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Vor der niederen Hütte saß die kleine Darthe und schaukelte ihr jüngeres Brüderchen. Sie tat es widerwillig. »Halt's Maul, Jahnit!« sagte sie zornig und runzelte düster die Brauen. »Kannst du nicht schlafen, was?« Sie gab dem Säugling einen heftigen Klaps, und als der nicht zu helfen schien, fuhr die kleine braune Hand unter die Wickeltücher und kniff ihn wütend ins Bein.
Klein Jahnit aber riß sein Mündchen in Schreck und Entsetzen weit auf, als sammle er Kraft zu einem berserkerähnlichen Schmerzgebrüll – aber es kam kein Ton. Neugierig beugte sich Darthe über ihn und sah ihn mit weit aufgerissenen braunen Kinderaugen fragend an. »Nu, was wird nu sein?« sagte sie halblaut. Und nun kam's, kreischend, empört, in gellenden verzweifelten Stößen – das kleine Gesicht wurde blaurot, die Fäustchen fuhren geballt an den Kopf, und die Beine zuckten krampfhaft auf und nieder.
»Jahnit, Jahnit, schrei nicht so!« rief die kleine Darthe weinerlich und begann darauf mit schrillem Stimmchen ein lettisches Kinderlied zu singen.
»Drüben auf der Wiese
Geht ein weißer Storch –«
»Wai Gottchen, Gottchen!« stöhnte die alte Großmutter, die gelähmt in der rauchgeschwärzten Stube auf dem Strohsack lag, »wai Gottchen, Gottchen! Ist das ein Kreuz mit den Kindern! Darthing, Darthing, so komm doch her, Kind, wenn die Großmutter ruft!«
»Ich komme ja schon, Großmutter!« schrie das Kind mit trotzig aufgeworfener Oberlippe, dann packte sie das brüllende Bündel und schleppte es keuchend in die warme Stube. Unsanft legte sie es auf das Fußende des Bettes. Die Alte richtete sich stöhnend auf und betrachtete das Kleine. Unter den weißen Brauen sah sie drohend die kleine Missetäterin an. »Hast du ihm was getan, Darthe?« fragte sie streng. »Antworte!«
Stumm stand das Kind da mit gesenkten Wimpern und steckte statt aller Antwort den Finger in den Mund.
»Du hast ihm was getan!« ächzte die Großmutter. »Das ist eine große Sünde. Dich wird der Pfarrer holen – der steckt dich in einen schwarzen Sack und trägt dich geradeswegs in die Hölle. Da wirst du zeitlebens braten!«
Erschrocken sahen die Kinderaugen zu der Alten auf und blinzelten unsicher.
»Ja, ja,« murmelte die Alte, »du wirst schon sehen, was dir geschieht!«
Leise streichelnd fuhr die runzlige Hand über das schreiende Kind, und immer schwächer und sanfter wurde das Weinen, endlich verstummte es ganz. Die kleine Faust fuhr in das Mündchen, und eifrig begann das Kind daran zu lutschen. Zwei schwere dicke Tränen lagen anklagend auf den runden Bäckchen. Darthe stand noch immer steif und stumm neben der Großmutter.
Die Alte zog jetzt andere Seiten auf.
»Liebst du denn den Jahnit gar nicht, Darthing?« fragte sie. »Es ist doch dein gutes Brüderchen, so'n liebes schönes Kind. Sein Brüderchen muß man doch lieben.«
»Ne!« sagte Darthe und schüttelte unwirsch den Kopf. Die dunklen ungekämmten Haare fielen über die bräunliche Stirn, und eine böse Falte legte sich drohend darüber.
»Der Jahnit schläft nicht, und immer krieg' ich Prügel. Ich will an den Fluß – spielen!«
»Ui – ja!« sagte die Alte. »Spielen willst du am Fluß? Dazu bist du nun viel zu groß – was hast du denn am Fluß zu suchen? Lauf nicht immer an den Fluß, sonst läuft er einmal nach dir und holt dich, und dann bist du kalt und tot.«
Wieder schüttelte das kleine Ding den Kopf.
»Der Fluß ist gut,« sagte sie, »besser als – als alle. Und holen kann er mich gar nicht.«
»Wart', wart' … sei nicht hochmütig, du dummes Kind, sonst geht's dir wie dem Buttchen, und du kriegst ein schiefes Maul.«
»Welchem Buttchen?« fragte die Kleine – ihre schwarzen Augen funkelten gespannt.
»Das ist eine alte Geschichte,« stöhnte die Großmutter, »eine alte schöne Geschichte. Als der liebe Herrgott die Welt erschaffen hatte und sich sein Werk besah, da ging er an dem großen Wasser spazieren und war recht von Herzen froh. Im Sande aber lag eine Butte und sonnte sich. ›Was tust du denn hier in der Sonne, liebes Buttchen?‹ fragte der Herrgott so recht freundlich. Und die Butte, dies unverschämte Vieh, zieht ihr Maul schief, blinzelt zum Herrgott empor und wiederholt höhnisch: ›Was tust du denn hier, liebes Buttchen?‹ Da wurde der Herrgott zornig und sprach: ›Du hast mich gehöhnt – darum sollst du von nun an dein schiefes Maul behalten, und auf der einen Seite sollst du rauh und grantig bleiben.‹ – Und seitdem hat die Butte ein schiefes Maul – und rauh ist sie auch, aber nur auf der einen Seite, auf der sie im Sande lag. Ja, ja – so geht's, wenn man hochmütig ist!
Und das ist die Wahrheit – hast du nicht gesehen, wie rauh die Butten auf der einen Seite sind?«
Die kleine Darthe seufzte tief auf. »Ja!« sprach sie überzeugt. »Erzähl' noch was, Großmutter!«
»Hast du den Jahnit geschlagen? Antworte zuerst, Mädchen, hernach erzähl' ich dir eine viel schönere Geschichte – vom Regenvogel. Sieh doch, nun schläft das Brüderchen, wie'n Engel im Himmel sieht er aus. Hast du ihn geschlagen? Wenn du deine Sünde nicht gestehst, erzähl' ich dir mein Lebtag nichts mehr.«
Die runden Kinderaugen hingen sehnsüchtig an den Lippen der Großmutter. Ein heftiger Kampf malte sich in dem trotzigen kleinen Gesicht. »Wirst's nich Mutter sagen?« fragte die Kleine vorsichtig.
»Ne, ne – diesmal nich … gesteh' nur.«
»Gekniffen!« stieß Darthe kurz hervor.
»Ach, du Höllenbraten, du siebenjähriger!« ereiferte sich die Alte. »Ist das ein Kreuz mit den unvernünftigen Kindern, ist das ein Kreuz! Wai Gottchen, Gottchen, erbarm dich doch über uns! Und ich muß hier hilflos auf dem Strohsack liegen, kann kein Glied rühren und dir nicht mal eine ordentliche Birkenrute schneiden! Peitsche hast du verdient, nicht bloß Ruten! – Wirst's wieder tun, sag', du kleines Ungetüm, wirst's wieder tun – wie?«
Darthe knitterte nachdenklich ihre Schürze zusammen. »Ne!« murmelte sie, »aber nu erzähl' auch, Großmutter – vom Regenvogel!«
Die Alte seufzte, blickte zur verräucherten Decke und begann:
»Es war einmal eine Zeit, da gab's kein Wasser auf der Erde, keinen Fluß, keinen Bach und keinen See. Nur ein dunkles weites Wasser, rings um die Erde herum, und das war bitter und salzig, und man nannte es das Meer. Aber süßes Flußwasser gab es nirgends. Da rief der liebe Herrgott alle Tiere der Erde zusammen, die Wölfe und Bären und Hunde, die Katzen und Ratten und Mäuse, die Pferde und Kühe und Kälber und alle Schafe und Ziegen und Lämmer – und alle Vögel rief er zusammen, die Hühner und Gänse und die Vögel, die im Walde fliegen, und befahl ihnen tiefe Straßen zu graben, ein jedes nach seinen Kräften, damit sich das Regenwasser darin sammle. Und alle Tiere kamen herbei und gruben emsig, die großen vierfüßigen Tiere mit ihren Tatzen und Klauen, die Vögel mit ihren Krallen und Schnäbeln, und nur einer von ihnen, der Regenvogel, der drückte sich beiseite und half nicht mit bei der Arbeit. Und so waren die Flüsse und Bäche entstanden, und der liebe Herrgott lobte alle Tiere und war mit ihnen zufrieden. Da er aber alles weiß und alles sieht, so wußte er auch, daß der Regenvogel nicht mit bei der Arbeit gewesen war, und er rief ihn und sagte: ›Regenvogel, warum hast du nicht mitgeholfen?‹
›Ich wollte nicht‹, sagte der Regenvogel trotzig.
›So?‹ sagte der Herrgott und schüttelte den Kopf, ›du wolltest nicht? Nun sollst du aber zur Strafe nimmer Wasser aus dem Fluß trinken, wie die anderen Tiere, sondern nur Regenwasser. Von den nassen Gräsern und Blättern sollst du die Regentropfen auffangen mit deinem Schnabel, und darum sollst du immer Sehnsucht nach Regen haben und ihn voraus verkünden, ehe er kommt!‹ Seitdem – sieh mal – schreit der Regenvogel immer ängstlich und klagend vor dem Regen und läuft hin und her im Grase und hat keine Rast noch Ruhe.
