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In der ersten Zeit fühlte Jon sich einsam auf der Schwarzen Insel, aber im Laufe der Jahre empfand er die Einsamkeit weniger drückend. Hin und wieder hatte er freilich seine trüben Stunden, aber es ereignete sich nichts, das ihn bewog, die Insel zu verlassen.
Nach und nach aber ging eine Veränderung mit ihm vor. Er fiel gleichsam in sich selbst zusammen und wurde untersetzter als vorher. Eine hervortretende Eigenschaft, die die Einsamkeit bewirkte, war, daß er laut mit sich selbst sprach – besonders wenn er arbeitete: »Das muß noch etwas gebogen werden! Jetzt wird es wohl halten! – Hm, das scheint mir noch nicht ganz gerade zu sein.« So sprach er mit sich selbst in einem tiefen Tonfall, der aus dem Bauch zu kommen schien. Auch über Wind und Wetter und vom Meer redete er, oder was ihm sonst gerade einfiel.
Wenn aber Leute kamen, sprach er so leise, daß es schwer war, ihn zu verstehen.
Aber nicht nur körperlich hatte Gräff sich verändert. Sein ganzes Wesen hatte etwas Unverständliches bekommen. Er war schwerfällig geworden und scheinbar dumm. Oft stand er und starrte ins Leere. Wenn jemand ihm etwas erklärte oder ihm einen Auftrag gab, konnte er es nur behalten, wenn es zweimal gesagt wurde; aber er war klug genug, um eine Wiederholung zu erbitten. Wenn er es dann zum zweiten Male gehört hatte, wiederholte er es sich selbst – einen Punkt nach dem anderen – und nahm die Finger ein wenig zur Hilfe, um das Ganze besser zu ordnen. Wenn er aber erst mal eine Sache in sich aufgenommen hatte, dann vergaß er sie nicht wieder: das war das Gute an ihm.
Vom frühen Morgen bis zum späten Abend arbeitete er in dem Schuppen des Schweden.
Wenn er aus dem Fenster sah, bot sich ihm immer dasselbe Bild: einige dunkle Klippen und das Meer, das groß und grau dalag.
Hin und wieder kam vielleicht ein Makrelfischer oder ein Lotboot dicht vorbei, oder die Masten eines Schiffes zeigten sich am fernen Horizont. Oft aber vergingen Tage, ohne daß er etwas von Bedeutung zu sehen bekam. Höchstens daß ein einsamer, hungriger Seevogel schreiend vorüberflog.
Eines Nachmittages im August ereignete sich etwas, dessen er sich noch lange nachher erinnerte. Es kam ein Boot voll feiner, junger Leute, Herren und Damen? Sie waren hell gekleidet und einer der jungen Leute hatte eine rote Mütze auf dem Kopf. Sie segelten wohl nur zum Vergnügen, denn sie lachten und trieben einen ganz schrecklichen Unsinn. Na, Jon störte sie nicht und arbeitete ruhig weiter; plötzlich aber kam einer von den jungen Leuten zu ihm in den Schuppen hinein und fing ein Gespräch mit ihm an. Sie wurden schnell gut Freund, und Gräff erfuhr, daß sie aus einer der östlichen Städte seien und den Sommer über auf den Schären Aufenthalt genommen hätten. Es endigte damit, daß Jon ihm seine Angelschnur schenkte, die er nie mehr gebrauchte, und als Gegengabe erhielt er ein sehr hübsches Messer. Er begleitete den Fremden zum Boot hinunter, als er mit den anderen wieder fort mußte und er nickte allen einen guten Tag zu.
Sie grüßten wieder, und ehe Gräff es sich versah, kam ein junges Mädchen, von so ungefähr siebzehn Jahren – ein rechtes Sonntagskind – auf ihn zu, sah ihm treuherzig ins Gesicht und sagte: »Wie mögen Sie hier nur so allein wohnen! – Fürchten Sie sich nicht?«
»O nein, das kann ich nicht behaupten – – – die Gewohnheit tut ja viel – – ja, ja, hm« – – er warf den Kopf zurück und blickte scharf zum nördlichen Himmel hinauf, nickte und sagte leise: »Die Herrschaften bekommen schönes Wetter zur Heimfahrt – – – der Himmel ist klar im Norden.«
Als sie ein Stück aufs Meer hinausgekommen waren, fingen die Frauenzimmer an mit ihren Taschentüchern zu winken. Die waren so fein und rein, und als Gräff sein altes, mit dem Bildnis des Königs, hervorzog, fand er, daß es gar zu übel aussah und steckte es schnell wieder in die Tasche. Um aber nicht gar so dumm dazustehen, nahm er seinen Wetterhut ab und schwenkte ihn in der Luft, und dann riefen die Fremden Bravo und schrien vom Boot her, und sowohl die Frauenzimmer wie die Mannsleute schwenkten ihre Kopfbedeckungen – sogar der mit der roten Mütze.
