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Unter fremdem Willen

Über dem kleinen kurländischen Flecken hingen schwere Gewitterwolken. Der schlecht gepflasterte Marktplatz war heute schneller geräumt worden wie sonst. Heftige Windstöße wirbelten den Staub in mächtigen Massen aufwärts und trugen ihn nach allen Richtungen auseinander. Die Läden der kleinen jüdischen Handlungen wurden vorsorglich geschlossen und manch ängstliches Hebräergesicht schaute besorgt auf den düsteren schwarzgrauen Himmel.

Im Zickzackfluge zuckte ein greller Blitz und erleuchtete die lutherische Kirche. Ein jäher Windstoß zauste die Bäume, die sie umstanden, und bog sie hin und her, als wären die alten Linden Rutenbündel. Und nun ertönte das erste schwere Donnergrollen.

Eilig schritten zwei Gestalten über die Brücke, die aus dem Flecken hinausführte. Das Flüßchen, das sich um den Ort im Halbkreise herumwindet, strömte schwarz und düster dahin und auf seiner Oberfläche kräuselten sich kleine unruhige Schaumkämme.

»Stepan Nikolaitsch, ich fürcht' mich,« sagte eine ängstliche Kinderstimme. Der elfjährige Knabe drängte sich dicht an seinen Begleiter, als wolle er bei ihm Schutz suchen vor dem drohenden Unwetter.

Der Volksschullehrer legte seine Hand beschwichtigend auf die Schulter des Knaben. In diesem Augenblick flammte der Himmel grell auf, als sei er mit einem gelbleuchtenden Tuche bedeckt, und ein Donnerschlag, so jäh, so gewaltig und vernichtend brüllte durch die Luft, daß die Erde erzitterte und das All wie verschlungen war vor der grandiosen Majestät der Naturgewalt.

Schreckensbleich waren die beiden stehengeblieben und starrten einander hilfslos an, der kleine, blasse, hagere Mann mit den unruhigen und unausgearbeiteten weichen Zügen, und der Knabe mit dem eckigen frühreifen Gesicht. Stepan Nikolaitschs knochige bleiche Rechte machte hastig ein Zeichen des Kreuzes, und seine Lippen murmelten: »Behüte uns, Jesus Christus und heilige Mutter Gottes.« Der Knabe wiederholte mechanisch dieselbe Geberde, aber seine Lippen blieben stumm.

Wortlos gingen sie wieder nebeneinander her. Da hob der Knabe den Arm und deutete auf die Anhöhe. »Vater Nikiphor!« sagte er schüchtern.

Jenseits des Flusses auf dem Kamm eines ziemlich schroff aufsteigenden Hügels schritt eine gewaltige schwarze Gestalt in wehenden Priestergewändern daher. Den Hut trug Vater Nikiphor in der Hand, das markige, massive Antlitz mit dem lang herabwallenden dunklen Priesterhaar, die breite kraftvolle Stirn durstig aufwärts gerichtet, als sehne sie sich nach einem kühlenden Tropfen von oben.

Stepan Nikolaitsch war zusammengezuckt, eine seltsame Unruhe kroch prickelnd durch seine Glieder.

»Er kommt wohl zu deiner Mutter, Krisch,« murmelte er leise, »da ... da bin ich ja eigentlich überflüssig.«

Der Knabe mochte die Unschlüssigkeit in der Haltung des Volksschullehrers herausgefühlt haben. Mit neugierigem Blinzeln blickte er Stepan Nikolaitsch ins Gesicht und fragte unvermittelt: »Fürchten Sie sich vor Vater Nikiphor?«

Der kleine Mann zuckte unwirsch die Achseln. »Fürchten! Weshalb sollt' ich mich denn fürchten! Frag' nicht so dumm, Krisch.«

Aber mit dem Instinkt des Kindes hatte Krisch das Richtige getroffen. Stepan Nikolaitsch fürchtete sich in der Tat vor dem gewaltsamen Manne. Seine sensitive Natur empfand jedesmal einen Schock, wenn er ihm gegenübertrat. Er hatte es sich bisher nur nicht eingestanden.

Nachdenklich hefteten sich seine Augen auf den Boden. Er hatte in seinen Büchern, die er aus seiner Heimatstadt Brjansk mitgebracht hatte, etwas über Medien, persönlichen Magnetismus und suggestive Gewalt gelesen. Daran mußte er jetzt denken, und es fiel ihm ein, daß er in der Gesellschaft gewisser Menschen sich leichter und freier und klüger fühlte, anderen gegenüber empfand er einen gewissen Druck, der sein ganzes Selbst lähmte und gleichsam mit Klammern umfing. Noch nie aber hatte er vor irgend jemandem eine solche matte Willenlosigkeit empfunden, noch nie war sein Selbst zu einem so farblosen Ding zusammengeschrumpft, wie vor den mächtigen strahlenden dunklen Augen des Vaters Nikiphor.

Eine kleine Hütte stand vor den beiden Wanderern. Es war eine Schmiede. Darin lag die schwerkranke Mutter des Knaben und wartete auf den Tod. Vater Nikiphor richtete seine Schritte dahin und abermals blieb Stepan Nikolaitsch stehen.

»Lassen wir Vater Nikiphor zuerst hineingehen,« sagte er dumpf, »geh, begrüß' ihn, ich komme dann später.«

Krisch lief eilig voraus und traf mit dem Popen vor der Tür zusammen. Mit einer raschen Handbewegung bedeutete Vater Nikiphor dem Schullehrer, daß er ihn gesehen habe und ihn sprechen wolle. Unschlüssig blieb Stepan Nikolaitsch vor dem Häuschen stehen und trat hastig von einem Fuß auf den andern. Ihm war die Begegnung fatal, und doch wußte er nicht, wie er sich ihr entziehen sollte. Nach der Art schwacher Naturen spürte er plötzlich das Bedürfnis, etwas Eigenmächtiges, ganz Willensstarkes zu tun, hineinzugehen und zu Vater Nikiphor zu sagen: Hören Sie, ich habe keine Zeit auf Sie zu warten, wenn Sie mich sprechen wollen, wissen Sie ja, wo Sie mich zu finden haben. Aber als er sich die zwingenden Augen und das behagliche spöttische Lächeln des Priesters vergegenwärtigte, warf er den Gedanken weit fort und murmelte halblaut vor sich hin: »Stepan Nikolaitsch, du bist ein Hase – was ist dabei zu machen?«

Was wollte nur der Pope von ihm? Hatte er, der kleine Schullehrer, dem Vater Nikiphor nicht gesagt, daß er seine religiösen Anschauungen nicht teile, daß er an nichts, durchaus an gar nichts glaube, als an die Atome? Ja, das hatte er ihm klar und deutlich gesagt, er erinnerte sich noch heute daran mit einem gewissen Stolze. Dann aber hatte Vater Nikiphor mit einem breiten Lächeln und einer gleichsam wegwischenden Handbewegung gesagt: »So! Also Sie glauben noch an die Atome! Ausgezeichnet, immer besser an die Atome zu glauben, als an das leere Nichts. Jedenfalls glauben Sie dann aber auch, daß man am Montag nicht auf Reisen gehen und am Freitag nichts Neues unternehmen solle.« Und da das auf ein Haar stimmte, hatte Stepan Nikolaitsch verlegen geschwiegen. Seitdem war es ihm in Vater Nikiphors Gegenwart nicht recht geheuer. Und dennoch – waren sie beide mit dem Küster und seiner dicken Frau Matriona Fadejewna und ein paar Postbeamten nicht die einzigen Russen in dem kurländischen Flecken, der von Deutschen, Juden und Letten wimmelte? Sie hatten doch allen Grund, schon als Landsleute zusammenzuhalten. Von Vater Nikiphors verstorbener schwindsüchtigen Frau erzählte man sich, daß sie grausam von ihm mißhandelt worden sei, und somit war das Sprichwort: »Sie hat es so gut wie eine Popenfrau« diesmal zuschanden geworden.

Aufgeregt ging Stepan Nikolaitsch vor dem Häuschen auf und nieder. Immer dräuender und dunkler umzog sich der Himmel, und seht fielen einzelne schwere Tropfen auf die Landstraße und malten kreisrunde dunkle Flecken in den grauen Staub. Aus der Hütte hörte der Volksschullehrer die sonore Stimme des Popen Gebete murmeln, und wie fasziniert von dem Klange blieb er jedesmal einige Sekunden vor der geschlossenen Fensterlade stehen. Die fallenden Tropfen wurden heftiger und dichter, und endlich strömte und goß es in zornigen Fäden prasselnd von der dunklen Himmelsdecke nieder.

Der Volksschullehrer drückte die Tür auf und trat tastend in den dunklen Flur. Seine Kleider waren naß, und er strich sich die Tropfen aus dem Gesicht. Aus der halboffenen Tür des Nebenraumes leuchtete ein roter Lichtschein. Vor dem Krankenlager standen mit offenem Munde der lettische Schmied Kruhming und Krisch, sein Sohn, und folgten gespannt den Bewegungen Vater Nikiphors.

Der Pope sprach die Sterbegebete, bückte sich dreimal tief und machte das Zeichen des Kreuzes. Dann trat er von dem Bette zurück. Seine mächtige Gestalt schien den ganzen Raum auszufüllen. In ihre Kissen versunken, mit wächsernen spitzen Gesichtszügen lag die Kranke regungslos wie ein totes Etwas, und nur ihre sterbenden Hände auf der Bettdecke zuckten leise und krampfhaft, als wollten sie sagen: Noch sind wir.

In demütiger Haltung trat der Schmied auf den Priester zu und küßte ihm die Hand. Krisch Kruhming war erst seit zwei Jahren griechisch-orthodoxer Konfession und hatte seinem Pastor durch seinen Übertritt zur griechischen Kirche einen Streich spielen wollen, denn die geistliche Vermahnung wegen seiner Trunksucht war ein wenig derb ausgefallen. Überhaupt war das Verhältnis zwischen Letten und Deutschen schon seit Jahren ein mißliebiges, und Vater Nikiphor hatte redlich das Seine getan, um die Kluft zu vergrößern. Es war sein Ehrgeiz, Pastor Brenner, »diesem feinen Herrensöhnchen«, wie er sich spottend ausdrückte, möglichst viele Schäfchen abspenstig zu machen. Bei Krisch Kruhming, dem Schmied, war das Spiel leicht gewesen; der willenlose Trunkenbold war nicht der Mann, sich dem zwingenden Einfluß Vater Nikiphors zu entziehen, und so war es denn auch selbstverständlich, daß der kleine Krisch aus der lettischen Volksschule in die russische Kirchenschule trat.

Der schwerfällige Bube mit dem altklugen Gesicht wurde der Liebling des jungen Volksschullehrers. Sein weiches, schüchternes Gemüt zog ihn zu dem Kinde des Trinkers, hatte er doch auch als Knabe unter ähnlichen Verhältnissen gelitten. Mit nachsichtiger Geduld nahm er sich des neuen lettischen Schülers an.

Stepan Nikolaitschs Blicke gingen ruhelos zwischen der sterbenden Frau und der wuchtigen Gestalt des Popen hin und her, da trat Vater Nikiphor in den Rahmen der Tür zwischen ihn und das Licht und sprach zum Schmiede: »Gebt uns ein paar Pferdedecken mit – für Stepan Nikolaitsch Goruschkin und mich, sonst bringen wir bei dem Regen keinen trockenen Faden heim.«

»Jawohl, jawohl, Vater Nikiphor«, stotterte der Schmied und sprang eilig davon. Der kleine Krisch drängte sich inzwischen leise an den Volksschullehrer, faßte seine Hand und flüsterte heiser: »Mutter wird sterben.«

In einer zärtlichen Regung faßte Stepan Nikolaitsch den Kopf des Kindes, seufzte und preßte ihn an seine Brust. Ein tröstendes Wort fand er nicht.

Der Schmied kam mit den Decken. Die beiden Männer hüllten sich hinein, der Pope machte eine Geberde des Segnens, und beide schritten ins Freie.

Das Gewitter hatte seinen Zorn ausgetobt. Nur in der Ferne grollte noch ein wuchtiges Donnern und eintönig prasselte der Regen nieder. Glänzend und frisch stand das Grün des Bergrückens gegen das schwere Grauviolett der Wolken, blank und gewaschen leuchteten die Dächer des Fleckens, das Flüßchen strömte mit leisem Gurgeln vorüber und links am Ende des Ortes hob sich in großen Linien das freiherrliche Schloß.

Wuchtig schritt Vater Nikiphor dahin, an seiner Seite in nervöser Gangart hastete Stepan Nikolaitsch. Sie sprachen kein Wort.

Vor der Brücke blieb Vater Nikiphor stehen und erhob seinen Arm. Er deutete aus das Schloß. »Da hausen unsere Widersacher,« sprach er mit grollendem Ton, »diese sogenannten deutschen Kulturträger mit ihrem Lutheranerglauben. Warme Nesterchen haben sie sich hier zu bauen verstanden, das muß man sagen, und aus uns Russen, denen das weite große Zarenreich gehört, sehen sie mit demselben Hochmut herab wie auf die Letten und Juden. Ich sage dir, Brüderchen, Slaventum und Germanentum – das sind zweierlei Pferde, die ziehen nicht am selben Gespann.«

»Schon wahr«, murmelte der Volksschullehrer, und um etwas zu sagen, fügte er hinzu: »Das Zarenreich ist doch aber weit genug für alle.«

Zornig lachte Vater Nikiphor auf. »Weit genug – meinst du? Vielerlei Völker hausen im Reich des weißen Zaren, Tataren und Mongolen, Tschuktschen und Tungusen – gut; gastfreundlich und geduldig ist unser Volk, es wehrt ihnen weder Wohnung noch Weide, und sie beugen sich unserem Väterchen – gesegnet sei der Zar Nikolai Alexandrowitsch – aber hier, mit diesen deutschen Baronen und Literaten, ist's eine andere Sache. Hochmütig sind sie, alles besser wissen wollen sie, in den Staatsdienst drängen sie sich, und Orden und Ämter bekommen sie, und unser Russe steht sehnsüchtig daneben. Drängen etwa die Tataren und Mongolen, die Tschuktschen und Tungusen unseren Bruder von seinem ihm zukommenden Platz des erstgeborenen Sohnes fort – he? Antworte mir, Brüderchen, Stepan Nikolaitsch Goruschkin, Wohlgeboren, antworten Sie mir doch!«

Verwirrt blickte der kleine Mann auf. Ein seltsamer Trotz stieg in ihm empor. »Peter der Große, der große Zar, hat die Ausländer nun aber doch selbst in unser Reich geführt«, sagte er.

»Schön. Und wir, die neue Zeit, das zwanzigste Jahrhundert, werfen sie wieder hinaus! Brauchen wir etwa Ausländer, um zu leben und zu herrschen, wie? Kann sein, daß wir sie einstmals brauchten. Aber jetzt? Lächerlich! Bauen wir nicht selber Fabriken? Spinnen und weben wir nicht? Einen Wodka, wie wir ihn brauen, den kann man in ganz Germanien suchen!«

»Der Wodka, der unser Volk zu Tode peitscht,« murmelte der Volksschullehrer bitter, »besser, er wäre nie erfunden worden.«

Vater Nikiphor überhörte den Einwurf. »Die Deutschen mit ihrer ganzen Kultur,« fuhr er grimmig fort, »die haben ihre Rolle ausgespielt, sag' ich Ihnen, Stepan Nikolaitsch – ausgespielt! Wir können ohne sie fertig werden. Und weißt du, Brüderchen, wer uns helfen wird unser russisches Zarenland reinfegen? Diese Letten und Litauer und Esten mit ihren harten Schädeln ... ja und auch die Juden. Lange genug haben sie das Joch der Barone getragen. Nun mögen sie sehen, wie sie miteinander fertig werden! Wir schauen zu und waschen unsere Hände in Unschuld – mögen sie sich gegenseitig aufreiben! Die Parole geben wir aus und lachen uns ins Fäustchen ... ja – das nennt man Politik!«

Er lachte aus vollem Halse.