Ja, siehst du, so geht's, wenn man trotzig ist, und nun spring schnell an den Fluß, Darthing, und spiel' ein wenig, aber ja nicht zu lange, hörst du wohl, und reich' mir die Milchflasche für den Jahnit her, damit ich sie ihm geben kann, wenn er aufwacht.«
Die Kleine ließ sich das nicht zweimal sagen und war wie der Blitz zur Tür hinaus.
Mit einem schrillen Schrei des Entzückens lief sie durch den kärglichen Gemüsegarten, breitete die Arme aus und hob und senkte sie wie ein Vogel seine Flügel. Geschmeidig wie ein Kätzchen wand sie sich durch die Zaunlücke und stand jetzt vor dem grünen Abhange, der schräg zum Flusse führte. Nun warf sie sich jauchzend ins Gras und rollte wie eine reife Frucht geradeswegs zum Fluß hinunter. Die braunen Füße stemmten sich fest gegen den Boden, die kleinen Hände griffen hastig ringsum nach einem Halt und krampften sich an Grasbüscheln und Wacholdersträuchern fest; mit weit offenen verwunderten Augen fand sie sich auf dem feuchten Ufer sitzen und lachte laut und fröhlich.
Sie sah in den blinkenden Fluß hinein. Mit leisem, murmelndem Rauschen strömte er unablässig und ruhig zwischen den grünen Wiesen dahin. Sehnsüchtig bog sich grüngraues Weidengefieder zu ihm hinab, und seine kleinen Wellen umhüpften schmeichelnd die schwanken Zweige. Weit in der Ferne blaute ein dunkler Tannenwald, und ein lichtblauer nordischer Frühlingshimmel, von leichten schwimmenden Wölkchen bedeckt, spannte sich über das grünende Gelände.
Klein Darthe streckte die Füße ins Wasser und sah vergnügt zu, wie es über sie hinströmte. Immer tiefer rutschte sie hinab – jetzt steckten schon die Beine weit über die Knie in der kalten strömenden Flut. Ein wonniges Behagen durchrieselte sie. Ja, der Fluß war doch gut, und holen konnte er sie gar nicht, dachte sie. Also hatte die Großmutter die Unwahrheit gesprochen. Gut, daß die sie hier nicht sitzen sah, die Beine im Wasser, dann gäbe es wieder Schelte und vielleicht gar Schläge! Noch einige Minuten genoß sie das verbotene Vergnügen, dann kroch ein Kältegefühl durch ihren Körper, und schnell zog sie die Füße zurück.
Sie knetete den Uferschlamm zu Kugeln zusammen und warf sie jauchzend in den Strom hinein. Wie das klatschte und aufschlug und dann wirbelnd versank! Nun sprang sie auf und begann eifrig nach Holzspänen zu suchen. So, nun hatte sie die ganze Schürze voll. Hui, wie die dahingetragen wurden vom flutenden Strom, schnell, so schnell ... wohin eigentlich? Festhalten hätte sie sie mögen oder mit ihnen schwimmen in die Weite – ja, wohin schwammen sie denn nur? fragte sie sich nachdenklich. Richtig, der Fluß ging ja nach Bauske, und Bauske war eine Stadt, und Klein Darthe hatte noch nie eine Stadt gesehen. Aber da war es gewiß herrlich, da gab es einen Marktplatz und einen großen Kirchhof und viele Buden. Neulich hatte die Mutter den neuen Sonntagsstaat aus Bauske geholt – dunkelblauen Kattun und ein süßes Pfefferkuchenherz für Darthe. Sehnsüchtig blickte die Kleine den treibenden Holzspänen nach. Ob sie so schnell laufen konnte? O und wie! Eilig begann sie am Uferrande mit den nackten braunen Füßchen zu laufen – ach der dumme Weidenbusch stand ihr im Wege, hastig umkreiste sie ihn und blieb atemlos am Ufer stehen. Sie sah ihren Holzspahn nicht mehr. War er untergegangen? War er weiter fortgeschwommen? Sie hatte ihn verloren. Rasch entschlossen warf sie einen größeren trockenen Ast ins Wasser, nein, den würde sie nicht aus den Augen lassen, und geschäftig lief sie vorwärts, dem Flußufer entlang – da blieb sie wie angewurzelt stehen.
Sie hörte Stimmen, und hinter dem Ufergestrüpp tauchten zwei herrschaftlich gekleidete Knaben in Matrosenanzügen auf, neben ihnen ein Häuslerssohn, der Grendsche-Jehkab. Alle mochten sie zwölf Jahre zählen. Sie kannte die drei. Der eine breitschultrige blonde Junge mit dem gutmütigen Gesicht, das war Pastors Willi, der andere mit den glänzenden Schnürstiefeln und der schlanken hochaufgeschossenen Gestalt war das Jungherrchen, der kleine Baron. Der dritte aber, der Grendsche-Jehkab war eigentlich der hübscheste von allen. Er war barfuß und trug eine junge Dohle im Arm.
»Schenk' mir die Dohle, Willi!« hörte sie das Jungherrchen sagen.
»Nein, ich will sie selbst behalten, Wolf.«
»Du!« sagte Wolf und maß seinen Kameraden von oben bis unten, »das ist ruppig von dir. Ich bin doch dein Gast, und gegen Gäste muß man liebenswürdig sein.«
Der kleine Pastorssohn besann sich eine Weile. »Höre,« sagte er zögernd, »wir machen alle drei zuvor einen Wettlauf. Wer am schnellsten laufen kann, der bekommt die Dohle. Du, Jehkab, stell' die Dohle hin, wir wollen alle laufen.«
»Aber da fliegt sie doch fort, Jungherrchen!« sagte der hübsche Jehkab und lachte, daß seine Zähne blitzten. Suchend blickte er um sich. »Wir können ihr ja die Flügel binden. Nein, warten Sie!« Er sprang auf die kleine Darthe los. »Du bist Semmits Meiting Meiting = Töchterchen, nicht? Wart', halt mal die Dohle – und paß' auf, daß sie nicht davonfliegt. Wir wollen alle laufen!«
Zögernd nahm Darthe den großen schwarzen Vogel in Empfang und preßte ihn fest an sich. Ihre Augen leuchteten vor Vergnügen, und sie nickte eifrig zwei-, dreimal.
»Halt ihn ja fest, Kleine!« rief der kleine Baron. »Und jetzt stellen wir uns auf – dort bis zum großen Weidenbusch laufen wir. Eins, zwei, drei!«
Die Knaben standen vorgebeugt in erwartungsvoller Haltung, den rechten Fuß vorgestreckt, die Augen aufs Ziel gerichtet.
»Los!« schrie der kleine Baron.
Pfeilschnell ging es über die grüne Wiese dahin. Der kleine Baron war den anderen um einen Fuß voraus, doch jetzt, jetzt überholte ihn der barfüßige Grendsche-Jehkab. Keuchend war Willi hinter den beiden zurückgeblieben. Noch einen neuen Schwung gab sich das Herrensöhnchen – gleichzeitig, zitternd vor Eifer und Leidenschaft prallten der kleine Jungherr und der Häuslerssohn gegen das Ziel.
»Ich war zuerst da!« schrie Wolf, und seine Augen blitzten.
»Nein, ich!« rief Grendsche-Jehkab. »Willi Jungherr – wer hat nu recht?«
Keuchend war Willi langsam herangekommen.
»Ich weiß nicht – ich glaube, beide.«
Die Sieger maßen einander mit flammenden Blicken.
Atemlos war Darthe dem Vorgange gefolgt.
»Der Grendsche-Jehkab hat recht,« sagte sie laut, »und er muß die Dohle bekommen.«
Aber niemand hörte ihre Worte.
»Ich gebe dir zehn Kopeken, Jehkab,« sagte Wolf, »die Dohle muß ich haben.«
»Aber ich war doch der Erste!« sagte Jehkab trotzig.
»Gib ihm dreißig Kopeken, Wolf!« schlug der Pastorssohn vermittelnd vor.
Die kleine Darthe hatte die Beratung nicht gehört, sie stand zu weit ab. »Und Grendsche-Jehkab hat doch recht,« murmelte sie. Ein trotziger Entschluß malte sich in ihrem Gesicht: sie hob die Hände hoch und warf den Vogel in die Luft. Verwundert breitete er die Flügel aus und flatterte auf eine kleine Tanne. Dann, als sei das Selbstgefühl in ihm erwacht, reckte er seinen Kopf, stieß ein heiseres Krächzen aus und flog mit starken ruhigen Flügelschlägen über den Fluß. Er war seinen Peinigern entkommen.
»Die Dohle, die Dohle!« tönte es zornig und klagend aus drei Kehlen.
»Weshalb hast du sie fliegen lassen?« fragte der kleine Baron wütend. »Das kommt davon, wenn man sich mit Mädchen einläßt!«
Stumm, mit niedergeschlagenen Augen und fest zusammengepreßten Lippen stand Darthe und knitterte an ihrer Schürze.
»Haue sollst du kriegen!« rief Grendsche-Jehkab und rüttelte sie derb.
»Komm, Jehkab, laß! Mädchen haut man nicht!« entschied der Pastorssohn großmütig.
»Du hast sie mit Absicht fliegen lassen – pfui, wie gemein!« sprach der kleine Baron im Tone tiefster Verachtung.
Grendsche-Jehkab stand blaß vor Wut beiseite und rührte sich nicht.
