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Im Serail ist ununterbrochen ›große Wäsche‹. Die Waschanstalt befindet sich im Kellergeschoß. Waschanstalt? Man denke nicht etwa an eine Dampfwäscherei, so etwas gibt's im Serail, wo alles nach alter Urgroßväterweise zugehen muß, nicht. Die Wäscherei wird hier nicht anders gehandhabt als in der arabischen Wüste, wo die Beduinenfrau in der Oase ein Feuerchen anzündet und den kleinen Waschkessel darübersetzt.
Hundert Weiber waren es mindestens, welche in dem weiten Kellerraume beschäftigt waren, und jede einzelne besaß auf dem offenen Herde ihr eigenes Holzkohlenfeuerchen, ihr eigenes kupfernes Kesselchen, in das tat sie die wenigen Stücke Zeug, die ihr zugeteilt worden waren, füllte es mit kaltem Wasser, setzte es auf das Feuerchen, wartete eine halbe Stunde, bis das Wasser kochte, dabei beschäftigungslos danebenstehend, dann wurde kaltes Wasser zugegossen, die Wäsche mit Seife eingeschmiert und langsam mit den Händen gerieben, in demselben Kesselchen ausgespült, und dann nahm dieselbe Frau dasselbe Kesselchen auf den Kopf und ging hinaus auf den Platz, wo sie selbst die wenigen Stücke zum Trocknen aufhing – alles nach dem Grundsätze: nur immer so unpraktisch wie möglich, es kann ja nicht genug kosten!
Wirklich, eine einzige Schaukelmaschine, von einem Kinde in Bewegung gesetzt, hätte am Tage dasselbe geleistet, wozu man hier hundert Frauen brauchte. Aber eine Arbeitseinteilung kennt der Türke eben nicht, und die Leidenschaft, der er sich am liebsten hingibt, ist die Faulheit, was sich auch hier bestätigte.
Die Weiber, wegen der hier herrschenden Hitze nur eine Art von Unterrock tragend, den Oberkörper entblößt – wenn sie die Wäsche zum Aushängen hinaustrugen, kleideten sie sich jedesmal erst an und fünf Minuten später beim Betreten des Waschraumes wieder aus – hatten nicht zu klagen. Die sie beaufsichtigenden Eunuchen hatten genug damit zu tun, sich ihre Zigaretten zu drehen, und der Feuerstein wollte in dem mit Dampf gefüllten Raume immer keine Funken geben, da hatte man eine Heidenarbeit damit, und wenn sich zwei junge Sklavinnen, wenn sie aller halben Stunden mit ihrem Kesselchen hinausspazierten, vorher jedesmal gegenseitig und umständlich frisierten, so wurde ihnen deswegen kein Wort gesagt.
Gerade deshalb aber fehlte alles Leben, aller Trieb. Matt und müde schlichen auch die jüngsten Frauenzimmer umher, mechanisch ihre Arbeit verrichtend; was heute nicht fertig wird, braucht morgen auch noch nicht fertig zu sein. Eine biedere deutsche Waschfrau hätte es hier keine Stunde ausgehalten. Hier wurde ja nicht einmal geschwatzt!
Es mußte schon etwas sehr Wichtiges sein, was einmal eine Zunge in Bewegung setzte.
Eine schwarze Sklavin, deren Brüste bis hinein in den Waschkessel hingen, ließ die faulen Arme sinken und blickte lange Zeit in eine Ecke des Gewölbes.
»Hast du es gesehen?« fragte die Negerin ihre blütenweiße Nachbarin, jedenfalls eine Georgierin, ein junges, herrlich gebautes Weib, aber mit einem von Pockennarben entstellten Gesicht.
»Was denn?«
»Dort in der Ecke.«
»Ich habe gar nicht hingesehen.«
»Mir war es gerade, als ob dort etwas Weißes in der Luft schwebte.«
»Es wird die Sonne gewesen sein.«
Hiermit war die Angelegenheit erledigt, es wurde weitergewaschen.
Die vernommenen Worte waren für Nobody eine Warnung gewesen, vorsichtiger zu sein. In jener Ecke stehend hatte er eine Photographie in der Hand gehabt, und um diese betrachten zu können, mußte er sie ja unter dem Tarngewande hervorziehen.
Schon seit einer Stunde befand er sich hier, seit die Arbeit am Morgen hier begonnen hatte.
Und er sah sie nicht, derentwegen er in das Serail gedrungen war.
Sie sollte Wäscherin sein. Das war ja nicht etwa der einzige Waschraum, es gab deren noch viele, viele andere, diese hundert Weiber hätten doch nicht genügt, die Wäsche von zehn- bis zwölftausend Personen zu besorgen, welche täglich mindestens einmal ihre Unterkleider wechseln müssen, täglich auch ein frisches Obergewand anlegen – aber der hypnotisierte Unterkislar hatte ihm gesagt, daß Fatme Zenide unter ihm stände, in derjenigen Küche, in der die Wäsche der sechzig Odalisken erledigt würde, und diese war hier, eine zweite Waschküche für die Odalisken gab es nicht, und dort stand auch jener Kislar, die Peitsche zwecklos im Gürtel – nur die gesuchte Fatme Zenide konnte Nobody nicht finden.
Er besaß eine Photographie von der Gesuchten, vor zwei Jahren in Paris angefertigt. Sie zeigte ihm das Brustbild einer jungen Dame, vollbusig und jedenfalls dennoch zierlich gebaut, das konnte Nobody an der schmalen Taille, die gar nicht besonders fest geschnürt zu sein schien, beurteilen, auch an den zum Teil noch sichtbaren Hüften, vor allen Dingen an der erhobenen, einen Fächer haltenden Hand – und es war ein gar reizendes, pikantes Gesicht, in dem die Augen vor Lebenslust funkelten.
Nobody hatte auch Beschreibungen von dieser Person erhalten, und so wußte er, daß sie einen sehr weißen Teint und schwarzes Haar besessen hatte.
Weiße Sklavinnen mit schwarzem oder doch dunklem Haar gab es hier sechs. Sie gingen aus und ein, es wurden ihrer nicht weniger und nicht mehr, die Gesuchte befand sich nicht unter ihnen, und Nobody war doch wirklich imstande, nach einer vor zwei Jahren angefertigten Photographie eine Person wiederzuerkennen, da hatte er nicht nötig, erst immer nach der Narbe am Halse zu spähen.
Falls sich Teint und Haar innerhalb der zwei Jahren doch sehr verändert hätten, hielt Nobody unter den Sklavinnen weitere Umschau, er vergrößerte sein Beobachtungsfeld. Noch achtzehn Weiber waren es, die in Betracht kommen konnten, weil sie hellere Haut und dunkles, wenn auch braunes Haar besaßen, und jetzt achtete Nobody auch auf den Schnitt, der am Halse eine Mandel entfernt hatte.
Nein, die Gesuchte befand sich nicht unter ihnen.
Wurde sie gerade heute abend anderswo beschäftigt? Nach allem, was Nobody über den Betrieb im Serail wußte, hielt er so etwas für ausgeschlossen. Aber krank konnte sie geworden sein, gestorben, und darüber wurde hier kein Wort verloren, die indolenten Waschfrauen merkten die Abwesenheit einer Kollegin nicht.
Wieder einmal merkte Nobody es recht empfindlich, daß ein unsichtbarer Geist es doch gar nicht so leicht hat, wenn er nicht auch Allwissenheit besitzt.
Um auszukundschaften, wo sich Fatme Zenide befand, mußte er erst wieder einen Eunuchen hypnotisieren, dazu mußte er ihn aber doch erst an einem abgelegenen Orte unter vier Augen haben, und wenn das alles geglückt war, dann hatte er vielleicht den falschen erwischt, der ihm nur sagen konnte: ›Da mußt du den und den fragen.‹
O, da ist ein Klopfgeist, der das Alphabet herunterpocht, noch gut daran! Die Menschen dürfen freilich nicht vor ihm ausreißen.
»Fatme Zenide!« rief da die Fistelstimme eines Eunuchen.
Natürlich horchte Nobody nicht schlecht auf. Er hatte den Rufer zufällig gesehen, dieser winkte auch mit dem Finger, zu ihm mußte sie doch kommen, und da löste sich aus den Reihen der Waschweiber, die vor einer Bank standen, auch eine ab.
O weh, die ganzen Hypnotisierereien waren umsonst gewesen! Hier hatte von allem Anfang an ein Irrtum vorgelegen! Die Eunuchen hatten mit der Fatme Zenide immer eine ganz andere gemeint.
Denn das alte, dürre Weiblein mit den eisgrauen Haaren, das auf den Vorgesetzten zuhumpelte, das hatte nichts zu tun mit der lebenslustigen Französin, die eben erst ihr achtundzwanzigstes Jahr überschritten. Nur daß das alte Weiblein eine blaßhäutige Frankin war, das war aber auch die einzige Gemeinschaft, die es mit der photographierten Dame hatte. Nobody hatte der Alten vorhin auch gar keine Beachtung geschenkt, sie gehörte also nicht mit zu den zwei Dutzend Weibern, die er in den engeren Kreis seiner Beobachtung gezogen.
Sie kam auf ihrem Wege zu dem Eunuchen dicht an dem unsichtbaren Geiste vorüber, und ... Nobody riß seine unsichtbaren Augen vor Überraschung weit auf.
An dem spindeldürren Halse die Narbe von einem tiefen Schnitt! Auf der rechten Seite! Und es war unverkennbar ein Operationsschnitt, der eine der Mandeln entfernt hatte, über deren Zweck unsere Ärzte absolut nichts wissen, da der Mensch ganz gut auch ohne die sogenannten Mandeln, die so leicht schwellen, fertig werden kann.
Ja, war es denn nur möglich? Nein, es war nicht möglich! Und bei Nobody lag über das Alter der betreffenden Person kein Irrtum vor, er hatte eine genaue Beschreibung erhalten, er wußte doch überhaupt genau, daß nur eine junge Frau in Betracht kommen konnte, die in der Liebe gesündigt hatte, weswegen Nobody ein ernstes Wort mit ihr sprechen wollte, und er besaß doch auch ihre Photographie.
Hinter einer Säule gedeckt, zog er dieselbe schnell noch einmal hervor.
Und doch, ja!! Sie war es! Das waren dieselben Züge! Jetzt ließ sich Nobody nicht mehr durch die skelettartige Gestalt, durch das weiße Haar und durch das blöde Auge täuschen!
O Gott, o Gott, was war aus dem schönen, jugendfrischen Weibe innerhalb dieses einen Jahres im Serail geworden! Eine ausgedörrte Greisin, die kaum noch humpeln konnte! Daß ihr Gesicht noch keine Runzeln zeigte, hatte nichts zu sagen.
Was mochte das arme Weib in dem einen Jahre durchgemacht haben, um so umgewandelt zu werden? An eine üble Behandlung konnte Nobody nicht glauben. Die Kislars führen die Peitsche fast ganz umsonst im Gürtel, die Türken behandeln ihre Sklaven überhaupt sehr gut, müssen es tun, nicht nur ihre Religion, sondern auch das Gesetz, das ja erst nach dem Koran entstanden ist, schreibt es ihnen bei strengen Strafen vor. Daß der Kislar-Aga die neue Sklavin peitschen wollte, es auch getan hätte, das war etwas ganz anderes. Ein Widerstand muß freilich erst gebrochen werden.
Krankheit? Nobody hatte einen Grund, auch hieran nicht recht glauben zu können. Macht denn eine körperliche Krankheit ein funkensprühendes Auge gleich so blöde? Nein, hier war die Schönheit und die Kraft des Körpers durch eine seelische Krankheit, durch einen Seelenschmerz untergraben worden! Nun kannte aber Nobody diese Frau, wenigstens den Beschreibungen nach, ihr Grundcharakter war der bodenloseste Leichtsinn gewesen, heute hatte sie einen Mann glühend geliebt, hatte ohne ihn nicht leben können, und morgen war er über einem anderen wieder vergessen worden, sie hatte ein Kind verloren, ohne daß dies den geringsten Eindruck auf sie gemacht hätte – und sieht es denn solch einem Charakter ähnlich, daß er in einem türkischen Harem innerhalb eines Jahres gleich weiße Haare bekommt und vollständig zusammenbricht?
Das humpelnde Weib hatte den Eunuchen erreicht.
»Hast du noch Rum, Fatme Zenide?« quäkte dieser.
Aber der Eunuche wollte keinen Schnaps von ihr haben, sondern er fragte sie, ob sie noch Rheumatismus habe, der auf türkisch und arabisch Rum heißt, oder in deutschen Buchstaben wohl richtiger Rhum geschrieben.
»Ach ja, sehr,« seufzte die junge Alte und hob, nach ihren nackten Füßen blickend, ihren Rock etwas hoch, daß Nobody ihre spindeldürren Waden sah.
»Ich habe bemerkt, wie dir das Gehen schwer fällt, habe mit dem Kislar gesprochen. Gehe in die Kawansi, laß dich vom Hakim einreiben und bleibe nur ruhig liegen, bis du wieder laufen kannst.«
Man sieht, diese Sklavinnen hatten wie die Sklaven nicht über schlechte Behandlung zu klagen. Allerdings ist dabei zu bedenken, daß sie als gekaufte Ware ein Kapital repräsentieren; dieses Weib hier hatte sogar 1280 Mark gekostet, aber einmal geht am Hofe des ungeheuer reichen Sultans – nicht zu verwechseln ist damit die Armut und die ewige Geldverlegenheit des ganzen Reiches! – alles aus einem so großen Topfe, daß es auf solche Lappalien gar nicht ankommt, und dann hatte in der Fistelstimme des Eunuchen wirkliches Mitleid gelegen, das Herz war ihm nicht mit ausgeschnitten worden.
Ohne einen Dank zu haben, wandte sich Fatme Zenide, humpelte seufzend zurück, warf ihre Wäsche in den Kessel der Nachbarin, ohne daß diese dagegen protestiert hätte, mehr zu beeilen brauchte sie sich deswegen ja auch nicht, goß ihren Kupferkessel aus, hing ihn an einen Nagel, kleidete sich an und verließ die Waschküche.
Nobody folgte ihr. Die Kawansis, in denen die hier arbeitenden Sklavinnen schliefen, lagen im dritten Stock. Bis dahin brauchte Nobody nicht in die Richtung der Frau einzugreifen, er ließ sie die Seitentreppen hinaufhumpeln.
Weiber und Eunuchen begegneten ihr, auch solche, die durch Dolche und Pistolen oder gar durch die Peitsche als Kislars ausgezeichnet waren – niemand kümmerte sich um die Arbeitssklavin, obgleich die um diese Zeit hier nichts zu suchen hatte. Überall ebendieselbe Teilnahmlosigkeit, die sich schon auf allen Gesichtern ausprägte.
Erst als sie das dritte Stockwerk schon erreicht hatte, wurde sie doch einmal von einem grimmig blickenden Peitschenträger angehalten. Auch der Kislar-Aga zeigte sich in der Ferne, der Anblick des Gefürchteten mochte den Untergebenen an seine Pflicht mahnen.
»Wohin?«
»Nach meiner Kawansi!«
»Wozu?«
»Ich habe Rheumatismus in den Füßen, ich soll mich hinlegen.«
»Wer hat dir das erlaubt?«
»Mein Kislar.«
»Wo arbeitest du?«
»In der fünften Wäscherei.«
»Gut.«
Die Frau konnte ihren Weg fortsetzen. Also auch hier gar keine weiteren Umstände, der Kislar hatte sich auch nichts notiert, würde sich wohl schwerlich erkundigen, ob die Angaben richtig waren.
Für Nobody war es sehr wichtig, alles dies zu beobachten, und diese faule Wirtschaft kam ihm sehr gelegen.
Aber wie nun das Weib vernehmen? In den Schlafraum durfte sie nicht erst gelangen, dort war nichts mehr zu machen, das wußte Nobody, der sich bereits auch in diesen Kawansis umgesehen hatte.
Die Gelegenheit sollte noch kommen. Die Sklavin hatte nach ihrem Saale in dem riesigen Gebäude einen gar weiten Weg, und sie hatte gleich die nächste Treppe erstiegen, so mußte sie jetzt durch zahllose Korridore.
Zunächst belauschte Nobody noch ein Gespräch. Zwei junge Männer kamen den Korridor entlang, Rollen unter den Armen, hinter dem Ohre das an der Spitze gespaltene Rohr – Schreiber des Serails.
»Weißt du, wie alt die ist?« fragte hinter Nobodys Rücken, als beide schon passiert waren, die eine Fistelstimme.
»Eine alte Hexe.«
»Vor einem Jahre noch war die zur Odaliske bestimmt.«
»Unsinn!«
»Allah lasse meine Zunge vertrocknen, wenn ich nicht die Wahrheit spreche. Aber die ist Telekail.«
Der andere lachte mit seiner schrillen Stimme aus vollem Halse.
»Ja, die Frankinnen werden fast alle telekail,« erklang es noch einmal, »und wenn es auch Odalisken sind.«.