Nachdenklich hatte der Volksschullehrer den Kopf gesenkt. »Ich meine, der Wohlstand der hiesigen Bauern ist ein größerer als bei uns im Orelschen. Hier hört man von keiner Hungersnot, und bei uns – ach du lieber Gott! – in jedem Jahre hungert unser Bauer in einem anderen Gouvernement.«

Wieder überhörte der Pope diesen Einwurf. »Ich hatte gestern einen sonderbaren Traum«, fuhr er fort. »Unsere heilige Kirche stand vor dem Himmelstor, und ihre Kuppeln strahlten von Silber und Gold. Rings um sie her standen diese lutheranischen und polnischen Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel und alle die anderen und beugten sich nieder vor unserer rechtgläubigen Kathedrale, und ihre Kuppeln mit ihren lutheranischen Hähnen und mohamedanischen Halbmonden berührten den Staub. Und eine große Stimme sprach: Nur durch die rechtgläubige Kuppelkirche führt der Weg zu Mir.«

Vater Nikiphor hatte sich hoch aufgerichtet. Seine Augen glühten fanatisch, die Pferdedecke war von seiner Schulter geglitten. Beschwörend hob er den Arm.

Ein eisiger Schauer kroch über den Rücken des kleinen Schullehrers. Fasziniert hing sein Blick an dem Priester. »Ich glaube ja an nichts,« wiederholte er sich im Innern, »an nichts außer den Atomen.« Aber während seine Lippen diese Worte flüsternd formten, fühlte er, daß er sie nur mechanisch vor sich hinplapperte – ich glaube ... ich glaube an die Kraft dieses starken und doch beschränkten Mannes, fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf.

»Kommen Sie, Vater Nikiphor,« sagte er endlich mit stockender Stimme, »Sie werden ganz naß.«

Der Priester rührte sich nicht. »Wissen Sie, Stepan Nikolaitsch, wer es ist, der unsere rechtgläubige Kirche hemmt und hindert? Die Letten und Litauer und Esten, die beginnen sich unserem heiligen Glauben zuzuwenden, wer uns aber in unserer Bekehrungsarbeit aufhält – das sind diese deutschen Barone und deutschen Pastoren, und darum müssen sie uns die Bahn freigeben: wir oder sie! ... Wir oder sie!« wiederholte Vater Nikiphor mit gerunzelten Brauen und schritt mit gewaltigen Tritten ins Städtchen hinein. »Wir oder sie!«

Und wieder formten sich diese kurz hervorgestoßenen drei Worte in der Seele des Volksschullehrers zu einer neuen Bedeutung um. Ich oder du ..., klang es mit schreckhafter Deutlichkeit in ihm wieder ... ich oder du ..., und eine angstvolle Gewißheit legte sich ihm lähmend auf die Seele: Du – – du! Wie könnte es anders sein? Er seufzte tief, und wehrlos fragte er: »Was ist dabei zu machen?«

Sie waren über den verödeten Marktplatz getreten. Die Fensterläden der hebräischen Handlungen hatten sich wieder geöffnet, hier und da hastete unter einem mächtigen Regenschirm ein eiliger Fleckenbewohner vorüber wie ein triefender wandelnder Pilz. In der langen Straße wurden hastig in einem niedrigen gelbgestrichenen Hause die Fensterläden aufgestoßen. Zwei Mädchenköpfe, ein blonder und ein brauner, beugten sich heraus.

»Da geht die russische Geistlichkeit – in einer Pferdedecke, nein, wie komisch!« kicherte eine Stimme, »du, Wally, der Pope ist übrigens ein schöner Mann!«

»Der Schullehrer gefällt mir viel besser, er hat ein sanftes gutes Gesicht, vor dem Popen würd' ich mich fürchten,« war die rasche Antwort, »es wär' eigentlich ein christliches Werk, wenn wir den beiden Russen unsere Regenschirme anböten.«

»Nun, so tun wir's doch!«

»Ach nein, lassen wir's, Wally, das sähe aufdringlich aus!«

»Aber nun erst recht – kommst du mit, Mietze? – sonst geh' ich allein!«

Die Braune stand ein paar Sekunden später auf der Straße, zwei Schirme in den Händen. Sie war ein schönes Mädchen mit kurzgeschnittenem Haar und kecken feurigen Augen. Schüchtern war ihr die blonde Mietze gefolgt.

»Erlauben Sie, daß wir Ihnen unsere Schirme anbieten!« sagte Wally in fließendem Russisch.

»Sie sind sehr liebenswürdig,« sprach Vater Nikiphor, »und ich weiß diese Liebenswürdigkeit um so mehr zu schätzen, da sie uns von deutschen Damen geboten wird.« Seine machtvollen Augen überflogen die kraftvolle Gestalt der Brünetten und bohrten sich in das zarte Gesicht der blonden Mietze.

Stepan Nikolaitsch sagte nichts, er riskierte eine ungeschickte Verbeugung und sah erstaunt zu der Brünetten hinüber, deren Antlitz sich mit warmem Rot übergossen hatte. Dann gingen die Männer weiter.

»Die Blonde ist die Schwägerin des Veterinärarztes Schulz,« flüsterte er aufgeregt, »ein hübsches Mädchen, die andere ist ihre Nichte oder Kusine aus Libau, zum Besuch hier.«

»So, so ... Sie scheinen ja außerordentlich gut Bescheid zu wissen!« sagte Vater Nikiphor lachend. »Nun, so will ich Ihnen denn auch großmütig überlassen, die Schirme wieder abzuliefern.«

Vor der Apotheke stand der Wagen des deutschen Pastors Brenner. »Da sitzt Hochwohlehrwürden, das Herrensöhnchen,« murmelte der Priester höhnisch, »wart', Brüderchen, wir haben noch eine lange Rechnung miteinander auszugleichen.«

Der Pastor, ein kräftiger Mann mit einem ruhigen diskreten Gesicht, grüßte gemessen, während Vater Nikiphor den Hut schwungvoll zog und seinen deutschen Kollegen mit herausfordernder Miene anstarrte.

»Ich oder du!« sagte Vater Nikiphor mit harter höhnischer Stimme. Dann lachte er ein breites zorniges Lachen. »So ist's – – ich oder du!«

Und in dem Klang seiner Stimme stand das Ich so mächtig, breit und protzend da, daß der Volksschullehrer aus einer Art von betrachtungsvoller Betäubung erwachte und es schien, als trete das »Du« von vornherein wie ein wesenloser Schatten in den Hintergrund.

»Natürlich!« murmelte er in seiner Versunkenheit und mühte sich, durch den zerschlissenen Regenschirm ein Streifchen des grauen weinenden Himmels zu erspähen. »Natürlich.«

Sie schritten am Friedhof vorüber. Durch das tropfende Grün der Birken und Syringenbüsche leuchtete hier und da ein blasses Marmorkreuz unter den dunklen triefenden Holzkreuzen freundlich hervor. Bald standen die Landsleute vor der neuerbauten russischen Kirche mit ihren grünen Kuppeln.

»Auf Wiedersehen, Stepan Nikolaitsch«, sagte der Priester kurz und schritt dröhnend in den Hausflur der Kirchenschule hinein. Die Popenwohnung lag zu ebener Erde wie die Schule, während der Volksschullehrer seine zwei Stübchen eine Treppe hoch hatte, gegenüber den Zimmern des Küsters und Psalmensängers Terenti Kusmitsch Skworzoff.

Erschöpft trat der kleine Mann in seine Wohnung und setzte sich nachdenklich an seinen Tisch. Er stützte den Kopf in die Hand und seufzte schwermütig. Draußen der graue bewölkte Regenhimmel über dem Gewirr von roten feuchtglänzenden Dächern, von denen die Tropfen langsam herabrieselten – nein, er wußte, er war ein Fremdling hier und würde sich nie heimisch fühlen unter der kurländischen Bevölkerung. Hier drinnen die leere, unwohnliche Stube, der Boden mit angerauchten Zigarettenenden bestreut, auf Kommode und Stühlen einige halbausgeschnittene russische Zeitschriften mit schlechten Illustrationen. In der Ecke das eiserne Bettgestell mit der roten verblaßten Flanelldecke, an der Wand die farbigen billigen Abdrucke des szeptertragenden Zaren und der Zarin. Aber ein vergessenes Stückchen Zucker aus dem Tisch hatte sich ein Schwarm gieriger Fliegen hergemacht und klebte in lüsterner Versunkenheit daran. Verstohlen hob Stepan Nikolaitsch die Hand, um sie mit einem Schlage zu zerschmettern. Dann überkam ihn ein grenzenloses Gefühl des Ekels, und mutlos lieh er die Hand wieder sinken. Was nutzte die Gewalt? Waren diese Fliegen vernichtet, so sammelten sich wieder neue, so lange der Sommer währte oder ein Gegenstand vorhanden war, der ihr Interesse erweckte. War es nicht so mit allen Dingen? Er öffnete das Fenster, ergriff das Stückchen Zucker – summend stoben die Fliegen auseinander – und schleuderte es weit hinab aus die Gasse. Leise und zierlich kam eine gelbe Katze geschlichen, hob die weißen Pfötchen wie ein Dämchen über die nassen unregelmäßigen Pflastersteine, und beroch das Zuckerstück. Mit den grünlichen funkelnden Augen blickte sie um sich, schielte zu dem einsamen Manne am Fenster empor und stieß ein klägliches Miau aus. Dann sprang sie auf einen Prellstein, setzte sich graziös zurecht und begann ihre Pfötchen zu belecken. Schwerfällig, mit breit ausladendem Schritt kam ein lettischer Bauer gegangen, einen gestrickten Schal um den Hals, die Mütze tief über das struppige Haar gezogen; er trieb mit einer Peitsche ein Schwein vor sich her. Widerwillig grunzend lief das Tier mit kleinen eiligen Schritten, bewegte das geringelte Schwänzchen und schob den schnüffelnden Rüssel am Boden entlang. Jetzt hatte es das Zuckerstück erwischt und verspeiste es mit schmatzendem Behagen. »Nu, nu – vorwärts!« bellte der Bauer und ein Peitschenhieb fiel aus den feisten Rücken des Tieres nieder. Erschreckt sprang das Kätzchen vom Prellstein, tschirp, tschirp machten die Spatzen aus den Dächern und mit melancholischem Lächeln trat Stepan Nikolaitsch vom Fenster zurück.

Er warf sich aus das Bett und starrte zur Decke empor. War das ein Leben, das er hier führte? Vor seiner Seele lag das heimatliche Städtchen Brjansk, und die Erinnerung überzog es mit leuchtenden sonnigen Farben. Der polternde, stets betrunkene Vater; die schüchterne verängstete Mutter, die ihren mageren Rücken in gleicher Weise vor den Heiligenbildern und über ihr Nähzeug krümmte; die kleine flachshaarige Schwester Katiuscha, deren Zäpfchen, am Sonntag naß und frisch geflochten, steif und artig von dem dünnen Hälschen abstand; die raufenden Gassenjungen mit ihrem Geschrei und ihrem Knöchelspiel – in der Erinnerung war ihm alles lieb und heimatlich.

Dann die mühseligen Schuljahre, das staunende Entzücken, als er zum erstenmal mit etlichen Kameraden auf der Eisenbahn ins freie Land hinausgefahren war, aus der Enge rauchender Fabrikschlöte hinaus in grüne Wälder, auf lachende Wiesen, unter armselige gutmütige Bauern, die ihr Leben dahinfristeten in schwerer Feldarbeit bei ungenügendem Einkommen und es nicht besser kannten. Da war der Entschluß in ihm entstanden, Volksschullehrer zu werden und die aufklärende Sonne der Bildung hineinzutragen in die kümmerlichen Hütten der Landbewohner. Und was war daraus geworden? Jahrelang hatte er in seiner passiven stillen Weise gegen die dumpfe mißtrauische Unwissenheit in seinem Volke angekämpft, angekämpft gegen Trägheit, Aberglaube und Gleichgültigkeit ... und was hatte er geerntet? Spott und Feindseligkeit von den Bauern, die den Städter in ihm mißachteten, Mißtrauen und Verständnislosigkeit von den Seinen. Die kleine Schwester war groß und hübsch geworden, und man hatte sie gegen seinen Willen mit einem ärmlichen kranken Gemüsehändler verkuppelt. Seinen einzigen Freund, einen jungen Schreiber aus Brjansk, einen Hitzkopf voll sozialistischer Ideen, hatte die Polizei aufgestöbert und auf administrativem Wege nach Sibirien verschickt – da war eine große Hoffnungslosigkeit über Stepan Nikolaitsch gekommen, und er hatte sich nach den baltischen Provinzen versetzen lassen.

Müde und teilnahmlos hatte er sein hiesiges Amt angetreten, müde und teilnahmlos war er seither geblieben. Nur ein zehrendes Heimweh nagte an seiner Seele und wuchs von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. Dazu gesellte sich ein bitterer Vorwurf: warum war er nicht daheim geblieben? Da hätte er doch wenigstens jemanden gesunden, dem er in seiner eigenen Sprache sein Leid hätte klagen können und der ihn verstanden hätte. Er hatte die traurige Wahrheit noch nicht erkannt, daß er zu jenen Einsamen gehörte, die überall und unter allen Umständen Einsame bleiben, weil sie es nicht vermögen, aus sich herauszutreten, weil es ihnen an der zuversichtlichen Kraft und dem Selbstbewußtsein gebricht, die allein dem Schicksal gewachsen sind.

Stepan Nikolaitsch strich sich über die Stirn und stöhnte. Ein qualvolles Bedürfnis zu reden, von den Seinigen daheim, von seinem Freunde, dem verschickten Kameraden, ein Bedürfnis zu renommieren, sich großzutun in seiner Kleinheit, sein heimwehkrankes Selbst zu übertäuben, wurde in ihm wach und trieb ihn von seinem Lager empor. Er öffnete die Tür und spähte die Treppe hinab. Nur den Vater Nikiphor nicht sehen, nur dem gewaltigen Manne nicht begegnen, neben dem er sich vorkam wie eine zappelnde wehrlose Fliege im Netz gegenüber der siegessicheren Spinne! Mit zögernden kleinen Schritten ging er über den Flur und klopfte an die Tür seines Nachbars, des Küsters Skworzoff.

»Herein!« rief eine fette Stimme.

Unwillkürlich nahm Stepan Nikolaitsch eine selbstgefällige nachlässige Haltung an und drückte die Tür auf.

An einem großen ungestrichenen Tisch saß eine dicke Frau in mittleren Jahren, vor sich eine Schüssel mit Erbsen. Emsig war sie dabei, sie aus den Schoten zu streifen; die hellgrünen saftigen Dinger sprangen klirrend in eine Tonschüssel.

