand, dessen Türen und Fenster geschlossen waren, die Kaffeetasse von einem scheinbar von der Decke kommenden, großen, flachen Steine aus der Hand geschlagen. – – Gleichfalls aus Java: in der Garnison Madschpat herrscht eine Panik. Die allein auf Nachtwache stehenden Posten werden am Morgen tot aufgefunden, stets mit Wunden am Halse wie von einer Teufelskralle; alle Versuche, dem rätselhaften Mörder auf die Spur zu kommen, bleiben erfolglos; ziehen zwei auf Nachtwache, oder wird der Posten heimlich beobachtet, so bleibt alles ruhig; es hat nicht an verwegenen Männern gefehlt, welche, um das Rätsel zu lösen, allein auf die einsame Nachtwache zogen; wurden sie nicht beobachtet, so fand man auch sie am anderen Morgen tot mit den Krallwunden am Halse. – – Schon längst zirkulierte in London das Gerücht, daß ein als schmutziger Geizhals bekannter alter Mann Namens Powlen in dem Keller seines baufälligen Hauses zu Whitechapel einen Menschen vornehmer Geburt gefangen halte, wofür Powlen monatlich 10 Pfund Sterling bekäme, die ihm durch die Post zugeschickt würden; die Polizei schenkte diesem Gerüchte niemals Aufmerksamkeit, da brannte der Dachstuhl des betreffenden Hauses, die Feuerwehr drang ein, fand den alten Powlen verbrannt, hörte in dem sonst unbewohnten Hause ein Wimmern, welches sie in den Keller führte; in einem Verließe ward ein vielleicht zwanzigjähriger Mann in einem entsetzlichen Zustande gefunden, zum Gerippe ausgezehrt, kein Idiot, wohl aber nicht einmal der Sprache mächtig, weil er noch niemals mit einem anderen Menschen in Berührung gekommen war; die Nachforschungen zur Aufklärung des rätselhaften Falles sind eingeleitet, dürften aber mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, da jeder Anhalt fehlt. –
Das also war der Inhalt von nur einigen Zeitungsberichten. Es gab aber darunter noch viel haarsträubendere Sachen, deren Wiedergabe nicht möglich ist, weil sie im kurzen Auszuge ganz unverständlich wären. Außerdem nun betrafen diese ›Tagesneuigkeiten‹ nur das Ausland, die alte Welt, und man darf wohl glauben, daß das neue Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, da auch etwas auftischen kann!
»Dies wäre der eine Teil, die mysteriösen Fälle betreffend,« nahm jetzt Nobody in geschäftsmäßigem Tone das Wort, die vorgelesenen Ausschnitte beiseite legend, »Sie werden dieselben Miszellen in sämtlichen amerikanischen und englischen Zeitungen wiederfinden, also zur allgemeinen Kenntnis des Publikums gelangend. Unsere neue Zeitschrift nun soll gewissermaßen den Kommentar zu diesen Tagesneuigkeiten bilden, soll Lüge von Wahrheit unterscheiden, und wenn eine Tatsache vorliegt, das Rätsel enthüllen. Wir nehmen also für jede Nummer einen besonders interessanten und mysteriösen Fall heraus, erkundigen uns telegraphisch, ob an der Sache wirklich etwas ist, und wenn dies der Fall, so geht der Detektiv Nobody sofort an Ort und Stelle und ...«
Erregt sprang der alte, sonst so phlegmatische Buch-Händler plötzlich auf und begann leise pfeifend im Zimmer hin- und herzugehen.
»Donnerwetter, ja, diese Idee ist wirklich nicht schlecht!«
»So, diese Idee ist wirklich nicht schlecht?« wiederholte Nobody spöttisch.
»Pardon, das war nicht so gemeint – wahrhaftig, das ist das Ei des Kolumbus!«
»Pardon,« sägte auch Nobody in seiner trockenen Weise, »das ist nicht das Ei des Kolumbus, sondern das ist mein Ei, das habe ich gelegt! – – Die Herren wissen nun also, um was es sich handelt.
Greifen wir einen Fall heraus: das gespenstische Steinwerfen auf Java. Ich würde ohne Bedenken jede Wette eingehen, daß ich dieses Rätsel lösen werde, denn ich kenne mich auf Java sehr gut aus ...«
»Nicht wahr, da haben Spukgeister ihre Hände im Spiele?« rief der alte Spiritist eifrig.