»Das glaube ich wohl, darin sind die Odalisken doch auch nicht anders als die Arbeiterinnen.«
»Und wenn so eine junge Frankin telekail wird, dann wird es mit ihr schnell alle. Es gibt ja Ausnahmen, aber gewöhnlich ist es doch so, und wenn sich die ersten Spuren vom Telekail zeigen, sollten die Frankinnen stets eingesperrt werden, denn dann können sie gefährlich werden wie die jungen ...«
Die Stimmen verloren sich.
Was war das, telekail? Nobody kannte die Bedeutung dieses türkisch klingenden Wortes nicht. Nach dem Gehörten freilich ging ihm eine Ahnung auf. Nur mochte er es gar nicht recht glauben. Oder die Weiber hier im Serail unterlagen öfters einer Krankheit, einer seelischen, die zwar auch draußen in der Welt mit seinem pulsierenden Leben vorkommt, aber doch nur zu den seltenen Ausnahmen gehört. Oder doch nicht gar so selten? Diese Wirkung wenigstens, gleich so alt zu werden, hatte Nobody überhaupt noch nie wahrgenommen.
Doch er mußte jetzt an anderes denken. Die Gelegenheit war günstig, der Gang machte zwei scharfe Ecken, kein Mensch war zu sehen, kein Schritt zu hören, und jene schmale Holztür war von Nobody gestern schon einmal geöffnet worden, er wußte, wohin sie führte, und das paßte alles gerade für ihn.
Die noch vor einem Jahre so temperamentvolle Französin war jetzt das Phlegma selbst geworden, nur noch zum Seufzen öffnete sich ihr Mund. Aber als sie plötzlich ein menschliches Gesicht vor sich sah, frei in der Luft schwebend, da prallte sie mit tödlichem Entsetzen zurück, sie wollte ...
Zu spät, die flammenden Augen hatten ihre Schuldigkeit getan, der Schreckensschrei blieb ihr in der Kehle stecken, sie war zur Statue erstarrt, bis Nobodys Nackengriff wieder Leben in sie brachte, aber nur, um eine wandelnde Maschine aus ihr zu machen.
»Folge mir! Ich werde dich an der Hand fuhren.«
Er öffnete die schmale Tür und zog sie herein, führte sie die Holztreppe hinauf, welche in das vierte Stockwerk mündete.
Hier oben war kein Mensch. Das wußte Nobody. Hier oben spukte es, und wenn auch nur aus einer Vorratskammer ein einziger Scheuerlappen geholt werden mußte, so wurde gleich eine ganze Kompagnie Eunuchen hinaufgeschickt, die sich gegenseitig festhielten. So entgegenkommend, so zartfühlend waren ihre Vorgesetzten, und ein einzelner wäre gar nicht hinaufgegangen, eher hätte er sich totpeitschen lassen, selbst wenn er gar nicht wußte, daß es der Geist eines früheren Sultans war, der hier sein Wesen trieb, nur in den Neumondnächten. Das Wort »Spuk« genügt, um jedem Türken das Herz durch die Pumphose bis in den Pantoffel rutschen zu lassen.
Nobody begab sich mit seiner Begleiterin in jene Kleiderkammer, in der er genächtigt hatte. Hier heraus hatte niemand etwas zu holen, das war eine Sammlung von alten, jetzt ganz unmodernen Kostümen, nicht mehr in Ordnung gehalten, vergessen, und wenn wirklich jemand vorbeiging, und er hörte hier drin Stimmen sprechen, und er wagte es, diese Tür zu öffnen, gleich hier dicht neben dem vermauerten Spukzimmer, dann wollte Nobody ... selbst Eunuche werden und nicht wieder aus dem Serail herauskommen!
»Setze dich!«
Er hatte sie so gestellt, daß sie auf den Kleiderbündeln gleich einen bequemen Sitz fand, und er fühlte, daß sie gehorchte. Licht zündete er nicht an, so brauchte er sich auch nicht erst sichtbar zu machen.
»Wie heißt du?«
»Fatme Zenide.«
»Wie hast du früher geheißen?«
Keine Antwort, und Nobody konnte sich denken, weshalb keine kam.
Bedauernswertes Weib! Aber ungerecht war das Schicksal nicht gegen sie gewesen; das Schicksal ist überhaupt nie ungerecht, wenn wir blinden Menschlein es auch nicht immer erkennen, nicht erkennen mögen. Die hatte hier eine Schuld zu büßen.
»Als du vor anderthalb Jahren nach Konstantinopel kamst, in Begleitung des Monsieur Auviger, Ernest Auviger, da hießest du noch Eu – Euge...na?«
»Eugenie Lefort!!« erklang es mit unterdrücktem Jauchzen, und Nobody hatte sich jetzt des Französischen bedient.
Sie war es! Die nächste Frage entsprang Nobodys Wißbegier.
»Was bedeutet das Wort telekail auf französisch?«
»Liebeswahnsinn.«
»Hm. Wörtlich übersetzt würde Liebeswahnsinn auf türkisch anders lauten.«
»Telekail – männertoll.«
Also doch! Nobody hätte es nicht geglaubt, daß unbefriedigte Leidenschaft so das Äußere verändern könne. Er hatte auch schon in verschiedenen Nonnenklöstern Umschau gehalten, aber so etwas hatte er denn doch noch nicht gefunden, und hier schien es etwas ganz Gewöhnliches zu sein, besonders bei Frankinnen, die sich von den phlegmatischen Orientalinnen ganz bedeutend unterscheiden. Was spricht man immer von den feurigen Südländerinnen? Ja, lebhaft sind sie wohl, aufgeregt, funkelnd, brillierend – aber die kalte Norwegerin ist im Liebestaumel viel leidenschaftlicher als die innen kochende Spanierin. Das hat schon der alte Casanova gewußt, das weiß noch heute jeder Matrose.
Und in den Nonnenklöstern gibt es keine Eunuchen. Das ist wohl verständlich genug gesagt, um einen Unterschied zwischen Kloster und Serail anzudeuten.
»Möchtest du das Serail wieder verlassen?«
»Ja, ach ja!« erklang es mit zitternder Sehnsucht, in der auch schon Hoffnung lag.
Mehr wollte Nobody von der Frau im hypnotischen Zustande nicht erfahren. Was er sonst zu fragen hatte, das mußte sie ihm bei klarem Bewußtsein beantworten, darauf kam es ihm an.
Er suggerierte ihr das Verbot ein, zu sagen, daß sie auf dem Korridor plötzlich ein frei in der Luft schwebendes Gesicht gesehen habe, machte daraus einen ganzen Mann, einen Eunuchen, der sie angesprochen habe, in geheimnisvoller Weise, dem sie in diese Kammer gefolgt sei, wo er ihr eine wichtige Mitteilung machen wolle.
Wie Nobody dies fertig brachte, soll hier nicht geschildert sein. Es war eine Kleinigkeit. Die Hypnotik bringt ja noch ganz andere Sachen fertig. Zur Vorsicht ließ er sie nur in dem Glauben, sie befinde sich in einer Kammer der dritten Etage.
»Erwache!!«
Es wäre interessant gewesen, zu beobachten, wie sie sich jetzt benahm, was für ein Gesicht sie machte.
»Was willst du mir mitteilen?«
Es hatte gewirkt, das bewies diese geflüsterte Frage. Sie befand sich in dem Glauben, einem Eunuchen gefolgt zu sein.
»Madam Eugenie Lefort, geschiedene Madam Saccardi, früher Mademoiselle Coquellin.«
Heftig zuckte ihre Hand aus der seinen zurück.
»Wer bist du?! Diese Stimme – du bist kein Eunuche!!«
Also so hatte die hypnotische Suggestion gewirkt, daß sie sogar die Fistelstimme eines Eunuchen gehört zu haben glaubte. Etwas seltsam war nur, daß sie nicht zuerst davon überrascht war, mit ihren früheren Namen angeredet zu werden, sondern darüber, jetzt eine tiefe Mannesstimme zu vernehmen, die ihr freilich im Serail völlig fremd geworden sein mußte. Immerhin, es war auffallend.
»Nein, ich bin kein Eunuche.«
»Dann – dann – kannst du hier im Serail nur der Padischah selbst sein!«
»Leider bin ich der Padischah nicht. Sonst gäbe es keine Sklavinnen mehr.«
»Wer bist du sonst? Ich habe dich vorhin nicht genau angesehen, ich war zu erregt, ich – ich – ich –«
»Ich habe mich als Eunuche verkleidet ins Serail geschlichen, um Ihnen, Madame Lefort, eine Mitteilung zu machen.«
»Unmöglich! Das ist noch keinem Manne gelungen! Oder du bist ein Eunuche.«
»Mein Hiersein ist der beste Beweis, daß es doch möglich ist, und schon meine Stimme muß Ihnen sagen, daß ich kein Eunuche bin.«
Schwer ging ihr Atem.
»Was haben Sie mir mitzuteilen?« flüsterte sie dann.
»Madame Lefort, sind Sie willens, das Serail zu verlassen?«
»Ja, ach ja,« seufzte sie, genau so wie vorhin in der Hypnose, nur daß jetzt schon ein unterdrücktes Jauchzen dazwischenklang.
»Ich kann Sie hinausbringen.«
»Herr, das ist furchtbar schwer – das ist noch keinem gelungen, und alle, alle, die es probiert, haben das Wagnis mit ihrem Haupte eingebüßt.«
Nobody wunderte sich, wie lebhaft dieses gebrechliche Weib mit den blöden Augen noch werden konnte. Er hätte sie jetzt gern einmal gesehen.
»Seien Sie versichert, daß ich es imstande bin. Ehe ich es aber tue, muß ich einige Fragen an Sie stellen.«
»O, befreien Sie mich – befreien Sie mich aus diesem fürchterlichen Serail – geben Sie mich der Welt zurück, und zeit meines Lebens will ich Ihnen auf meinen Knien danken!« rief sie mit einer Leidenschaft, deren Nobody dieses scheinbar so gebrochene Weib noch weniger für fähig gehalten hätte.
»Erst muß ich mich vergewissern, ob Sie auch würdig sind, wieder in der Außenwelt, welche völlige Freiheit gewährt, zu leben.«
»Was soll das heißen? Ich habe nichts verbrochen.«
»Vielleicht nichts, was Sie vor einem irdischen Richter bringen kann. Aber, Madam, Sie haben dennoch viel gesündigt.«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Ich werde Ihrem Gedächtnis zu Hilfe kommen.«
»Tun Sie es.«
»Wenn ich Ihnen die Wahrheit sage, müssen Sie mir dieselbe auch zugeben.«
»Gewiß werde ich das.«
»Nun denn: Es ist jetzt sieben Jahre her, Sie hießen damals Madame Siccardi, waren erst einundzwanzig Jahre alt, aber bereits geschieden. Ihr Gatte, ein Finanzier aus Mailand, der Sie aus Liebe geheiratet, hatte Ihnen als Abfindungssumme eine halbe Million Francs bar ausgezahlt. Ihr Gatte war alt gewesen, ein Sonderling, und Sie waren lebenslustig, hatten extravagante Neigungen...«
»Sie selbst haben gesagt, daß Siccardi alt war, und ich sage Ihnen noch mehr, er war ein schwacher Greis, und ich war ihm ver...«
»Bitte, verteidigen Sie sich nicht, das haben Sie in diesem Falle ja auch gar nicht nötig. Ich wollte nur Ihrer Erinnerung zu Hilfe kommen. Also es stimmt alles?«
»Es stimmt.«
»Gut. Ob Sie in diesem Falle schuldig waren oder nicht, ist mir ganz gleichgültig. Mich interessiert etwas anderes. Sie gingen auf Reisen, Sie liebten den Sport, besonders die Jagd – Sie schlossen sich einer Gesellschaft von französischen Herren und Damen an, welche sich nach Kanada begab, um dort in den wildreichen Gebieten der Jagdlust zu frönen. Stimmt das?«
»O, und ob ich mich entsinne!« erklang es in stiller Seligkeit. »Was für eine herrliche Reise das war, mit dieser vornehmen Gesellschaft, in der auch das freieste Wort erlaubt war! Ach, wie ich mich damals köstlich amüsiert habe!«
»Ich hatte gehofft, die Erinnerung an jene Zeiten würde eine andere Sehnsucht in Ihnen erwecken,« sagte Nobody bitter.
»Welche?« fragte sie naiv.
Die junge Frau, dem Aussehen nach eine Greisin, schien noch eine Kinderseele zu besitzen, die nur von Kummer furchtbar niedergedrückt war, und diese Erkenntnis war es, welche Nobody, der im Grunde genommen ein so gefühlvolles Herz besaß, schnell wieder besänftigte.
»Nun, lassen Sie mich weitererzählen. Die unternehmungslustige Gesellschaft, mit allem wohlausgerüstet, daß auch die verwöhnteste Dame nichts zu vermissen brauchte, drang tief in das Innere Kanadas vor, bis in die wilden Tundren, die zu jener Jahreszeit aber ein liebliches, mit Blumen geschmücktes Bild boten. Man quartierte sich in einem Wigwamlager von Schwarzfußindianern ein, welche bei den Jagdausflügen, die man von hier aus machen wollte, als Führer dienen sollten. – Was haben Sie?«
In der Finsternis war ein schluchzender Laut erschollen. Weinte sie? Das wäre Nobody sehr lieb gewesen, aber es war nicht der Fall, gerade das Gegenteil.
»Ach, wieder solch eine Erinnerung – ach, diese herrliche Zeit, die ich damals erlebte!!«
Es hatte eher jauchzend geklungen, nur der Schmerz mischte sich bei, daß dies alles jetzt vorüber war.
»Ja, da erlebten Sie wieder solch ein Abenteuer, wie sie es ja liebten. Sie arrangierten es selbst. Nach sechs Wochen verließ die Gesellschaft das Indianerlager wieder, die Jagdleidenschaft war gestillt – nur Sie blieben.«
»Ja, mich erfüllte eine andere Leidenschaft, für einen jungen Indianer, er hieß – hieß – hieß ...«
»Können Sie sich wirklich nicht einmal mehr seines Namens erinnern?«
»Wa – Wa ...«
»Wanitoba.«
»Richtig, Wanitoba! Todespfeil, wegen seiner unübertrefflichen Kunst im Bogenschießen so genannt. Ach, es war ein so hübscher Junge!«
Wunderbar! Nobody konnte sich die seufzende Greisin mit den blöden Augen gar nicht mehr vorstellen. Er sah im Geiste neben sich ganz deutlich eine junge, pikante, leichtfertige Französin sitzen. Was nur hatte diese rätselhafte Umwandlung plötzlich bewirkt?
»Wanitoba war sehr vernünftig. Selbst dieser Indianer, der noch keine Stadt gesehen hatte, fühlte instinktartig heraus, daß es nicht gut sei, sich mit solch einem Weibe einzulassen, das könne nur Unglück bringen, oder, wie er sich ausdrückte, das könne Manitou nicht gutheißen ...«
»O, es war mir ein leichtes, ihm den Kopf zu verdrehen,« erklang es vergnügt.
»Aber Sie geben doch zu, daß er Ihren Liebeswerbungen erst Widerstand entgegengesetzt hat?«
»Ja, das hat er.«
»Gut, das wollte ich nur hören, und Sie haben ja schon selbst gesagt, daß Sie ihm den Kopf verdreht haben, also sind Sie es gewesen, die ihn verführt hat.«
»Wir sind sogar unters Büffelfell gekrochen,« erklang es wiederum im heitersten Tone, »was dort gleichbedeutend mit einer richtigen Heirat ist!«
»Jawohl, es war eine ganz richtige Trauung. Aber die eheliche Treue haben Sie ihrem Gatten nicht gehalten, Sie hatten ihn sogar bald genug überdrüssig, nur zwei Wochen dauerte das Eheglück, dann wandten Sie Ihre Neigung einem anderen zu.«
»Ich wollte nur einmal sehen, ob ein Indianer auch eifersüchtig werden kann.«
»So! Sie scheinen solche Menschenstudien mit Experimenten zu lieben.«
»Das habe ich immer,« lautete die mit der größten Offenheit gegebene Antwort. »In Mailand, als ich noch Siccardos Gattin war, habe ich einmal einen armen Gerichtsschreiber ...«
»Schon gut, schon gut, ich interessiere mich nur für den einen Fall. Es war sogar Wanitobas leiblicher Bruder, den Sie verführten.«
»Ich wollte sehen, ob es auch unter Indianern vorkommt, daß ein Bruder den andern mit so etwas betrügt.«
»Und Sie brachten es wahrhaftig fertig! Ja, da geschah sogar etwas, was den Indianern eigentlich ganz unbekannt ist: Latenu entführte eine verheiratete Squaw, die Frau seines Bruders. Wie Sie ihn dazu bewogen haben, mit Ihnen davonzufliehen, ins Ungewisse hinein, das ist mir noch heute ein Rätsel! Sie müssen eine bezaubernde Hexe gewesen sein!«
»Ja, das war ich!« war die mit freudigem Stolze gegebene Antwort.