»Guten Tag, Stepan Nikolaitsch, nur immer herein!« sagte die Frau gutmütig. »Es ist recht, daß Sie kommen, da können Sie mir gleich ein wenig behilflich sein. Nehmen Sie nur Platz, Väterchen, und erzählen Sie mir etwas. Gott – ist das ein böses Wetter heute!«

»Ganz abscheulich, Matriona Fadejewna«, sagte Stepan Nikolaitsch mit einem Seufzer und setzte sich. »Also erzählen soll ich Ihnen? Ja, was soll ich Ihnen denn nur erzählen?«

»Wo waren Sie denn heute? Sie sollen ja zwei hübschen jungen Damen begegnet sein, die Sie mit Regenschirmen versehen haben.«

Stepan Nikolaitsch wurde ein wenig rot. »Also das wissen Sie auch schon – was bleibt mir da zu erzählen übrig? Warten Sie«, sagte er, als wolle er sich besinnen, und zog die Erbsenschüssel näher zu sich heran. Umständlich öffnete er eine Schote um die andere. »In der Heimat, im Seminar hatte ich einen Freund – ein prachtvoller Mensch, nur ein wenig rot, wie das schon so geht. Ich liebte ihn sehr, und auch er bevorzugte mich vor allen Kameraden. ›Laßt mir den Stiopka in Ruhe!‹ sagte er, ›in dem steckt was, stille Wasser sind tief!‹ – Ja ... ja ...« Sein Kopf sank ihm tief auf die Brust, während er sprach, und er seufzte schwer. »Hm!« räusperte er sich, um seiner Stimme mehr Festigkeit zu geben, »Wladimir Gruschewsky war ein hübscher Bursch – – er konnte sich überall sehen lassen, und die Mädchen waren auf ihn rein wie versessen – meine Schwester Katiuscha natürlich mit, und Augen machte sie ihm – so große! Sein Vater war Kaufmann, hatte Geld, hielt es aber ungemein zusammen wie so ein Knicker, – nu und Wolodjka wurde ziemlich kurz gehalten. Eines Tages – es war vor Schulanfang in unserem letzten Seminarjahr – kommt Wolodjka zu mir, bleich, mit zerzaustem Haar und glühenden Augen. ›Stepan‹, sagte er und packt mich bei den Schultern, ›bist du mein Freund oder bist du's nicht?‹ – ›Wozu die Worte?‹ sag' ich, ›du weißt es!‹ Da setzt er sich aus die Ofenbank, streckt die Beine lang von sich, steckt die Hände in die Rocktaschen und kehrt sie um. ›Ich hab' mein Schulgeld verspielt‹, sagt er einfach, ›alles bis auf die letzte Kopeke. Morgen werd' ich aus dem Seminar gejagt, und dann schieß' ich mir eine Kugel vor den Kopf!‹ – Ich sehe ihn an, er mich, und ich fühle, daß er die Wahrheit spricht. Kalt kriecht es mir über den Rücken. Ohne ein Wort zu sagen, kehre ich mich zur Wand und beginne einen losen Ziegelstein herauszuheben – dahinter pflegte ich mein Geld vor meinem Vater zu verstecken. Ich gab damals ein paar kleinen Gymnasiasten Nachhilfestunden und sparte zu einem neuen Anzug und zu einem neuen Osterkleide für Katiuscha. Ich nehme also das Geld heraus, füge den Ziegelstein ordentlich zurück und drücke es ihm in die Hand. Er springt auf, umarmt mich und sagt: ›Stiopka, das vergeß' ich dir nie!‹ –«

Aufmerksam hatte die dicke Frau zugehört. Ihr breites gutmütiges Gesicht mit dem glatt anliegenden Scheitel und den kleinen zusammengekniffenen Äuglein drückte eine Welt von Wohlwollen und Bewunderung aus.

»Nu, das war aber schön!« lobte sie. »Hat er es Ihnen wiedergegeben?«

Stepan Nikolaitsch zögerte einen Moment. »Nach einem Jahr – ja«, sagte er. »Er wurde Sekretär bei einem Advokaten, war ein gescheiter Kopf – und findig. Reden konnte er halten, besser wie der Advokat selber, und in die Katiuscha verliebte er sich sterblich. Ich war damals aus dem Lande in meiner Schule, da hörte ich, daß er nach Sibirien verschickt worden sei. Solch ein Mensch nach Sibirien verschickt – stellen Sie sich vor! Man hatte verbotene Schriften bei ihm gefunden, und eins, zwei, drei packt man ihn auf und zieht ihm die gelben Stiefeln an!«

Schmerzlich starrte der junge Mann vor sich nieder.

»Ja, ja,« sagte Matriona Fadejewna bedeutsam, »ins kalte Land, dahin kommt unsereins schnell genug. Gott bewahre uns!« Sie schlug ein Kreuz und fragte nach einer Pause: »Und haben Sie seitdem von ihm gehört?«

»Kein Sterbenswörtchen. Und darum, sehen Sie, liegt es mir wie ein Stein aus dem Herzen! Ich kann mir's nicht von der Seele reden, was mich drückt. Sind wir denn nicht auch wie in der Verbannung hier unter diesen fremden Völkern?«

»Ja, ja,« nickte Matriona Fadejewna trübselig, »ja, ... ja, ja. Der Vater Nikiphor, sehen Sie, der ist aus anderem Holze geschnitzt, der lebt durch den Haß. Wie ein Feuer brennt der Haß in ihm fort und erhält ihn bei Kraft und Gesundheit, aber Traurigkeit frißt einem an der Seele wie ein Wurm und macht schwach und hinfällig. Stepan Nikolaitsch –,« sie beugte sich über den Tisch zu ihm vor und flüsterte: »nehmen Sie sich vor Vater Nikiphor in acht – er ist kein guter Mensch. Erträgt böse Gedanken mit sich umher.«

»Böse Gedanken ... wieso denn?« fragte Stepan Nikolaitsch.

»Nu, ich will nichts gesagt haben, aber ich weiß, was ich weiß!« sagte die dicke Frau geheimnisvoll. »Seine arme Frau ... hab' ich auch noch gekannt. Gott, war das ein Kreuz!«

In diesem Augenblick ertönte ein wuchtiger Schritt aus dem Flur, die Tür wurde aufgerissen, und in seiner ganzen Größe stand die breite Gestalt des Popen vor den beiden.

»Eh, Matriona Fadejewna, meine Gute, können Sie mir nicht sagen, wo Ihr Mann steckt?« fragte der Geistliche laut. »So so, Erbsen bolstern wir? Eine nützliche und angenehme Beschäftigung!«

Ungeniert fuhr er mit der breiten Faust in die Schüssel und nahm sich eine Hand voll heraus.

Eilig war die Küstersfrau aufgesprungen und strich ihre Schürze zurecht. »Kusmitsch wird in die Kirche gegangen sein, um alles zum morgenden Festtag vorzubereiten«, sagte sie. »Befehlen Sie etwas, Vater Nikiphor?«

»Er soll nachher zu mir herunterkommen, ich muß ihn notwendig sprechen. Nun und Sie, Stepan Nikolaitsch – waren Sie noch nicht mit den Regenschirmen bei den beiden Schönheiten – wie? Nein bewahre, das Männchen macht sich's bequem und schält Erbsen wie ein artiges Muttersöhnchen – ist auch die rechte Beschäftigung für Sie!«

Spottend strich er dem Volksschullehrer über die Haare.

Im Innersten gestachelt, saß Stepan Nikolaitsch da und öffnete den Mund zu einer heftigen Antwort. Aber die lähmende Gegenwart des gewaltsamen Mannes begann wieder ihre geheimnisvolle Wirkung zu üben, und er schwieg.

Am anderen Morgen war klares lichtes Sonntagswetter. In seinem neuen Anzuge, frisch gebürstet und rasiert begab sich Stepan Nikolaitsch sofort nach dem russischen Gottesdienst mit den beiden Regenschirmen zu den jungen hilfsbereiten Damen.

Er schellte an der Tür des Veterinärarztes. Sein Herz klopfte in starken unruhigen Schlägen. Er hatte sich eine wohlklingende Phrase zurechtgelegt.

Fräulein Wally Grundmann öffnete ihm selbst. Vor ihrer dunklen, ein wenig herausgeputzten Schönheit blieb ihm das Wort im Halse stecken. Er machte eine ungeschickte Verbeugung.

»Ich dachte schon, daß Sie kommen würden,« sagte das junge Mädchen fröhlich, »deshalb bin ich nicht mit meiner Kusine und den anderen Verwandten zur Kirche gegangen.«

Sie lachte, wie über einen recht gelungenen Streich, und ihre weißen Zähne blitzten. »Bitte, treten Sie nur näher.«

Sie führte ihn in einen kleinen spießbürgerlich eingerichteten Salon. Auf den verschlissenen roten Möbeln waren gehäkelte Schutzdeckchen sorgfältig angesteckt.

»Es war außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, uns die Schirme ... wie darf ich Sie anreden, Fräulein?« stotterte Stepan Nikolaitsch und nahm verlegen Platz.

»Ich heiße Wally Oswaldowna, da das aber für russische Zungen sehr unbequem ist, lasse ich mich von meinen russischen Bekannten in Libau Wally Iwanowna nennen. Und wie ist Ihr Name?«

»Ganz leicht und bequem auch für deutsche Zungen,« lächelte der Volksschullehrer, »Stepan Nikolaitsch. Sie haben viele russische Bekannte, Wally Iwanowna?«

»Eine Menge. Hier freilich, in diesem trübseligen Nest fehlt es uns ganz an Bekanntschaften. Das find' ich höchst langweilig!«

»Sie sprechen ein erstaunlich gutes Russisch für eine Deutsche!«

Sie lachte vergnügt. »Oh das ist kein Wunder, ich habe ja das russische Mädchengymnasium in Libau absolviert, außerdem war meine Großmutter väterlicherseits Russin. Da sie zu Zeiten Kaiser Alexanders des Zweiten ohne Reversal heiratete, konnten ihre Nachkommen lutherisch sein. Wir sind alle Protestanten.«

»Auf die Konfession kommt es ja nicht an«, sprach Stepan Nikolaitsch in der Absicht, etwas Bedeutendes zu sagen.

Die dunklen Augen der jungen Dame funkelten. »So? Sind Sie wirklich so freisinnig? Das setzt mich in Erstaunen. Ich hielt Sie für einen ausgesprochenen Orthodoxen. Sind Sie nicht mit dem russischen Geistlichen befreundet?«

»Ich war niemals mit Vater Nikiphor befreundet«, sagte Stepan Nikolaitsch mit Nachdruck.

»Man sieht Sie aber doch häufig zusammen gehen.«

Er zuckte die Achseln. »Ja was wollen Sie, Wally Iwanowna – wenn man unter lauter Fremden sozusagen aufeinander angewiesen ist und unter einem Dache lebte ... außer einigen Postbeamten und dem Küster Skworzoff gibt es ja keine Russen mehr.«

Sie sah ihn mitleidig an. »Da müssen Sie sich aber entsetzlich vereinsamt fühlen!«

»Entsetzlich!« wiederholte er dumpf.

»Ja, warum verkehren Sie denn, nicht in den deutschen besseren Häusern?«

»Will man uns denn empfangen?« fragte er bitter zurück. »Wir Russen werden ja seit der Russifizierung von der einheimischen Bevölkerung gehaßt!«

»Das ist ein Vorurteil!« sagte sie leichthin. »Ich zum Beispiel, ich hasse niemanden.«

Bewundernd blickte er ihr in das schöne, ein wenig kokette Gesicht. »Sie sind eben eine Ausnahme, Sie passen ja auch nicht in die hiesigen Kreise hinein!«

»Finden Sie?« Sie lachte geschmeichelt. »Ja, Sie haben recht – in Libau ist man vorurteilsloser. Aber da Sie nun einmal hier leben, sollten Sie sich mit der deutschen Sprache befreunden. Verstehen Sie kein Deutsch?«

»Gut Morgen, gut Abend, wie habben Sie geschljafen?« sagte er aus deutsch, »das ist alles!«

»Da haben Sie aber einen schlechten Lehrmeister gehabt. Es heißt nicht »gut« Morgen, sondern guten Morgen und guten Abend, nicht »habben«, sondern haben Sie geschlafen, nicht geschljafen.«

»Himmlische Gerechtigkeit! Ist das aber schwer!« seufzte er in komischer Verzweiflung.

Sie lachte lustig und hell. »Es ist gar nicht schwer,« tröstete sie, »wissen Sie, ich hab' einen guten Einfall: ich will Ihnen deutsche Konversationsstunden geben – und Sie, nun Sie erteilen mir dagegen einen Kursus, nun sagen wir in slavonischer Sprache.«

Des kleinen Mannes blasses Gesicht leuchtete auf. »Wäre das denn möglich?« fragte er zweifelnd.

»I – warum denn nicht? Aber die Vorurteile eines so lumpigen Fleckens setze ich mich natürlich hinweg.« Sie warf den hübschen Kopf zurück. »Übrigens, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich langweile mich hier zum Sterben bei meinen Verwandten, und leider soll ich noch ein rundes halbes Jahr hierbleiben. Mein Vater – er ist Provisor in Libau – gedenkt sich nämlich wieder zu verheiraten, und da soll ich dem jungen Familienglück aus dem Wege.« Ein kleines bitteres Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel.

Er hatte nur die erste Hälfte ihrer Rede beachtet. »Nur noch ein halbes Jahr!« sprach er bedauernd. »Und Sie wollten, wollten mir einsamen Menschen deutschen Unterricht geben, – mir Ihre Zeit und Ihre Gegenwart schenken? Das ist ein zu großes Glück für mich! Was kann ich Ihnen denn dagegen bieten?«

»Ach, seien Sie doch nicht sentimental! Muß denn durchaus alles gegeneinander abgewogen und genau bezahlt werden?« sagte Fräulein Wally großartig. »Wir sind doch keine Krämerseelen, Stepan Nikolaitsch.«

In stummem Entzücken blickte der Volksschullehrer in das blühende junge Gesicht. Noch nie glaubte er etwas so Schönes, so Gütiges gesehen zu haben.

»Sie sind so schön, so gut, so außerordentlich ... ich finde keine Worte ...«, murmelte er verwirrt.

Wieder lachte sie ihr helles klingendes Lachen. »Ich will Ihnen etwas sagen, Stepan Nikolaitsch – ich bin gar nicht gut, ich bin bloß frei – freier als die anderen.«

Sie wurde ernst und ein kindlicher sehnsüchtiger Ausdruck flog über ihre Züge. »Ich möchte gern gut sein, so im großen, verstehen Sie – aufopfern möcht' ich mich, eine große gute Tat tun, für etwas Großes leiden, ja sterben – aber mich nicht täglich mit all dem kleinlichen Kram herumplagen! Das macht so müde, so ungeduldig, und ich bin eine große Egoistin und hasse das Langweilige.«

Versunken lauschte Stepan Nikolaitsch ihren Worten. Es schien ihm, als spräche seine eigene frühe Jugend zu ihm, als höre er seinen verschickten Freund Wladimir reden. Hatte er nicht selbst ähnliche Anwandlungen gehabt? Sterben für eine große Idee – ja, das ließ sich hören! Aber nach Sibirien verschickt zu werden ohne weiteres Beweismaterial als ein paar verbotene Schriften – aber ein kleinliches, gleichsam abgestricktes Leben führen ohne großen Inhalt, wo sich Tag an Tag wie Masche an Masche reihte – das tötete langsam und machte stumpf und feige. Das Bewußtsein seines ganzen Jammers kam heiß über ihn. Starr blickte er zu Boden, und sein blasses gequältes Gesicht sah anziehend und interessant aus.

So dachte wenigstens Fräulein Wally. Sie hielt ihm die Hand hin. »Wir wollen gute Freunde werden!« sprach sie herzlich. »Wann beginnen wir unsere Stunden? Ist Ihnen Mittwoch und Sonnabend von 4 bis 5 nachmittags recht?«

»Hier?« fragte er noch immer zweifelnd.

»Gewiß hier. Um meine Verwandten sorgen Sie sich nicht. Die tun alles, was ich will. Ich verstehe es, mich verwöhnen zu lassen!« fügte sie mit koketter Schelmerei hinzu.

Sie waren aufgestanden. Das Glücksgefühl machte ihn schwindlig. Ungeschickt stolperte er über die Treppe und fand sich in einem verträumten seligen Zustande aus dem Heimwege.

Im Flur wartete sein Lieblingsschüler Krisch aus ihn. Der Knabe hing den Kopf und sah scheu mit geröteten Augen drein.

»Mutter ist tot«, sagte er mit stumpfem Ausdruck.

»Wann ist sie gestorben?«

»Heute morgen um drei Uhr. Übermorgen soll sie beerdigt werden.«

Der Volksschullehrer faßte den Knaben bei der Hand und ging mit ihm die Treppe empor. Er fühlte sich heute so reich beschenkt, so beglückt, daß die ungeschickte Sprödigkeit seiner Natur sich langsam abzulösen begann, wie eine zu eng gewordene Hülse.

»Du hast wohl die ganze Nacht nicht geschlafen, Krisch?« fragte er weich.