Willi fuhr in die Hosentasche und brachte ein Zehnkopekenstück hervor. »Da nimm, Jehkab,« sagte er großartig, »für die Enttäuschung. Du läufst sehr brav.«
Nun wollte auch das Jungherrchen in der Großmut nicht zurückstehen. Aus einem zierlichen ledernen Geldtäschchen zog er einen Zwanziger und reichte ihn Jehkab.
»Da!« sprach er.
Darthe machte große Augen. So war bei der allgemeinen Enttäuschung doch Grendsche-Jehkab der einzige gewesen, der Vorteil davon gehabt hatte. Verwirrt drehte sie sich um und schlich mit gesenktem Haupt nach Hause.
Die Dohle aber hüpfte auf dem jenseitigen Ufer vergnüglich von Strauch zu Strauch und ließ ein verwundertes lautes Krächzen hören.
*
Jahr um Jahr strömte der Fluß unablässig und ruhig dahin. Im Frühjahr wurden seine Fluten stürmischer und dunkler, so als beseele ihn ein junger starker Wille. Im Winter aber erstarrten sie ganz, und eine schwere harte Eisdecke hielt den vorwärtsstrebenden Gesellen monatelang gefangen, bis er im Märzmonat unter donnerndem Krachen und Tosen den Eispanzer sprengte, großmächtige Blöcke übereinander schleuderte wie ein zorniger Riese und, als wolle er sich für die lange Gefangenschaft schadlos halten, die Eisschollen durcheinander wirbelte und jagte, bis sie verängstigt und immer kleiner werdend dahinschwammen auf Nimmerwiederkehr.
In dieser Zeit liebte Darthe den Fluß am meisten. Sie hatte ordentlich Respekt vor ihm und sah den Eisschollen mit triumphierender Freude nach. Ja, ihr Fluß, der konnte schon was Rechtes, der war stark und mächtig, viel mächtiger als der Baron, der Pastor und der Zehsewirt zusammengenommen. Bei dem arbeiteten ihre Eltern um Tagelohn.
Darthe war nun ein schönes kräftiges Mädchen und stand im dreizehnten Jahre. Nicht mehr wie einst lief sie ungekämmt einher. In zwei dicken schweren Flechten trug sie das dunkle Haar wie eine Krone über dem Haupt. Trotzig und horchend blickten die braunen Augen unter der bräunlichen Stirn hervor – sie schienen immer etwas zu suchen, nach innen hinein. Und sie suchten auch etwas, ohne daß sie es wußten. Die alte Großmutter, eine lebensmüde Welle, war vom Zeitenstrom dahingeflutet, und Darthe hatte nun niemanden mehr, der ihr Geschichten erzählen konnte, der sie schalt und dennoch lieb hatte. Ihr Tod hatte im Hause der Knechtsleute eine trübe Leere hinterlassen, und Darthe schien es oft in dunklen Herbstnächten, als höre sie die Stimme der Großmutter rufen. Jetzt brauchte sie nicht mehr widerstrebend ein Kleines zu warten, denn Jahnit war nun schon fünf Jahre alt und folgte ihr auf den eigenen stämmigen Beinchen wie ein Schoßhund, und jüngere Geschwister waren nicht gekommen. Jahnit war aber auch der ganze Stolz der Knechtsleute; um Darthe kümmerte sich die eigene Mutter nicht sonderlich. Sie war ja nur ein Mädchen.
So war der Fluß erst recht ihr liebster Gefährte geworden. Immer und immer flüchtete sie zu ihm hin. Bald saß sie mit sinnenden Augen, starrte in die strömende Flut und ließ das kühle Wasser durch ihre Finger rinnen, bald kauerte sie mit gebeugtem Rücken am Wasser und wusch Jahnits Kleider und ihre eigenen oder spülte Geschirre. Sie hatte ein ganz persönliches Verhältnis zu ihm. In ihren kindlichen Gedanken sagte sie zu ihm du, und zugleich mit einer achtungsvollen Wertschätzung regte sich ein übermütiges Selbstbewußtsein in ihr. Dann drohte sie dem blinkenden Wasser mit der Faust und sagte triumphierend: »Sieh mal, du bist stark und groß, aber holen kannst du mich doch nicht!«
Es war ein leuchtender Sommertag. Festliche Sonnenstrahlen ruhten über Feldern und Wiesen und glitzerten übermütig in dem rauschenden Fluß. Weiße glänzende Wasserrosen mit ihren dunkelgrünen Blättern schwankten leise in der goldig funkelnden Flut. Die kleine Darthe trat aus der schiefgedrückten elterlichen Hütte und spazierte sittig den Abhang hinunter. Die neuen ledernen Schuhe drückten sie und zwangen sie zum ruhigen Vorwärtsschreiten, und dennoch zog sie sie nicht aus. Es war ja Sonntag – da konnte man ein übriges leiden. Sie strich sich ihre neue rote Schürze glatt und sah voll Stolz auf ihre beschuhten Füße, wie sie vernünftig und altklug einhertrabten, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln geschluckt. Ja, neue Schuhe tragen, das konnte nicht jede – was tat es da, wenn sie unbequem waren und kniffen wie ein böses Gewissen? Vorsichtig hob sie ihren blauen Sonntagsrock auf, breitete den Unterrock gemächlich aus und setzte sich auf den feuchten Ufersand. Nun saß sie da, steif und tugendhaft, und seufzte.
Sie streckte die Füße aus und versuchte die gefangenen Zehen zu bewegen. Aber neue derbe Bauernschuhe sind stärker als menschlicher Wille, die Zehen konnten sich nicht rühren, Darthe seufzte wieder, und auf ihrem hübschen braunen Gesichtchen malte sich ein bitterliches Entsagen. Die braunen Hände hielt sie nachdenklich über dem Leib gefaltet. Wehmütig und würdevoll ließ sie sich von der lieben Sonntagssonne bescheinen. »Ach, wenn es doch schon Montag wäre!« seufzte sie laut. Und plötzlich, einem tapferen Entschluß folgend, beugte sie sich nieder und löste die Schuhbänder. Rechts und links flogen die ledernen Quälgeister ins grüne Gras, rechts und links die groben Strümpfe – die alte fröhliche Darthe stand mit nackten Füßen im Uferschlamm und ließ sich das laue Wasser um die gequälten Zehen plätschern. Nun rauschte der Fluß lauter, die Sonne schien goldiger, die Vögel sangen heller, und Darthes Augen blitzten in Kinderwonne und Übermut.
Sie beugte den Kopf und lauschte – hörte sie nicht Stimmen?
Ja – dort hinter der Flußkrümmung tauchte ein weißes Boot hervor. Leise glitt es mit der Strömung dahin, erfüllt von fröhlichem Gelächter.
Ein schönes Fräulein im weißen Sommerkleide stand lachend im schwanken Gefährt und breitete die Arme aus. Am Steuer stand Willi, der Pastorssohn, er war breit und stämmig geworden. Der junge Baron Wolf und Grendsche-Jehkab, beide hochaufgeschossene schlanke Gesellen, hielten die Ruder lässig in den Händen und sahen gespannt zu dem schönen Mädchen hin.
»Wo kommt denn die her?« murmelte Darthe, und ihre Augen wurden groß und rund vor Staunen. Da fiel ihr ein, daß der Pastor Konfirmationslehre hielt. Das schöne Fräulein sollte also auch konfirmiert werden.
»Fräulein Marga, vorsichtig!« rief warnend der Jungherr Wolf.
Übermütig sah ihn das junge Fräulein über die Schulter an.
»Die schönen Wasserrosen!« rief sie. »Rudern Sie dorthin! Die Wasserrosen muß ich durchaus haben!«
Sie machte eine herrische Gebärde. Wie schön sie war mit ihrem rotgoldenen Lockenhaar, wie süß klang ihre weiche Mädchenstimme!
Gehorsam lenkte Willi den Kahn, eifrig schwangen die andern die Ruder. Sie waren in das schwankende Netz der Wasserrosen geglitten.
»Vorsicht, Fräulein Marga!« rief nun auch Willy. »Das Wasser ist sehr tief.«
Aber Fräulein Marga lachte nur. Umflossen von goldenem Sonnenlicht stand die weiße leuchtende Gestalt und beugte sich weit vor.
»Achtung, geben Sie mir die Hand!« rief Wolf gebieterisch. Er war aufgesprungen. Grendsche-Jehkab suchte mit seinem Ruder die schönsten Blüten heranzulangen. Marga kniete im Boot und griff begierig nach den Blumen – das Boot geriet in ein bedenkliches Schwanken – die weiße Gestalt verlor das Gleichgewicht, stürzte lautlos über den Bootrand und versank.
Ein Schreckensruf aus vier Kehlen – am lautesten schrie Darthe – schon sprang Wolf ins Wasser. Willi zog hastig seine Jacke aus und stand zum Sprunge bereit. Grendsche-Jehkab saß bleich und vorgebeugt – seine Augen bohrten sich suchend in die spiegelnde Wasserfläche.
»Ruhig, Willi Jungherr – nicht springen!« rief er. »Da, da ist sie!«
Er tat ein paar Ruderschläge und steckte das Ruder steif ins Wasser.
»Festhalten!« rief er überlaut.
Ein paar weiße Arme griffen nach dem rettenden Ruder, ein todblasses, weißes Gesicht, von triefendem rötlichen Haar umflossen, tauchte auf.
»Die Ranken halten mich fest!« keuchte sie tonlos.