»Sie brauchen darauf nicht so stolz zu sein. Sie haben Jammer genug angerichtet. Wanitoba warf sich aufs Pferd, setzte dem treulosen Bruder und der noch treuloseren Frau nach, holte sie ein, als ein Erlahmen seines Pferdes ihm die Rache doch noch entgehen lassen wollte. Wissen Sie, was nun geschah?«
Jetzt kam doch einiger Eindruck. Nobody hörte, daß sie die Hände vors Gesicht schlug.
»O, es war gräßlich!« stöhnte sie. »Er erschoß seinen Bruder, ich sah ihn blutend vom Pferde stürzen – und ich kann kein Blut sehen.«
Dieser Nachsatz hatte natürlich alles wieder verdorben. Nobody kehrte sich nicht daran, nun wußte er schon, mit was für einem Charakter er es zu tun hatte, und Nobody nahm die Menschen immer, wie sie nun einmal sind.
»Ja, Wanitoba hatte seinen eigenen Bruder getötet, war zum Brudermörder geworden – Ihretwegen!«
»Das hatte ich nicht gewollt.«
»Wanitoba auch nicht,« kam es jetzt mit beißender, mit fürchterlicher Ironie aus Nobodys Munde.
»Was? Nicht? Er wollte nur das Pferd treffen?«
»Auch nicht. Sie wollte er töten!!!«
»Mich?!«
»Natürlich! Wanitoba hatte schon längst erkannt, daß er sich in einem Hexenbanne befand, sein Bruder war unschuldig, die verfluchte Zauberin mußte sterben! Er hatte nur ein Gewehr bei sich, in dessen Handhabung er nicht so gewandt war – hätte er Pfeil und Bogen bei sich gehabt, ein Pfeil hätte mit unfehlbarer Sicherheit Ihr Herz durchbohrt! Und die Brüder wären versöhnt zurückgeritten.«
»Welch ein Glück, daß er Pfeil und Bogen vergessen hatte!«
Nobody dachte sich sein Bestes zu diesem Ausrufe.
»Der Brudermörder wollte sich dem Richtsprüche unterwerfen. Doch nein! Erst die Rache! Wissen Sie, daß, während Sie in ganz Amerika herumabenteuerten, Wanitoba immer dicht auf Ihrer Spur war?«
»Wahrhaftig?!« erklang es zum Tode erschrocken.
»Wären Sie nicht immer so schnell gereist, sich nirgends aufhaltend, Sie wären der Rache nicht entgangen. Und der Schwarzfuß hat da etwas geleistet, was noch kein anderer Indianer geleistet hat! Wie die Rothaut, unbeleckt von aller Kultur, zum ersten Male sich unter zivilisierten Menschen bewegend, überall durchgekommen ist, dabei immer Ihre Spur findend – es ist mir ein Rätsel! Ich würde es nicht glauben, wenn ich nicht Beweise der Wahrheit hätte. Erst in Mexiko verlor er Ihre Spur, um sie nicht wiederzufinden.«
»Welch ein Glück, daß ich immer so schnell reiste! Und gerade in Mexiko hatte ich einen längeren Aufenthalt! O Gott, wenn er mich da gefunden hätte!«
Welch Unglück, daß er dich nicht gefunden hat, um dich wäre es nicht schade gewesen, dachte Nobody, und laut fuhr er fort:
»Ja, in einem kleinen Städtchen Mexikos wurden Sie eines Kindes entbunden.«
»Richtig, eines Knaben. Woher wissen Sie das alles nur?«
»Der Vater war Wanitoba.«
»Gewiß, und dennoch hatte das Kind ganz helle Haare, obgleich wir doch beide dunkel waren, der Vater sogar ein rothäutiger Indianer war. Und die Haut des Kindes war blütenweiß.«
»Dabei ist nichts Wunderbares, solche Naturspiele kommen oft genug vor. Sie übergaben das Kind einem Farmer, dem Sie als einmalige Abfindungssumme für Pflege und Erziehung, überhaupt für die Adoption, tausend Dollar zahlten.«
»Ich entsinne mich auf alles. Longworth hieß der Mann und sein Gut die Katzenfarm.«
»Es war nicht eben viel, was Sie für die Erziehung Ihres Kindes zahlten.«
»Wie man es nimmt. Meine Kasse ging stark auf die Neige, und für den kleinen Farmer bedeuteten die tausend Dollar ein Kapital, mit dem er sich eine ganze Herde Rinder kaufen wollte.«
»Sobald Sie nur das Bett verlassen konnten, reisten Sie weiter, und niemals wieder haben Sie sich um Ihr Kind gekümmert.«
»Gott – ich konnte es doch nicht mit mir herumschleppen – und schreiben – es konnte ja doch noch nicht lesen – und an den Farmer? – den hatte ich ja bezahlt – ich wußte doch auch nicht so genau seine Adresse – und eine Geldsendung hätte verloren gehen können – und ich hatte selbst um meine Existenz zu ringen – und – und – ich versichere Sie, daß ich mich auch gar nicht zur Mutter eigne.«
»Madam, diese Versicherung brauchen Sie mir nicht erst zu geben, das habe ich nämlich nun schon herausgehört.«
»Ich heiratete dann noch einmal, den Monsieur Lefort, aber ich habe mich gehütet, noch ein Kind zu bekommen. Ich hatte von dem einen gerade genug. Es war entsetzlich, ich schaudere, wenn ich daran zurückdenke.«
Nobody wippte mit der Fußspitze auf den Boden, daß es in dem engen Raume schallte. Es war seine einzige Aufwallung, seine sonore Stimme blieb ruhig und kühl.
»Dieses Kind lebt noch.«
»Wirklich?« erklang es im gleichmütigsten Tone.
Dann plötzlich erinnerte sie sich wieder, was ihr der geheimnisvolle Eunuche vorhin gesagt hatte, weswegen er doch hierhergekommen war.
»Ach, mein lieber, lieber Herr,« flehte sie, »befreien Sie mich doch aus diesem schrecklichen Serail, ich weiß ja, ich habe ein sehr, sehr liederliches Leben geführt, von nun an aber will ich immer...«
»Sparen Sie Ihre Gelübde! Nur ein einziges Versprechen muß ich Ihnen abnehmen.«
»Welches?«
»Daß Sie den jetzt fünfjährigen Wolf – so heißt der Knabe – adoptieren und ...«
»Aber selbstverständlich!! Ich will ihn ganz zu mir nehmen, ihm die liebevollste Mutter sein!«
»Nein, o nein! Lieber nicht! Des Knaben nehme ich mich fernerhin an. Sie sollen ihn nur als Ihren Universalerben einsetzen, mich als seinen Vormund anerkennen, und zwar bekommt er sofort die Hälfte der Zinsen eines eventuell vorhandenen Vermögens, über deren Verwendung ich zu bestimmen habe, über die andere Hälfte der Zinsen können Sie verfügen – doch nicht über das Kapital. Sie stellen sich sofort und freiwillig unter Kuratel. Und falls Wolf vor seiner Mündigkeit stirbt, bin ich der Universalerbe.«
»Ach, mein lieber Herr, Sie befinden sich wohl in einem großen Irrtum. Ich bin nicht reich.«
»Nein, bettelarm sind Sie. Sie hatten mit dem Monsieur Lefort eine sehr reiche Partie gemacht, aber dessen Geld haben Sie ja auch wieder schnellstens verpulvert. Sie kamen nach Konstantinopel, um sich aufs neue in gewinnbringende Abenteuer einzulassen. Ein Abenteuer haben Sie ja auch erlebt, nur kein gewinnbringendes – Sie wanderten ins Serail. Es könnte aber doch sein, daß Sie noch einmal zu Geld kommen. Sind Sie mit meinen Bedingungen einverstanden, unter denen ich Sie befreien werde?«
Er wiederholte alles noch einmal, klar und präzis.
»Wir machen hierüber keinen schriftlichen Kontrakt. Auch ein solcher kann umgangen und gebrochen werden. Für mich gilt allein das Wort. Geben Sie mir Ihren Handschlag.«
Sie gab ihm nicht nur die Hand, sondern jauchzend fiel sie ihm gleich um den Hals und küßte ihn ab.
Nobody konnte sich unmöglich noch das greisenhafte Weib mit dem schneeweißen Haar vorstellen. Ihre Hand, die nur gewaschen hatte, war warm und weich – nur etwas dürr, wie der ganze Körper. Aber nun diese Leidenschaftlichkeit! Sie saß bereits auf seinem Schoß und wollte ihn mit Küssen ersticken, schlang ihre Glieder um die seinen – Nobody mußte sich ihrer mit Gewalt erwehren.
»Lassen Sie uns besprechen, wie die Flucht zu ermöglichen ist.«
Das ernüchterte sie sofort.
»Wissen Sie das noch nicht?« erklang es kleinlaut.
»Ich habe verschiedene Pläne. Ich denke, Sie sind eine sehr gute Schauspielerin.«
»Ich bin sogar an mehreren Bühnen aufgetreten.«
»Desto besser. Dann wird es Ihnen ein leichtes sein, auch die Rolle einer Wahnsinnigen zu spielen.«
Ein Ruf der Enttäuschung erscholl.
»O, so stellen Sie sich das vor? Sie denken, weil ein Muschlin von den Türken hochgeehrt wird und er allerhand Freiheiten genießt, auch hier frei herumlaufen darf, daß er auf diese Weise einmal durchschlüpfen könnte? Herr, was meinen Sie wohl, wieviele Männer und Frauen das schon probiert, sich wahnsinnig gestellt haben! Noch keinem ist es gelungen, noch jedem ist der künstliche Wahnsinn mit der Peitsche ausgetrieben worden!«
»Wieso? Einer intelligenten, phantasievollen Person mit nur etwas Schauspielertalent ist es doch nicht allzu schwer, mit überzeugender Wahrheit den Wahnsinnigen zu spielen. Betreffs des Wahnsinns gibt es noch keine Diagnose, da wird auch jeder Spezialarzt getäuscht.«
»Aber nicht hier! Der Wahnsinnige kommt vor den Basch-Kiatibi, und der erkennt auf den ersten Blick, ob der Wahnsinn echt oder simuliert ist.«
»Das entscheidet der Astrolog, nicht der Arzt?«
»Ich sehe, daß Sie mit den türkischen Verhältnissen noch ganz unbekannt sind, so gut Sie auch Türkisch sprechen,« erklang es niedergeschlagen. »Und da wollen Sie mich von hier entführen? O, Herr, wo denken Sie hin! Wahnsinn ist bei den Türken keine Krankheit, sondern Zauberei, etwas Göttliches oder wie man es sonst nennen mag. Kurz, die Person, bei der sich Irrsinn bemerkbar macht, kommt zur Untersuchung vor den Sterndeuter, der zugleich selbst ein Zauberer ist, obgleich er es eigentlich gar nicht sein darf. Und unser Basch-Kiatibi hat dafür einen Blick! – Ich habe einen Fall erlebt. Ich hatte eine Freundin. Auch sie stellte sich, um Gelegenheit zur Flucht zu bekommen, wahnsinnig. Sie wollte am Verfolgungswahn leiden: und sie simulierte in einer Weise, daß ich selbst sie für irrsinnig hielt, obgleich sie mir doch ihr Vorhaben offenbart hatte. Sie wurde vor den Basch-Kiatibi gebracht. Nur einen einzigen Blick ins Auge: ›Simulantin! Die Peitsche!‹ Meine Freundin war ein furchtbar energischer Charakter; sie gab ihre Simulation nicht zu, als Wahnsinnige starb sie lachend unter der Peitsche. Sie wäre ja sowieso getötet worden, nicht minder qualvoll; die Simulation des Wahnsinns, der heilig gehalten wird, gilt als religiöses Verbrechen, der Frevler wird nicht nur, wie bei einem einfachen Fluchtversuch, und sei dieser auch noch so intrigant ausgeführt, wenn es auch über Leichen hinweggegangen war, geköpft, sondern er wird langsam zu Tode gefoltert. Der Padischah selbst machte damals den Basch-Kiatibi die heftigsten Vorwürfe, er habe eine heilige Muschlin totpeitschen lassen – aber der Sterndeuter hatte ganz recht, es war doch nur eine Simulation, ich wußte es, nur ich. Und solch einer Gefahr soll ich mich aussetzen? Es ist überhaupt eine Unmöglichkeit!«
»Wenn ich aber nun mit dem Basch-Kiatibi ein Wörtchen spreche?«
»Sie kennen ihn?«
»Er ist sogar mein guter Freund.«
Dem war natürlich nicht so. Nobody hatte den Astrologen im Serail noch gar nicht gesehen. Aber er hielt diese Angabe für das Beste, um bei der Frau jedes Bedenken zu zerstreuen, und diese begriff denn auch, daß dies etwas ganz anderes war, dann mußte mit Hilfe des Wahnsinns auch eine Flucht gelingen, zumal wenn auch hierbei der als Zauberer allmächtige Astrolog mit im Bunde war, und wiederum hatte Nobody genug damit zu tun, sich der zärtlichen Liebkosungen des schon jetzt rasend werdenden Weibes zu erwehren.
Sie selbst wurde daran erinnert, daß sie nicht mehr die frühere war, daß sie noch in die Waschküche des Serails gehörte.
»Ach, meine Füße, meine Füße!« jammerte sie plötzlich. »Ach, was für Schmerzen ich habe!«
»Und wenn Sie mit mir fliehen wollen, müssen Sie gar gesunde, schnelle Füße haben. Machen Sie von der Erlaubnis, die Ihnen der Kislar gab, ausgiebigen Gebrauch, begeben Sie sich in Ihre Kawansi und in die Behandlung des Arztes, legen Sie sich hin. Das ist nichts weiter als Rheumatismus in den Sohlen, erzeugt in der immer nassen Waschküche, da hilft allein trockene Wärme.«
Am liebsten hätte sie ja das Serail sofort verlassen. Nobody wußte ihr Geduld einzureden, sobald es so weit sei, würde er sich ihr nähern, in den nächsten Tagen, vielleicht morgen schon, nur müsse er erst noch einmal mit dem Basch-Kiatibi alles besprechen.
Dann ließ er den Blendstrahl seiner Laterne aufflammen und in ihr Gesicht fallen, mit einem Blick war sie hypnotisiert.
Vorsichtig lauschte er, ehe er die Tür öffnete und sie hinausbugsierte.
Wirklich, es war ein altes, dürres Weib mit weißen Haaren! Aber die Augen waren plötzlich ganz andere geworden, der blöde, starre Ausdruck fehlte, selbst jetzt in der Hypnose, die schwarzen Augen funkelten wie glühende Kohlen.
»Hm, diese Umwandlung dürfte auffallen,« dachte Nobody. »Na, es ist eben ein rheumatisches Fieber.«
Er führte sie wieder die kleine Seitentreppe hinab, lauschte, schob sie schnell hinaus, ein »Erwache!« – und sie glaubte nicht anders, als sie sei hier in irgendeiner Kammer der dritten Etage gewesen, wo sie das alles erlebt hatte, und die Erinnerung war eine vollkommene.
Sie setzte ihren Weg nach der Kawansi fort. Nobody hatte sie erst unsichtbar begleiten wollen, wurde aber durch den Anblick einer Person daran gehindert.
Durch einen Kreuzgang kam schnellen Schrittes ein Mann daher, welcher sich in diesem Serail, wo überall die alte, echte türkische Sitte gewahrt wurde, besonders auch in der Kleidung, seltsam genug ausnahm.
Er trug nämlich eine moderne Uniform nach europäischem Muster, und zwar, den breiten, roten Streifen an den Beinkleidern nach zu urteilen, die eines Generals, mit schwerem Schleppsäbel, auf der Brust einen funkelnden Ordensstern: der Fes war das einzige Orientalische an ihm – und dann vielleicht noch das brünette Gesicht, edel und kühn, zu der hohen, kräftigen Mannesgestalt passend.
»Sultan Abdul Medschid!« fuhr es durch Nobodys Kopf.
»Der Padischah!« flüsterte das Weib erschrocken und warf sich sofort auf die Knie nieder, mit der Stirn den Boden berührend, obgleich der Sultan gar nicht an ihr vorüberkam, er war gleich im nächsten Korridor verschwunden.
Und der unsichtbare Geist hinter ihm her! Vergebens hatte Nobody gestern und auch schon heute versucht, Eintritt in die Zimmerfluchten der ersten Etage zu gewinnen, welche der Sultan, wenn er sich hier aufhielt, mit seiner Mutter und mit einer oder mehreren Kadinen, die dann aus ihren Palästen hierherbefohlen wurden, bewohnte.
Es hatte nie glücken wollen, keine Tür war so weit geöffnet worden, daß Nobody mit hineinschlüpfen konnte, und er hätte doch so gern den Beherrscher aller Gläubigen, über dessen Charakter damals die sich widersprechendsten Gerüchte zirkulierten, einmal in seiner intimsten Häuslichkeit beobachtet.
Jetzt wissen wir, wer und was Sultan Abdul Medschid gewesen ist. Er war ein offener, ritterlicher Charakter, ein Soldat vom Scheitel bis zur Sohle, und dabei ein gar kluger Kopf, der sich alle praktischen Neuerungen zunutze machte. Wenn es nach ihm gegangen wäre, er hätte die ganze Türkei modernisiert, z. B. auch die Haremswirtschaft abgeschafft.