»Bis sieben Uhr nicht«, knurrte Krisch. »Ich graul' mich so.«

»Armer Kerl!« sprach Stepan Nikolaitsch mitleidig, »wart', ich will dir eine warme Tasse Tee kochen, und nachher streckst du dich auf mein Bett aus und schläfst.«

Der Junge zögerte. »Ich muß noch zum Vater Nikiphor – anmelden. Vater hat mich geschickt.«

»Das werd' ich schon ausrichten, bleib' nur ruhig bei mir!«

Geschäftig ging Stepan Nikolaitsch in die Nebenkammer, die ihm als Küche diente, machte Feuer an und kam bald mit einer dampfenden Teemaschine wieder. Dann goß er den Tee auf, stellte Butter, Brot und Zucker nebst zwei Tassen auf den Tisch, hieß den Knaben Platz nehmen und schenkte ein.

»So, nun greif zu und trink, Junge!« sagte er.

Mechanisch schlürfte Krisch seinen Tee und sah den Lehrer mit runden verwunderten Augen an. Wenn er das seinen Kameraden erzählte – die würden neidisch sein! dachte er. Und selbst hat er für mich den Tee gekocht – ob sie das glauben werden?

Im Gefühl seiner Wichtigkeit trank er noch eine zweite Tasse.

Stepan Nikolaitsch suchte nach dem rechten Wort. Und ungesucht stellte es sich ein, weil er selbst durchwärmt worden war.

»So, das ist recht,« sagte er, »jetzt legst du dich hin. Ich bleib' bei dir, bis du einschläfst.«

Er glättete ihm die Kissen und zwang den Knaben auf sein Bett. Dann setzte er sich zu ihm und streichelte ihn sanft.

Die runden Bubenaugen waren starr auf Stepan Nikolaitsch gerichtet. Plötzlich barg Krisch den Kopf in die Kissen und brach in ein jämmerliches Schluchzen aus.

»Krisch, mein guter Krisch,« murmelte der junge Mann, »ja sieh, sein Mütterchen zu verlieren ist eine bittere Sache. Jeden trifft's einmal, früher oder später – da gibt's nur eins: ein guter ordentlicher Mensch werden, damit dein Mütterchen droben im Himmel eine Freude an dir hat.«

Verschämt wandte Krisch das Gesicht ab, aber seine Tränen flossen noch lange. Still saß Stepan Nikolaitsch bei dem Knaben, streichelte ihn und sah mit seltsam glänzenden Augen durchs Fenster hinaus ins Weite, in eine lichtere glücklichere Zukunft. Fetzt rührte sich das Kind nicht mehr, und leise zog er die Hand zurück und stand auf – da fühlte er sich von zwei mageren Armen umfaßt, und Krisch preßte ihm einen tränennassen Kuß auf die Hand.

»Sie sind gut, ich hab' Sie lieb, Stepan Nikolaitsch.«

Als hätten die beiden, der Volksschullehrer und sein Schüler, einen Orden bekommen, so trugen sie seither die Köpfe. Etwas war in ihnen beiden frei geworden, eine neue Entwicklungsstufe hatte für beide begonnen – und somit trug jeder seinen Orden.

Fräulein Wally hatte recht gehabt: sie verstand es, mit ihren Verwandten umzugehen und setzte alles durch, was sie wollte. Jetzt wollte sie, daß man im Hause des Veterinärarztes dem Volksschullehrer liebenswürdig begegnete, und sie erreichte es. Die biederen Fleckenbewohner waren viel zu tief von Fräulein Wallys großstädtischer Welt- und Lebenskenntnis durchdrungen, als daß sie sich ihrem Willen widersetzt hätten. Dazu war der kleine bescheidene Mann ihnen persönlich sympathisch, und selbst die blonde zurückhaltende Mietze faßte ein freundschaftliches Zutrauen zu dem Russen.

In der eingeschüchterten vereinsamten Seele Stepan Nikolaitschs sprang eine Fessel um die andere. Mit den Fortschritten in der deutschen Sprache, die er emsig betrieb, machte sich auch eine gewisse muntere geistige Regsamkeit geltend. Er konnte unterhaltend, scherzhaft und liebenswürdig sein, und je mehr er Fräulein Wallys fröhlichem Einfluß unterlag, desto mehr entzog er sich halb unbewußt dem dämonischen Zwange, den Vater Nikiphor auf ihn auszuüben gewohnt war.

Alle herrschsüchtigen Menschen suchen sich denjenigen zu nähern, die sich ihnen zu entziehen drohen. Ihre Eitelkeit klammert sich zäh und beharrlich an ihre Opfer, die die Macht ihrer Herrschsucht an sich erprobten oder stillschweigend anerkannten. Auch Vater Nikiphor in seiner rauhen lärmenden Art begann sich auffallend um Stepan Nikolaitsch zu kümmern. Man sah ihn jetzt öfters wegen einer geringfügigen Ursache die Stiege zum Lehrer emporstampfen. Manchmal suchte er ohne eigentlichen Grund Matriona Fadejewna auf und saß schwatzend ein Viertelstündchen bei ihr. War sie beim Erbsen- und Bohnenreinmachen, so empfand sie seine Besuche ganz besonders unangenehm, denn vor ihren Augen verzehrte Vater Nikiphor in seiner Unverfrorenheit mächtige Portionen des rohen Gemüses, und keine Stunde war sie vor seinem Eindringen sicher.

»Ach du grundbarmherzige Güte!« klagte sie dann wohl ihrem Manne. »Ich muß ja alles im Hause vor dem Hamster Vater Nikiphor verbergen und verstecken. Einen Magen hat er wie ein Pferd, und gerade das Beste weiß er immer für sich zu ergattern! Gott, ist das ein Kreuz!«

Kusmitsch, der Psalmensänger, ein kleines vertrocknetes Männchen mit einem Fuchsgesicht und einer rosenroten Schnapsnase, zwinkerte dazu listig mit den trüben Äuglein und sagte: »Ja, ja, er ist ein gefährlicher Mensch – darum muß man sich gut mit ihm stehen, Matrioscha.«

Nach besten Kräften versuchte die brave Frau sich gut mit dem Popen zu stehen, aber es wurde ihr sauer und kam nicht von Herzen.

»Unser Stepan Nikolaitsch läuft jetzt alle Augenblicke zu den Deutschen!« wetterte Vater Nikiphor verdrossen, als er ihn wieder einmal vergeblich gesucht hatte. »Deutsch lernen, das ist jetzt seine Passion. Ich aber sage Ihnen, Matriona Fadejewna, das sind alles Dummheiten. Verliebt ist er, wie so ein junger Täuberich – in die schöne Wally. Daraus aber wird nichts!«

Er griff in den Korb mit unreifen Stachelbeeren, die Matriona Fadejewna zum Einmachen reinigte, und biß knackend eine Beere um die andere auf.

Vorsichtigerweise ging die Frau auf das Thema nicht ein.

»Er ist jetzt viel heiterer und umgänglicher,« sagte sie, »ist doch auch ein junges Blut und hat viel Schweres erlebt.«

»Schweres erlebt!« höhnte Vater Nikiphor. »Wer von uns hat nicht schon Schweres erlebt? War das etwa leicht für mich, meine Frau begraben zu müssen – und als Pope ein einsames Witwerleben weiter zu führen?«

Die Frau schwieg und seufzte. Ihre Teilnahme galt der unglücklichen Verstorbenen, aber das brauchte Vater Nikiphor nicht zu wissen.

»Und so ein grasgrüner Bursch mit seinem Herzchen voll Liebe!« fuhr der Pope fort. »Kennt er das Leben – wie? Wir stehen jetzt in schweren Zeiten, da braucht man tatkräftige Männer, keine verliebten Schwärmer.«

Matriona Fadejewna wagte einen Widerspruch: »Stepan Nikolaitsch tut doch aber redlich seine Pflicht. In der Schule lieben ihn die Kinder sehr.«

»Ist das möglich?« spottete der Pope. »Ja, weil er eine geradezu stumpfsinnige Geduld mit ihnen hat und ihnen lieber dreimal eine Sache erklärt, als daß er einen von den Rangen abstraft. Ist überhaupt eine charakterlose Persönlichkeit, wie so eine Wasserpfütze, die alles widerspiegelt. Ist der Himmel blau, dann glänzt auch die Pfütze in blauer Farbe, ist er trübe und bewölkt, so treiben auch Wolken über die Wasserpfütze. Niemals wird aus so einem Menschen ein kräftiger Baum mit einem eigenen Willen: dahin und dorthin breite ich meine Äste aus.«

»Es muß eben verschiedene Menschen geben«, sagte Matriona Fadejewna philosophisch.

»Und dann ist er ein Freigeist!« eiferte grimmig Vater Nikiphor. »Glaubt an die Atome – ha ha! Unsere orthodoxe Kirche ist wohl nicht gut genug für diesen tiefen Denker. Jawohl. Wird sich noch nächstens von seiner deutschen Liebsten den Lutheranerglauben beibringen lassen. Fängt schon an, das Germanentum zu verteidigen und wagt gar eine eigene Meinung zu haben. Wie ich gestern über diese verfluchten deutschen Barone und deutschen Pastoren rede, sagte er ganz unverfroren: ›Sie übertreiben, Vater Nikiphor. Auch unter den Deutschen gibt es vortreffliche Menschen, ich lerne sie jetzt besser kennen!‹ Jawohl – er wird sie kennenlernen!«

Jetzt riß der gutmütigen Matriona Fadejewna doch die Geduld. Resolut schob sie ihren Korb mit Stachelbeeren von sich, sah den Geistlichen groß an und sagte: »Mit Verlaub, Vater Nikiphor, ich bin eine einfache, ungeschulte Frau, aber Stepan Nikolaitsch kann ich ganz gut verstehen. Er ist ein ängstlicher Mensch und nimmt alles schwer. Darum ist er ja auch aus seiner Heimat fortgezogen. Aber er ist ein guter stiller Mensch und tut niemandem Unrecht. Und wenn die Deutschen ihm gut gefallen, so lassen Sie ihn doch. Es hat jeder seine Art. Sie wollen, daß er mit Ihren Augen sieht – das kann er nicht, und darum ist er kein Mensch ohne Charakter – er hat nur einen anderen Charakter als Sie.«

So! Jetzt hatte sie's ihm gründlich gegeben! Nachträglich erschrak sie vor ihrer eigenen Kühnheit, ließ den Kopf sinken und wurde blaurot.

Vater Nikiphor verstummte. In ihrer Einfalt hatte Matriona Fadejewna den Nagel auf den Kopf getroffen. Der kleine Lehrer schlüpfte ihm wie ein Aal unter den Fingern durch, langsam und sicher entglitt er ihm, und auf einmal wurde er für Vater Nikiphor eine beachtenswerte Persönlichkeit. Er beschloß, ihn sich zurückzuerobern und seinen Zwecken dienstbar zu machen. In finsterem Brüten saß er schweigend da.

Stepan Nikolaitsch war verliebt, das stand bei ihm fest. Daß es aber eine tiefe und reine und todesstarke Liebe war, die dem Lehrer Licht und Sonne und neues Leben gab, das vermochte der Geistliche in seinem brutalen Egoismus nicht einmal zu fassen.

Stepan Nikolaitsch liebte, wie unverdorbene, einmal gebrochene Menschen lieben. Er liebte über sich selbst hinaus, liebte sich zur Freiheit durch und wuchs an seiner Liebe empor. Die Liebe hatte ihn, nicht er sie gepackt.

Auch Fräulein Wally war ihm in der Seele gut. Zu jung, zu beweglich, zu egoistisch, um die Tragweite seiner Liebe zu fassen, war sie doch ehrlich genug, sie zu fühlen und sich mit der freudigen Eitelkeit eines schönen Mädchens darin zu sonnen. Ein bindendes Wort hatte Stepan Nikolaitsch noch nicht zu sprechen gewagt.

So war der Herbst ins Land gezogen. Schwere dräuende Wolken lagerten über den baltischen Provinzen. Wie ein unter dem Boden fortglimmendes Feuer flackerten sorgsam geschürter Deutschenhaß und gewaltsam aufgepeitschte Unzufriedenheit in der bäuerlichen Bevölkerung fort. Dazu gesellte sich eine offenkundige Auflehnung gegen alle bestehende Ordnung. Regierungsfeindliche Proklamationen gingen insgeheim von Hand zu Hand, Hetzreden wurden gehalten, sozialdemokratische Versammlungen mit anarchistischer Färbung fanden in der unteren Volksschicht bereitwillige Aufnahme. Unter dem Deckmantel einer agrarpolitischen Bewegung, die sich gegen die deutschen Besitzer richtete, erhob an allen Enden das Schreckgespenst einer drohenden anarchistischen Revolution sein lauerndes Haupt. Wilde verdüsterte Mienen, drohende Geberden, schamlose Worte regten sich der gutgesinnten deutschen Bevölkerung gegenüber. Überall im Lande brütete eine gespannte Schwüle, wie vor dem Losbruch eines entsetzlichen Sturmes.

Vater Nikiphors Haltung hatte sich verändert. Immer offener, rücksichtsloser und brutaler trat er mit seinem Deutschenhaß hervor. Unter den Letten war er eine beliebte Persönlichkeit, da er ihrem nationalen Bewußtsein schmeichelte und alle Mißgriffe der Regierung, ja selbst die bekannte Bestechlichkeit der russischen Beamtenschaft den Deutschen zur Last legte. Das Unlogische dieser unsinnigen Beschuldigung konnte oder wollte niemand einsehen. Er begann nun öffentlich die Regierungsmaßnahmen zu kritisieren, sich ablehnend dazu zu äußern, die bestehenden schweren Zustände einzelnen Personen aufzubürden, die er mit Namen nannte. In Wahrheit war Vater Nikiphor ein Umstürzler gefährlichster Art und schon längst mit einer anarchistischen Bande heimlich im Bunde. Seine brutale Natur verlangte nach Umsturz – Umsturz des Bestehenden um jeden Preis. Er geriet in einen Rausch, ja einen Taumel wilden Entzückens, wenn er sich vorstellte, daß seine Herrschsucht auf irgendeine Weise zu wirklicher Macht gelangen könnte. Macht – Macht – das war es, wonach seine Seele lechzte!

Um diese Zeit brachte ein an sich geringfügiger Vorfall die schwelende Flamme in ihm zum Ausbruch. In der russischen Kirchenschule befanden sich auch lettische Kinder lutherischer Konfession, denen Vater Nikiphor gleichzeitig mit den orthodoxen lettischen Kindern den Religionsunterricht erteilte. Als sich diese Kinder dem Pastor Brenner zur Konfirmation vorstellten, weigerte sich der protestantische Geistliche sie anzunehmen, teils weil sie mit seinen Schülern nicht mithalten konnten, teils um die Eltern der Kirchenschüler zu zwingen, das Verkehrte ihres Vorgehens einzusehen und ihre Kinder der russischen Schule zu entziehen. Die lettischen Eltern, die nur noch äußerlich an der Tradition des Protestantentums festhielten, gerieten darüber in eine wilde Empörung, und Vater Nikiphor wußte diese Stimmung so gut auszunützen, daß tatsächlich eine Reihe von ihnen zum orthodoxen Glauben übertrat. Andere konservativere Elemente hielten an ihrem Lutherglauben fest und verlangten trotzig, der Pastor solle nachgeben. Er blieb natürlich bei seiner Weigerung. Nun aber legte sich Vater Nikiphor in scheinbarer Großmut ins Mittel und erklärte den bestürzten Eltern, er selbst werde mit Pastor Brenner verhandeln.

In siegessicherer Stimmung begab er sich aufs deutsche Pastorat, das, von uralten Linden eingehegt, außerhalb des Fleckens lag, und forderte eine Unterredung mit dem Prediger. Er trat in Pastor Brenners Arbeitsstube und fand ihn zu seiner Überraschung nicht allein.