Wolf tauchte auf wie eine Ente, schwamm an Marga heran und riß mit seinen jungen sehnigen Armen die gierigen Ranken von der zarten Gestalt. Seine Augen funkelten.
»Fertig!« rief er. »Nun zieht!«
Jehkab und Willi griffen zu und hoben und zerrten das junge Mädchen ins Boot.
»Schnell ans Ufer!« kommandierte Wolf. »Kümmert euch nicht um mich, ich kann schwimmen.«
Wie ein Pudel schwamm der junge Baron hinter dem Boot her.
Marga saß still und blaß. »Ich hatte schon Wasser in Mund und Nase,« sagte sie, »es fehlte nicht viel, und ich wäre …« Sie schauderte. »Jehkab,« sie reichte ihm die feine schmale Hand, »du hast mich gerettet – ich danke dir.«
Über Jehkabs hübsche Züge glitt ein dunkles Rot, und auch Willi überlief es heiß.
»Und Wolf?« fragte er vorwurfsvoll, »er sprang sofort hinein, und ich wollte ebenfalls …«
Da flog ein neckisches Leuchten über das blasse Gesicht.
»Jeder meiner drei Kavaliere tat, was er konnte,« sagte sie, »ich bin allen dreien vielen Dank schuldig.«
Sie schauerte zusammen.
»Ihnen ist kalt, Fräulein Marga,« sagte Willi eifrig, »wir wollen gleich in die Semmitsche Hütte, vielleicht können Sie dort heiße Milch bekommen. Jehkab soll ins Pastorat laufen nach Kleidern, hörst du, Jehkab, oder nein, ich gehe selbst, Mutter wird mir das Rechte schon geben. Und du, Semmits Darthe – was stehst du da und schaust in die blaue Luft? Habt ihr Milch im Hause?«
»So lauf schnell und stell' sie auf zum Kochen, und die Mutter soll frische Wäsche hergeben für das gnädige Fräulein. Mach' schnell – wir kommen gleich nach.«
»Ja–a!« rief Darthe wieder. Und dann lief sie die Böschung hinauf, so schnell sie die nackten Füße trugen. Ihre rote Schürze flatterte im Winde. Vergessen und voneinander getrennt lagen die Sonntagsschuhe und Strümpfe im Grase.
Die Milch stand auf dem Herd und Darthe daneben, da wurde es in der rauchigen dunklen Stube hell: Fräulein Marga war hereingetreten, und Wolf warf vor ihr die Tür auf, als sei sie eine Königin. Das nasse Gewand klebte an ihr, vorsichtig raffte sie das Kleid zusammen. Auch der hübsche Bursche war pudelnaß, und wo er ging und stand, da bildeten sich kleine Lachen.
Er schleppte einen Dreifuß herbei. »Setzen Sie sich, Fräulein Marga – wo ist denn Mutter Greetsche?«
Mutter Greetsche, eine stämmige Frau, kam aus der Kammer und schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Wai Gottchen – was für'n Unglück, was für'n Unglück!« jammerte sie.
Sie küßte Marga die Hand und Wolf den nassen Ärmel.
Er lachte. »Nu, Mutter Greetsche, noch ist ja nichts entzwei.«
»Gott sei Dank! Gott sei Dank!« sagte die Frau. »Wär' ja auch jammerschade um so'n schönes Fräuleinchen! Das muß noch lange leben und 'nen jungen Baron glücklich machen.«
Wolf und Marga wurden trotz ihrer Nässe dunkelrot.
»Nu, Jehkab – was stehst du da unnütz herum, du Taugenichts?« fuhr die Frau fort. »Kannst du nicht dem gnädigen Fräuleinchen die Stiefelchen ausziehen – wie? Die Füßchen sind ja klitschnaß.«
Schon lag Jehkab auf dem Boden und griff nach Margas Füßen. »Wart', laß mich!« rief der junge Baron und drängte ihn fort. Zornig trat Jehkab zurück.
Ein sprühender Blick aus Darthes dunklen Augen schoß zu den beiden jungen Leuten hinüber. Unwillkürlich ballte sie die Fäuste. Sie fühlte es: sie haßte sie alle beide – weshalb machten sie auch so viel Aufhebens von dem Fräulein?
Wolf hatte inzwischen die Stiefeletten aufgeknöpft und stellte sie vorsichtig nebeneinander auf die Ofenbank.
»Mutter Greetsche,« sagte er darauf leise, »könnt ihr dem gnädigen Fräulein etwas von Eurer Wäsche borgen?«
»Ui ja!« rief die Frau verwundert. »So'n grobes Bauernhemd paßt ja nicht für die gnädige Baroneß. Würde ihr ja das weiße Körperchen wund scheuern!«
Wieder wurden Marga und Wolf von dunkler Röte übergossen. Trotzig stand Jehkab in der Ecke, die Hände in den Hosentaschen.
Verlegen lachte Marga. »Wenn Ihr mir wenigstens ein trockenes Laken geben könntet, Mutter Greetsche«, sagte sie bittend, »und eine warme Decke für den jungen Baron. Er ist ja ebenso naß wie ich!«
»Um mich sorgen Sie sich nur ja nicht, Fräulein Marga!« rief Wolf. »Ich fühle mich pudelwohl.«
Geschäftig ging die Frau in die Nebenkammer.
»Wolf,« begann Fräulein Marga leise und schlug ihre schönen Augen auf, »geben Sie mir die Hand, ich habe Ihnen ja noch gar nicht gedankt!«
»Aber, Fräulein Marga, das war doch selbstverständlich, ich bitte Sie«, sagte er unwirsch, aber die kleine Hand hielt er noch einen Augenblick fest in der seinen und drückte sie krampfhaft.
»Geh hinaus, Jehkab, und sieh zu, ob der Jungherr Willi mit den trockenen Kleidern kommt«, befahl er kurz.
Jehkab trollte sich zur Tür hinaus.
Eine verlegene Pause.
Mit strahlendem Gesicht kam Mutter Greetsche zurück, eine Decke und ein weißes Linnen über dem Arm.
»Ein Bett-Tuch fand ich nicht, das wäre auch gar zu grob, aber hier,« triumphierend wies sie auf das Leinen, »ein schönes Tischtüchlein bringe ich, das hat mir noch die gnädige Frau Pastorin zur Hochzeit geschenkt. Das ist fein und weich. Da hinein können wir das gnädige Fräulein packen.«
Eifrig begann sie Fräulein Margas Kleid aufzuhaken.
»Hier nicht, hier nicht, Mutter Greetsche!« rief Marga entsetzt und wehrte ihr.
Wie ein Pfeil schoß Wolf zur Tür hinaus.
»Was für'n braver, schöner Jungherr!« lobte Mutter Greetsche und löste gelassen Bänder und Schnüre, »das wär' so'n richtiger Baron fürs gnädige Fräuleinchen – und wie lieb er's gnädige Fräuleinchen hat! Nicht mal zulassen wollt' er, daß Jehkab dem gnädigen Fräuleinchen die Stiefelchen auszieht. Ja, ja … gnädiges Fräuleinchen werden in ein paar Jährchen schon gnädige Frau Baronin sein! Denken Sie an Mutter Greetsches Worte!«
Wie eine erglühte Rose stand Marga da. Darthe betrachtete sie mit neugierigen Blicken. Hastig streifte das Fräulein die Unterkleider ab.
Mutter Greetsche war im Fahrwasser. »Und das schöne Gut, das der junge Baron bekommt – so ein Gut, ja, das lohnt sich! 'n prachtvolles Schloß – vierzig Zimmer soll es haben – so sagte mir die Madde, die dort gedient hat.«
»Hört auf, Mutter Greetsche!« rief Fräulein Marga heftig, »und kehrt Euch zur Wand – ich will nichts davon hören.«
Zitternd und bebend stand sie da, in das Tischtuch gehüllt, und trocknete sich die rotgoldenen Haare. Schon kräuselten sich die einzelnen Härchen und standen leuchtend um das schmale weiße Gesicht.
Sie ist sehr hübsch, dachte Darthe bewundernd. Noch nie hatte sie etwas so Schönes gesehen. Warum aber war das schöne Fräulein so zornig?
»Die Milch kocht, Mutter«, sagte sie verdrossen.
Mit zischendem Laut sprudelte die heiße Milch auf den Herd über.
»Ach du Nichtsnutz!« eiferte Mutter Greetsche, »kannst du nicht besser aufpassen? Such' doch, wo ein Täßchen oder ein Gläschen zu finden, aber spül' es zuvor ordentlich rein, und daß du mir den Jahnit nicht weckst, er schläft, hörst du?!«
Pferdegetrappel vor der Tür. Ein diskretes Klopfen.
»Fräulein Marga!« ertönte Willis Stimme, »die Kleider sind da!«
Marga flüchtete hinter die Tür. »Danke!« rief sie und öffnete einen Spalt. »Werfen Sie sie nur herein. War Frau Pastor sehr böse?«
»Nur erschreckt,« rief Willi wieder, »und hier,« er schob das Kleiderbündel in den Türspalt und reichte eine Flasche Madeira hinein, »davon sollen Sie gleich sechs Schluck nehmen, sagt Mutter. Bitte tun Sie's, Fräulein Marga!«
Sie nahm die Flasche. »Warten Sie,« rief sie, »gleich!« Gehorsam trank sie sechs Schluck. »Nun aber – lassen Sie Wolf auch trinken. Ich bin in fünf Minuten angekleidet.«
Eilig öffnete sie das Kleiderbündel und schlüpfte in die trockene Wäsche. Obenauf lag ein dunkelblaues Wollenkleid.