Trotzdem aber teilte er mit seinen Türken alle Schwächen. Bei einer Krankheit vertraute er sich lieber seinem Sterndeuter als einem Arzte an, das sagt schon genug. Er war ein kluger, aber kein aufgeklärter Kopf. Vor allen Dingen konnte er sich nie von dem bösen Einflüsse befreien, den seine Mutter auf ihn ausübte, eine Mohammedanerin vom strengsten ... nicht Glauben, sondern Aberglauben, obgleich sie ursprünglich eine Christin gewesen war.
Die stärkste Triebfeder zu Abduls Handlungen war immer das Bewußtsein, ein europäischer Fürst zu sein, daß von ihm in den Zeitungen aller Kulturvölker der Erde berichtet wurde, und er wollte sich in den Augen seiner fürstlichen Brüder, der Regenten Europas, wie in denen der ganzen Welt, welche Zeitungen lesen, nicht lächerlich machen. Sobald er aber einen ernstlichen Anlauf nahm, in neue Bahnen zu lenken – etwa wie der jetzige Vizekönig von Ägypten, der auch nur eine einzige Frau hat, keinen Harem unterhält, und das ist ja auch nicht etwa religiöse Vorschrift, sondern nur Tradition, der Prophet hat die Vielweiberei nur erlaubt, weil der alte Mohammed selbst sehr fürs schönere Geschlecht eingenommen war – da wußte ihm die Sultan-Walide stets einen Riegel vorzuschieben.
An der Organisation der Armee nach europäischem Muster konnte sie ja nichts mehr ändern, das war bereits von einem Vorgänger ein für allemal durchgeführt worden. Aber nur mit Mühe und Not hatte Sultan Abdul der Mutter, die erst recht im Serail unumschränkte Herrscherin ist, die Erlaubnis abgerungen, daß er auch hier die Uniform tragen durfte, nicht im türkischen Schlafrock mit den Babuschen herumlaufen mußte.
Hierdurch ist der Charakter des damaligen Beherrschers aller Gläubigen wohl zur Genüge gekennzeichnet. –
Wie konnte der Padischah wagen, so allein durch die Korridore zu schreiten, ohne die übliche Wache von Eunuchen? Auch wieder eine Neuerung von ihm. Oder da war wohl die Frau Mama nicht zu Hause.
Gleichgültig, Nobody blieb ihm auf den Fersen. Jetzt kam es darauf an, jetzt konnte sich ihm eine Gelegenheit bieten, mit in die intimsten Gemächer zu schlüpfen.
Die Korridore wurden belebter, links und rechts warfen sich Beamte, Diener und Weiber vor dem Vorübergehenden nieder und küßten den Boden; der Sultan erwiderte die Ehrfurchtsbezeugungen mit militärischem Gruße, hatte fast immer die Hand am Fes.
So eilte er leichtfüßig auch zwei Treppen hinab, wieder durch einen langen, teppichbelegten Gang, hier aber mit einem ganz anderen Teppich belegt, und dann trat zum ersten Male die Erscheinung auf, daß eine große Tür, welche den Korridor abschloß, von zwei bis an die Zähne bewaffneten Eunuchen bewacht wurde.
Auch hier war Nobody gestern und heute schon gewesen, es waren Männer und Weiber aus- und eingegangen, aber in der größeren Tür war noch eine kleine eingelassen, und immer war diese von einem Eunuchen nur so weit geöffnet worden, daß die betreffende Person eben durchschlüpfen, der unsichtbare Geist unmöglich mit hinein konnte, wollte er sich nicht als handgreiflicher Spuk verraten.
Seine Hoffnung erfüllte sich. Vor dem Padischah wurden beide Flügeltüren so weit aufgerissen, wie sie sich in den Angeln drehten, und als sie sich wieder schlossen, befand sich auch Nobody hinter ihnen, im Allerheiligsten des heiligen Serails.
Auch in die Schwelle dieser Tür war ein goldener Draht in Zickzacklinie eingelegt, ein ›Tfakassi‹.
Schwere Teppiche, Portieren, Polster und Kissen, Mangel an Licht und Luft, statt dessen dicke Wachskerzen, Moschus und Patschuli – das war der erste Eindruck, den Nobody empfing, den wurde er auch nicht wieder los. Eine nähere Beschreibung dieser kaiserlichen Wohnräume gibt er gar nicht in seinem Tagebuche.
Etwas anderes fesselte gleich seine Aufmerksamkeit. Eine kleine, in brennendes Rot gekleidete Gestalt trat dem Padischah entgegen. Es war ein Zwerg, sonst nicht mißgestaltet, nicht mehr jung, blind. Das erkannte man auf den ersten Blick, wenn man ihm ins Gesicht sah. Er war des Augenlichtes auf mechanische Weise beraubt worden, d. h., die Augen waren ihm ausgestochen, obgleich hiermit nicht gesagt werden soll, daß dies mit Absicht geschehen war, es konnte auch ein Unglück gewesen sein – so ungefähr wie die berühmte Hulda, die Heldin in Mojans niedergeschriebenem Roman, die sich beim Essen ›aus Versehen‹ mit einer zweizackigen Gabel beide Augen ausstach.
»Rott – allein!« sagte der Padischah.
Der Zwerg verbeugte sich mit auf der Brust verschränkten Armen, wandte sich um und ... und nun geschah etwas Seltsames! Der Blinde führte den Sehenden! Wirklich, so war es!
Hier gab es keine Türen mehr, die einzelnen Gemächer wurden durch langherabhängende, faltenschlagende Portieren voneinander getrennt, manchmal wurde die Wand überhaupt nur von einem Teppich gebildet, der als Tür einen Schlitz hatte, und nun lief der blinde Zwerg immer voraus und schlug vor dem Padischah die Portiere zurück, wartete, bis dieser hindurchgegangen war, überholte ihn wieder und öffnete ihm den nächsten Durchgang, und die Passagen hatten nicht etwa immer genau dieselbe Lage, auch hier war alles so winklig gebaut wie das ganze Haus, die größten Säle wechselten mit den kleinsten Boudoirs, dann kamen wieder scharfe Ecken, und nie brauchte die Hand des Zwerges erst zu tasten, wie ein Wiesel eilte er stets auf die nächste Portiere zu und hatte mit sicherem Griff eine Falte gefaßt.
Nobody begann zu zweifeln, daß der Kleine wirklich blind war. Er bekam das runzlige Gesicht noch einmal in nächster Nähe zu sehen, und er mußte seinen Zweifel wieder fallen lassen. Von Augapfel war gar nichts mehr vorhanden.
Dann gab es nur eine Erklärung: Der Zwerg war hier aufgewachsen, hatte ein ganzes Menschenalter hier verbracht, sich mit nichts anderem beschäftigt, als nur immer die Portieren auf- und zugemacht, und das besorgte er allein, er ganz allein, kein anderer Mensch faßte hier auch nur eine der Portieren an, und das Gedächtnis und das Gefühl des Blinden war so fein geworden, daß er jedesmal genau wußte, wie die Falten jeder einzelnen Portiere lagen, wenigstens dort, wo er sie zuletzt angefaßt hatte, mit sicherem Griffe faßte er dort wieder zu, und Nobody zweifelte nicht, daß der Blinde sofort gemerkt hätte, wenn eine der Portieren von einer fremden Hand zurückgeschlagen worden war.
Und Nobody sollte erfahren, daß sich die Sinne dieses roten Wiesels in noch etwas anderem konzentrierten, als nur im Gefühl der Hand.
Plötzlich, als der Padischah einen größeren Saal durchschritt, blieb der vor ihm herlaufende Zwerg stehen, wandte sich um und breitete beide Arme aus, als wolle er seinen Gebieter am Weitergehen hindern. Dessen Fuß stockte denn auch.
»Was willst du, Balu?«
»Du sagtest doch, du wärest allein,« krähte die dünne Stimme des Kleinen; besondere Titel bei der Anrede kennen die Türken für gewöhnlich nicht, während sie sich bei anderen Gelegenheiten in Titeln und Schmeicheleien erschöpfen.
»Das bin ich auch.«
»Nein, du bist nicht allein!«
»Gewiß bin ich allein!«
»Ich höre einen zweiten Schritt, es folgt dir jemand.«
Der Sultan schaute sich fragend um, und nicht etwa verwundert, sondern sein sonst so energisches, kühnes Gesicht drückte offenkundige Scheu, Furcht aus, was zu der Generalsuniform mit dem Schleppsäbel nun freilich gar nicht stehen wollte.
Europäische Möbel wie Tische und Stühle fehlten hier gänzlich, dagegen waren zahlreiche Wandspiegel vorhanden, und in endlosen Wiederholungen sah der gespenstergläubige Sultan nur sein eigenes Bild, wie er sich mit solch ängstlichem Gesicht so scheu umblickte, nach einem Geist, der ihm folgen könne.
Doch schnell war die Anwandlung von Furcht vorbei. Er lächelte ungekünstelt.
»Du irrst, Balu, ich bin allein! Dein Ohr hat sich diesmal getäuscht.«
Der Zwerg schüttelte nur den Kopf, dann nahm er seine Führung wieder auf.
Nobody war gewarnt! Auf den dicken Teppichen hörte er nicht einmal den Schritt des stark-auftretenden Sultans – der Blinde hatte doch etwas erlauscht! Aber ganz gewiß mußte er sich seiner Sache doch nicht gewesen sein, er glaubte der Versicherung des Sultans, allein zu sein, denn nach wie vor schlug er die Portieren so weit wie möglich zurück, mit einer mechanischen, gewohnheitsmäßigen Bewegung – zum Glück für Nobody! – was er wohl nicht getan hätte, wenn er an einen heimlichen Verfolger geglaubt.
Und Nobody begann jetzt auf den Zehenspitzen zu schleichen, sorgsam darauf achtend, daß sein Fuß auch nicht in zwei verschnürte Fransen des Teppichs geriet, weil da beim Zerreißen ein leichtes Geräusch entstehen konnte, auch hielt er mit einem Vorgänger jetzt immer gleichen Schritt.
»Würdest du auch so weit und höflich öffnen, Balu, wenn nun ein Geist hinter mir wäre?« fragte der Sultan scherzend, als der Zwerg wieder eine Portiere so weit zurückriß.
»Wie könnte ich, o, Padischah, ihn aufhalten?« lautete die Antwort. »Ein Geist geht durch einen Teppich ebenso leicht, wie durch meinen vorgestreckten Arm. Doch das Tfakassi vor der Tür schützt uns ja vor dem Besuch von Geistern.«
»Es gibt überhaupt gar keine Geister!« sagte der Sultan jetzt streng. »Allah duldet keine Spukgeister, und der Prophet verbietet uns, an solche zu glauben. Ich werde die törichte Zickzacklinie demnächst von der Schwelle entfernen lassen.«
Aber mit der Strenge schien es dem Sprecher ebensowenig Ernst zu sein, wie vorhin mit der scherzenden Frage, es klang alles gar zu erkünstelt, und schon wieder warf der General mit dem Schleppsäbel einen furchtsamen Blick hinter sich. Nein, der wischte das ›Geisterabführmittel‹ nicht von der Schwelle weg, das hätte doch auch die Frau Mama gar nicht geduldet! Alles desto besser für Nobody.
Der Sultan blieb vor einem Wandspiegel stehen, zupfte an seiner Uniform, brachte eine kleine Bürste zum Vorschein, nahm den Fes ab, bürstete sich Haupthaar und Bart. Sein selbstgefälliges Gesicht zeigte, daß er zufrieden war mit seiner äußeren Erscheinung.
Dann ging er, den steifen Fes wie einen Helm im Arm, schnellen, militärischen Schrittes auf die nächste Portiere zu, an welcher der blinde Zwerg, dessen Auge im Gehör lag, wartend stand, schon einen Zipfel in der Hand, den Teppich aber erst in dem Augenblick zurückschlagend, da der Sultan ihn mit lautlosem Schritte erreicht hatte.
Nobody hatte eine Ungeschicklichkeit begangen. Er hatte den sich im Spiegel musternden Sultan beobachtet, dann hatte dieser plötzlich einen so schnellen Schritt angeschlagen, Nobody war ihm nicht gleich auf den Fersen gefolgt – es war ihm diesmal nicht gelungen, mit jenem hineinzuschlüpfen.
Es hatte wenig zu sagen. Der Zwerg eilte gleich wieder zurück, verließ das Gemach. So konnte Nobody dicht an der Portiere stehen bleiben und lauschen. Eine Spalte, durch die er hätte spähen können, zeigte sich allerdings nirgends, aber er hatte vorhin, als die Portiere weit zurückgeschlagen wurde, einen genügenden Einblick in das kleine Boudoir erhalten.
Auf einigen übereinandergelegten Kissen hatte ein orientalisch gekleidetes Weib gesessen, eine Negerin – keine andere als Theodora, die Fadinah von Godscham!
So fand also doch schon eine Begegnung mit dem Sultan statt, selbstverständlich arrangiert von der Sultan-Walide! Denn es ist doch nicht so, daß der Sultan so nach Belieben unter den Frauen oder vielmehr Jungfrauen auswählen darf, die Walide tut das, sie führt dem Sohne die Weiber zu, er muß sich damit zufrieden geben, obgleich seine Wünsche berücksichtigt werden mögen. Keine Ausnahme aber soll es in der Nacht des Beiram-Festes geben, in welcher Allah besonders gnädig gestimmt ist, da führt die Mutter dem Sohne eine besonders ausgesuchte Jungfrau zu, und das ganze türkische Volk betet in dieser Nacht, daß es ein Sohn werden möchte, weil der in dieser Nacht Erzeugte ein echter Prinz wird, vielleicht dazu bestimmt, dereinst die Geschicke des Reiches zu lenken. Denn einen Kronprinzen gibt es in der Türkei nicht, der Sultan wählt unter den in der Beiram-Nacht erzeugten Söhnen seinen Nachfolger aus.
Man kann sich denken, was für Intrigen wegen dieser Thronfolge, da jeder Prinz eine andere Mutter hat, unter den Weibern vorkommen mögen, was für eine Rolle deshalb das Gift im Serail spielt!
Daß sich auch die Sultan-Walide oder sonst noch jemand in dem Boudoir befinde, glaubte Nobody nicht. Wie alles im Serail, ist auch solch eine erste Begegnung an strenge Zeremonien gebunden.
Jetzt klappte es drinnen. Offenbar hatte der Sultan die Hacken zusammengeschlagen.
»Pardon, Mademoiselle Prinzeß, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, aber ich mußte wirklich der Meldung nachkommen. Bitte, behalten Sie doch Platz – ich bitte sehr darum. Jetzt stehe ich wieder ganz zu Ihrer Verfügung. Ihre Erzählung interessiert mich außerordentlich. Bitte, fahren Sie fort!«
Also der Sultan war schon einmal hier gewesen, er hatte sich nur einmal entfernt, war geholt worden, bis zur dritten Etage hatte er sich hinaufbegeben.
Nobody hatte sich die erste Begegnung zwischen dem Sultan und einer Sklavin, welche die Walide für ihn bestimmt hatte, anders vorgestellt. Aber es war eben der Sultan Abdul Medschid, welcher durchaus modern sein wollte. Er wußte, daß er eine Prinzessin vor sich habe, wenn auch eine schwarze, er hatte bemerkt, daß sie Französisch sprach, also eine ganz andere Sklavin, als sonst im Serail üblich, und hiernach kam er ihr entgegen, als Kavalier, sogar der Negerin.
Auf Nobody machte das einen großen Eindruck, das gefiel ihm an dem Beherrscher aller Gläubigen. Ob die Frau Mama mit so etwas einverstanden, das war eine andere Frage.
Doch die Abessinierin fuhr in ihrer Erzählung nicht fort.
»Weshalb traten Sie die Reise eigentlich inkognito an?« kam ihr der Sultan zu Hilfe.
»Ich – ich – wollte England besuchen.«
»Und wollten als abessinische Prinzessin nicht erkannt sein, um nicht belästigt zu werden. Ich verstehe, ich verstehe. Ja, wir gekrönten Häupter haben manchmal große Unannehmlichkeiten. Hatten Prinzeß vor, ganz Europa zu besichtigen?«.
War das eine Unterhaltung, welche der ersten Begegnung zwischen einem Haremsweib und ihrem Gebieter entsprach, der nur ihr Fleisch und ihre Glieder gekauft hatte?
Die Abessinierin mußte das Unnatürliche der ganzen Sache herausfinden. Der Sultan wollte durch solch ein Gespräch ihre Gedanken nur von der Hauptsache ablenken.