Baron Falkenfels, eine überaus distinguierte Persönlichkeit mit einem eigentümlichen ironischen Zug um die schmalen fest zusammengekniffenen Lippen, erhob sich mit sarkastischer Höflichkeit bei seinem Eintritt.

Gemessen trat Pastor Brenner seinem orthodoxen Kollegen entgegen.

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Pastor Brenner«, sagte der Pope ohne Gruß, laut und herausfordernd.

Erstaunt zog der Pastor die Augenbrauen hoch.

»Guten Tag!« sagte er mit nachdrücklicher Betonung.

Vater Nikiphor erbleichte, schoß einen lodernden Blick unter den buschigen Augenbrauen hervor und verbeugte sich mit einem heftigen Ruck. Hart schlugen seine Stiefel zusammen.

»Nehmen Sie gefälligst Platz«, sagte Pastor Brenner und wies auf einen gepolsterten Stuhl.

»Ich ziehe es vor, zu stehen«, grollte Vater Nikiphor. »Es handelt sich um die lutherischen Kirchenschüler in der russischen Schule, denen Sie den Konfirmandenunterricht weigern. Ich selbst habe meinen Schülern den Religionsunterricht in neutraler Weise erteilt, ohne die konfessionellen Unterschiede hervorzuheben, ich wiederhole es – in gänzlich neutraler Weise. Somit fordere ich die Anerkennung dieses Unterrichts von Ihnen. Meine Religionsstunden sind eine vollständig genügende Grundlage für Ihre Konfirmandenlehre, und nun frage ich Sie: Mit welchem Recht verweigern Sie meinen Schülern den Konfirmationsunterricht?«

Er hatte laut und erregt gesprochen.

»Seit wann vertreten Sie meine Rechte, Euer Hochwohlehrwürden?« fragte der Pastor, der nun auch stehen geblieben war, mit höflicher Gelassenheit.

»Seitdem ich sehe, daß Sie in Ihren Pflichten lässig geworden sind, Pastor Brenner«, stieß Vater Nikiphor wild hervor.

Ein amüsiertes Lächeln spielte um die Mundwinkel der beiden Herren.

»Erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß niemand sich um meine geistlichen Pflichten zu kümmern hat als das evangelisch-lutherische Konsistorium.«

»Und ist Ihr Konsistorium mit Ihrer Auffassung einverstanden?« keuchte der Pope.

»Darauf bin ich Ihnen keine Antwort schuldig.«

»Bravo!« sagte der Baron beifällig.

Wie ein gereizter Tiger funkelte Vater Nikiphor den Edelmann an.

»Mit welchem Recht,« begann er wieder, »mit welchem Recht nehmen Sie Anteil an unserer Aussprache?«

»Ich verweigere Ihnen jede Antwort auf eine ähnliche Frage«, sprach der Baron mit eisiger Höflichkeit. »Die Antwort darauf bin ich jederzeit bereit, meinem Landsmanne Pastor Brenner zu geben. Übrigens nehme ich mir die Freiheit, Sie auf das Unangebrachte Ihres Eindringens und Vorgehens aufmerksam zu machen. Wären Sie mir in dieser Weise in meinem Hause begegnet, mein sehr geehrter Herr, ich sähe mich veranlaßt, von meinem Hausrecht Gebrauch zu machen.«

Erstarrt stand Vater Nikiphor. Langsam und mächtig schwollen ihm die Stirnadern an.

»Hausrecht!« schrie er, seiner Sinne nicht mehr mächtig. »Es fragt sich mir, wer das Hausrecht in diesem Lande hat – die eingedrungenen deutschen Herren, die sich das Hausrecht geraubt und gestohlen haben, oder wir Russen und die einheimische Bevölkerung!«

Die Augenlider des Barons zuckten. Er stand in straffer vornehmer Haltung da.

»Ich bedaure Sie aufrichtig, lieber Pastor,« sagte er, »daß Sie sich als Geistlicher gegen die Schmähungen dieses toll gewordenen Plebejers nicht besser schützen können.«

Darauf nahm er ein Buch zur Hand, wandte beiden Geistlichen den Rücken, setzte sich behaglich in einem Lehnstuhl zurecht und begann leise vor sich hin zu pfeifen.

Vater Nikiphor stand da, als habe er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Er hob beide Arme, als wolle er sich auf den Edelmann werfen, dann ließ er sie wieder sinken, raffte sich mühsam zusammen und stürzte krachend zur Tür hinaus. »Das sollst du mir büßen, du Aristokratenhund!« murmelte er zwischen den Zähnen.

Bleich vor Wut langte er im Flecken an, schloß sich ein und ließ sich zwei Tage nicht blicken. Er hatte sich krank gemeldet.

In aller Harmlosigkeit übernahm Stepan Nikolaitsch den abgesagten Religionsunterricht des Popen und wanderte am Nachmittag um vier Uhr leichten Herzens zu Fräulein Wally.

Er konnte es gar nicht erwarten, dem schönen geliebten Mädchen in die Augen zu sehen, und heute hatte er eine Überraschung für sie. Nächtelang hatte er sich gemüht und gequält, den »Erlkönig« auswendig zu lernen, um sie damit zu erfreuen, und nun konnte er ihn und brannte wie ein Schulknabe darauf, ihr das Gedicht vorzutragen.

»Erreicht den Hof mit Müh' und Not –
In seinen Armen das Kind war tot.«

flüsterte er vor sich hin. Da stand er auch schon vor der Türschwelle.

Mit lachenden Augen öffnete ihm Fräulein Wally. Er reichte ihr die Hand und hielt sie fest.

»›Der Erlkönig‹ von Goethe«, sagte er pathetisch.

»Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.
Er hält den Knaben wohl in dem Arm,
Er hält ihn sicher, er hält ihn warm.«

»Bravo, bravo!« rief sie entzückt, »das haben Sie aber prächtig gemacht. Onkel, Tante, Mietze,« jubelte sie, »kommt alle herein, Stepan Nikolaitsch kann schon den Erlkönig. Nun, gebe ich nicht gute Stunden, wie?«

»Ausgezeichnet!« rief der Lehrer nachdrücklich.

»Also bitte noch einmal!« befahl Fräulein Wally und nahm eine streng pädagogische Miene an. »Sie stehen vor versammeltem Publikum, Stepan Nikolaitsch – deklamieren Sie!«

Onkel und Tante Schulz nebst Fräulein Mietze waren ins Zimmer gekommen.

Onkel Schulz, der Veterinärarzt, war ein kleiner untersetzter Mann mit aufgedunsenem Gesicht und kurzen Beinen. Beim Atmen schnaufte er heftig wie eine schwerfällige Dampfmaschine. Tante Schulz sah hübsch und wohlkonserviert aus und litt infolge beängstigenden Schnürens an beständiger Übelkeit. Sie liebte es ungemein, ihr Magenleiden zu betonen. Fräulein Mietze, ein ausfallend niedliches rosiges Mädchen, glich ihrer Schwester, war jedoch viel hübscher und natürlicher.

Sie setzten sich erwartungsvoll, und Stepan Nikolaitsch begann seinen Vortrag. Stumm vor Bewunderung saßen sie da, dann brach ein stürmischer Applaus los.

»Wally, ich bin einfach starr!« brach Frau Schulz das Schweigen.

»Pfuh – pfuh – – ausgezeichnet!« schnaufte der Onkel.

Fräulein Mietze klatschte in die Hände.

»Ich ernenne dich zu meinem Hof- und Leiblehrmeister, Wally, wenn ich einmal Kaiserin von Rußland werde!« rief sie fröhlich. »Aber ob du bei Hofe jemals wieder so vortreffliche Schüler hast, dafür kann ich nicht einstehen!«

Alle fanden Mietzes Bemerkung sehr witzig, und in bester Laune begab sich die Gesellschaft ins Nebenzimmer an den Kaffeetisch.

Mit wichtiger Miene schenkte Frau Schulz den Kaffee ein und bemerkte zu Stepan Nikolaitsch: »Das Rosinenbrot hat Wally selbst gebacken. Nun schmeckt es Ihnen sicher noch einmal so gut – ich selbst, ich kann es leider nicht genießen, meines Magenübels wegen«, fügte sie mit einem entsagungsvollen Seufzer hinzu.

In diesem Augenblick wurde geschellt. Fräulein Mietze sprang an die Tür: »Frau Doktor Treller!« rief sie.

Erfreut gingen die Damen dem Besuch entgegen.

»Nein, wie reizend, daß Sie uns zum Kaffee besuchen, liebste Frau Doktor«, rief Frau Schulz und vergaß für einen Moment ihr Magenübel und Wallys Rosinenbrot.

Frau Doktor Treller zählte sich zu den wenigen Honoratiorenfamilien des Fleckens. Ihr Mann war ja auch »wirklich studiert«. Ihre Würde trug sie mit soviel Selbstbewußtsein wie ihren einzigen seidenen Unterrock, den sie zu Besuchen immer anzog. Vor Frau Veterinärarzt Schulz hatte sie den großen Vorzug, mit der Frau des Pastors auf besonders gutem Fuß zu stehen, und sie zählte Baron Falkenfels, freilich ohne Gemahlin, zu ihren näheren Bekannten. Er pflegte zweimal im Jahr zum Besuch anzutreten. Das war natürlich ein märchenhaftes Ereignis für sie und ein Ärgernis für die weniger bevorzugte Veterinärsfamilie.

Heute war sie in ihrer Märchenlaune. Der Baron war dagewesen, um den Doktor zur Jagd aufzufordern. An solchen Tagen war Frau Doktor Treller besonders leutselig und herablassend.

»Guten Tag, meine Gute,« sagte sie mit kühler Freundlichkeit, »ich habe mir das Vergnügen gemacht, Ihnen persönlich eine freudige Nachricht zu überbringen. Der Baron war nämlich heute bei uns«, dehnte sie, – »mein Gott, wen haben Sie denn da im Eßzimmer?«

»Den russischen Volksschullehrer, beste Frau Doktor«, flüsterte Frau Schulz ihrem Gast ziemlich vernehmlich zu. »Ich will Sie gleich miteinander bekannt machen.«

»O keine Eile, Frau Schulz,« sagte Frau Doktor Treller und lorgnettierte nachlässig zu Stepan Nikolaitsch hinüber, der mit dem Veterinärarzt am Kaffeetisch geblieben war, »um so mehr, da ich Ihnen zunächst die gute Nachricht mitteilen will. Also der Baron war heute vormittag bei mir«, wiederholte sie mit Behagen, »und klagte mir seine Not. Denken Sie bloß, die Mutter der Falkenfelsschen Gouvernante ist schwer erkrankt und Fräulein Schneider reist Hals über Kopf ab. Nun ist ein Ersatz notwendig, und da habe ich mir erlaubt, dem Baron Fräulein Wally vorzuschlagen.«

Sie klopfte Frau Schulz mit dem zusammengeklappten Lorgnon leicht auf die Hand, lehnte sich ins Sofa zurück, blinzelte triumphierend und fragte: »Nun, was sagen Sie denn dazu?«

»Aber – das ist ja einfach großartig! – Wally, hörst du, du kannst die Stelle beim Baron bekommen!«

Wally machte große Augen. »So?« sagte sie neugierig.

»Jawohl, den Unterricht am Vormittag besorgt der Hauslehrer, Herr von Röhren, Sie wären also nur für die Nachhilfestunden nötig für die kleinen Baronessen, täglich von eins bis sieben. Diner im Schloß – denken Sie bloß, und vierzig Rubel monatlich.«

»Ja, ganz schön,« sagte Fräulein Wally nachdenklich, »was wird denn nun aber aus meinem deutschen Unterricht mit Stepan Nikolaitsch?«

Frau Doktor Treller zog die Augenbrauen hoch. »Ja, das schlagen Sie sich nur ganz aus dem Sinn, zweien Herren kann man nicht dienen, Liebe«, sagte sie in beleidigtem Ton. »Überhaupt« – sie neigte sich zu Frau Schulz hinüber und flüsterte: »Ich finde die Sache, unter uns gesagt, nicht ganz passend – ein junger Mann, dazu noch ein Russe, und Ihre Wally im täglichen Verkehr miteinander – man redet schon darüber, ich versichere Sie.«

»Pah!« machte Wally geringschätzig. »Mögen die Menschen reden, wenn es ihnen Vergnügen macht, übrigens gebe ich die Stunden nicht täglich, sondern zweimal wöchentlich.«

»Und Herr Goruschkin ist wirklich ein sehr netter bescheidener junger Mann«, fiel Frau Schulz ein. »In Libau sieht niemand etwas darin, Wally hat schon oft …«

»So? Also in Libau mag man ja großstädtischere Ansichten haben«, sagte Frau Doktor Treller spitz. »So reflektieren Sie nicht auf die Stelle, Fräulein Wally? Soll ich dem Baron eine abschlägige Antwort erteilen?«

»Im Gegenteil«, rief Wally eifrig, »ich nehme an und bin Ihnen sehr dankbar, Frau Doktor.«

»Die Kutsche des Barons soll Sie in der Dämmerung nach Hause bringen«, fuhr Frau Doktor fort. Diesen letzten Trumpf hatte sie sich noch aufgespart.

»Aber das ist ja prächtig!« rief Frau Schulz andachtsvoll. »Wally, freust du dich denn nicht? In dem eleganten Wagen mit zwei milchweißen Schimmeln durch den Flecken zu fahren wie so eine Prinzeß!«

Wallys Augen funkelten. »Das ist ja sehr nett«, sagte sie mit einiger Zurückhaltung. »Auch in Libau habe ich einem jungen Adligen russische Konversationsstunden gegeben!« renommierte sie.

»Aber meine liebste Frau Doktor«, rief nun Frau Schulz jammernd, »wir reden und reden, und der Kaffee wird inzwischen kalt. Kommen Sie doch zu Tisch!«

Die Damen standen auf und traten in das Eßzimmer. »Guten Tag, Herr Schulz« – eine etwas zeremonielle Begrüßung erfolgte.

»Herr Schullehrer Goruschkin,« stellte Frau Schulz vor, – »Frau Doktor Treller.«

Bescheiden hatte sich Stepan Nikolaitsch erhoben. Frau Doktor Treller musterte ihn mit überlegenem Lächeln und reichte ihm nicht die Hand. Verlegen setzte er sich wieder, und als er den Brotkorb hinüberreichte, stieß er die Sahne um.

»O, bitte entschuldigen Sie!« rief er erschrocken.

Es wurde eine peinliche Viertelstunde. Man sprach über seinen Kopf hinweg von dem Baron und seiner weitverzweigten Verwandtschaft. Frau Doktor war aufs beste orientiert und gab genau Bescheid.

Fräulein Wally wurde die Situation unbequem.

»Kommen Sie, Stepan Nikolaitsch«, sagte sie laut. »Frau Doktor, Sie entschuldigen gütigst, aber es ist Zeit, unsere Stunden zu beginnen.«

Mit ein paar linkischen Verbeugungen komplimentierte sich Stepan Nikolaitsch aus dem Speisezimmer hinaus. Fräulein Wally führte ihn in die Arbeitsstube des Onkels und schloß die Tür.

»Diese Frau Doktor ist eine hochmütige Gans,« sagte sie resolut, »und wenn sie mir auch die Stellung beim Baron verschafft hat – gut bin ich ihr darum noch lange nicht.«

Stepan Nikolaitsch hatte nicht deutlich verstanden. »Wie?« fragte er mit weit geöffneten Augen. »Die Dame hat Ihnen eine Stelle beim deutschen Baron verschafft? Als was?«

»Ich soll die kleinen Töchter unterrichten und mich mit ihnen beschäftigen, täglich von eins bis sieben. Ja, da tut es mir um unsere Stunden herzlich leid, Stepan Nikolaitsch!« fügte sie hinzu und besah ihre zierlichen Fingernägel.

Als keine Antwort kam, blickte sie auf und erschrak.

Leichenblaß saß Stepan Nikolaitsch ihr gegenüber. Mühsam bezwang er sich. »Da muß ... muß ich wohl gratulieren!« sagte er heiser.