»Jawohl, Spukgeister,« bestätigte Nobody ganz ernsthaft, »und ich werde ihnen schon auf die Finger klopfen. Ich habe nämlich eine ganz sichere Ahnung, wie dieser Humbug gemacht wird. Nun denken Sie sich den Erfolg unseres Blattes, wenn ich als der Abgesandte dieses schon seit vielen Jahrzehnten bestehende Rätsel endlich endgültig löse! – Das heißt, wir dürfen nicht etwa prahlerisch vorgehen. Es darf nicht etwa heißen: wir schicken unseren Detektiv Nobody nach Java, um die Ursache des gespenstischen Steinwerfens ergründen zu lassen. Ich bin nur ein Mensch, die Lösung könnte mir doch mißglücken, und dann bin ich blamiert und mit mir die ganze Zeitung. Erst wenn's mir geglückt ist, dann rücken wir mit dem Erfolg heraus. Und eine der größten Hauptsachen ist: immer reell, nichts hinzulügen, nichts hinzudichten, wer unser Blatt in die Hand nimmt, der muß sagen: das ist ›Worlds Magazine‹ was dieser schreibt, darauf kannst du dich verlassen. – Sollte mir nun einmal die Lösung eines Rätsels mißglücken, so stehe ich erstens nicht als Großprahler da, und zweitens habe ich deshalb Zeit und Geld für die Reise noch nicht unnütz ausgegeben. Ueberall in der Welt werden täglich Verbrechen begangen. Mein Bemühen, wenn ich gerade an Ort und Stelle bin, wird dann stets sein, der Polizei zuvorzukommen, den Mörder zu entdecken, den Verdächtigen zu entlarven, und dies wird mir auch oft genug gelingen, denn ich besitze wirklich in so etwas ein ganz eigentümliches Auge und eine eigenartige Kombinationsgabe, und dies kommt dann natürlich alles unserer Zeitung zugute.«
Die beiden Herren wußten nichts davon, wie dieser Mann sofort den Tabaksagenten oder vielmehr dessen Spazierstock durchschaut hatte, und dennoch, sie zweifelten nicht im geringsten daran, daß der sonderbare Mann auch für so etwas außergewöhnliche Fähigkeiten besitze.
»Und nun,« fuhr Nobody fort, »zum dritten und letzten. Bei meinen Reisen durch alle Welt werde ich auch einen Privatzweck verfolgen, mir zum pekuniären Vorteil, nicht minder zum Vorteil aber auch für unsere Zeitung. Wissen die Herren, wieviel bares Geld alljährlich in der ganzen Welt veruntreut wird?«
Nein, das wußten die beiden nicht.
»Ich habe einmal ein statistisches Bureau damit beauftragt, alle diesbezüglichen Notizen in sämtlichen Zeitungen der Erde während fünf Jahren zu sammeln, und habe dann daraus den jährlichen Durchschnitt gezogen. Hierbei wurden nicht einmal die Einbruchsdiebstähle in Betracht gezogen, nicht das Entwenden von Juwelen und anderen Wertsachen – obschon auch diese Fälle mich stark beschäftigen werden – sondern nur ungetreue Kassierer, Direktoren, Postbeamte und dergleichen, welche mit dem ihnen anvertrauten Gelde das Weite suchen. Meine Statistik hat ergeben, daß in der ganzen Welt im Durchschnitt alljährlich rund 1800 Menschen mit der ihnen anvertrauten Kasse durchbrennen, täglich also 5, mit einem Gesamtbeträge von etwa 62 Millionen Dollar. Die kleinen Geister unter 1000 sind dabei gar nicht mit einbegriffen, bei denen ginge es in die Legion. Es wird mein Bestreben sein, in der Verfolgung und Festnahme jener großen Defraudanten mir einen Weltruf zu schaffen. Freilich kann ich jedes Jahr nur einige wenige Fälle erledigen, und das tue ich nicht umsonst, sondern ich beanspruche 10 Prozent bis zur Hälfte der wieder abgenommenen Beute. Aber ich werde mich dabei nicht durch die Höhe meines eventuellen Gewinnes beeinflussen lassen, sondern nur immer die interessantesten Fälle auswählen, welche die kompliziertesten und heftigsten Verfolgungen versprechen, und mein Erfolg wird auch stets den unserer Zeitung bedeuten.«
Wir wissen jetzt genug, was Nobody wollte, und das Geschäft war abgeschlossen.
Während der nächsten Tage trat Nobody also noch im Atlantic-Garden auf, wurde dadurch zum populärsten Manne in New-York, sein Name außerdem in ganz Amerika bekannt, und dadurch allein war der Erfolg der neuen Zeitschrift schon gesichert.
Bereits die vierte Nummer von ›Worlds Magazine‹ überschritt durch Straßenverkauf in den amerikanischen Städten die Auflage von einer Million, wofür also Nobody allein schon einen wöchentlichen Gewinnanteil von 5000 Dollar oder 20 000 Mark erhielt, und dann wurden zur intensiveren Verbreitung des Blattes besondere Filialen gegründet in London, Sydney, Bombay und Kapstadt.
Diese Erzählungen in deutscher Ausgabe über Wirken und Abenteuer des unbekannten Mannes als Privatdetektiv stimmen nun allerdings dem Inhalte nach so ziemlich mit den Berichten überein, welche damals immer jene englische Wochenschrift brachte. Aber die unsrigen haben vor den englischen noch einen großen Vorzug.
Nobody gebrauchte, um zum Ziele zu gelangen, immer gewisse, stets wiederkehrende Tricks. So z. B., um nur einen einzigen Fall zu erwähnen, besaß er ein Mittel, sich in jedem Hause, in welchem er spionieren wollte, als Diener anwerben zu lassen. Das betreffende Haus konnte mit Dienstpersonal vollkommen besetzt sein, der Hausherr mochte noch so abgeneigt sein, einen neuen Mann zu engagieren – stets wußte Nobody durch einen einfachen Trick den Mann zu bestimmen, ihn als seinen vertrautesten Diener anzustellen.
Solche Mittel und Tricks, beruhend auf einer kühnen Rücksichtslosigkeit, wie sie nur dieser Detektiv besaß, mußte er natürlich geheim halten, durfte sie nicht der Oeffentlichkeit preisgeben, sonst wären sie ihm nicht mehr geglückt.
Die deutsche Wiedergabe aber hat eine solche Geheimhaltung nicht mehr nötig, diese Erzählungen hier sind auch nach Nobodys eigenem Tagebuch neu bearbeitet.