»Majestät,« begann Theodora jetzt mit ganz anderer, mit gepreßter Stimme, »ich bitte Sie flehentlichst darum – geben Sie mir Klarheit über meine Zukunft!«
»O, Sie befinden sich doch in einer ganz angenehmen Lage. Apropos, als die Piraten das italienische Kauffahrteischiff, auf dem Sie sich als Passagier befanden, angriffen ...«
»Weichen Sie mir doch nicht aus!! Sie haben es schon immer und immer getan, jetzt kann ich es nicht mehr aushalten, ich muß wissen, woran ich bin! Wird man mir die Freiheit wiedergeben?«
»Sie werden Ihre Freiheit hier gar nicht vermissen ...«
»Majestät, nun zum letzten Male – wenn Sie ein Mann sind, so geben Sie mir Antwort: werde ich aus dem Serail wieder entlassen?«
Nobody hatte langsam, ganz langsam den Vorhang etwas zurückgeschlagen. Er sah den Sultan stehen, das Haupt tief gesenkt, mit der Säbelscheide Figuren auf den Teppich malend, nervös an seinem lang herabhängenden Schnurrbart kauend.
Endlich schlug er die Augen auf, und wahrhaft schmerzlich erklang es:
»O, Prinzeß, warum haben Sie nicht dem ersten Sklavenhändler, nicht gleich den arabischen Piraten gesagt, wer Sie sind! Dies alles wäre Ihnen erspart geblieben, Sie wären gar nicht nach Konstantinopel gekommen, die Piraten hätten Sie sofort, in der Hoffnung auf ein enormes Lösegeld ...«
Wiederum wurde er unterbrochen. Theodora, welche Nobody durch die schmale Spalte nicht sehen konnte, wollte kein ›Wenn‹ und ›Aber‹ hören, war auch nicht mit solch einem schmerzlichen Beileid zufrieden.
»Majestät, wenn Sie ein Fürst sind, der würdig ist, die schwere Waffe an der Seite zu tragen, so antworten Sie mir mit einem offenen Ja oder Nein – wird man mich aus dem Serail als freier Mensch wieder entlassen?«
Da raffte sich Sultan Abdul Medschid aus seiner niedergeschlagenen Stellung empor, sein offener, männlicher Charakter siegte über die Verlegenheit.
»Nein!!«
»Gut! – Gut!!« kam es dann abgerissen hervor. »Ich – ich – danke Ihnen – für Ihre Offenheit.«
»Ja, wenn Sie aus einem Fürstenhause stammten ...«
»Ich bin eine abessinische Fürstin, eine selbständige, nur dem Negus tributpflichtig.«
»Eine europäische meine ich.«
»So zählen Sie das abessinische Kaiserreich nicht für voll?«
»Ganz offen: nein. Das sind politische Ansichten, für welche ich nicht verant ...«
»Gut! Gut!!«
»Oder wenn Sie auch nur die Tochter irgendeines europäischen oder amerikanischen Untertanen wären, der Sie reklamierte! So aber ...«
»Majestät, lassen Sie Ihr Wenn und Ihr Aber! Jetzt weiß ich, woran ich bin – gut!«
»Oder wenn Sie die Braut eines Europäers wären – wenn nur irgend jemand in Europa oder überhaupt in einem zivilisierten Staate für Ihr Verschwinden ein besonderes Interesse hätte ...«
Ein eigentümlicher Laut unterbrach ihn. Theodora hatte ihn ausgestoßen.
»Dann würde mir sofort die Freiheit gegeben?«
»Nicht sofort – der Betreffende müßte Sie natürlich erst reklamieren.«
»Nun denn: ich bin verlobt!«
Auf den Sultan machte dieses Geständnis sehr wenig Eindruck.
»Mit wem?«
»Mit einem Edelmann, mit einem zukünftigen Fürsten.«
»Mit einem Abessinier?«
»Mit einem Engländer.«
Jetzt machte der Sultan doch ein sehr verblüfftes Gesicht, dann malte sich etwas wie Hoffnungsfreudigkeit darin, zuletzt wurde es ein ungläubiges.
Nicht minder überrascht war Nobody. Wie, diese Abessinierin wollte mit einem englischen Fürsten verlobt sein? Dann war doch jedenfalls Politik dabei, und da hätte Nobody doch auch etwas davon wissen müssen.
»Was für ein englischer Fürst ist das?«
»Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent,« lautete die mit Stolz gegebene Antwort.
Oho!! Es läßt sich denken, wie Nobody bei diesen Worten aufhorchte. Was, er sollte mit der Abessinierin verlobt sein? Davon wußte er ja noch gar nichts! Und zu einer Verlobung gehören doch gewöhnlich zwei.
»Ich kenne diesen Sir Willcox nicht. In England gibt es gar zu viele Barone. Und ein zukünftiger Fürst soll er sein?«
»Der zukünftige Herzog von Kent.«
»Mir ebenfalls unbekannt. Nun, wenn Sie die Braut eines so hochstehenden Edelmannes sind, dann ist ja die größte Hoffnung vorhanden, daß Sie auch aus dem Serail wieder herauskommen. Das hätten Sie übrigens gleich sagen sollen, dann wurden Sie auch ganz anders behandelt. Nur ist mir vieles noch nicht klar. Sie müssen reklamiert werden. Ist denn dem Baron bekannt, daß Sie sich auf der Reise nach England befanden? Mir scheint dem nämlich nicht so.«
»Nein, Sir Alfred Willcox weiß auch nichts davon.«
»Sie wollten Ihren Bräutigam mit Ihrer Ankunft überraschen?«
»Ja.«
»Mademoiselle Prinzeß, da haben Sie wiederum einen großen Fehler begangen. Gesetzt den Fall, dieser englische Baron erfährt jetzt, daß Sie ...«
»Sparen Sie Ihre Worte,« wurde der Sultan mit stolzer Stimme unterbrochen. »Ist Ihnen vielleicht der Name Nobody bekannt?«
»Ja, von diesem berühmten Detektiven habe ich schon genug gelesen und gehört. Ich hatte erst vor einigen Tagen die Absicht, ihn hierherkommen zu lassen, ich hätte einen Auftrag für ihn.«
»Hahahaha,« lachte es verächtlich, und der Sultan machte ein etwas dummes Gesicht.
»Was belieben Mademoiselle Prinzeß deshalb zu lachen?«
»Sie wollten Nobody hierherkommen lassen?«
»Ja, in einer ganz besonderen Angelegenheit. Weshalb nicht? Er ist doch ein Privatdetektiv. Und ich hätte ihn sehr gut bezahlt.«
»Hahahaha!«
Der moderne Sultan verlor seine angeborene Höflichkeit Damen gegenüber noch nicht.
»Aber ich bitte Sie, Mademoiselle Prinzeß, was finden Sie dabei so lächerlich?«
»Haben Sie schon von einem Champion der englischen Königin gehört?«
»Daß die englische Majestät stets einen Champion besitzt, der bei Gelegenheit ihre Ehre verteidigen muß, weiß ich. Wir haben hier eine ganz ähnliche Einrichtung – einen Suleidan, der sich in der Schlacht stets neben dem Sultan aufhält, um ihn zu beschützen.«
»Nun denn: dieser Sir Alfred Willcox ist der Champion der englischen Königin, und er ist zugleich Privatdetektiv, welcher als solcher den Namen Nobody führt – und ich – ich – bin – dieses Nobodys – Sabana!!!«
Mit möglichstem Stolze, triumphierend hatte sie es gerufen.
Aha, jetzt wußte Nobody, mit welchem Rechte sie ihn ihren Bräutigam nannte. Da war sie aber nun freilich mit ihrem Rechte im Irrtum.
Und der Sultan machte allerdings ein höchst überraschtes Gesicht.
»Wie? Sie sind – Sie sind ...«
»Dieser berühmte Detektiv ist mein Saban!«
»Ihr Bräutigam?«
»Noch mehr, mein Saban, sage ich, und ich bin seine Sabana.«
»Was ist das, Saban?«
»Mein – mein Gemahl. Ich bin Fürstin, durch eine Heirat mit mir kann er aber noch nicht abessinischer Fürst werden.«
»Also Prinzgemahl.«
»Ja, Prinzgemahl.«
»Und Sie sind mit diesem Nobody schon verheiratet? Ich denke, nur verlobt?«
»Noch nicht verheiratet und mehr als verlobt. Es ist dies in meiner Heimat ein besonderes Verhältnis. Ein gegenseitiges Versprechen, welches unter keinen Umständen rückgängig gemacht werden kann. Nur der Tod kann dazwischentreten. Saban und Sabana sind schon Frau und Mann, ohne direkt verheiratet zu sein.«
Der Sultan brauchte nicht weiter zu fragen. Genau dasselbe Verhältnis gibt es in seinem Lande, in der Türkei – und ja fast auch in England, wo ein Heiratsversprechen etwas ganz anderes ist als in Deutschland und anderen Ländern, wo der Bruch eines Heiratsversprechens aufs schwerste bestraft wird, einen Menschen pekuniär gleich ruinieren kann.
»Ja, da bekomme ich etwas ganz Erstaunliches zu hören,« sagte Abdul Medschid, und Nobody dachte dasselbe. »Sie kennen also diesen berühmten Detektiv?«
»Ob ich ihn kenne? Wenn er mein Saban ist?«
»Wo haben Sie ihn kennen gelernt?«
»In Abessinien.«
»Er suchte Sie dort auf?«
»Er kam in einem Aufträge des Negus nach Abessinien.«
»In was für einem Aufträge?«
»Das, Majestät, muß ein Geheimnis bleiben. Kurz – wir verlobten uns.«
Nu nee, dachte Nobody.
»Ja, da ist allerdings Hoffnung vorhanden, daß Sie ohne Umstände das Serail wieder verlassen können, besonders wenn dieser Detektiv auch einen so hohen Rang einnimmt wie den eines Champions der englischen Königin. Sie müssen ihm schreiben ...«
»Hoffnung vorhanden?« unterbrach ihn das Weib spottend. »Schreiben soll ich ihm? Was soll ich ihm denn schreiben?«
»Nun, wie Sie auf der Reise in die Hände von Piraten gefallen sind, Ihr ganzes Schicksal, wie man Sie aus Versehen in das Serail gebracht hat, was aber nur Ihre eigene Schuld ist, weil Sie sich nicht rechtzeitig zu erkennen gaben.«
»Das alles soll ich ihm schreiben? Glauben Sie denn, das alles weiß mein Saban nicht bereits?«
»Woher weiß er es?«
»Weil er allwissend ist.«
Das hatte sie so ganz einfach herausgesagt, als sei das doch etwas ganz Bekanntes, ganz Selbstverständliches. Jetzt konnte aber auch der Sultan mit Recht ein spöttisches Gesicht machen.
»Allwissend ist er?«
»Gewiß.«
Da legte der Papst der Mohammedaner sein spöttisches Gesicht in ernste Falten.
»Allwissend ist nur Allah,« sagte er feierlich.
»... und Nobody,« ergänzte das schwarze Weib prompt.
»Freveln Sie nicht. Wenn Sie auch eine Christin sind, so glauben Sie doch an denselben Allah, den Sie nur anders nennen. Nur dieser eine Gott ist allwissend.«
»... und Nobody, mein Saban.«
»Kein Mensch ist allwissend.«
»Nobody ist auch kein Mensch.«
»Was sonst?«
»Nobody ist ein Geist.«
»Mademoiselle Prinzeß,« erklärte der mohammedanische Papst in belehrendem Tone, »Allah – oder nennen wir ihn mit Ihrem Namen Gott – Gott hat zwar Geister geschaffen, aber er duldet nicht, daß sie die Menschen belästigen, sich auch nur sichtbar machen, und so können wir sagen, daß Geister für uns überhaupt gar nicht existieren.«
Der Sultan sprach, wie sein Glaube es ihm vorschrieb, nicht nach seiner Überzeugung.
»Wohl ist Nobody ein Mensch aus Fleisch und Blut, aber er versteht, sich in einen Geist zu verwandeln, sich nämlich unsichtbar zu machen.«
»Das möchte ich einmal sehen, das muß er mir vormachen,« scherzte der Sultan.
Jetzt aber wurde die Negerin durch den Scherz nur gereizt. Es hatte auch schon immer in ihrer Stimme gelegen.
»Glauben Sie denn etwa, Nobody, mein Saban, wird warten, bis es Ihnen gefällt, mich freizulassen?!« stieß sie aufgeregt und höhnisch hervor. »Diese Eunuchen und ihre jämmerlichen Soldaten wären gerade die rechten, mich hier festzuhalten, hahahaha!«
Jetzt wurde aber auch der Stolz des Sultans verletzt.
»Vorhin sprachen Sie ganz anders, da konnten Sie recht schön bitten, daß ich Sie freiließe.«
»Bitten? Ich bitten?! Ich hätte um meine Freiheit gebeten?! Sie haben wohl schon am frühen Morgen das Gebot des sogenannten Propheten übertreten und zu viel Wein getrunken?«
»Mäßigen Sie sich Prinzeß, Sie sprechen mit dem Sultan des türkischen Reiches!«
»Und Sie sprechen mit der Fadinah von Godscham, und die ist nicht so verschuldet wie Eine Majestät! Ich habe Sie vorhin nur gebeten, mir Klarheit über meine Lage zu geben, und das ist etwas ganz anderes, ich wollte auch nur Ihren Charakter prüfen.«
Der Sultan hatte sich sehr im Zaume, und er steckte seinen Pflock, den er schon gezogen, weit, sehr weit zurück.
»Und ich hoffe, daß Sie mit meinem Charakter zufrieden sind, Mademoiselle Prinzeß,« lächelte er.
»Ja, ich hatte mir den türkischen Sultan in seinem Harem anders vorgestellt,« lenkte auch sie wieder ein.
»Ich habe Ihnen auch die Untersuchung durch den Hekim erspart.«
»Ich weiß es, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Doch es wäre auch gar nicht so weit gekommen. Aber nun wieder zur Hauptsache: wollen Sie mich gutwillig aus dem Serail lassen?«
»Prinzeß, Sie ziehen jetzt ein ganz anderes Register, welches mir sehr wenig ...«
»Wollen Sie mir das Tor des Serails öffnen?«
»So ohne weiteres geht das nicht. Da muß ich erst – erst – da müßten erst einige Gesetze der Serailordnung geändert ...«
»Da müßten Sie erst Ihre Mutter um Erlaubnis bitten, und die Walide würde Sie natürlich ob solch eines ihr wahnsinnig vorkommenden Wunsches auslachen. O, ich weiß recht wohl, wie es hier zugeht, und wer in der Türkei das eigentliche Regiment führt. Ich aber sage Ihnen: Ich brauche Ihre Erlaubnis so wenig wie die Ihrer Mutter, denn Nobody wird kommen als mein Saban, um seine Sabana zu holen – über Sie aber wird er kommen wie ein Löwe und eine furchtbare Abrechnung halten, daß man mich hier auch nur einen einzigen Tag gefangengehalten hat!«
Bei der Erwähnung seines Abhängigkeitsverhältnisses zur Walide war der Sultan dunkelrot geworden. Doch er beherrschte sich noch immer, er legte nur in seine Stimme etwas Spott.
»So wird Ihr Saban Sie also aus dem Serail entführen?«
»Sicher.«
»Er soll es versuchen. Ich bin gespannt darauf, wie er das fertigbringen will.«
»Sie zweifeln daran, daß er es fertig bringen wird? O, wenn Sie diesen Nobody so kennten, wie ich! Sie glauben, Ihre eisernen Tore könnten ihn abhalten, hier einzudringen, oder gar etwa Ihre Soldaten mit Spießen und alten Luntenflinten, die in meiner Heimat schon längst ins alte Eisen geworfen sind? Ich habe gesehen, wie dieser Nobody, mein Saban, eine Eisenstange, so dick wie mein Arm, wie ein Schilfrohr gebogen hat, und ich habe gesehen, wie er einen Felsblock, viele, viele hundert Zentner schwer, meilenweit getragen hat, und ich habe gesehen, wie er fünfzig Feinden mit einem einzigen Schwertstreiche die Köpfe abgehauen hat!«
Die renommiert ja nicht schlecht mit mir, sagte sich Nobody, habe noch gar nicht gewußt, daß ich solch ein fürchterlicher Held bin. Doch weil du so meine Partei ergreifst, werde auch ich dich nicht im Stiche lassen – obgleich ich noch nicht dein Saban bin!
Der Sultan lächelte amüsiert.
»Daß dieser Detektiv ein außerordentlicher Mensch ist, glaube ich, ich habe schon zuviel von einwandsfreien Zeugen von ihm erzählen hören. Aber – wenn er es fertigbringt, hier in das Serail zu dringen, dann – dann ...«
»Dann?«
»Sollen Sie sofort frei sein.«
»Auf Ihr Wort, Majestät?«
»Auf mein kaiserliches Wort.«
»Wenn es aber nun die Sultan-Walide ...«
»Prinzeß, beleidigen Sie mich nicht! Ich komme Ihnen immer wieder entgegen! Beim Barte des Propheten!!«
Wenn Nobody jetzt hervorgetreten wäre, in sichtbarer Gestalt, so wäre die Abessinierin sofort frei gewesen. Diesen Schwur mußte der Moslem halten; wie er seinen Leichtsinn der gestrengen Frau Mama gegenüber rechtfertigte, das war seine Sache. Natürlich dachte Nobody nicht daran, sein absolutes Inkognito zu lüften, dieser Ausgang wäre dem abenteuerlichen Manne überhaupt viel zu nüchtern gewesen.
»So bin ich schon frei!« rief die Negerin triumphierend.