Sie sprang auf und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Stepan Nikolaitsch,« bat sie, »Stepan Nikolaitsch – so nehmen Sie sichs doch nicht so zu Herzen! Ich will Ihnen ja gern am Sonntag Stunden geben, da sind wir ja beide frei!«

Traurig schüttelte er den Kopf und blickte zu Boden.

»Es ist ja nicht um die Stunden allein,« sagte er in leisem einförmigen Ton, als spräche er zu sich selbst, »obgleich ich – ich kann wohl sagen vom Mittwoch bis Sonnabend eigentlich gelebt habe, und dann wieder vom Sonnabend bis zum Mittwoch ... nein, nein, es ist nicht um die Stunden allein, Wally Iwanowna – aber Ihr Leben wird von nun an ein anderes, glänzenderes – und darin wird kein Raum mehr sein für den Volksschullehrer … Sie werden sich schnell dahinein finden – es ist ja so natürlich ... ihm aber, dem armen Narren bricht etwas da drin entzwei.«

Mit einer hilflosen Geberde legte er die Hand aufs Herz.

»Aber Stepan Nikolaitsch, guter Stepan Nikolaitsch, reden Sie doch nicht so!« rief sie in ehrlichem Mitgefühl. »So ist es nicht.«

»Ist es nicht so?« fragte er und sah sie mit langem tiefen Blick an.

»Nein, wirklich nicht!« beteuerte sie.

Da sprang er auf und warf sich vor ihr nieder. Er drückte den Saum ihres Kleides an seine Lippen, an Stirn und Augen.

»O Wally Iwanowna, Wally,« keuchte er ganz außer sich, »wissen Sie denn nicht, fühlen Sie denn nicht, wie ich Sie liebe?«

Erschüttert beugte sie sich zu ihm nieder, ihre Finger streichelten sein Haar. »Ich habe Sie ja auch lieb, Stepan Nikolaitsch.«

Er war aufgestanden und sah sie mit glühenden Augen verzehrend an. »Sie – mich? Sie ... mich?« wiederholte er wie ein Irrsinniger. »Nein, Wally Iwanowna – das ist ja nicht möglich! Das wäre ein so grenzenloses Glück für mich ... ich kann, ich darf es nicht glauben!«

»So glauben Sie es doch nur!« rief sie zwischen Lachen und Weinen, »glauben Sie es – Sie großes, bescheidenes Kind, Sie großer, lieber, einfältiger Junge! Glaub' es doch, du guter, einziger Freund!«

»Ihr Freund! Ja – dein Freund, Wally!« Seine Stimme schwankte vor tiefer bebender Zärtlichkeit. »So wahr ich Sie über alles in der Welt liebe, so wäre ich ein Schurke, wenn ich mir diese Stunde und Ihre Güte zu Nutze machte! Nein, Wally Iwanowna, wenn Sie mir das nach einem Jahr wiedersagen können, dann, ja dann werde ich daran glauben dürfen. Jetzt ... bin ich Ihr Freund, und das ist des Glücks genug!«

Er beugte sich über sie und küßte sie andächtig auf Stirn und Augen.

Mein Gott, dachte Fräulein Wally und ihr Herz pochte heftig – nun bin ich also verlobt! Wie er mich liebt! Er sieht aus wie ein Verklärter ...

Wie ein Verklärter sah Stepan Nikolaitsch tatsächlich aus. Es wurde eine kurze inhaltreiche Konversationsstunde, nur war die Konversation diesmal in russischer, nicht in deutscher Sprache geführt worden. Fräulein Wally wurde hinausgebeten, da Frau Doktor Treller ihr noch einige Einzelheiten über das Haus des Barons mitzuteilen hatte.

»Auf nächsten Sonntag also!« rief sie Stepan Nikolaitsch mit strahlendem Lächeln zu.

»Auf nächsten Sonntag!« wiederholte der kleine Mann wie im Traum und wie im Traum schritt er direkt aus der Arbeitsstube hinaus aus die Straße. Er hatte vergessen, von der Familie Abschied zu nehmen.

Der Sonntag kam, und Stepan Nikolaitsch war natürlich zur Stelle. Aber Fräulein Wally konnte er keinen Augenblick allein sprechen, und aus der Stunde wurde nichts. In der Mitauschen Gegend waren Unruhen ausgebrochen, in Libau und Windau gärte es, ein Baron war meuchelmörderisch erschossen worden, rohe Kirchenschändungen wurden vom flachen Lande aus gemeldet. Das ganze Haus des Veterinärarztes befand sich in Erregung. Dazu kam, daß Wally aus dem Falkenfelsschen Schloß mit Privatnachrichten über die empörenden Vorfälle versehen war und sie wichtig vortrug. Frau Doktor Treller war auch erschienen und hing begierig an Wallys Lippen.

»Das wäre alles nicht soweit gekommen, wenn die Russifizierung uns das Volk nicht verdorben hätte!« sagte sie giftig.

Eine schwüle Stille trat ein. Hastig begann Fräulein Wally von etwas anderem zu reden. Der kleine Volksschullehrer war aufgestanden. Er fühlte es – in diesem Hause war kein Platz mehr für ihn. Er war ja Russe! War er nicht mit schuld an den Leiden der baltischen Provinzen?

Einen flehenden Blick warf er auf Wally, den Blick eines treuen geprügelten Hundes. Dann verabschiedete er sich stumm.

»Nächsten Sonntag, lieber Stepan Nikolaitsch!« sagte Fräulein Wally ermutigend und drückte ihm fest die Hand.

Aber er wußte: weder nächsten Sonntag noch überhaupt jemals würde es sein wie es gewesen.

Am Sonntag über acht Tage erhielt er ein Briefchen von Wally. Nur wenige Worte mit Blei hingekritzelt:

»Wir machen heute einen gemeinsamen Ausflug. Ich hoffe, Sie sind darum nicht böse Ihrer Freundin Wally.«

Er und böse! Er lächelte traurig und steckte den Zettel in seine Brusttasche.

Nach vierzehn Tagen kam er zaghaft abermals. Fräulein Wally errötete, als sie ihn begrüßte, war lebhaft und unruhig und hatte viel vom Hause des Barons zu erzählen. Von deutschen Stunden war nicht mehr die Rede. Die Stimmung im Hause des Veterinärarztes war merklich kühler geworden.

Wie ein Verbannter schlich Stepan Nikolaitsch stumpf und müde in seine Behausung.

Stundenlang pflegte er jetzt untätig vor sich hinzustarren. Er war wortkarg und unzugänglich geworden und wich allen Miteinwohnern, besonders Vater Nikiphor scheu aus.

Ein trüber naßkalter Herbst war auf die Sommertage gefolgt, Oktoberwinde heulten rauh und kläglich um den kleinen Flecken. Laublos streckten die kahlen Bäume ihre dürren Äste in den grauen Himmel.

Die Zeitungen brachten schlimme Nachrichten. Die Unruhe im Lande wuchs, pöbelhafte Ausschreitungen des aufgehetzten Volkes waren an der Tagesordnung. Jedes Blatt brachte spaltenlange Berichte von Raubüberfällen und Mord, von Bränden und Kirchenschändungen. Scharenweise flüchteten die Gutsbesitzer mit ihren Familien in die Städte.

Im Flecken wurde eine feindselige Haltung gegen die wenigen Russen fühlbar. Man wich ihnen aus. Der Veterinärarzt war eilig in eine Seitengasse gebogen, als er Stepan Nikolaitsch von weitem erblickte.

Vater Nikiphor trug den Kopf hoch. Er hatte nicht viel Zeit. Man munkelte, er halte sozialistische Reden in geheimen Versammlungen. Triumphierend, mit gewaltigen Schritten sah man ihn durch die Straßen streifen oder auf der Post die frisch erhaltenen Zeitungen durchblättern.

Im Hausflur stieß er eines Tages auf Stepan Nikolaitsch, der sich hastig an ihm vorbeidrücken wollte, und hielt ihn am Ärmel fest.

»Nun, Sie Deutschenfreund!« sagte er spottend, »was verkriechen Sie sich denn wie ein Maulwurf? Hat die schöne Wally Sie endgültig im Stich gelassen? Die deutschen Barone gefallen ihr freilich besser. Sie fährt ja jetzt täglich in ihrer Baronskarosse mit Begleitung nach Hause!«

»Lassen Sie mich!« stieß der Volksschullehrer rauh hervor. Er zitterte am ganzen Leibe.

»Fällt mir auch nicht im Traume ein, Sie Duckmäuser,« sagte der Pope gemächlich, »im Gegenteil, ich gehe jetzt mit Ihnen auf Ihr Zimmer und trinke eine Tasse Tee, habe schon längst die Absicht, Sie zu besuchen und mich mit Ihnen auszusprechen.«

Willenlos ging Stepan Nikolaitsch voraus. »Sie fährt jetzt täglich in ihrer Baronskarosse mit Begleitung nach Hause,« dröhnte es ihm noch in den Ohren.

Die Teemaschine stand dampfend auf dem Tisch. Behaglich schlürfte der Pope eine Tasse um die andere und durchbohrte dabei Stepan Nikolaitsch mit seinen faszinierenden Blicken.

In sich zusammengesunken brütete der Volksschullehrer vor sich hin.

»Es wird jetzt eine lustige Hetzjagd – je toller, desto besser. Bauernschaft und Adel, Bürger und Militär – alles durch- und gegeneinander! Mögen sie sich nur untereinander auffressen! Wir Russen bleiben ja doch Sieger und Herren im Lande! Da« – er zog eine Zeitung aus der Tasche – »sehen Sie hier – wieder sind zwei Barone erschossen worden, der eine in der Kirche, der andere auf einem Inspektionsritt durch das Land. Hätte nur dieser verhaßte deutsche Adel eine einzige Kehle, daß man ihn mit einem Schnitt vernichten könnte!« sagte er ingrimmig.

Stepan Nikolaitsch schlug die Hände vors Gesicht. »Blut … überall Blut und Mord!« stöhnte er, »ich kann davon nichts mehr lesen noch hören!«

»Du kannst nicht?« höhnte der Geistliche. »Sieh mir das zarte Muttersöhnchen an – es kann von Blut nichts hören! Aber ich sage dir, Freundchen, das wird noch alles ganz anders. In Blut wirst du selber noch waten müssen – knietief! Das hier ist ja bloß der Anfang – es kommt noch anders, ganz anders!«

»Lassen Sie mich allein!« schrie plötzlich Stepan Nikolaitsch so wild, so schneidend, daß der Pope zusammenfuhr. »Sehen Sie nicht, daß ich ein unglücklicher kranker Mensch bin? Lassen Sie mich allein!«

Der Pope stand auf. »Gut, Brüderchen!« sprach er drohend, und seine Augen funkelten unheimlich; »aber eins sage ich dir – an diese Stunde, wo du den Vater Nikiphor aus deiner Stube gejagt hast, wirst du zeitlebens denken – zeitlebens sage ich dir.«

Dröhnend schlug er die Tür zu und stolperte die Treppe hinab.

Regungslos war Stepan Nikolaitsch sitzen geblieben. Er stützte den Kopf in die Hände. Leise surrte die Teemaschine, und ein kaltes Grauen kroch ihm lähmend durch alle Glieder. Ihn fror trotz der überheizten Stube. Da war es ja wieder, das Entsetzliche, das er sich seit Monaten vom Halse geschüttelt hatte, das zwingende, das dämonische Etwas, das vom Vater Nikiphor auf ihn einwirkte, und er wußte – bald war er diesem Einfluß verfallen! –

Im Dunkel des Herbstabends strich eine verhüllte Männergestalt wie ein unruhiger Schatten über die Brücke und wanderte rastlos hinter der Schmiede, in welcher der verwaiste Krisch lebte, auf und nieder, auf und nieder. Die Straße führte an der Schmiede vorbei weiter nach dem Schloß. Zur Rechten auf halbem Wege, von dem halberstarrten Flüßchen begleitet, ragten die entblätterten Linden des deutschen Pastorats wie finstere Gespenster in den bewölkten Himmel hinein, und weiter von dem Kamm eines Hügels hoben sich fest und massiv die zackigen Konturen des Schlosses.

Der Wanderer blieb bei jeder neuen Wendung stehen und starrte nach dem Schloßturm, der wie ein Herold breit und wuchtig das ganze Gebäude überragte.

»Es war einmal ein reicher Mann,« murmelte er vor sich hin, »der hatte viele Weinberge und lebte herrlich und in Freuden, und es war ein armer Mann, der hatte nur einen einzigen Weinberg, den er liebte wie seinen Augapfel. Und der reiche Mann sprach zum Armen: Gehe hinaus von deinem Weinberge, ich bedarf seiner zu meinen Gärten. Der arme Mann aber wollte nicht, da trieb ihn der Reiche hinaus von seinem Weinberge und nahm ihn zu seinen Gärten.«

Wieder blieb er stehen und schüttelte den Kopf. »Nein, nein,« sagte er hastig, laut – »das ist ungerecht! Weiß denn der reiche Mann von dem Weinberge des Armen? Weiß er überhaupt von dem Armen? Das ist ungerecht – Vater Nikiphor hat dich mit seiner Ungerechtigkeit angesteckt, Stepan Nikolaitsch.«

Der kleine Mann raffte sich zusammen und ging wieder mit hastigen Schritten auf und nieder, auf und nieder. Bei der Wegewendung blieb er nicht mehr stehen und enthielt sich des Blicks auf den Schloßturm. »Sieh nicht hin,« flüsterte er, »vielleicht kommt sie dann eher.«

Er sah nicht hin, und eine neue fiebernde Unruhe jagte qualvoll durch seine Glieder.

»Wie ein Bettler am Wegrande!« stieß er dumpf und laut hervor. »Ja, wie ein armseliger Bettler!«

Ein brennendes Mitleid mit sich selbst jagte ihm heiße Tränen in die Augen. Hastig wischte er sie fort und lauschte. Klang das nicht wie fernes Räderrollen? »Ja, ja – sie ist's! Endlich!« Horchend blieb er stehen und neigte den Kopf. Das Räderrollen kam näher – in ungestümen wilden Schlägen hämmerte sein Herz. Er preßte die Hände zusammen, als rängen sie miteinander in stillem, wütendem Kampf. Kalter Schweiß feuchtete seine Stirn. Mit knarrendem Gepolter kam's näher und näher – – es war ein Bauernwagen! Eine trunkene Gestalt taumelte darin hin und her, und mit unbarmherzigen Schlägen hieb sie ein auf das armselige struppige Pferdchen.

Stepan Nikolaitsch hüllte sich fest in seinen Mantel. Eine entsetzliche Übelkeit stieg in ihm auf. Blaß und verzerrt stand plötzlich das Gesicht seines Freundes vor ihm. »Ich hab' mein Schulgeld verspielt, alles bis aus die letzte Kopeke, morgen werd' ich aus dem Seminar gejagt, und dann schieß' ich mir eine Kugel durch den Kopf!« – – Eine Kugel durch den Kopf, eine Kugel durch den Kopf – raunte es unablässig in ihm weiter. Selig sind die Toten – und das Leben ist Qual, Tod aber ist Erlösung –, zuckte es ihm wie ein Blitz durch den Sinn, und dann stand wieder das große eherne Gebot wie mit Flammenschrift ruhig und ernst vor seiner Seele: Du sollst nicht töten!

Er schauderte. Er wollte ja nicht töten, er dachte ja gar nicht daran, und während er versunken so vor sich hinstarrte, kam ein Pferdegetrappel, sauste ein leichtes elegantes Rollen immer näher und näher. Er schrak auf. Sein Herz tat einen gewaltigen Schlag, und versteinert blieb er stehen.

Ein fröhliches klingendes Lachen – wie oft hatte er es gehört – – eine weiche zurückgelehnte Gestalt in Federhut und Pelzmantel – ein schlanker bärtiger Mann neben ihr in einer Lodenjoppe, einen spitzen Hut auf dem Kopf – vorbei, weg – vorüber!