»Komische Leute,« fand Gräff, so was Vergnügtes hatte er noch nie gesehen. Und oftmals, wenn er bei der Arbeit stand und aus dem Fenster sah, merkte er, daß er sich fast nach dem Boot sehnte – jedenfalls wär' er froh gewesen, wenn er es plötzlich hätte auftauchen sehen.
Wenn der Herbst kommt, mit Sturm und Regen, pflegt er erst weit draußen am Horizont mit Gewölk auf der Lauer zu liegen.
Dann nimmt er seinen Weg landeinwärts und erreicht zuerst die äußersten Schären und Inseln, die er mit braungrauen Seenebeln verdunkelt. Dann weiß man, daß der Sommer zu Ende und der Herbst im Anzug ist.
Dieser Gedanke ist nicht angenehm für jemand, der an einem Ort wohnt, wo man dem Sturm und dem Meer ohne schützende Schären und Klippen ausgesetzt ist.
Der Sturm beginnt nicht mit voller Stärke. Er liegt erst ganz still, um Kräfte zu sammeln – nicht ein Luftzug ist zu spüren. Die Tage vergehen ohne irgend eine Störung, und wenn die Nacht kommt, ist alles womöglich noch stiller als vorher. Nur ein Brausen vom Meere ist zu hören, mit langen, tiefstillen Zwischenräumen.
Eines Tages aber, oder vielleicht eines Nachts setzt der Sturm mit Regen und Hagel ein. Er zerrt am Meere, so daß es zu etwas Großem, Lebendigem wird. Seltsam, wenn ein Mann dann ganz allein auf einer Klippe steht und Umschau hält. Plötzlich überkommt ihn die Angst, die See könne so groß werden, daß sie zu ihm heraufkriecht, ihn erfaßt und mit sich hinabzieht, so daß er in einer Sekunde verschwunden ist.
Dasselbe Getöse, dasselbe lärmende Geheul den ganzen Tag hindurch – des Abends und des Nachts – und den nächsten Tag und viele, viele Tage und Nächte hintereinander.
Dann sitzt wohl ein einsamer Mann in seiner Hütte und denkt daran, sein Lager aufzusuchen, denn es ist spät. Der Wogengischt wird gegen das Ufer gepeitscht, so daß man sein eigen Wort nicht verstehen kann, wenn man auch noch so laut spricht. Plötzlich aber kann man mitten durch das Sturmgetöse Glockengeläute von der See her hören, rasch und klagend. Geht man hinaus und späht in die Richtung, woher der Laut kommt, kann man plötzlich einen Lichtschein draußen sehen, der von einem Knall gefolgt wird – gedämpft und matt, weil er von Wind und Meer gebrochen wird.
Dann sieht und hört man nichts mehr; aber man weiß, daß dort draußen ein Kampf mit dem Meer gekämpft wird – jetzt mitten in der Nacht.
Bei solchem Wetter geschieht es, daß Ertrunkene denen erscheinen, die leben. Sie pflegen nicht selten im Südwester und mit der Öljacke, von der das Wasser herabtrieft, hereinzukommen. Aber so treten übrigens nur ein Kapitän oder ein Steuermann und Seeleute im allgemeinen auf. Wenn ertrunkene Leute vom Festland sich zeigen, pflegen sie die Hände zu ringen und das durchnäßte Zeug klebt ihnen am Körper: sie tragen keine Öljacke, kein Südwester sitzt ihnen stolz auf dem Kopf.
Am schlimmsten ist es, allein beim Gewitter hier draußen zu sein, besonders des Nachts. Auf die Blitze achtet man nicht so sehr. Die sind vorbei, ehe man Zeit hat, ihrer gewahr zu werden. Aber das Donnergekrach, das folgt, kann einen zunichte machen. Es klingt, als rolle etwas Gewaltiges über die Meeresfläche dahin, die von Stahl zu sein scheint. Und oft, wenn das Ungewitter am schlimmsten ist, fühlt man etwas Unklares in sich aufsteigen, als ob sich im nächsten Augenblick oder in kurzer Zeit etwas ganz Ungewöhnliches und Unbekanntes ereignen werde.
Hat ein Herbststurm lange gedauert, wirkt er schließlich so auf das Gemüt, daß dieses unklar und verschwommen wird. Das Auge haftet an nichts Bestimmtem mehr, sondern gleitet an allem vorbei, auf Schaum und Nebel hinaus und das Ohr fängt keinen eigentlichen Laut mehr auf – man hört nur noch, daß es saust und saust.