»Wieso?«
»Nobody befindet sich bereits im Serail.«
O weh! Diese Ausplauderei hätte Nobody der Fadinah nicht zugetraut! Doch schließlich schadete es nichts. Der spöttisch lächelnde Sultan glaubte es nicht und sollte sich auch nicht überzeugen lassen.
»Wo denn da?«
»Vielleicht im Augenblick hier in diesem Gemach.«
»Ach so, wohl in unsichtbarer Gestalt?«
»Gewiß, Nobody versteht sich unsichtbar zu machen, er ist ja eben ein Niemand, der überall und nirgendwo ist.«
Noch spöttisch lächelnd, blickte sich der Sultan in dem Raume um. Vielleicht lag in den Augen ein klein wenig Scheu. Doch schnell ging das vorbei. Nein, der Sultan mochte an Geister glauben, aber nicht daran, daß sich ein Mensch unsichtbar machen könne. Dazu war er denn doch zu ›aufgeklärt‹.
»Ich sehe ihn nicht.«
»Eben weil er in unsichtbarer Gestalt hier ist.«
»Haben Sie ihn denn gesehen?«
»Nein.«
»Woher wissen Sie dann, daß er sich hier befindet?«
»Er hat mir zugeflüstert, daß er mich befreien würde«.«
»Sollte das nicht eine innere Stimme, eine Stimme der Hoffnung gewesen sein?«
»Nobody befindet sich im Serail, er wird mich befreien und Rache für die seiner Sabana widerfahrenen Schmach nehmen!!« rief das Weib im Tone der tiefsten Überzeugung.
Irgendwo erscholl ein leises Händeklatschen. Der Sultan klappte wieder die Hacken zusammen, verbeugte sich mit militärischer Kürze, aber immer noch als Kavalier, auch der Negerin gegenüber.
»Mademoiselle Prinzeß, ich muß Sie leider verlassen. Es war mir sehr angenehm. Und wenn sich Nobody wirklich hier befindet, und Sie können sich mit ihm verständigen, so sagen Sie ihm, daß er sich sichtbar machen soll, und ich werde ihn als meinen Gast begrüßen, mit königlichen Ehren – und Sie sind natürlich frei – und dasselbe gilt, wenn es ihm auch nur gelingt, in sichtbarer Gestalt in das Serail zu dringen – und er hat keinen Grund, Rache zu nehmen, denn Sie werden hier behandelt werden, wie es sich für eine Fürstin geziemt. Auf Wiedersehen, Mademoiselle Prinzeß.«
Mit einer schnellen Wendung schritt der Sultan der Portiere zu, und Nobody war mit einem lautlosen Schritt schnell seitwärts getreten. Seine Entdeckung hatte an einem Haar gehangen.
Während des Lauschens hatte er die Vorsicht nicht außer acht gelassen, immer in einen Wandspiegel zu spähen, falls sich ihm jemand von hinten nähere, was ja auf dem weichen Teppiche gar nicht zu hören gewesen wäre. Und diese Vorsicht war sein Glück. Plötzlich sah er im Spiegel den roten Zwerg wie ein Wiesel angeschossen kommen, um vor seinem Gebieter die Portieren zurückzuschlagen, und hätte Nobody dies nicht rechtzeitig bemerkt, so hätten ihn die Hände des Kleinen berührt.
Gern hätte Nobody ja gewußt, wohin sich jetzt die Abessinierin begab, um deren ständigen Aufenthalt zu erfahren, doch mehr über das Familienleben des Sultans zu wissen, war ihm augenblicklich wichtiger, so folgte er diesem, der wieder von dem Zwerg durch die Portieren bugsiert wurde.
Auch ein Korridor wurde passiert; die bisher dunklen Portieren verwandelten sich in hellgelbe, mit den Teppichen, Kissen und allem übereinstimmend, jetzt klatschte der Sultan in die Hände, der Zwerg blieb zurück, Nobody war mit hindurchgeschlüpft, und er sah in dem Gemach eine Frau, welche nach der Ehrfurchtsbezeugung des Padischahs keine andere sein konnte, als die Sultan-Walide.
Die Mutter Abdul Medschids war, wie schon früher erwähnt, eine Österreicherin. Die Wahrheit läßt sich nicht mehr kontrollieren, aber es wird behauptet, daß sie in Triest einst Kellnerin in einer Matrosenspelunke gemeinster Art gewesen war. Sicher ist, daß auch sie während einer Seereise von türkischen Piraten gefangen und in das Serail verkauft wurde, nicht als Odaliske, unter denen für den Sultan die Kadinen gewählt werden, sondern für wenige Beutel als gewöhnliche Arbeitssklavin.
Der damalige Sultan, Mahmud Ali, erblickte sie einmal, er setzte bei der Walide durch, daß Arsinoe, welchen Namen die weiße Sklavin erhalten hatte, unter die Odalisken aufgenommen wurde, die einstige Kellnerin wurde sein Lieblingsweib, die mächtigste Person im ganzen türkischen Reiche, die eigentliche Herrscherin, welche damals auch einen großen Teil des übrigen Europas regierte, nicht minder Afrikas, die Rußland Gesetze vorschreiben konnte, um deren Gunst auch von der Türkei unabhängige Könige und Kaiser buhlten.
Natürlich mußte die einstige Kellnerin doch ein wunderbar schönes Weib gewesen sein, daß der junge Sultan die Sklavin, die er zufällig einmal erblickte, zu seiner Favoritin gemacht hatte!
Nobody staunte! Sie war noch gar nicht so alt! Mitte der vierzig und fünfzig, noch im Vollbesitze all ihrer Kräfte – aber ein geradezu widerliches Weib, das niemals auch nur eine Spur von Schönheit gehabt haben konnte, vielmehr stets so abstoßend häßlich gewesen sein mußte.
Aber etwas anderes erkannte Nobody sofort. Dieses Weib besaß Geist, dieses Weib war zur Intrige geschaffen, dieses Weib setzte durch, was es wollte, diese bösen Augen mußten auf jeden Menschen, der nicht gegen solch einen Einfluß gefeit war, einen dämonischen Zauber ausüben.
Diese einstige Kellnerin und elende Proletarierin hatte alles, was sie erreichte, nicht körperlichen Vorzügen zu verdanken, sondern nur ihrer inneren Kraft – wenn nicht ihrem Geiste, so doch ihrer Schlauheit, ihrer Ränkesucht, die niemals zu Fall kam, ihrer Energie – und das war etwas, was Nobody stets bewunderte, selbst wenn es zum Bösen ausschlug.
Noch etwas anderes imponierte ihm. Daß sie auf sich hielt, zeigte ihre wunderbar gepflegte Hand, desgleichen der Fuß, von dem sie beim Sitzen den Pantoffel verloren hatte. Dieser Fuß war groß, sogar plump, aber die Nägel daran gefeilt und poliert, und ebenso war sie sorgsam frisiert.
Dennoch gab sie gar nichts auf ihr Äußeres. Kein einziger Schmuck, keine Silberspange, und ihr dunkles Gewand war geradezu von ausgesucht grobem Stoffe. Und diese Versagung alles Schmuckes und allen sonstigen Luxus' war bei der Walide nicht etwa Vorschrift. Die vorige Sultanmutter war ein wandelnder Juwelierladen gewesen, ihre Kleider hatten besonders für sie in Indien gewebt werden müssen. Ebensowenig konnte von Geiz die Rede sein. Nobody war schon in Haremsgemächern gewesen und hatte die mit Juwelen überladenen Odalisken gesehen, und auch sonst ging ihnen nichts ab, allein die Küche forderte täglich enorme Summen.
Nein, dieses Weib wußte, daß es häßlich war, es wollte gerade durch Einfachheit abstechen und imponieren.
»Nun?«
»Ich habe sie gesehen und gesprochen.«
»Wie gefällt sie dir?«
»Gar nicht.«
»Weshalb nicht?«
»Du weißt, ich habe gegen Afrikanerinnen stets einen Widerwillen besessen.«
»Davon ist mir nichts bekannt.«
»Weil du mir noch keine Afrikanerin zugeführt hast!«
»So werde ich mit dieser den Anfang machen. In der nächsten Beiramnacht werde ich sie dir zuführen, hoffentlich wird es ein Sohn, und wenn nicht diesmal, so das nächstemal, und dieser Sohn soll der zukünftige Beherrscher aller Gläubigen sein.«
Sie hätte noch ein ›Basta‹ hinzusetzen können. Hiermit war die Sache für sie erledigt, der Sultan hatte keinen eigenen Willen.
Wohl mochte dieser sonst ein gehorsamer Sohn sein, mehr ein Waschlappen – diesmal setzte er Widerstand entgegen, doch erst, nachdem er sich erholt hatte; denn anfangs war er wie niedergeschmettert gewesen.
»Mutter, es ist eine Schwarze!«
»Was tut das?«
»Soll der Sultan als Lieblingsweib eine Negerin haben?«
»Weshalb nicht?«
»Die Neger und Negerinnen werden in Europa maßlos verachtet.«
»Du hast wohl von Amerika gehört. In Europa ist dies gar nicht so der Fall.«
»Dann würde der zukünftige Sultan der Türkei ein – ein –- Mulatte.«
»Wir sind Türken, welche selbst afrikanisches Blut in den Adern haben. Wir kennen keine Abneigung gegen die schwarze Rasse. Und du kennst meine Ansicht. Unsere Tage in Europa sind gezählt, auch in Kleinasien werden wir uns dereinst nicht halten können, Afrika wird unsere neue Heimat werden. Und so will ich, die Walide Arsinoe, damit beginnen, das Sultangeschlecht, alle Moslems mit afrikanischem Blute aufzufrischen, und gerade diese Abessinierin ist wie geschaffen dazu, sie ist gesund, stark und schön, und auch damit, daß sie die Fürstin von Godscham ist, rechne ich schon, das wird eine politische Verbindung, die uns reichen Segen bringen soll. – Mein lieber Sohn, du wirst deiner klugen Mutter folgen.«
Ja, sie war klug! Kein anderer Türke hätte etwas davon wissen wollen, daß seine Tage in Europa gezählt seien. Sie sprach es offen aus. Und irrte sie sich, so gereichte ihr das nur zur Ehre. Daß die christenfeindlichen Türken nicht schon längst nach Asien hinübergejagt worden sind, daran ist ja nur die fluchwürdige Schwachheit der europäischen Mächte schuld, erzeugt durch Uneinigkeit, Mißgunst und Eifersucht. Aber die unbestechliche Weltgeschichte wird uns deshalb dereinst eine Zensur geben, die wir nicht in Ehren der Nachwelt zur Unterschrift vorlegen können! Wie groß stehen in diesem Falle gegen uns Europäer die Amerikaner da: Amerika den Amerikanern!
Die Walide hatte wohl bestimmt, aber niemals unfreundlich gesprochen. Das zeigten besonders ihre letzten Worte, in denen wirklich mütterliche Zärtlichkeit gelegen hatte.
Und der Sohn war klug genug, ihr jetzt nicht zu widersprechen. Er mochte schon nachgrübeln, wie er den Willen der Mutter umgehen könne – er fürchtete sich bereits wieder davor, sich mit der pechschwarzen Lieblingsfrau in den Augen der anderen europäischen Fürsten und ganz Europas lächerlich zu machen – aber er behielt seine Pläne für sich, nicht wissend, daß es wohl das Beste für ihn war, wenn er dem Willen seiner klugen Mutter bedingungslos gehorchte.
»Nun etwas anderes,« nahm sie wieder das Wort. »Wozu hast du die Arbeiter hinauf ins Magazin geschickt?«
Er wurde nicht nur verlegen, sondern schrak gleich zusammen.
»Woher weißt du ...?«
»Ich weiß es. Sie sollen die vermauerte Tür der Bibliothek aufbrechen. Ist es nicht so?«
»Ja,« gestand der Sultan jetzt offen, und Nobody spitzte die Ohren. Es konnte sich nur um das Spukzimmer handeln.
»Wozu?«
»Seit ich weiß, daß es eine Urkunden-Bibliothek ist und ich den Plan dazu gefunden habe, das Verzeichnis, läßt es mir keine Ruhe mehr.«
Der Sultan zog aus der Brusttasche des Waffenrocks zwei vergilbte Pergamente hervor, faltete sie auseinander, hielt sie vergleichend zusammen. Auch Nobody blickte hinein. In der einen Zeichnung erkannte er sofort einen Plan der vierten Etage, die vielen langen Kammern oder sehr langgestreckten Gemächer ließen das erkennen, und der sich schnell orientierende Nobody las, daß die Kammer, in die er sich manchmal zurückzog, das Vermerk ›Kostümsammlung‹ trug, das danebenliegende, jetzt vermauerte Gemach als ›Bibliothek‹ verzeichnet war.
Also auch dem Sultan war bisher noch gar nicht bekannt gewesen, daß das Spukzimmer eine Bibliothek enthielt.
Auch das zweite Pergament war ein Plan, und dennoch zugleich ein Katalog über die in dieser Bibliothek enthaltenen Manuskriptrollen, nämlich ein nach orientalischer Weise angelegtes Verzeichnis.
Die Zeichnung gab in Linien das ganze Bibliothekzimmer wieder, besonders deutlich die Regale, alles wie aus der Vogelperspektive, die Pergamentrollen waren durch Striche angedeutet, jeder Strich hatte eine Nummer, welche dann darunter den Titel der betreffenden Rolle angab. Praktisch ist ein solcher, uns ganz unbekannter Katalog auf alle Fälle, man weiß zu jeder Zeit, wo sich das betreffende Werk auch befinden muß.
»Wehe, daß du diese beiden Pergamente in der alten Truhe finden mußtest!«
»Weshalb bedauerst du es, Mutter?«
»Du hättest niemals gewußt, daß sich hinter der vermauerten Tür die verschwundenen Manuskripte befinden.«
»Ein Glück vielmehr, daß ich es jetzt weiß und auch dieses Verzeichnis gefunden habe! Hier Nummer 177 – es ist die Chronik, aus vier langen Rollen bestehend, welche alle Heldentaten meiner Ahnen erzählt, eigenhändig geführt von Osman dem Großen an, Ertoghruls Sohn, bis zu Achmed Köprili! Und ich sollte diese Chronik unseres Heldenvolkes hinter einer Mauer verschimmeln lassen? Nein, weiter will ich sie führen!«
Mit plötzlich hervorbrechender Begeisterung hatte es Abdul Medschid gerufen, und mit zärtlicher Bewunderung betrachteten ihn die sonst so böse blickenden Augen der Mutter. Diese Bewunderung galt noch etwas anderem als nur dieser patriotischen Gesinnung des Sohnes.
»Und du willst diese Chronik jetzt holen?«
»Gewiß, deshalb lasse ich ja jetzt schon die vermauerte Tür aufbrechen.«
»Es ist das Sterbezimmer deines Ahnen, des Sultans Achmed Köprili.«
»Ja, und ohne Zweifel hat ihn der Schlag getroffen, als er grade beim Niederschreiben seiner Erinnerungen war.«
»Betrachtest du es nicht als eine Entweihung, das Zimmer, welches der Nachfolger Achmeds aus gutem Grunde vermauern ließ, zu erbrechen, um daraus Manuskripte zu entnehmen?«
»Im Gegenteil, meine Ahnen im Paradies werden sich freuen, daß ich gewillt bin, diese Chronik fortzusetzen.«
»Deine Ahnen – im – Paradies,« wiederholte die Walide bedächtig. »Achmed Köprili wird – soll nicht ins Paradies gekommen sein.«
»Ich weiß, was du meinst, Mutter.«
»Es ist das Spukzimmer, welches die Bibliothek enthält.«
»Was tut es?«
»Hast du ihn noch nicht gesehen?« fragte die Walide bedeutungsvoll, die Betonung auf das ›ihn‹ legend.
Der Sultan konnte nicht verhindern, daß ein leichtes Schaudern durch seinen Körper lief.
»Zweimal,« flüsterte er, »das eine Mal warst du ja bei mir, und wir sahen die weiße Gestalt, wie sie durch den Gang schwebte, das treue Ebenbild Achmed Köprilis, wie wir es in einem Medaillon besitzen.«
»Und du willst es wirklich wagen, in das Spukzimmer einzudringen?«
»Ich tu's! Es ist das Erbe meiner Ahnen, das ich mir holen will; der unselige Achmed Köprili hat kein Recht, es mir vorzuenthalten, und wenn er es mir nicht geben will – auch mit seinem Geiste nehme ich den Kampf auf!«
Mit immer leuchtenderen Blicken betrachtete die Mutter den Sprechenden, der sich stolz aufgerichtet hatte. Sie erhob sich von ihrem Kissen.
»Gut, so gehe ich mit dir. Zwar hat sich der Geist bisher immer ganz harmlos gezeigt, aber auch noch niemand ist in das Sterbezimmer gedrungen, und allein sollst du dich der Gefahr nicht aussetzen.«
Abwehrend strecke der Sohn ihr die Hand entgegen.