Bewundernd stand Mutter Greetsche dabei.
»Nein, nein, die schönen Spitzchen!« rief sie. »Und das feine Gewebe, und nu erst das prächtige Kleidchen!«
Jetzt kam Darthe mit einer Riesentasse herein. Mutter Greetsche goß die Milch in die Tasse und reichte sie dem Fräulein.
»Sie ist noch zu heiß,« sagte Marga, »vielen Dank, Mutter Greetsche. Und nun hab' ich noch eine Bitte: die nassen Kleider da sollt Ihr behalten für Euer Darthing. Wenn sie einmal konfirmiert wird, hat sie ein weißes Kleid.«
»Ach wai! Ach wai!« sagte Mutter Greetsche strahlend. »Das ist ja alles viel zu prächtig für'n Bauernmädel. Darthe, Kind, hörst du, das gnädige Fräulein Baroneß, was nächstens Frau Baronin wird, schenkt dir die Kleider alle. Bedank' dich doch, Mädchen!«
Verschämt trat Darthe näher und küßte dem Fräulein die Hand. Zugleich aber stieg ein sonderbarer Trotz in ihr auf. Das Fräulein war schön und gut, gewiß – – und sie gönnte ihr auch alles Gute, aber, daß der Wolf Jungherr und der Grendsche-Jehkab sie so gern hatten – das – ja, das gönnte sie ihr doch nicht.
Fräulein Marga riß die Tür weit auf, nahm die Decke auf den Arm und rief: »Wolf, Willi, Jehkab, ich bin fertig, kommen Sie rasch herein!«
Sie trank ein paar Schluck Milch und hielt die große Tasse fest in den Händen.
Eilig kamen die jungen Leute.
»Wolf, Sie wickeln sich sofort in die Decke und trinken diese Milch aus!« befahl sie. »Ich will nicht, daß Sie meinetwegen krank werden.«
»Aber,« wehrte er, »ich hab' mich ja draußen ganz warm gelaufen. So sehen Sie mich doch an, Fräulein Marga, ich habe ja auch trockene Kleider bekommen.«
»Um so besser«, sagte sie. »Die Milch trinken Sie aber dennoch. Seien Sie vernünftig, Wolf, bitte!«
Er tat ihr den Willen. »Nun aber vorwärts!« sagte er. »Lebt wohl, Mutter Greetsche, und vielen Dank!«
Er ließ einen Silberrubel in die schwielige Hand der Bäuerin gleiten.
Vor der Tür hob Grendsche-Jehkab ein Bündel weißer Wasserrosen auf.
»Fürs gnädige Fräulein!« sagte er kurz.
»Ach!« rief Fräulein Marga erfreut. »Du hast sie mit dem Boot geholt – was bist du für ein guter Junge, Jehkab! Dank, tausend Dank!«
Die kleine Karawane setzte sich in Bewegung. Willi führte das Pferd am Zügel.
Mutter Greetsche stand auf der Türschwelle und strahlte. Darthe sah finster und verdrossen drein. Nein, auch die Blumen, die gönnte sie dem schönen Fräulein nicht, nein, erst recht nicht.
*
Leise spann die Zeit ihre grauen und bunten Fäden. Jahr um Jahr rauschte der Fluß sein eintöniges Lied. Jahr um Jahr aber blieb er der gleiche, nur die Menschen an seinen Ufern waren anders geworden, und die Zeiten hatten sich gewandelt. Die Zeit aber und der Fluß, sie blieben sich gleich.
In der Ferne hatte der Orkan getobt: Krieg! Krieg! Der unselige Krieg mit Japan! Niemand war begeistert gewesen, Tausende hatten sich entrüstet und empört, und die Empörung war zur bleibenden Stimmung geworden. Hier aber im kleinen Ländchen mit der alten Bildung, mit der festen Treue, mit der soliden Arbeit, hier hatte man Wind gesät; was Wunder, daß nach Jahrzehnten der Sturm losbrach, der nicht mehr zu stillen war!
Wind war gesät. Die Letten hatten begonnen, die Russen hatten vollendet. »Lettland den Letten!« so murmelte man zuerst leise zwischen den Zähnen. »Nieder mit den Deutschen!« so brüllte man schließlich aus voller Brust.
Russische Bildung der russischen Provinz Kurland! Das war die windige Losung gewesen. Welche Bildung hatte Rußland zu geben? Die Russen selbst sprangen aus der Unbildung in die Überbildung, aus dem Bauernhemd in die Staatsuniform, die Bildung blieb aus – das gibt einen bösen Sturz. Überdruß und Weltschmerz sind die Folgen.
Dieser Wind wehte durch das Land. Immer stärker, immer heißer wehte er von Dorf zu Dorf, von Gesinde zu Gesinde. Die Bauernsöhne kehrten aus der Stadt zurück – Helden der Phrase, zu »fein« für die Landarbeit, zu »gut« für die alte Treue, faul und frech. Sie schimpften und hetzten, und sie waren die Klugen. Die jungen Volkslehrer mit der neuen russischen Vorbildung, sie hatten das Nichts auf ihrer Fahne, das Nichts in ihrem Gewissen. Sie konnten nicht anders, sie mußten Wind säen. Du armes Land, du liebes Baltenland, wehe dir!
Herbstsonnenschein. Noch einmal milde, verklärte, sonnige Tage. Gleich seligen Träumen zogen weiße schwimmende Wolken über den blauen Himmel, und wieder trat Darthe vor die Schwelle ihrer elterlichen Hütte.
Müde und alt kauerte sich das schiefgedrückte Häuslein in sich zusammen, stolz und aufrecht stand das junge schöne Kind des Volkes vor der morschen Tür und beschattete die Augen mit der Hand.
Sie spähte über die Straße zur Wiese hinüber, die sich leise zum Fluß abschrägte. Was ging da vor? Fremde Gestalten mit Spaten und Hacken in den Händen schritten die Wiese auf und nieder. Sie sah einige bekannte Gesichter – den jungen Majoratsherrn Baron Wolf, den Studenten Willi, den Pfarrerssohn, die grüne Zerevismütze schief aus dem Kopf – da war auch der alte Pastor mit dem weißen Haar, neben ihm die rundliche bewegliche Figur der Pastorin. Da stand endlich Mathildchen, die siebzehnjährige einzige Tochter des alten Ehepaares, mit den leisen huschenden Bewegungen. Sie hatte ein weißes feines aufgewecktes Gesichtchen und eine zarte Stimme, weshalb sie »Mäuschen« genannt wurde. Auch in der Gemeinde nannte man sie so, wenn man von ihr sprach. Aufmerksam sah Mäuschen zu der hohen blühenden Gestalt der Baroneß Marga auf. Sie sprachen miteinander, und die Baroneß hielt ihr graues Tuchkleid mit der linken Hand gerafft. Ihr schönes Haar, das in einem griechischen Knoten lose und wellig unter dem breiten Federhut hervorleuchtete, funkelte in der Sonne wie rotes Gold. Jetzt beugte sie sich vor und lachte und nickte; nun schritt sie auf Grendsche-Jehkab zu und redete ihn an. Der stand mit seinem Spaten hoch und schlank da; jetzt verbeugte er sich, zog seine Mütze und zeigte lachend seine blitzenden Zähne. Er war jetzt Diener beim jungen Baron.
Finster runzelte Darthe die Brauen. Die trotzige Falte grub sich tief in ihre braune Stirn. Was wollte diese ganze Herrschaftssippe dort auf der Wiese? Da ging etwas Besonderes vor, denn umsonst waren der Baron Wolf und die Baroneß Marga nicht von ihren auseinanderliegenden Gütern herbeigekommen, um sich auf dem Pastoratsgebiet zu treffen. Und wer waren die Fremden? Sie sah schärfer hin. Ein kräftiger Herr mit braunem Vollbart, eine goldene Brille auf der Nase, ging eifrig gestikulierend vom Baron zum Pastor, jetzt stach er mit seinem Spaten in den Wiesengrund und zirkelte ein längliches Geviert ab. Ein alter, hagestolzlicher Herr, der aussah wie ein gelehrter Storch, sah ihm dabei angelegentlich zu.
Von der Flußseite hinter der Hütte her kamen vier Bauern, alle mit Spaten bewaffnet. Ihnen folgte in einiger Entfernung ein Trupp Neugieriger, Männer, Weiber und Kinder, allen voran der Dumpje-Wirt. Sein gedunsenes Gesicht saß auf einem büffelstarken roten Hals. Er redete laut und zornig. Über der schiefen abgetretenen Nase funkelten zwei tückische triumphierende Äuglein.
Darthe hielt es nicht länger. Wie der Wind flog sie unter den Haufen.
»Was wollen die Deutschen da?« fragte sie kurz.
Ein verworrenes Geschrei antwortete ihr.