Wenn Jon – einsam, wie er war, in all dem Wetterbrand – zu klarem Bewußtsein erwachte, nachdem er lange Zeit dumpf vor sich hingestarrt hatte, dann konnte es ihm selbst sonderbar erscheinen, wie er hier umherging, und eine unbestimmte Furcht vor etwas, das er sich selbst nicht erklären konnte, ergriff ihn. Nach und nach aber nahm die Furcht eine feste Form an; so konnte z. B. Entsetzen vor dem letzten Gericht ihn ergreifen. Der Tag des Gerichtes sollte ja sicher früher oder später kommen. Einige meinten, er käme des Nachts, wenn er die Menschen unvorbereitet träfe, so daß sie erwachten und zur Verzweiflung geängstigt würden, wenn sie das Meer und die Wogen brausen hörten und die Elemente im Aufruhr sahen.
Wenn ein Ungewitter über Svartö stand, war er oft versucht, den Tag des Gerichtes nah zu glauben. Er besaß eine alte Bibel, die er von seiner Mutter geerbt hatte, »Marie Johannestochter zu ihrer Konfirmation«. Die schlug er auf und las darin zu seiner Erbauung. Er hatte oft gehört, daß das Alte Testament und Johannes Offenbarung aus dem Neuen das Allerheiligste in diesem Buche sei. Die Evangelien waren nicht so gut, denn sie waren nicht so streng. Und in der Gemütsverfassung in der er war, fühlte er sich mehr zu den düsteren Kapiteln der Bibel hingezogen. Aber mit der Erbauung war es nicht weit her; er wurde eher von Furcht ergriffen. In dem Alten Testament konnte er nur schwer den gütigen Gott finden; er wurde meistens Jehova genannt, und das klang so ernst. Ja, häufig erschien Jehova ihm ein recht strenger Mann zu sein; es war, als säße er weit, weit fort in schwarzen Gewitterwolken. Und die Offenbarung mit ihren Himmeln und Engeln und dem Tier machte sein schweres Gehirn ganz verwirrt. Besonders das fürchterliche Tier setzte sich in seinem Kopf fest. Wenn er die Worte der Heiligen Schrift las: ›Und es erhielt einen Mund, um wunderliche Dinge und Lästerungen zu sagen … und es öffnete seinen Mund und lästerte den Herrn‹, dann sah er das Tier vor sich, wie es umherging und spottete. Ja, und schließlich meinte er, das schreckliche Tier lachen zu hören. Er konnte den Gedanken nicht loswerden. Zuletzt wurde es zu einer fixen Idee. Er sah das Tier ganz deutlich vor sich.
Von solchen Gedanken wurde er meistens in der dunklen Jahreszeit bedrängt. Aber auch im Sommer, an finsteren, nebeligen Tagen konnten sie ihn plagen. Und nach jedem Mal wurde sein Gemüt verschwommener und unklarer.
Oft hatte er sonderbare Einfälle. Z. B. konnte er sich einreden, daß ein Unglück nahe sei, ohne daß diese Annahme im geringsten begründet war. Einst war er in der Stadt gewesen und hatte Nahrungsmittel eingekauft. Da er etwas in der rechten Hand hielt, vertäute er das Boot mit der linken. Dadurch bekam der Knoten eine andere Richtung, als er sonst zu haben pflegte. Wie er abends in seiner Kammer sitzt, kommt es ihm plötzlich wieder in die Erinnerung und ein Gedanke nimmt von ihm Besitz: Wenn dieser Knoten heute nacht so bleibt, wird ein Unglück geschehen. Er versucht sich zu zügeln, kann aber vor diesem Gedanken keine Ruhe bekommen. Dann muß er die Laterne anzünden, an den Strand hinuntergehen und den Knoten so binden, wie er es gewöhnlich zu tun pflegt. Erst dann fühlt er sich sicher.
Ein ander Mal erwacht er des Nachts, springt aus dem Bett und kleidet sich hastig an. Er muß hinaus und einen braunen Stein holen, der ihm am Abend vorher aufgefallen ist. Er liegt ganz in der Nähe. Wieder zündet er die Laterne an, findet ganz richtig den Stein, trägt ihn ins Haus und legt ihn neben das Bett. Dann entkleidet er sich und schläft sofort wieder ein.
Als er aber am Morgen erwacht, bleibt er lange liegen und starrt auf den Stein, denn er kann nicht begreifen, wie er dort hingekommen ist. Erst nach einer Weile, wie er beim Ankleiden ist, zieht das, was er in der Nacht getan hat, an ihm vorbei. Es kommt ihm vor, als hätte er eine Offenbarung gehabt.