»Nein, Mutter, nein!! Oder soll es heißen, daß Sultan Abdul Medschid nicht wagte, allein das Spukzimmer zu betreten, daß er sich von einem Weibe, von seiner Mutter begleiten ließ?!«
Mit einer für Nobody überraschenden, sogar verdächtigen Bereitwilligkeit stand die Walide von ihrem Vorhaben ab, den Sohn zu begleiten.
»Nun, es sind ja auch die Arbeiter dabei, die Anwesenheit so vieler Menschen wird dich vor einem bösen Einflüsse des Geistes schützen.«
»Die Sklaven?« stieß der Sultan verächtlich hervor. »Kannst du wirklich glauben, Mutter, ich, Abdul Medschid, werde die Sklaven auch nur in das tiefste Geheimnis des Serails blicken lassen?! Sie dürfen die Mauer nur bis zur Hälfte der Stärke abtragen, so daß ich selbst sie dann mit Leichtigkeit durchstoßen kann, und sobald die Sklaven so weit sind, müssen sie sich entfernen. Nein, kein anderer als der Fuß des Sultans soll dies Gemach betreten, in dem ein Sultan verschieden ist, und auch kein fremder Blick soll hineindringen!«
Da ging die Walide auf ihn zu und schloß ihn mit stolzer Zärtlichkeit in seine Arme.
»O, mein Sohn, du bist nur mit Soliman Bajazid vergleichbar, welcher auf Befehl der Propheten gegen das große Heer der Geister ins Feld zog, welches damals die Menschen aller Orten ängstigte, und der sie in furchtlosem, siegreichem Kampfe für immer von dieser Erde verbannte, so daß nach Allahs unerforschlichem Willen nur noch ab und zu ein unseliger Geist zwischen den Menschen sein Wesen treiben darf. Hier Abdul Medschid, du furchtloser Held des Glaubens, nimm diesen Talisman, er wird dich vor jedem Geiste beschützen.«
Sie brachte unter ihrem Gewand, vom Busen, einen kleinen Gegenstand zum Vorschein, der an einem goldenen Kettchen hing – Nobody hielt es für ein Petschaft – und legte es dem Sohn um den Hals.
Diese mütterliche Fürsorge war dem Sultan nicht recht angenehm. Es mochte ihm zum Bewußtsein kommen, daß ein ›furchtloser Held‹ doch eigentlich keinen Talisman nötig hat, auch nicht, wenn es zum Kampfe gegen Geister geht. Er wollte abwehren, doch war der Grund, den er gegen das Tragen eines Talismanes einzuwenden hatte, auch nicht gerade männlich.
»Laß nur, Mutter. Der Geist spukt ja nur in der Neumondnacht, und es steht noch eine Mondsichel am Himmel, es ist ja auch heller Tag.«
Doch die besorgte Mutter ließ sich nicht abwehren.
»Wenn auch. Niemand weiß, was sich in dem Sterbezimmer zugetragen hat, und wenn Achmed Köprilis Geist sich nur in der Neumondnacht auf dem Gange zeigt, wo soll er sich sonst anders aufhalten als in seinem Sterbezimmer? Nimm den Talisman, er hat auch deinen erhabenen Vater wiederholt vor Geistern und dem Einflusse böser Zauberer beschützt, wie ich dir später einmal erzählen werde.«
Der Sultan küßte der Walide ehrfurchtsvoll die Hand und schritt der Portiere zu, an der schon das kleine Händchen des roten Zwerges sichtbar ward. Doch vor der Portiere blieb Achmed noch einmal stehen, wandte sich um.
»Was hast du noch, mein Sohn?«
»Glaubst du, Mutter,« erklang es zögernd, »daß sich ein Mensch unsichtbar machen kann?«
»Nein, das kann kein Mensch, auch der größte Zauberer nicht, das duldet Allah nicht. Nicht einmal der Prophet durfte sich auf der Hedschra unsichtbar machen.«
Die Walide hatte das mit einer Bestimmtheit gesagt, als wäre sie selbst mit dabeigewesen, wie der alte Mohammed vergebens versuchte, sich bei seiner Flucht aus Mekka unsichtbar zu machen. Übrigens gelang ihm das ja auch, er machte sich wirklich unsichtbar, nur in anderem Sinne gemeint, nach englischer Weise, wie man zu sagen pflegt.
»Wir sprachen doch neulich von jenem Detektiven, der sich Nobody nennt.«
»Ja, ich beabsichtigte, ihn eben wegen dieses Geisterspukes einmal hierherkommen zu lassen.«
»Die Abessinierin behauptet, dieser Nobody sei ihr Verlobter, der sie von hier wieder entführen würde.«
Der Sultan erzählte, die Walide selbst forderte ihn dazu auf. Nur, daß er sich so kurz wie möglich faßte und auch nichts von seinem Schwur erwähnte, daß sie frei sein sollte, wenn es Nobody wirklich gelänge, in das Serail zu dringen. Er schien gar nicht mehr daran zu denken, das Unsichtbarmachen war auch bei der Erzählung die Hauptsache.
»Ich weiß,« meinte die Walide dann nach kurzer Überlegung, »über diesen Detektiv gehen die seltsamsten Gerüchte, man dichtet ihm sogar übernatürliche Kräfte an, und hiermit will uns die Abessinierin Furcht einflößen. Nein, kein von einem Weibe geborener Mensch kann sich unsichtbar machen, und ich zweifle überhaupt stark, daß die Abessinierin mit diesem Nobody wirklich verlobt ist, sie hat ihn vielleicht einmal kennen gelernt und will uns nun drohen; und selbst wenn es der Fall wäre – kein Geist und noch weniger dieser Detektiv Nobody soll an meinem Entschlusse etwas ändern können, daß ich dir die Abessinierin in der Beiramnacht zuführe, und Allah wird gnädig sein, daß sie die Mutter des zukünftigen Sultans wird.«
Nochmals küßte der Sultan der Walide die Hand, aber weit weniger mit zärtlicher Ehrfurcht als vorhin, und er entfernte sich, Nobody hinter ihm her.
Der Verdacht, den Nobody gefaßt hatte, war schon angedeutet worden.
Sollte die Walide den geliebten Sohn, dessen Machtstellung sie durch ihre Klugheit erst gefestigt, dem sie in Europa neuen Kredit eröffnet hatte, und der als Regent gerade jetzt unsichtbar war, so ohne weiteres solch einer Gefahr entgegengehen lassen, die doch immerhin damit verbunden ist, wenn man einem Gespenst gegenübertritt? Da hat schon mancher sein Leben verloren, oder er ist dabei wahnsinnig, stumm oder sonst gelähmt worden. So wissen wenigstens alle Gespenstergeschichten zu erzählen, und die Walide hatte sich doch mit eigenen Augen von der Existenz des Spukgeistes überzeugt. Sollte sie Abdul da nicht mindestens in die Gefahr begleiten, wie sie es zuerst gewollt hatte?
Nun sah aber, Nobodys Urteil nach, diese Frau mit den energischen Zügen und Augen gar nicht danach aus, als ob sie an Gespenster glaube. Lag da die Vermutung nicht sehr nahe, daß die Walide in die ganze Spukerei der vierten Etage eingeweiht war, sie vielleicht selbst inszenierte?
Nobody konnte sich ja auch täuschen, aber – wie gesagt – die Vermutung lag doch sehr nahe, der Verdacht war nun einmal da.
Sultan Abdul Medschid aber, als ein wahrhaft Geistergläubiger, war einfach zu bewundern, daß er Anstalten dazu traf, in das Spukzimmer einzudringen, noch dazu ganz allein.
Freilich war erst abzuwarten, ob er es auch wirklich tat. Dem Spuk im verwilderten Parke sollte er ja auch schon zu Leibe gegangen sein, wovon er acht Tage lang krank geworden war. Merkwürdig nur, daß Mutter und Sohn dieses Vorfalls mit keinem Worte Erwähnung getan hatten.
Auf einsamen Hintertreppen wurde die vierte Etage erreicht. Hier ging es desto lebhafter zu. Ein Dutzend Arbeiter waren tatsächlich damit beschäftigt, die Mauerfüllung aus der ehemaligen Türe wieder zu entfernen, doch nicht vollständig, sondern nur die erste Hälfte der doppelten Schicht gebrannter Steine, was die türkischen Maurer, als solche besonders im Serail angestellt, äußerst geschickt zu machen wußten, freilich auch langsam genug. Die zwölf Hämmerchen leisteten nicht mehr als die Spitzhacke eines deutschen Maurers, wobei er keinen Tropfen seines kostbaren Schweißes zu verlieren braucht und aller zehn Minuten eine fünfminutenlange Prise nehmen kann.
Die vorgeschriebene Arbeit war soeben vollendet; der Sultan überzeugte sich davon und schickte die Sklaven weg. In enggeschlossenem Trupp marschierten sie ab, der Kislar mit der Peitsche vorsichtig in der Mitte, um gegen den Spuk durch eine Menschenmauer geschützt zu sein.
Der Sultan war allein – außer Nobody der erste Mensch, der hier oben allein war, und unter seiner Tarnkappe konnte man Nobody ja eigentlich nicht zu den Menschen zählen.
Wie er sich umblickte, konnte man ihm ansehen, daß ihm doch nicht geheuer zu Mute war; der freundliche Sonnenstrahl, der durch einen Seitengang hereinfiel, konnte das Gruseln nicht bannen, noch weniger der stempelähnliche Talisman auf der Heldenbrust.
Immerhin, es war schon genug, daß der geistergläubige Türke die Sklaven weggeschickt hatte und allein zurückgeblieben war. Und jetzt betete er die Sure, in welcher Allah durch des Propheten Mund dem Gläubigen versichert, daß es gar keine Geister gibt, weswegen man auch nicht an solche glauben soll, und als er hiermit fertig war, nahm er die am Boden schon in Bereitschaft liegende Brechstange und – bruch! – gleich durch die andre Hälfte der Mauer hindurch!
Der Padischah zog die Eisenstange wieder heraus, bückte sich und legte das Auge an das entstandene Guckloch.
Nobody erwartete mit Bestimmtheit, daß er gleich zurückprallen würde, wahrscheinlich gleich mit gesträubtem Haar davonstürmen, weil er jetzt doch bestimmt in dem finsteren Raume die weiße Geistergestalt des Sultans Achmed Köprili sah, wahrscheinlich auf dem Diwan liegend.
Nein, eben nicht!! Der Maurer in Generalsuniform griff von neuem zur Brechstange und begann das Guckloch zur Öffnung zu erweitern, was dem kräftigen Manne ohne Mühe gelang, der morsche Ton brach wie Glas.
Dann aber hatte er ganz, ganz bestimmt auch keinen Geist gesehen, sonst hätte er doch nicht mit solch einer Gemütsruhe weitergearbeitet. Er spähte auch nicht nochmals hinein, sondern er ruhte nicht eher, als bis er fast die ganze Tür freigelegt hatte, so daß man, ohne sich zu bücken, hineingehen konnte.
Daß sich wirklich kein Geist darin befand, davon hatte sich unterdessen auch Nobody überzeugt. In dem Raume war es, von hier außen gesehen, stockfinster, das auf dem Korridor herrschende Licht, auch schon sehr spärlich, erst von einem weit entfernten Seitengange kommend, dessen Fenster nach dem Hofe ging, reichte nicht aus, den fensterlosen Raum auch nur etwas zu erhellen.
Jetzt nahm der Sultan eine gleichfalls für ihn bereitstehende Laterne, zündete sie an und trat ein, ihm nach Nobody, weniger zögernd als sein Vorgänger, aber sicher ebenso gespannt, was sich dem Auge bieten würde.
Gar nichts! Für Nobody wenigstens nichts Neues. Da stand noch der Diwan, daneben am Boden lagen noch die Pergamentrollen und da ...
Und da erscholl ein Stöhnen, und hätte Nobody nicht einen schnellen Sprung seitwärts gemacht, so wäre der Padischah gegen ihn geprallt.
Es war dasselbe Seufzen und Stöhnen und Ächzen wie gestern, nur daß nichts zu sehen war, und trotzdem hätte man dem Türken nicht verübeln können, wenn er sich jetzt umdrehte und dort hinausfuhr, wo er sich selbst ein Loch geschaffen hatte, und daß er es nicht tat, gereichte ihm zur hohen Ehre.
Wahrhaftig, der Sultan blieb, er wollte sich mit dem Geiste seines unseligen Urgroßvaters einlassen! Beschwörend streckte er die Hand aus.
»Im Namen Allahs und des Propheten – Achmed Köprili, wenn du...«
»Öööööhhh – huuuuuuhhh,« röchelte es irgendwo in dem finstern Raume, der nur immer dort erleuchtet wurde, wo das Blendlicht der Laterne gerade hinfiel.
Nobody sah förmlich, wie sich das Haar auf dem Haupte des Sultans sträubte, und dennoch blieb er! Er versuchte noch einmal, Gewißheit zu erhalten.
»Achmed Köprili – im Namen Allahs und des Propheten beschwöre ich dich...«
»Ööööööhhh – huuuuuuhhh!«
Und bei diesem ›Öh‹ und ›Huh‹ blieb es. Aber auch der Sultan blieb. Er hatte doch Courage im Leibe. Freilich kann man dies auch von einer anderen Seite betrachten. Wer von der Existenz von Geistern völlig überzeugt ist, wird sich vor einer übernatürlichen Erscheinung viel weniger entsetzen als einer, der an gar nichts glaubt, und plötzlich steht ein Geist vor ihm – und wenn dieser Geist auch nur ein Junge mit Besenstiel und übergehängtem Bettuch ist. Schopenhauer sagt gleich ganz offen: um sich nicht vor Geistern zu fürchten, muß man an Geister glauben.
Kurz, obgleich sich ihm das Haar sträubte und die Zähne etwas klapperten – der wackre Türke furcht' sich nit! Er hatte vielmehr sein Ziel im Auge, den Zweck, weswegen er hierhergekommen – er ließ den Schein der Laterne über die Regale schweifen und ging auf eins derselben zu, schon die Hand ausgestreckt, um sich die betreffenden vier Pergamentrollen anzueignen.
Ganz richtig, dort mußten sie liegen, auch Nobody hatte den Plan noch ganz gut im Kopfe, da war auch noch die Nummer angegeben – 1761. II. III. IV. – nur schade, daß die vier Pergamentrollen nicht mehr dort lagen. Die waren eben schon weg.
»Ööööööhhh – huuuuuhhh,« röchelte die Stimme eines Sterbenden.
Wirklich, dieser Türke hatte Mut! Er kümmerte sich nicht um das gräuliche Ächzen, er sah sich weiter um. Sollten es die am Boden liegenden Pergamentrollen sein?
Er bückte sich. Jetzt wurde das Stöhnen drohend. Gleichgültig, der Sultan hob die eine auf und ...
Da mit einem Male lag auf dem Diwan die helleuchtende Gestalt eines Mannes, eines Geistes, so, wie Nobody ihn schon gestern beobachtet hatte, langausgestreckt, den Ellenbogen aufgestemmt und den Kopf in der Hand, und aus diesem geöffneten Geistermunde kam das gräßliche Ächzen und Stöhnen, und jetzt streckte er drohend den Arm gegen den Sultan aus...
Das hätte nun freilich nicht kommen dürfen! Auf so etwas war der Beherrscher aller Gläubigen denn doch nicht geeicht! Wie ein Blitz schoß er zum Loche hinaus. Dabei war ihm der lange Säbel zwischen die Beine gekommen, er stolperte nicht, sondern er behielt den Säbel zwischen den Beinen, und so galoppierte er wie auf einem Steckenpferde den Korridor entlang. Erst ein Poltern auf der Treppe verriet, daß ihn das Steckenpferd aus dem Sattel geworfen hatte. Aber die Papierrolle hatte er doch mitgenommen.
Nobody war mit dem Geiste allein und konnte mit ihm anfangen, was er wollte. Nun, Nobody glaubte natürlich nicht mehr an einen Geist, an die wandernde Seele eines vor zweihundert Jahren gestorbenen Menschen. Es war ja auch schon gesagt worden, daß er das Wesen dieser Erscheinung bereits erkannt hatte. Es war eben ein Lichtbild. Doch wie dieses zustande kam, in solch unübertrefflicher Vollkommenheit, nicht an die Wand geworfen, sondern frei und scharf abgegrenzt in der Lust, sich ganz natürlich bewegend, das war ihm ein vollkommenes Rätsel, das mußte er erst noch ergründen.
Somit ist also dem Leser der Glaube an einen übernatürlichen Spuk zerstört. Aber etwas anderes kann ihm dafür geboten werden: Nobody war zur Überzeugung gekommen, daß hier im Serail dennoch ein Wesen spuke, nur kein Geist, sondern ein Mensch – ein Mensch, eine Person, von deren Aufenthalt im Serail niemand etwas wußte! Und diesem Geheimnis, dieser rätselhaften Person, die sich unbekannt in dem alttürkischen Serail aufhielt und mit den modernsten Hilfsmitteln ausgerüstet sein mußte, auf die Spur zu kommen, das war unserem Detektiven bei weitem interessanter, als wenn es sich um einen richtigen Geist aus dem Jenseits gehandelt hätte.