»Leichen ausgraben! Tote schänden! Schätze suchen!«
Das Mädchen stand versteinert. »Unsinn!« rief sie. »Die Wiese ist doch kein Friedhof.«
»Es soll einmal vor vielen hundert Jahren eine Schlacht hier gegeben haben, und die gelehrten deutschen Professoren, die immer alles wissen, behaupten, hier wär' der Ort,« belehrte sie der Dumpje-Wirt mit hämischem Lachen. »Nu, wollen sehen, ob die deutschen Nasen recht haben.«
»Und was wollen sie von den Toten?«
»Schmucksachen sollen die Leichen haben, goldene Spangen und Ringe – – haben die Deutschen nicht je und je ihre Finger ausgestreckt, wo es was zu holen gab?«
»Aber der Pastor wird das nicht zulassen!«
»Hoho!« brüllte der Dumpje-Wirt, »das alte Männchen! Siehst du nicht, wie er vergnügt dabei steht? Ja, unsereins freilich – das kann wieder einmal zusehen! Bei uns wär's gleich »Leichenschändung« – bei den Deutschen aber, den verfluchten Besserwissern, heißt's: Wissenschaftliche Ausgrabungen. Ja, ein Deckmäntelchen läßt sich ja für alles finden!«
Stumm schloß sich Darthe dem Haufen an. Sie gingen über den Weg auf die Wiese und blieben einige Schritte hinter den Herrschaften stehen.
»Na, Dumpje-Wirt,« rief Baron Wolf fröhlich, »seid Ihr da? Könntet Ihr uns nicht noch einige Arbeiter und Spaten schaffen?«
»Jawohl, gnädiger Herr Baron,« sagte der Dumpje-Wirt und nahm eine tückisch-demütige Haltung an. »Wenn ich fragen darf – was wollen die gnädigen Herrschaften hier suchen?«
»Das will ich Euch gleich erklären,« rief Baron Wolf laut, »oder besser, Herr Pastor, haben Sie die Güte und erklären Sie's den Leuten.«
Mit freundlichem Lächeln sah der alte Herr die Bauern an und reckte seine Gestalt empor.
»Liebe Gemeinde!« redete er sie gewohnheitsgemäß an und räusperte sich. »Aus Petersburg hat eine gelehrte Gesellschaft, die sich auch mit unserer Landeskunde befaßt, diese beiden Herren Professoren zu uns gesandt, um hier auf unserem Gebiet wissenschaftliche Ausgrabungen vorzunehmen. Noch lange bevor das lettische Volk hier ansässig war, vor tausend und mehr Jahren haben hier andere Völker gehaust, man nannte sie die Goten, und um das in den gelehrten Schriften festzustellen, soll man die alten Grabstätten öffnen. Was bei diesen Ausgrabungen gefunden wird, ist Eigentum der russischen Regierung und soll in Museen öffentlich ausgestellt werden. Darum ist es von großem Interesse für uns alle, daß etwas gefunden wird, und hier der junge Baron Wolf von Wolfshausen ersucht mich, Euch mitzuteilen, daß jeder, der beim Graben helfen will, zwei Rubel Tagelohn erhält. Außerdem soll der Besitzer der Wiese, also Ihr, Dumpje-Wirt, für die zerstörte Wiese und jeden gefundenen Wertgegenstand eine angemessene Entschädigung erhalten.«
Die finsteren Gesichter der Bauern hatten sich aufgeklärt. Das gedunsene Gesicht des Dumpje-Wirts strahlte vor Eifer und Geldgier. Leise redete er auf einige Bauernburschen ein, sie trabten eilig davon.
»Wir danken für die Auskunft, gnädiger Herr Pastor und gnädiger Herr Baron,« sagte er mit einem tiefen Bückling. »Es werden gleich noch acht bis zehn Mann mit Schaufeln zur Stelle sein.«
»Wo soll mit dem Graben begonnen werden, Herr Professor?« fragte Baron Wolf.
»Hier, Baron Wolfshausen, wenn ich bitten darf – und vielleicht auch gleichzeitig hier.« Er wies auf eine zweite umzirkelte Stelle.
Baron Wolf schwang den Spaten. »Auf Ihr Glück, Baroneß!« rief er mit leuchtenden Augen. »Sagen Sie mir ein gutes Wort.«
»Gut Heil, Baron!« rief Baroneß Marga und errötete.
Mit wütendem Eifer begann Baron Wolf an der zweiten bezeichneten Stelle zu graben. Auch der Student Willi nahm eine Schaufel zur Hand, an seiner Seite stand Grendsche-Jehkab. Die weiche Wiesenerde flog nach allen Seiten auseinander. Nun setzten auch die vier Arbeiter ein; unter ihren regelmäßigen Stichen weitete sich zusehends die Öffnung.
Lachend traten die Damen zurück. »Ich will auch mithelfen!« rief Baroneß Marga übermütig.
»Aber Ihr Kleid, Marga!« rief Mäuschen besorgt. »Warten Sie, ich will Ihnen eine Schürze verschaffen. – Semmits Darthing, kannst du nicht dem gnädigen Fräulein deine Schürze borgen?«
Stumm band Darthe ihre Schürze los und reichte sie der Baroneß.
»Ah, Semmits Darthe, wir sind ja alte Bekannte!« sagte Baroneß Marga freundlich. »Wie du groß und hübsch geworden bist, Mädchen! Kannst du jetzt besser Milch kochen, wie?«
Darthe murmelte etwas Unverständliches. Ihr Zorn gegen die Deutschen war verflogen.
Wie sie grub, die schöne Baroneß! Scheinbar mühelos, regelmäßig und ruhig, und doch förderte jeder kräftige Spatenstich einen gleichen Haufen Erde zutage. Wider Willen bewundernd sahen ihr die Bauern zu.
Ohne ein Wort zu sagen, wandte sich Darthe um und ging in ihre Hütte zurück. Sie kehrte mit einer kleinen leichten Schaufel wieder. »Da, nehmen Sie diese,« sagte sie, »die ist für Ihre feinen Hände bequemer.«
Lächelnd nahm die Baroneß den Spaten in Empfang und grub emsig weiter.
Sonderbar! dachte Darthe, weshalb verwöhnen sie nur alle Leute? Schweigend stellte sie sich neben Baroneß Marga und begann auch zu graben. Es zog sie etwas zu dem schönen Fräulein hin und stieß sie doch gleichzeitig wieder ab.
»So ist's recht, Darthing!« scherzte die Baroneß, »meinen Tagelohn bekommst du auch ausgezahlt. Nun wollen wir mal sehen, wer mehr Glück hat, der junge Baron mit dem Herrn Willi und Grendsche-Jehkab oder wir.«
»Wir!« stieß Darthe zwischen den Zähnen hervor und grub darauf los, als sei jeder Stich ein Protest gegen die jungen Männer drüben.
Schmunzelnd sah der alte Pastor zu. Er hatte seine Freude an seinen ehemaligen Konfirmanden. Neugierig trippelte die Frau Pastorin von einer Gruppe zur anderen. Der jüngere Professor setzte Mäuschen etwas eindringlich auseinander – ihre Augen leuchteten und ihr feines weißes Gesichtchen war in gläubigem Vertrauen zu ihm emporgerichtet.
Jetzt kam ein neuer Trupp Arbeiter heran, zehn handfeste starke Männer. Der Professor wies ihnen ihre Plätze an. Stumm ging die Arbeit vor sich.
Baron Wolf richtete sich auf und trocknete die heiße Stirn. »Ich setze eine Tonne Bier, Leute!« rief er. »Aber erst nachmittag, wenn wir weiter sind.«
Er trat zu Marga. »Baroneß,« sagte er, »Sie verderben Ihre Hände.«
»Arbeit schändet nicht,« sprach sie und arbeitete emsig weiter.
»Aber Erde beschmutzt,« erwiderte er schlagfertig, »sehen Sie, wie Ihr helles Kleid aussieht.«
Sie richtete sich auf und sah ihm voll in die Augen.
»Sie haben recht,« sprach sie. »Wollen Sie nicht Semmits Darthe begrüßen, Baron?«
Wohlgefällig betrachtete er das schweigsame Mädchen.
» Mais c'est une beauté!« murmelte er. » Un vrai type bohémien.«
» N'est-ce pas?« gab sie zurück.
»Ei, Darthe,« sagte Baron Wolf, »mir scheint, wir kennen uns schon lange!«
Sie warf einen düsteren funkelnden Blick zu ihm empor und grub schweigend weiter. »Kann schon sein«, murmelte sie gleichmütig.
» Une fierté de reine,« sagte er wieder, » elle m'intéresse.« – »Höre,« sprach er weiter, »warst du's nicht, die vor ein Dutzend Jahren die Dohle, um die wir einen Wettlauf machten, fliegen ließ?«
»Jawohl, gnädiger Herr.« Um ihre Mundwinkel zuckte ein trotziges Lächeln.
»Warum tatest du es denn?« fragte er freundlich. »Sieh mal, ich bin ein neugieriger Mensch und möchte es gerne wissen.«
»Was ist das für eine Geschichte mit der Dohle?« fiel Baroneß Marga ein.
»Ich erzähle sie Ihnen sofort, Baroneß – also, wie war's, Darthing, warum ließest du die Dohle fliegen?«
Jetzt richtete sich das Mädchen auf. Eine flammende Röte überzog ihr braunes Gesicht.
»Weil ich Sie nicht leiden konnte!« stieß sie trotzig hervor. »Sie waren ungerecht gegen den Grendsche-Jehkab. Der lief ebenso schnell wie Sie!«
» Mais elle est parfaite!« wandte sich Baron Wolf amüsiert zu Marga. »Höre,« fuhr er dann fort, »also ungerecht bin ich gewesen? Nun, was meinst du wohl, was war dem Jehkab lieber, die Dohle oder die dreißig Kopeken, die er nachher als Entschädigung bekam?«
»Wie soll ich das wissen?« fragte sie trotzig. »Fragen Sie ihn selber. Mir wär' die Dohle lieber gewesen, und darum sollt' sie keiner haben.«
»Das gefällt mir, Darthing!« rief Baroneß Marga, die nun auch den Hergang verstanden hatte. »Sieh, du bist ja stolz wie eine Prinzessin. Wirst du denn auch jetzt nicht zu stolz sein, ein kleines Andenken von mir anzunehmen?« Sie löste eine kleine goldene Nadel aus ihrer Krawatte und steckte sie Darthe an die Brust.