Betäubt starrte der Volksschullehrer auf die Rückseite des Wagens, der sich wiegend und pfeilschnell fortbewegte. Jetzt ging's über die Brücke – jetzt, jetzt sah er nur noch die Gestalt des Kutschers, und jetzt bogen die milchweißen Schimmel in den Flecken, und lauter ertönte das Rollen über das schlechte unregelmäßige Pflaster.

Ein Traum, ein Augenblick nur eines Traumes, aber auch dieser Augenblick war der Mühe, war all des Harrens und Hoffens wert gewesen. Das klingende Lachen – noch hörte der kleine Mann es deutlich, – und die furchtbare Spannung seiner Nerven löste sich, ein stilles müdes Weh kam leise wie mit sanften Fittigen über ihn. Tief seufzte er auf und trat den Heimweg an.

Von nun an war es Stepan Nikolaitsch Bedürfnis, ja Notwendigkeit geworden, täglich auf den barönlichen Wagen da draußen hinter der Brücke zu warten.

Wochen und Monate strichen vorüber. Wochen und Monate aus einzelnen kleinen Augenblicken, öden Stunden und schmerzvollen Tagen geflochten und gewoben im rätselhaften Gewebe der Zeit. Dennoch enthielt jeder einzelne Tag für den Lehrer einen Licht- und Höhepunkt, einen Auf- und Niedergang, den Moment, wo er die anmutige Gestalt des jungen Mädchens im Federhut an sich vorüberrollen sah. Aber auch in diesem flüchtigen Moment gab es Höhen und Tiefen – Höhen, wenn sie ernst und schweigsam an ihm vorüberflog – Tiefen, wenn sie sich lachend wie in übermütigem Spiel zu ihrem Begleiter beugte.

An die Stelle des barönlichen Wagens war jetzt ein barönlicher Schlitten getreten, denn der Winter war gekommen. Statt des Federhutes saß eine kecke Pelzmütze flott und ein wenig schief über dem geliebten Gesicht. Das waren Veränderungen, die Stepan Nikolaitsch bemerkte, sonst gab es für ihn keine. Sein Leben ging seinen gleichmäßigen, einförmigen Lauf. Ruhig und geduldig mit der gleichen still-leidenden Miene teilte er Lob und Tadel unter seinen Schülern aus – mehr konnte man von ihm nicht fordern.

Nein, mehr konnte man wirklich nicht von ihm fordern, und dennoch gab es einen, der ein gewaltiges Mehr von ihm forderte, und das war der Vater Nikiphor. Er haßte den kleinen Volksschullehrer, und sein Haß machte ihn scharfsichtig und blind zugleich. Mit dem Instinkt des beutelüsternen Raubtieres empfand er, daß die Stunde, wo er Gewalt über sein Opfer erlangen würde, nicht mehr fern war. Noch aber war die Stunde nicht gekommen. Es war sonderbar, daß Stepan Nikolaitsch an die letzten drohenden Worte des Popen nicht mehr dachte. Um so mehr aber dachte Vater Nikiphor daran und jedesmal, wenn er dem Lehrer begegnete, schluckte er ingrimmig und wütend die Worte in sich hinein: »Du wirst, du sollst an mich denken!«

Der eine beherrschende Inhalt seines Lebens war für Stepan Nikolaitsch Wally und das Verlangen sie zu sehen. Neben ihr konnte kein Vater Nikiphor aufkommen, und wenn es doch geschah, ganz unvermittelt in schlaflosen Nächten oder mitten in einer geographischen oder grammatikalischen Erklärung, die er seinen Schülern gab, dann war das Bild widrig und der Eindruck schnell verwischt. Dennoch lebte im Unterbewußtsein des kleinen Mannes die Gewißheit, daß er sich auf die Dauer dem Einfluß des Popen nicht werde entziehen können. Aber auch dies war ihm gleichgültig geworden. Er empfand kein schreckhaftes Grauen mehr vor ihm, nur einen dumpfen Widerwillen.

Der Widerwille war berechtigt, denn in den Augen Vater Nikiphors glimmten und glühten lüsterne Blut- und Mordgedanken. Rachsucht und Fanatismus waren in ihm durch die fortgesetzten Mordberichte zu einem alles beherrschenden Wahn geworden: auch hier, in diesem kurländischen Flecken müsse ein freiherrliches Opfer fallen. Teuflische Bosheit malte es sich mit Behagen aus, daß gerade der harmloseste und unschuldigste Mensch Stepan Nikolaitsch die Bluttat vollbringen solle. Das Wie war ihm allerdings noch nicht klar.

Mittlerweile hielt der Pope ungehindert glühende Brandreden in geheimen Versammlungen. Er entfachte die Instinkte des Volkes zu wilder Wut. Er hatte den verwegenen Plan gefaßt, den ganzen Flecken an der Spitze einer anarchistischen Bande zu überrumpeln und so endlich zu dem ersehnten Ziel zu gelangen, das seine Herrschsucht ihm wies.

Matriona Fadejewna mochte etwas von den Umtrieben des Popen vernommen haben, denn sie fuhr immer ängstlich zusammen, wenn sie seinen dröhnenden Schritt vernahm, und saß ihm scheu und stumm gegenüber, wenn er zu ihr herein kam. Eine gewisse Wahlverwandtschaft zog sie zu dem Volksschullehrer hin, und mehr als einmal raunte sie ihm flüsternd auf Flur und Treppe zu: »Nehmen Sie sich vor dem Vater Nikiphor in acht – er ist ein schrecklicher Mensch!« Dann bekreuzigte sie sich und murmelte ein Gebet.

Ein klarer frostiger Winterabend lag über dem Flecken, und wieder machte sich der Lehrer zu seinem einsamen Gange auf. Schon längst war das Rauschen des Flüßchens verstummt; auf seiner beeisten Fläche tummelte sich die Schuljugend. Jetzt war alles still und hastig stapfte der kleine Mann über den knirschenden Schnee. Vom klaren Himmel nieder funkelten milde traurige Sterne und eine stille friedliche Wehmut füllte des Einsamen Seele. Heute hatte er nicht lange zu warten. Noch ehe er die Brücke überschritten hatte, sah er das ersehnte Gefährt. In langsamem Trabe glitt es hinter der Brücke an ihm vorüber wie ein Schemen.

Aber was er jetzt sah, durchzuckte ihn mit siedender Glut. In den Armen des Mannes mit dem spitzen Hut lag das Mädchen – in seliger Hingebung – und an sein geschärftes Ohr schlug ein leises, kaum vernehmliches jubelndes Schluchzen.

So war er also verraten! Und Wally, seine Wally gab sich einem verheirateten Manne hin!

Stumpf, mit dem Ausdruck eines Irrsinnigen starrte er dem Schlitten nach. Vom klaren Himmel nieder funkelten matte traurige Sterne und blinzelten – er aber sah sie nicht, er fühlte nur das eine: Er mußte sie, die er liebte, vor Schande und Schmach bewahren. Mochte sie ihn immer verraten – was lag daran? Aber um ihrer selbst willen mußte sie rein und unbescholten bleiben!

Ein dumpfes heiseres Stöhnen entrang sich seiner trockenen Kehle – wild griff er um sich in die leere Luft und schwer fiel er nieder, besinnungslos in den kalten steifgefrorenen Schnee.

Er hatte eine Weile gelegen, da rüttelte ihn ein schwacher Arm und eine Kinderstimme rief flehend: »Stepan Nikolaitsch, lieber Stepan Nikolaitsch, bitte, so stehen Sie doch auf!«

Es war Krisch! Sein Vater hatte ihn in den Flecken nach Branntwein geschickt, und in dem armseligen zusammengebrochenen Haufen hatte der Knabe seinen Lehrer erkannt.

War der Lehrer betrunken oder tot? Eine dritte Möglichkeit gab es für das beschränkte Fassungsvermögen des armen Jungen nicht. Schnell kauerte er sich nieder zu ihm aus den Schnee und hob das blasse Haupt aus die Knie. Er beugte sich zu ihm hin und schnupperte wie ein Jagdhund an dem Munde des Bewußtlosen. Nein, nach Branntwein roch sein Atem nicht. Stepan Nikolaitsch war also tot. Ein namenloses Entsetzen rüttelte den Knaben, hastig sprang er auf und lief spornstreichs in den Flecken hinein, so schnell ihn die Beine trugen.

Über den Marktplatz schritt mit weit ausholenden wuchtigen Schritten ein Mann.

Krisch stürzte ihm entgegen. »O helfen Sie, helfen Sie, Vater Nikiphor, Stepan Nikolaitsch ist tot – er liegt da hinter der Brücke!«

»Stepan Nikolaitsch tot? Was sagst du, Junge? Noch heute war er frisch und gesund.«

»Kommen Sie, kommen Sie schnell!« jammerte Krisch. »Es ist Stepan Nikolaitsch, und da liegt er im Schnee hinterher Brücke, ganz starr und kalt!«

Betroffen folgte der Geistliche dem Knaben. In fünf Minuten waren sie zur Stelle.

Der Pope kniete nieder und betastete den Besinnungslosen. Er riß ihm den Rock aus und legte ihm die Hand auf das Herz. Dann nahm er eine Handvoll Schnee und begann ihm die Schläfen zu reiben.

Die Augenlider des Lehrers zuckten. Mit einer gewissen ingrimmigen Schadenfreude rieb der Pope stärker und stärker.

»Geh, hol' Branntwein!« herrschte er den Jungen an. »Stepan Nikolaitsch lebt!«

In großen freudigen Sprüngen sauste Krisch in den Flecken zurück.

Verwirrt schlug der Lehrer die Augen auf. »O Wally ...«, murmelte er schmerzlich, »der Baron ...«

Gierig sog der Pope die geflüsterten Worte ein. Der Baron! hatte er gesagt. Der Baron hatte ihm etwas zuleide getan!

Er rüttelte den noch nicht völlig Erwachten hart.

»Du wirst den Baron totschießen –«, sprach er gedämpft und eindringlich. Es klang wie ein hartes Kommando.

Stepan Nikolaitsch taumelte empor. »Ich werde – den Baron – totschießen –«, murmelte er dumpf. Der Kopf fiel ihm schwer zur Seite.

Der Geistliche riß ihn empor und stellte ihn auf die Füße.

»So!« sagte er, »Stütze dich nur fest auf mich. Du kannst stehen.«

»Ich kann stehen –«, wiederholte Stepan Nikolaitsch willenlos.

Sie gingen einige Schritte. Der Geistliche überlegte. Da sah er eine kleine Gestalt in eiligem Laufe auf sich zukommen. Jetzt war keine Zeit mehr zum Besinnen, es mußte gehandelt werden. Er zog einen blinkenden Gegenstand aus der Tasche und sagte ruhig im selbstverständlichsten Tone: »Da nimm, Bruder, und ziele gut.«

Und Stepan Nikolaitsch nahm den Revolver – -

Mit freudeglänzenden Augen sah Krisch seinen Lehrer an. »Hier der Branntwein!« keuchte er und hielt die Flasche hoch.

Der Geistliche entkorkte die Flasche. »Trinken Sie, Stepan Nikolaitsch.«

Auch diesmal gehorchte der Volksschullehrer und nahm ein paar Schluck. Seine Augen blickten stumpf und trübe.

»Stepan Nikolaitsch ist krank,« sagte Vater Nikiphor zu Krisch, »geh nach Hause, Junge!«

Krisch warf einen fragenden Blick auf den Lehrer und trollte sich betrübt, die Flasche unterm Arm. Wortlos schritten die beiden Landsleute durch den Flecken heimwärts.

Stepan Nikolaitsch warf sich in Kleidern auf sein Bett und schlief schwer und dumpf bis zum hellen Morgen.

Von nun an war er ein anderer. Er begann seine Kleidung zu vernachlässigen. Der sonst so peinlich saubere Mensch ging mit struppigem Haar, unordentlichem Halskragen und ungewichsten Stiefeln in seine Klasse. Beim Unterricht war er heftig und ungeduldig. Der geringste Umstand konnte ihn reizen und dennoch war er eigentlich nicht recht bei der Sache. Befremdet stand die Schuljugend ihrem gütigen Lehrer gegenüber.

»Er ist krank!« erklärte Krisch gönnerhaft seinen Kameraden. »Er war schon beinahe tot, darum ist es nicht richtig mit ihm.«

Es war nicht richtig mit ihm, denn er hatte keinen eigenen Willen mehr. Er stand unter fremdem Willen und ging einher wie ein Schlafwandelnder.

Die furchtbare seelische Erschütterung, der festgewurzelte Wahn, daß er Wally vor Sünde und Schuld bewahren müsse, dazu der dämonische Einfluß des Popen hatten den stillen, harmlosen kleinen Mann völlig umgewandelt. Wie ein leidenschaftlicher Jäger, der nicht ruht, bis er sein Wild beschlichen und gestellt, so verfolgte Stepan Nikolaitsch mit stiller Zähigkeit die Fährte des Barons. Früher hatte er nie auf sein Aussehen geachtet, der spitze Hut und die Lodenjoppe, das waren seine einzigen Kennzeichen, jetzt merkte er sich die Züge seines Opfers und schlich ihm nach, wo er konnte.

Vor einer Stunde hatte er ihn heute zum Notar hineingehen sehen. Im Flur hatte Stepan Nikolaitsch zwei volle Stunden gewartet mit glühenden Augen und zusammengepreßten Zähnen. Auf der Post holte der Baron seine Briefschaften ab, und Stepan Nikolaitsch hörte, wie er seinem Kutscher befahl: »Fahre nur voraus ins Pastorat, ich habe noch einen Gang vor.«

Der Volksschullehrer sah die schlanke vornehme Gestalt des Mannes in der Apotheke verschwinden und schlug sofort die Richtung zum Pastorat ein.

Der Weg war einsam und öde. Eine weite Fläche von beschneiten Feldern, hier und da ein verkrüppelter Weidenstumpf mit tausend verästelten Zweigen, darüber ein grauer schwermütiger Himmel, von einem fernen blauen Tannenwald begrenzt. Leicht und schnell glitt der Schlitten über den taufeuchten Schnee. In der Ferne hob sich wetterfest und wuchtig der runde Schloßturm.

Beharrlich und ruhig schritt Stepan Nikolaitsch vorwärts. Auf dem halben Wege zum Pastorat kehrte er plötzlich um, wie auf höheren Befehl, und ging denselben Weg langsam zurück.

Da sah er auch schon die hohe vornehme Gestalt des Mannes, den er töten wollte. Schlank und sicher, einen Spazierstock in der Hand, den spitzen Hut schräg aufgesetzt, kam der Baron in ruhiger Gemächlichkeit ihm entgegen, jeder Zoll ein Aristokrat.

Mit sonderbarem und gierigem Interesse betrachtete ihn Stepan Nikolaitsch, wie er so leicht und elegant daherkam. Keine Spur von Haß regte sich in seiner Seele, nur der dumpfe unabänderliche Wille: Ich muß und ich werde ihn töten.

Jetzt waren die beiden Männer nur noch sechs Schritt voneinander entfernt. Mit einem leisen Erstaunen hob der Baron die breiten schweren Augenlider – er hatte den sonderbaren Gesellen erkannt, der ihn im Flur des Notars so seltsam angestarrt hatte.

Einen Augenblick sahen sich die Männer in die Augen. Blitzschnell fuhr Stepan Nikolaitsch in die Rocktasche, zielte, feuerte und traf.

Die Kugel war durchs Herz gegangen. Mit hintenüber geworfenen Armen lag der Baron auf dem Rücken. Ein leises Zucken rann durch seine Glieder. Er war tot.

Die Joppe färbte sich langsam rot, und in breiten schweren Tropfen sickerte das Blut auf den weißen Schnee.

Stepan Nikolaitsch stand mit hängenden Armen vor seinem Opfer und betrachtete es lange. Der Revolver entglitt seiner Hand.