Doch nennen wir das Lichtbild noch immer einen Geist.
Jetzt erhob sich der Geist, so natürlich, wie ein Mensch es getan hätte, nur alles viel Ätherischer, und schwebte der Tür zu, auf den Korridor hinaus.
Was hatte er denn heute draußen zu suchen? Es war doch noch gar nicht Neumond? Nun, man hatte eben seinen Bann zerstört, der Maurer hatte ihm ein Loch gemacht, und den Frevlern zur Strafe beschränkte sich der Spuk nun nicht mehr bloß auf die Neumondnacht, zu jeder Zeit und sogar bei Tage würde er jetzt das Sterbezimmer verlassen, um die Bewohner des Serails zu schrecken.
Nobody folgte ihm auf den Korridor hinaus. Der Geist schwebte diesen entlang. Der Korridor war dunkel genug, um die leuchtende Lichtgestalt noch deutlich erkennen zu lassen.
Da wurde Nobodys Ohr von einem seltsamen Laute getroffen, besonders zu dieser Geistererscheinung stand er in seltsamem Kontraste.
»Kikerikikiiihhh!« schmetterte es machtvoll auf dem Korridor.
Der Hahn mußte sich in einem Seitengange befinden, zu sehen war er nicht. Jedem Geiste soll das Hahnkrähen widerwärtig sein, gewöhnlich verschwindet er dann. Diesen Geist hier störte es nicht, er schwebte weiter. Oder merkte auch er, daß es nur ein Mensch war, der das Krähen eines Hahnes nachahmts? Dann aber mußte der Geist ein so feines Ohr haben wie Nobody. Das Krähen war vortrefflich nachgeahmt, gar nicht zu unterscheiden von dem wirklichen Triumphgeschrei des bespornten Vogels.
»Kikerikikiiihhh!!! Gackgackgackgackgackgack – ein Ei – gluckgluckgluck – zwei Ei – gackgackgackgackgackgack – drei Ei – Kikerikikiiihhh schneddredeng deng deng deng gluckgluckgluck
gackgackgackgack ei ei ei ei ei ei ei ei ei – das waren wenigstens eine halbe Mandel Eier. Wenn ich sie nur selber aussaufen könnte!«
Jetzt kam der eierlegende Hahn aus dem hellerleuchteten Seitengange zum Vorschein.
Die kleine, dicke Gestalt mit roter Pumphose und blauem Jäckchen, mit Flittertand besetzt – Nobody erkannte sie sofort wieder: Mufti, der wahnsinnige Eunuche, der sich für einen Hahn hielt – also für einen Hahn, der nicht nur krähen, sondern auch gackern und Eier legen konnte.
Der Wahnsinnige sah den Geist. Wohl duckte er sich sofort zusammen, doch an Flucht dachte er nicht.
»Wawawas ist denn dadadas? Das ist doch ein Geigeigeist?!«
Und da sah auch Nobody einen wirklichen Geist, d. H., eine übernatürliche Erscheinung!
Jetzt erst sah er das Gesicht des kleinen Dicken deutlich. Gewiß, das waren die Züge des Wahnsinnigen, dem er gestern früh begegnet – und dennoch waren sie es nicht – das waren andere, als die er gestern gesehen – nur eine große Ähnlichkeit, so ähnlich wie die kleine dicke Gestalt – Himmel, das war doch kein anderer als Cerberus Mojan?!
Gewiß, Nobody ließ sich doch gleich hängen, wenn das nicht sein alter Freund Cerberus Mojan war!!
Cerberus Mojan im Serail!
Doch hatte er nicht die Absicht geäußert, sich als Eunuche im Serail anwerben zu lassen?
Blitzähnlich schoß durch Nobodys Kopf eine Erklärung.
Dem Wahnsinnigen war es gelungen, das Freie zu erreichen – Mojan war ihm begegnet – irgendwie waren die Rollen vertauscht worden – die Ähnlichkeit war überhaupt eine große, Mojan brauchte sich bloß rasieren zu lassen – kurz und gut, Cerberus Mojan war wirklich ins Serail gedrungen, spielte die Rolle des wahnsinnigen Mufti, war vielleicht mit Gewalt zurückgebracht worden...
Wie gesagt, nur wie ein Blitz schoß das durch Nobodys Kopf. Es war eine Vermutung, die Erklärung konnte ihm nur Mojan selbst geben.
Vorläufig beschränkte sich Nobody auf eine Beobachtung.
Bemerkt sei vorher noch, daß dieser Mojan, der sich von dem Dragoman in Konstantinopel über Dinge hatte unterrichten lassen, die eigentlich schon jedes Schulkind wissen mußte, der z. B. gefragt hatte, was denn ein Bakschisch sei, was denn auf türkisch ja und nein heiße – daß dieser selbe Cerberus Mojan jetzt plötzlich besser Türkisch sprach als vielleicht der in Konstantinopel geborene armenische Fremdenführer!
Doch wir können das Türkische hier nicht wiedergeben. Wohin sollte denn das führen! So lassen wir ihn also Deutsch sprechen.
Er stotterte noch wie vor. Hatte auch jener Wahnsinnige gestottert? Das war unserem Cerberus ganz schnuppe. Hatte der Wahnsinnige früher nicht gestottert, so stotterte er eben jetzt, nach seiner Rückkehr ins Serail, er hatte es draußen gelernt.
Nur darin war Mojan vorsichtig, daß er seine Stimme möglichst hochschraubte.
Und nun wurde Nobody Zeuge einer Szene, die sich in ihrer ganzen humorvollen Drastik leider nicht wiedergeben läßt, nur angedeutet werden kann.
Also Mojan hatte die Lichterscheinung erblickt. Für ihn mußte das ein wirklicher Geigeigeist sein. Wie sollte er es sich sonst erklären? Aber was machte sich Mr. Cerberus Mojan aus Geigeigeistern und Gegegespenstern!
Nur im ersten Augenblick hatte er sich geduckt. Gleich richtete er sich wieder auf.
»Kikerikikiiihhhü! – Putputputputput! – Bst Sie! – He, du da! – Kokokomm mal her!«
Der Geist drehte ihm den Rücken, entfernte sich von ihm. Mojan ihm nach. Der Geist blieb stehen, Mojan auch, richtete sich auf den Zehenspitzen empor und hob die Hand.
»Höhören Sie, wewewer sind Sie denn eigentlich?«
Er hatte dem Geist von hinten auf die Schulter klopfen wollen, klopfte natürlich ins Leere. Nachdenklich betrachtete er seine Hand.
»Lululuft!«
Wie er aber nun dabei kopfschüttelnd seine Hand betrachtete – Nobody wäre am liebsten laut herausgeplatzt.
Der Geist setzte seinen Weg fort, der kleine Dicke schnell an seine Seite. Mit so einem recht vertraulichen Schmunzeln blickte er zu dem hochgewachsenen Türken empor.
»Hahaben Sie vielleicht eine Nähmaschine zu Hause? Kaukaufen Sie mir ein Fäfäßchen Schmieröl ab. – Na da mamachen Sie doch! 's ist heuheute meimein erstes Gegeschäft.«
Der Geist blieb stehen, wandte sich, schwebte zurück. Schnell wollte Mojan hinten die weitgebauschte Pumphose fassen, die sich scharf abzeichnete, griff ins Leere, oder vielmehr gleich in den Leib des Türken hinein – griff noch einmal zu, um den Geist hinten bei der Pumphose festzuhalten – betrachtete kopfschüttelnd seine zusammengeballte Hand, die er langsam öffnete, als wolle er sehen, ob er etwas darin habe.
»Lululuft!«
Jetzt wurde Mojan böse, wollte zu anderen Mitteln greifen. Er rannte dem davongehenden Geiste nach, versuchte ihn hinten beim Genick zu packen.
»Jetzt hahahahab' ich dich!!«
Wieder konnte er nur kopfschüttelnd seine leere Hand betrachten.
»Lululuft! Na wawarte nur.«
Mit ausgebreiteten Armen baute er sich vor dem Geiste auf.
»Hahahalt!!!« schrie er und schlug die Arme zusammen.
Der Geist war durch ihn hindurchgegangen. Mit einem verdutzten Gesicht blickte Mojan ihm nach, nahm einen Anlauf und wollte ihm auf den Rücken springen, und zwar mit einer gummiballähnlichen Elastizität, die Nobody dem kleinen, dicken, schon bejahrten Manne gar nicht zugetraut hätte. Diese clownartige Springkunst war wieder etwas ganz Neues, was Nobody an seinem alten Freunde entdeckte.
Mojan war auf der andern Seite der Lichterscheinung wieder zum Vorschein gekommen, rannte noch ein Stück weiter, drehte um und sprang dem Geiste vorn in den Brustkasten hinein, drehte sich schnell wieder um, hob mit einem wütenden Gesicht den Fuß und gab dem Geist hintenhinein einen Tritt, und zwar mit solch einer Vehemenz, daß er dabei die Balance verlor, hintenüber auf den Rücken fiel und die kurzen Beinchen in den roten Pumphöschen gen Himmel reckte.
Jetzt stand Nobody auf dem Punkte, seine unbändige Lachlust nicht mehr bekämpfen zu können. Nur mit seiner letzten Kraft beherrschte er sich noch.
Der Geist Achmed Köprilis hatte wieder die Türöffnung erreicht, wollte darin verschwinden. Schnell raffte sich Mojan auf und ihm nach.
»Wowowo wiwillst du denn hin?«
Bei diesen Worten hatte er den Geist wieder hinten an der Pumphose zurückhalten wollen. Doch der Hosenboden war eben so ätherisch wie der ganze Kerl, was Mojan immer wieder mit Staunen zu erfüllen schien.
Der Geist hatte sich wieder auf den Diwan gelegt, der als solcher in der Dunkelheit zu erkennen war, da von der Erscheinung ein eigenes, wenn auch nur sehr schwaches Licht ausstrahlte.
Mojan machte ein pfiffiges Gesicht, nahm einen Anlauf, schoß durch die Tür und sprang mit dem Satze eines Frosches auf den Diwan und auf den Geist drauf.
»Jetzt aber hahahab' ich dich!!!«
Da öffnete der Geist seinen Mund, und aus diesem Munde kam ein schauerliches Stöhnen und Ächzen hervor.
Doch das störte Mojan so wenig, wie er es merkwürdig fand, daß er doch eigentlich nicht auf, sondern in dem Geiste lag. Nur dessen Kopf lag noch selbständig da, und das Stöhnen kam nicht etwa von irgendwo anders her, sondern eben aus diesem ätherischen Munde.
»Ööööööhhh – höuuuuhhhü!«
»Wawawas sagst du?«
»Öööööhhh – huuuuhhh!!!«
»Wewewenn du mir eine Zigarette gigibst, lasse ich dich wieder laulaufen.«
»Öööööhhh – huuuuhhh!«
»Hahahast du keine Zigarette? Wiwill mamal nachsehen.«
Mojan kletterte von dem Sofa herunter und aus dem liegenbleibenden Geiste heraus und griff dorthin, wo irdische Menschen, auch Türken, in den Hosen gewöhnlich ihre Taschen haben.
»Der hahahat ja lauter Lölöcher in den Taschen!«
»Öööööhhh – huuuuhhh!«
»Na wawawarte mamal.«
Und Mojan brachte aus seiner Pumphose ein riesiges, schwarz und weiß kariertes Taschentuch zum Vorschein, oder wohl eher ein Umschlagetuch, das er aber nicht als solches benutzte, er faltete es auseinander, betrachtete es bedächtig von beiden Seiten, dann brachte er es an die Nase, trompetete hinein, daß der ganze Korridor dröhnte, hierauf ballte er es zusammen und wollte es dem Geiste in den halbgeöffneten Mund pfropfen, was bei der ätherischen Beschaffenheit nun freilich seine Schwierigkeiten hatte.
»Mamamach's Maul weiweiter auf!«
Da mit einem Male war der Geist verschwunden, wieder unter jenem eigentümlichen Geräusch, das Nobody schon einmal vernommen hatte. Finsternis herrschte in dem Raume. Der an der Tür stehende Nobody konnte auch Mojan nicht mehr sehen. Nur hörbar machte sich dieser.
»Weweweweg!«
Eine Pause entstand.
»Wowowo bibibist du denn?«
Wieder eine lange Pause, und dann war dem vergebens auf das Wiedererscheinen des Geistes Wartenden die todsichere Erkenntnis gekommen.
»Er ist fofofort. Er ist fufufutsch.«
Dann krabbelte noch etwas in der Finsternis herum.
»Ich glaube, der Geigeist hat mein Tatataschentuch mitgegenommen. A–a–a–ach nein, papapardon, hier ist es ja.«
Wenn Nobody jetzt den Entschluß faßte, sein unsichtbares Inkognito aufzugeben, diesem Amerikaner das Geheimnis seiner Tarnkappe zu verraten, so geschah dies weniger deshalb, weil er seinen sich wahnsinnig stellenden Freund als Vermittler sehr gut brauchen konnte, als vielmehr, um nur zu erforschen, was Mr. Cerberus Mojan sich bei alledem eigentlich dachte.
War der Kerl wirklich wahnsinnig? Für wen trieb er die Komödie? Nur zu seinem eigenen Vergnügen? Ja, aber, wenn man so eine unerklärliche Lichtgestalt sieht, ob man sie nun für ein Gespenst hält oder für sonst etwas, versucht man ihr denn da auf den Buckel zu springen und treibt ähnliche Faxen?
Ja, das war das richtige Wort, dieser Yankee war ein unverbesserlicher Faxenmacher, und er brauchte gar keinen Zuschauer, er amüsierte sich im stillen über seine eigenen Faxen. Aber immerhin ...
Kurz, für Nobody lag hier etwas vor, was er gar nicht definieren konnte. Für ihn war dieser Yankee ein lebendiges Rätsel.
Doch nein, deswegen durfte er sein Geheimnis nicht preisgeben, brauchte es auch nicht. Er konnte ... er konnte den Gedanken nicht ausdenken! Es sollte alles ganz anders oder ganz von selbst kommen.
Wie vorhin der Sultan, vielleicht noch schneller, so kam jetzt Cerberus Mojan wieder aus dem Loche herausgeschossen, und der an der Tür stehende Nobody hatte keine Zeit mehr gehabt, beiseite zu springen, der kleine Dicke fuhr mit dem vorgeneigten Kopfe gerade in Nobodys Bauch, und dabei blieb es nicht, Mojan packte auch gleich zu.
»Hahahalt, jetzt habe ich dich gehahahascht!!«
Wie Eisenklammern legten sich die muskulösen Arme um die unsichtbare Gestalt.
»Wewewer bibibist du? A–a–antwort oder ich haue dididir eine rururunter!«
Nobody war überrumpelt worden. Er hätte sich ja durch einen betäubenden Schlag sofort befreien können, aber gerade bei seinem alten Freunde wollte er dies nicht tun, und wenn er irgend jemandem auf der Welt sein Geheimnis anvertrauen konnte, so war es gerade dieser Yankee, von dessen Verschwiegenheit er sich schon oft genug überzeugt hatte.
»Pst, Mr. Cerberus Mojan – ich bin's Nobody!« flüsterte der gefangene Geist.
Gott weiß, was Mr. Mojan dabei denken mochte! Jedenfalls war dieser Amerikaner über alles erhaben – über alles, was auch passieren mochte, auch gar nichts konnte ihn aus der Fassung bringen – und wenn die Welt untergegangen, die Erde in die Sonne gestürzt wäre, er hätte gewiß diesen Vorgang mit Interesse beobachtet und gleich wieder irgendeine geniale Idee gefaßt, etwa wie man mit diesem Weltuntergang ein gutes Geschäft machen könne.
»Wewewer?«
»Nobody.«
»Das kakakann jeder sagen.«
Nobody lüftete seine Kappe. Als Mojan plötzlich vor sich den frei in der Luft schwebenden Kopf sah, mit Nobodys wohlbekannten Zügen, da freilich prallte er zurück. Doch das konnte noch immer Verstellung, Faxenmacherei sein, und danach benahm er sich auch.
Den Oberkörper vorgebeugt, die Augen weit vorgequollen, so stand er da, und dann zupfte er sich erst am linken Ohrläppchen, dann am rechten, dann kniff er sich in die Nasenspitze, und dann suchte er vorn an seinem blauen Jäckchen herum, zog eine Stecknadel heraus, beugte den Oberkörper noch tiefer, bis er einen rechten Winkel bildete, und stach sich mit der Stecknadel hinten in seinen fleischigsten Teil hinein.
Mit einem plötzlichen Ruck warf er den Oberkörper wieder zurück und reckte dafür den Bauch heraus, die Hände auf der hinteren Seite.
»Auuuuuu!!« heulte er. »Ja, ich wawawache wirklich! A–a–a–aber. Sie sind wohl guiguiguillotitininiert worden?«
Nobody maskierte sich wieder, ging auf ihn zu, faßte seinen Arm, und willig ließ sich Mojan in die Kleiderkammer führen. -
Wir folgen den beiden nicht. Was Nobody erfuhr, sei in einem besonderen Kapitel erzählt, welches auch gleich das Resultat der Unterredung bringt.