»Ich will keine Goldsachen,« wehrte sich Darthe, »ich will nichts von Ihnen.«
Verwundert zog Marga die feinen dunklen Augenbrauen in die Höhe.
»Und warum nicht?« fragte sie.
»Weil Sie alle deutsche Herrschaften sind und wir nichts mit Ihnen gemein haben!«
Baron Wolf ließ einen leisen Pfiff erschallen.
»Daher also pfeift der Wind,« sagte er halblaut. »Du gehörst also zu den Roten, Kind,« sprach er verstimmt. »Wer hat dir denn diese Ideen in den Kopf gesetzt?«
Darthe schwieg. Unwillig wandte sich der Baron ab.
» Noblesse oblige!« murmelte Marga leise. » Laissez nous. Darthe,« sagte sie darauf freundlich, »willst du mir ein paar Fragen beantworten, nicht dem gnädigen Fräulein, sondern einfach – wie ein Mensch zum andern redet?«
Darthe hielt den sicheren gütigen Blick des Fräuleins ruhig aus. »Ja,« sagte sie entschlossen.
»Ihr schimpft auf die Deutschen – sie sollen euch bitteres Unrecht getan haben und so weiter – sag', kannst du was dafür, daß du als Lettenkind geboren bist?«
»Nein,« sagte sie ernsthaft.
»Gut. Wenn du nun aber als Deutsche im Herrenhofe geboren wärst – was würdest du tun? Würdest du dich ruhig weiter schimpfen lassen?«
Darthe schüttelte den Kopf. »Ich würde mein Land den Letten geben und fortziehen – die Letten waren zuerst im Land!« sagte sie furchtlos.
Baroneß Marga lächelte leise. »So?« sagte sie. »Das geht ja schnell bei dir. Wenn nun aber ein altes Volk, das vor euch hier hauste, zu deinem Vater sagte: Höre, Semmit, wir waren vor euch hier, uns gehört deine Hütte – würdet ihr sie ihnen geben?«
Darthe schwieg. »Nein!« sagte sie nach langem Zögern.
Baroneß Marga sah sie mit leuchtendem Blick an.
»Du bist ein ehrlicher Mensch, Darthe,« sprach sie gütig, »und ein gerechtes Mädchen. Nun sieh – in diesen Gräbern hier sollen einige des Volkes ruhen, die vor euch Herren im Lande waren. Alle werden wir einst in Gräbern ruhen, hoch und gering. Soll man sich darum hassen und befehden?«
»Man soll miteinander kämpfen um sein Recht!« stieß Darthe wieder ungestüm hervor.
»Das ist ein ehrliches Wort, wenn auch traurig genug,« sprach Baroneß Marga wieder. »Nun, sei versichert, wir wollen und werden kämpfen und für unser angestammtes Recht einstehen, solange wir können! – Kommen Sie, Baron Wolf.« Sie nahm seinen Arm.
Widerstreitende Gefühle, Haß, Achtung, Bewunderung und etwas wie Liebe tobten in Darthens Brust. Mit zitternden Fingern löste sie die Nadel von ihrem Kleide.
»Bitte nehmen Sie!« sagte sie flehend, und ihre Lippen zuckten. »Sie hasse ich nicht, aber Sie sind ein Herrenkind und ich eine Knechtstochter.«
Zögernd nahm Marga die Nadel zurück. »Sie hat keinen Wert mehr für mich!« sagte sie traurig. Sie zerbrach sie und warf die flimmernden Stücke weit in die Wiese hinein.
Mit lüsternen Augen waren die lettischen Bauern dem Vorgang gefolgt. Eine beutegierige Horde stürzten sich Burschen, Weiber und Kinder der zerbrochenen Nadel nach und wühlten und suchten im Grase.
Marga warf den stolzen Kopf zurück. »Das da sind unsere Feinde!« sprach sie mit bitterem Lächeln. »Gegen Raubtiere, nicht Menschen sollen wir kämpfen! Der einzige Mensch in dieser Gesellschaft, mit einer menschlichen Seele – ist die kleine wilde Schönheit. Schade um sie!« Sie seufzte.
Grendsche-Jehkab hatte eine Pause gemacht. Seine Augen funkelten. Leise schlich er zu Darthe heran, die versunken dastand.
»Mädchen,« sagte er und faßte sie rauh beim Arm, »bist du toll? Weißt du, daß die Nadel da mindestens fünfzig Rubel wert war?«
Sie schrak auf. »Laß mich!« rief sie zornig, »was geht das dich an?«
»Bist du so reich,« fragte er höhnisch, »daß du Gold und Edelsteine verschmähst? Darthe Semmit, ei, ei –,« seine Augen glitten blinzelnd an ihrer schlanken Gestalt nieder, »du tust ja so stolz, als wenn du 'ne Baroneß wärst.«
Sie wies auf den wühlenden Haufen.
»Besser 'ne Baroneß als ein wühlendes Schwein!« sagte sie kurz.
Der Dumpje-Wirt hatte den Edelstein gefunden und verbarg ihn hastig in seiner roten Faust. Er bückte sich und tat, als ob er noch suchte.
Ein lauter Freudenruf des jüngeren Professors scheuchte die Leute auf. Er stand vorgebeugt mit glänzenden Augen an der Grube, an welcher die Baroneß Marga und Darthe gearbeitet hatten. »Vorsichtig, um Gottes willen vorsichtig!« rief er. »Ein menschlicher Fußknochen!«
Alles drängte an die Grube heran. Mit einem kühnen Satz sprang der Professor hinein.
»Es ist richtig!« rief er. »Wahrhaftig ein Fußknochen – alle fünf Glieder unversehrt! – Bitte, hier weiter graben!« rief er in fieberhaftem Eifer. »Hierher, nach links, und vorsichtig, ja vorsichtig!«
Darthe ergriff ihre Schaufel und schob sich durch die Reihen.
»Fort du!« herrschte Grendsche-Jehkab sie an. »Wer goldene Schätze verschmäht, der soll auch nicht nach morschen Knochen graben!«
Er spie in die Hände, faßte den Spaten fester und arbeitete tapfer darauf los. Sein hübsches Gesicht troff von Schweiß. Noch nie hatte er Darthe so gut gefallen. Gleichzeitig hatten einige Arbeiter, darunter der Dumpje-Wirt, ein paar Fuß weiter, da, wo der Professor den Kopf vermutete, zu graben begonnen. Schweigend und fieberhaft arbeiteten sie weiter. Eine dumpfe, erwartungsvolle Stille lag über der Versammlung. Die beiden Professoren beobachteten gespannt die zunehmende Höhlung der Grube.
Eine Schaufel klirrte gegen morsches Gebein.
»Zurück!« donnerte der Professor. »Sie, junger Mann,« zu Grendsche-Jehkab, »und ich, wir wollen den Rest selbst besorgen, Sie haben eine leichte Hand!«
Sie standen in der Grube. Die Erde flog in kleinen Häufchen heraus – entblößt lag das gelbe morsche Gerippe vor ihnen.
»Mittelgroße Rasse,« murmelte der Professor, »feinknochig, muß von fürstlicher Abstammung gewesen sein!«
Mit zitternden Fingern strich er die Erde vom Armknochen zurück.
»Hm – eine bronzene Armspange – dacht' ich's mir doch – – eine Brustplatte – .« Mit liebkosendem Griff streifte er die Spange ab und löste das Brustschild. »Fräulein Mathilde!« rief er spähend, »wo sind Sie?«
Mäuschen war zur Stelle und breitete ein schneeweißes Taschentüchlein auf den Rasen. »Geben Sie her!« rief sie.
Er reichte ihr die mit Grünspan überzogenen Gegenstände.
»Vorsichtig!« flüsterte er heiser. »Ritzen Sie sich ja die Finger nicht!«
Dann bückte er sich wieder nach dem Schädel und hob ihn behutsam heraus.
Ein dumpfes Murmeln flog durch die Versammlung.
Tastend gingen seine Finger an den Fingergliedern des Gerippes auf und nieder. Er zog einen breitgedrückten Ring von der Knochenhand und löste sie aus der Erde.
»Genug!« sagte er keuchend vor Erregung. »Die Leute kann ich nicht mehr brauchen!«
Der alte Professor hatte ihm den Schädel aus der Hand gegriffen und betastete spürend die Schädeldecke.
»Plattschädel ... mindestens 1200 Jahre alt,« murmelte er, »ein wertvoller Fund, Kollege Weiß.«
Professor Weiß stieg aus der Grube und klopfte sich die Beinkleider von der haftenden Erde rein.
»Ich habe noch mindestens eine Stunde mit Messungen zu tun,« erklärte er, »die Leute können gehen. Morgen um diese Zeit sollen sie wieder am Platz sein, wenn es möglich ist. Ich will die Herrschaften auch nicht mehr aufhalten und hoffe Sie alle im Pastorat vorzufinden.«
Damit zog er einen Kompaß und ein Zentimetermaß aus der Tasche und stieg wieder in die Grube. Sein Kollege folgte ihm.