»Ein schöner Mann!« sagte er endlich halblaut in traurigem Ton. »Arme Wally, vergib ...«

Dann riß er sich los von dem Toten und schritt langsam wie im schweren Traum in den Flecken zurück. Er war unsäglich müde.

In seiner Stube lag ein Brief. Er kannte die Schriftzüge. Mechanisch öffnete er das Kuvert und las:

»Lieber Freund Stepan Nikolaitsch!

Ich hätte es Ihnen schon vor einigen Tagen sagen sollen – ich fand nicht den Mut dazu, denn es fällt mir nicht leicht, Ihnen einen Schmerz zu bereiten. Bitte vergeben Sie mir, Stepan Nikolaitsch. Als ich Ihnen sagte, daß ich Sie lieb hatte, da kannte ich mich selbst nicht. Jetzt erst weiß ich, was Liebe ist. O, vergeben Sie mir, wenn Sie können. Seit vier Tagen bin ich mit Herrn von Röhren, dem Hauslehrer des Barons, verlobt.

Ihre Wally.«

Das Blatt entsank seiner Hand. Schwer fiel sein Kopf auf die Tischplatte. Ein Seufzer der Erleichterung kam tief aus der gepreßten Brust. »Also war's nicht Ehebruch!« murmelte er. Dann fiel ihm mit einem schreckhaften Ruck der Tote ein, der da still und einsam auf der weißen verschneiten Straße lag – großer Gott, so hatte er den unrechten Mann getötet! ... Der da lag, war ja der Baron von Falkenfels und nicht der Hauslehrer – – und nun erinnerte er sich plötzlich klar, daß der, in dessen Armen Wally gelegen, ein anderer gewesen. Sie trugen beide dieselben spitzen Hüte. Hilflos streckte er beide Arme weit von sich aus den Tisch und lag regungslos.

Mit einemmal lief ein Zittern durch die schmächtige Gestalt des kleinen Mannes – das Zittern wurde stärker und heftiger, der Stuhl, auf dem er saß, die Tischplatte zitterte und bebte ... Und mit einer fremden heiseren Stimme sprach er laut: »Ich bin ein Mörder.«

»Ich bin ein Mörder!« wiederholte er flüsternd. Ein Grauen vor sich selbst, ein Grauen vor dem rätselhaften Leben kroch eisig durch seine Glieder und schüttelte ihn. Der Bann, in dem er seit vier Tagen gestanden, war von ihm abgefallen. Er war wieder er selbst.

Und nun stand er auf, hob sein totenblasses Gesicht und die Arme empor und stürzte in die Knie. »Mein Gott, mein Gott, vergib!« stöhnte er. Er wußte plötzlich, daß es einen Gott gibt.

Er beugte sich nieder, tief, tief, berührte mit der Stirn den Fußboden und küßte ihn.

»Ich bin nicht wert, daß die Erde mich trägt …,« murmelte er, »o Mutter, Schwester, Wolodja, könnt ihr mir vergeben?!«

Dann brach er in ein leises wehes Weinen aus.

Lange weinte er so still und schmerzhaft vor sich hin, seine Tränen flossen in Strömen und wuschen und badeten ihm die wunde kranke Seele rein.

Endlich stand er auf. Nein, noch war er nicht rein, er hatte noch etwas zu tun. »Kann man denn Tote erwecken?« flüsterte er. »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Blut um Blut!«

Er wusch und trocknete sich das Gesicht. Dann ging er hinunter und klopfte bei Matriona Fadejewna an.

Freundlich öffnete die Frau und erschrak.

»Rufen Sie mir sofort Vater Nikiphor,« sprach er mit einer wilden Bestimmtheit. »Ich muß ihn notwendig sprechen.«

Eilig lief Matriona Fadejewna die Treppe hinunter.

Nach wenigen Minuten kam der Pope. Er war bleich und seine Augen funkelten erwartungsvoll.

Hastig schloß er die Tür hinter sich.

Ruhig und groß sahen ihn die Augen des kleinen Mannes an.

»Vater Nikiphor,« sagte er mit tonloser trauriger Stimme, »weshalb hast du mir das getan?«

Ein Ruck ging durch die mächtige Gestalt des Geistlichen.

»So hast du ihn getroffen?« brach er los.

»Der Baron liegt tot auf der Straße. Ich aber frage dich noch einmal: Weshalb hast du mir das getan?«

Der Geistliche hielt den vorwurfsvollen schmerzhaften Blick nicht aus. Seine Augen glühten und flackerten, und er senkte sie zu Boden.

»Die politischen Verhältnisse …,« begann er rauh und stockte, »hm, erfordern den Tod der Tyrannen.«

Dann schluckte er und sah verwirrt zur Seite.

»Keine politischen Verhältnisse erfordern feigen Meuchelmord, noch können sie ihn jemals rechtfertigen,« sprach der kleine Mann tonlos weiter. »Du aber bist ein Mörder, gleich mir, und bist nicht wert, das geistliche Gewand zu tragen.«

»So? Pfeift die unschuldsvolle Tugend aus diesem Loch?« brauste Vater Nikiphor auf. »Du willst mich wohl angeben, Freundchen? Nein, so haben wir nicht gewettet!«

»Ich werde mich selbst angeben, selbstverständlich!« sagte der kleine Volksschullehrer einfach. »Zuerst aber will ich dir sagen: Du mit deiner Kraft und Macht bist ein erbärmlicher, armer, sündiger Mensch, und du hast den Baron gehaßt und hast mich zum Mörder gemacht. Nein, widersprich mir nicht,« fuhr er fort, »es ist so, und ich weiß es.«

Der Pope widersprach nicht. An allen Gliedern zitternd stand er da. Dann stürzte er sich mit einem Wutschrei auf den kleinen Mann, warf ihn zu Boden, schnürte ihm mit Handtüchern Hände und Füße zusammen, steckte ihm sein Taschentuch in den Mund, hob die leichte Last empor, als wäre sie ein Kind, und schleuderte sie krachend aufs Bett.

»Mit dem Angeben hat's noch gute Weile, Brüderchen,« höhnte er. »Die Knochen im Leibe schlag' ich dir entzwei!«

Mit einem lauernden Blick sah er sich in der Stube um, riß den Schlüssel aus der Tür, verschloß sie sorgfältig von außen und polterte die Treppe hinunter.

Eine Stunde oder zwei lag der Gefesselte still und regungslos, die Augen mit gequältem Blick zur Decke gerichtet. Allmählich löste sich die Spannung in seinen Zügen, ein friedlicher Ausdruck trat darauf, müde senkten sich die geröteten Augenlider, und wie ein Kind schlief Stepan Nikolaitsch, der Mörder unter fremdem Willen, leise und sanft ein. –

Im Flecken war eine ungeheure Erregung ausgebrochen. Man hatte die Leiche des Barons gefunden. Für die Anarchisten war dieser Mord gleichsam das Signal zu offenem Ausbruch. Sie stürmten das Polizeigebäude, die Post und das Telegraphenamt unter der Leitung Vater Nikiphors und fesselten die Beamten. Sie durchschnitten die Telegraphendrähte, damit keine militärische Hilfe herbeigeholt werden könne. Sie zogen in einzelnen Scharen mit wehender roter Fahne und revolutionäre Lieder singend durch den Flecken und versetzten die zitternde Bevölkerung in lähmenden Schrecken.

Einen Nachmittag waren sie die Herren im Ort, und Vater Nikiphor sah tatsächlich seinen wilden Traum erfüllt: er hatte die Macht, die seine zügellose Herrschsucht sich ersehnt, und er war trunken in seinem Machtgefühl. Seine endlich erlangte Herrschaft machte ihn kurzsichtig und blind. Er schwelgte in Anordnungen und Befehlen und übersah eine sehr naheliegende Gefahr: er hatte es versäumt, die Telephonleitung vom Schloß nach der nahen Stadt Goldingen zu zerstören.

Herr von Röhren hatte um dringende militärische Hilfe telephonieren können, und am anderen Morgen rückten Dragoner in mehreren Abteilungen von verschiedenen Seiten in den Flecken. Um das Polizeigebäude tobte ein blutiger Straßenkampf, Flintenschüsse knatterten, Kommandorufe schallten durch die Dämmerung – die anarchistische Bande wurde gefangen genommen bis auf einen Mann, und dieser Mann war Vater Nikiphor.

In der Verkleidung eines lettischen Bauern hielt sich der Pope regungslos unter der Flußbrücke verborgen. Als die Nacht hereinbrach, schlich er hinter der Schmiede über den Bergrücken. So entkam er. –

Stepan Nikolaitsch war endlich aus einem langen traumlosen Schlaf der Erschöpfung erwacht. Verwirrt schlug er die Augen auf und versuchte vergebens die gefesselten Glieder zu rühren. Mit dumpfer angstvoller Deutlichkeit trat das Geschehene wieder vor sein Bewußtsein, und er verfiel in einen seltsamen halbwachen Traumzustand.

Er sah ein breites graues wogendes Meer, von lichten weißen Sandbänken eingefaßt, dem Ufer entlang einen Friedhof, eine endlose Reihe von Gräbern; und er vernahm einen schaurig klagenden Totengesang. Mönche mit bleichen hageren Gesichtern und wallenden schwarzen Kutten wandeln in düsteren Reihen hintereinander her und tragen flammende Kerzen, und über dem allem ein nordischer grauer Himmel. Kapelle reiht sich an Kapelle, und der Friedhof streckt sich in unabsehbarer Weite längs der Meeresküste hin.

Nordisches karges Gesträuch, Wacholdergebüsch und ragende Kiefern mit leuchtend roten Stämmen beschatten kümmerlich die endlose Reihe von Gräbern. Gräber, Gräber überall. Kleine schmucklose Holzkreuze, schief und zerfallen, und darüber heult der Sturm mit lautem winselnden Klageton.

Und das näselnde Singen der Brüder vermählt sich mit dem Klagegesang des Sturmwindes und dröhnt darüber hinaus in schauerlichem Wechselgesang.

Armut, kümmerliche Armut ringsumher – Kinder mit eingefallenen bleichen Wangen und fast alle von der furchtbaren Pockenkrankheit entstellt, krüppelhafte Bettler, schleichende Greise. Und alles eng, eng, wie zugeschnürt von der verständnislosen Frömmigkeit und Gleichgültigkeit gegen menschliches Elend.

Ein Mann wandelt den Friedhof entlang, ein Fremder. Er trägt seine eigenen Züge. Erstaunte fanatische Gesichter aus schwarzen Kutten begegnen ihm – fragende Blicke … die dürre gelbe Hand, die sich zum Zeichen des Kreuzes erhoben hat, zuckt zurück. »Ein Fremdling … ein Ungläubiger? Was suchst du, Friedloser, in unserem Reich?«

Ein harter Blick aus glühenden Augen trifft den Mann, und schuldbewußt und friedlos eilt er weiter. Arme Bettelkinder strecken ihre kleinen mageren Händchen nach einer Gabe aus. »Zurück!« donnert eine Stimme hinter dem Manne, »er ist ein Friedloser – ein Mörder!« – und verschüchtert ziehen sich die armen kleinen Hände zurück.

Ein Flüstern geht durch die Reihen … »Ein Ungläubiger – ein Friedloser – ein Mörder …,« wogt es lauter und lauter um ihn. – »Ein Mörder! …« – – – – In kalten Schweiß gebadet, mit gurgelndem Stöhnen richtet sich Stepan Nikolaitsch auf und starrt wild um sich her. Das Schreckbild ist zerflossen wie ein grauer Nebel. – –

Knatternde Schüsse, jammerndes Wehgeschrei, herbe Kommandorufe gellen von der Straße her an sein Ohr. Hat denn die Hölle alle grausen Schreckgespenster losgelassen, um ihn zu foltern? Ach, bekennen können, seine Schuld, seine große Schuld bekennen dürfen – welch eine Himmelsgabe wäre das!

Aber er ist ja gefesselt – er kann sich ja nicht rühren – mit einem schmerzlichen Seufzer sinkt er zurück und schließt die Augen. Wo ist sein Friede hin? Verzweifelt reißt er an den Fesseln, die seine Handgelenke umschnüren. Umsonst.

Da dröhnt's im Flur – durcheinandergellende Stimmen, wirre Rufe. Hastige Schritte poltern die Treppe empor. An der Tür wird gerüttelt. Fußtritte, Kolbenschläge donnern dagegen – die Tür stürzt krachend ein. Blitzende Uniformen, gerötete Gesichter, rauchgeschwärzte Hände, zornige Rufe …

»Noch einer,« schallt's ihm entgegen. – »Nehmt ihn fest!«

Das Zimmer ist voller Soldaten.

»Er ist ja schon gebunden und geknebelt, Euer Hochwohlgeboren!«

Ein Offizier tritt ans Bett und nimmt ihm den Knebel aus dem Munde. »Wer sind Sie?« fragt er streng.

Dankbar blickt Stepan Nikolaitsch zu ihm auf. »Ich … ich … ich habe den Baron getötet!«

Es klingt wie ein Jubelruf.

Der Offizier weicht zurück. Noch nie hat er ein so strahlendes Antlitz gesehen.

»Um so schlimmer für Sie!« sagt er betreten. »Wer sind Sie?«

»Volksschullehrer – Stepan Nikolaitsch Goruschkin.«

»Wissen Sie, wo der Pope Nikiphor ist? Leugnen Sie nicht!«

Der kleine Mann schüttelt den Kopf. »Er war gestern bei mir.«

»Wer hat Sie gefesselt?«

»Eben Vater Nikiphor.«

»Und warum?«

Stepan Nikolaitsch zögert einen Augenblick. »Weil er mich zum Morde überredet hat,« spricht er fest.

»Löst ihm die Bande von den Füßen und fort mit ihm,« kommandiert der Offizier.

Schwankend steht Stepan Nikolaitsch auf den Füßen. Unter Eskorte wird er hinausgeführt.

Der Friede ist wieder über ihn gekommen.

Eine tiefe Dankbarkeit, eine wehmütige Freude strahlt und leuchtet aus seinem Antlitz.

Der Zug geht an dem Hause des Veterinärarztes vorüber.

»Wally, Wally – so sehen Sie doch – auch er ein Anarchist!« kreischt die entsetzte Stimme Frau Doktor Trellers. »Hab' ich Sie nicht alle vor ihm gewarnt?« klingt es darauf triumphierend.

Bleiche bekannte Gesichter beugen sich aus dem Fenster. Mit einem Wehlaut fährt Wally zurück.

Ein ruhiger friedlich-schmerzlicher Blick hat sie gestreift. Sie begreift noch immer nicht …

»Weshalb ist er gefangen?« ruft der Veterinärarzt keuchend.

»Er hat den Baron erschossen!« schreit einer der Soldaten zum Fenster empor. – –

Stepan Nikolaitsch ist im Gefängnis.

Und morgen soll er sterben.

Er schreibt einen Brief an seine Mutter. Seine Augen leuchten.

»Trauere nicht, gute Mutter – ich bin sündig, aber Dein verlorener Sohn bin ich nicht. Ich stand unter fremdem Willen und der Friede Gottes ist über mir. Es küßt euch alle

Euer Stepan.«

Am nächsten Morgen in aller Frühe bewegt sich eine Kompagnie Soldaten, mitten unter ihnen eine Reihe Gefangener, auf den Marktplatz. Stepan Nikolaitsch erkennt den Vater Krischs, den Trunkenbold. Seine Augen suchen Vater Nikiphor. Er findet ihn nicht.

Der Marktplatz ist gedrängt voll Neugieriger.

»Zurück! Platz!« schallen kurze Kommandorufe.

Die Gefangenen werden der Reihe nach aufgestellt. Totenstille.

Da kreischt eine jammernde Knabenstimme in die feierliche Stille hinein: »Tötet ihn nicht! Er war unser guter Lehrer … Stepan Nikolaitsch ist unschuldig!«

Rohe Fäuste schlagen auf den Knaben ein. Krisch wehrt sich wie ein Verzweifelter. Stöhnend bricht er zusammen.

Das Kommando des Offiziers ertönt:

»Feuer!«


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