In kleinen Gruppen schlugen die Herrschaften den Weg zum Pastorat ein.
»Ah!« brummte der Dumpje-Wirt unzufrieden, »die Entschädigung für die paar lumpigen Dinger wird ja wohl mager genug ausfallen! Ist ja nicht mal Gold!«
Und wohlgefällig betastete er den funkelnden Stein, den er heimlich in seine Westentasche gesteckt hatte.
Darthes dunkle Augen sahen sinnend ins Leere. ›In diesen Gräbern sollen einige des Volkes ruhen, die vor euch Herren im Lande waren‹, hatte die Baroneß gesagt. Und das war Wahrheit. Ohne Gruß wandte sie sich um und schritt langsam zum Fluß hinab.
Sie setzte sich und starrte in die hüpfenden kleinen Wellen. Dann bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen und fing bitterlich an zu weinen.
Oben aber auf der Wiese lagerten die Letten und ließen sich das herrschaftliche Bier wohlschmecken. Als die Professoren gegangen waren, hielt der Dumpje-Wirt eine freche revolutionäre Rede. –
Die reiche Ernte dieses Jahres lag wohlgeborgen in den Scheuern. Die abgeräumten Felder standen voll borstiger Stoppeln und warteten geduldig auf neue bessere Zeiten. Eintönig und schläfrig murmelte der Fluß.
Doch ehe die surrende Musik der Dreschmaschine von Gehöft zu Gehöft ertönte, sollte ein Grünfest veranstaltet werden. Das letzte im Jahre.
Und das erste, in den Hunderten von Jahren, das so gefeiert wurde. Es schlich ein böser Geist von Gesinde zu Gesinde, der Geist der Revolution ...
Früher war das Fest in dem geräumigen Schloßpark der Wolfshausens gefeiert worden, jetzt hatten die Letten es verschmäht, um den Park zu bitten, und höhnisch hatten sie die Waldwiese eines reichen Bauernwirts zu ihrem Fest bestimmt. Man konnte sie deutlich vom Schloß aus sehen. Seit vielen Jahren war immer jemand von den Herrschaften aus dem Herrenschloß oder dem Pastorat mit auf das Fest gekommen, und die Leute hatten den Ehrengast mit Tusch und Willkommensgruß gefeiert. Es war eine hohe Ehre für die Burschen gewesen, mit den herrschaftlichen Fräuleins zu tanzen. Jetzt zum erstenmal war das anders. Eine rote Fahne wehte von derselben Stange, die früher die kurländischen oder die Reichsfarben getragen. Dreist und frech wie eine ringelnde rote Schlange wehte sie im Winde. Und die blinkenden Fenster des Herrenschlosses blieben geschlossen und verhängt. Ja, es ging ein böser Geist um unter dem Volk, der Geist der Revolution.
Ein buntscheckiger Knäuel von Menschen war auf dem Platz versammelt. Frech und lärmend war ihr Gebaren, herausfordernd ihr Aussehen. Unter Absingung eines revolutionären Liedes waren die Burschen schon halb betrunken auf den Platz gelangt.
Darthe war mit Mutter Greetsche gekommen. Die gute Frau arbeitete noch immer im Tagelohn mit ihrem Mann beim Zehsewirt. Er hielt seine Leute knapp und war ein harter Herr, und gerade darum schimpfte er am lautesten über die deutschen Barone. Sie zahlten bessere Löhne und die Verpflegung war eine reichere. Aber die leichtgläubige Mutter Greetsche schwor auf jedes Wort des Zehsewirts und tat schon lange ihr möglichstes, auch Darthe zur Tagesarbeit bei ihm zu bestimmen. Das hartnäckige Mädchen aber schüttelte den Kopf und schwieg. Sie stand sich besser bei ihrer Näharbeit und versorgte die Wirtsfrauen und Töchter mit Kleidern. Ohne jemals die Schneiderei berufsmäßig erlernt zu haben, betrieb sie sie eifrig und stand sich ganz gut dabei. In ihrem weißen Kleide, dem Geschenk der Baroneß Marga, sah sie aus wie ein schönes stolzes fremdländisches Fräulein und lenkte aller Blicke auf sich.
Mutter Greetsche sah die bewundernden Blicke recht gut, die ihrer Tochter galten, und spann in ihrem Innern verwegene Pläne. Dem reichen Dumpje-Wirt war vor drei Monaten seine Frau gestorben – wie, wenn Darthe Dumpje-Wirtin würde? Sie hielt ihre schöne Tochter krampfhaft am Arm fest und segelte mit ihr stracks auf den Dumpje-Wirt los.
Breitspurig stand er da, die Daumen in den Westenärmeln, und blickte hochfahrend um sich wie ein Sieger im Felde.
»Guten Tag, Dumpje-Wirt,« sagte Mutter Greetsche einleitend, »'s ist ein schönes Wetter heuer!«
»'s geht an!« meinte der Dumpje-Wirt gnädig. »Heute wollen wir einmal lustig sein, Jungfer Darthe – wie?« sagte er mit einem Seitenblick auf das Mädchen.
»Was machen Eure armen Waisen, Dumpje-Wirt?« steuerte Mutter Greetsche nun direkt auf ihr Ziel los. »Die sehnen sich wohl nach der Mutter? Müßtet wieder auf die Freite gehen, Dumpje-Wirt.«
»Haben jetzt wichtigere Dinge zu tun, Mutter Greetsche, die Zeiten sind nicht danach.«
Mutter Greetsche seufzte wehmütig und faltete die Hände über dem Leib. »Ach ja, böse Zeiten, böse Zeiten!« stöhnte sie und wiegte trübselig den Kopf hin und her.
»Böse Zeiten, sagt Ihr? Nein, Mutter Greetsche, das stimmt nicht. Gute Zeiten sind's für uns Letten. Nun kommen wir mal ans Regiment. Für die da« – er wies über die Schulter nach dem Schloß – »könnten die Zeiten schon ein bißchen heiß werden. Dafür wollen wir sorgen. Für uns aber sind's gute Zeiten.«
»Ja ja, kann schon sein,« sagte sie schwerfällig, »aber in guten Zeiten sollte man auch eine Frau haben, mit der man sich darüber ausreden kann, wenn einem die Seele voll Freude ist.«
Jetzt riß sich Darthe mit flammenden Wangen von ihrer Mutter los.
»Habt Ihr eine Frau an mich zu vergeben, Mutter Greetsche?« witzelte er mit einem pfiffigen Seitenblick auf das davonstürmende Mädchen.
»Nu, es käm' drauf an!« meinte Mutter Greetsche philosophisch. »Man wird immer älter, Dumpje-Wirt, und möcht' seine Kinder schon gut versorgen.«
»Man kann sich die Sache ja mal überlegen!« sagte der büffelstarke Mann behäbig und reichte Mutter Greetsche die Hand.
In gehobener Stimmung trat sie zurück und setzte sich breitspurig auf eine Bank. Sie hatte ihre Angelegenheit doch wahrhaftig fein eingefädelt. Ja, wenn die Kinder groß würden, dann fingen die Sorgen erst eigentlich an, dachte sie seufzend. Sind sie klein, so drücken sie einem die Knie, sind sie groß, so drücken sie das Herz – ja, ja. Wohlgefällig strich sie die Falten ihres Rockes glatt. Da griff jemand von hinten nach ihrem Arm.
»Mutter!« zischte Darthe und stand von brennender Röte übergossen vor ihr, »sagst du solche Dinge noch einmal, so geh' ich in den Fluß – verstehst du?«
Da stand sie, die Augen gesenkt, die Lippen zusammengepreßt, eine tiefe, böse Falte in der Stirn. Sie war bildschön. »Wai Gottchen, wai Gottchen!« seufzte Mutter Greetsche, »was hat man für 'ne Not mit den Kindern!«
Nun stimmten die Musikanten die Tanzmusik an. Ein wunderlicher, säbelbeiniger Kerl – er war von Beruf Schneider – strich mit zornigem Eifer eine alte riesige Baßgeige. Sein schmutziges, graues Haar war auf seinem Kopfe wie angeklebt. Zwei Musikanten kratzten seelenruhig und falsch ihre Fiedeln und entlockten ihnen jämmerliche quiekende Töne. Ein langmagerer Flötist fingerte versunken auf seinem Instrument herum, als gehe ihn die ganze übrige Welt nichts an, und ein behäbiger Bläser verteilte seine Zeit mit bewunderungswürdiger Gerechtigkeit an sein Cornet à Piston, indem er teils mühsam hineinblies, teils hineinsah wie in ein Fernrohr. Der Zehse-Wirt, ein kleiner schrumpliger Mann, stand in guter Laune hinter den fünf Musikanten und schlug mit der dürren roten Hand den Takt dazu. Die Zehse-Wirtin wandte der Gesellschaft ihre imponierende Rückseite zu und unterhielt sich laut und angelegentlich mit Grendsche-Jehkab, der selbstbewußt dastand und die Blicke der Mädchen auf sich ruhen fühlte.
»Wie bist du denn von deinem gnädigen Herrn Baron losgekommen?« fragte sie.
»Er ist ausgefahren, Wirtin«, antwortete Grendsche-Jehkab mit liebenswürdiger Nachlässigkeit und sah über sie hinweg zu Darthe hinüber.
Mit runden, begehrlichen Augen starrte die semmelblonde Zehsewirtstochter den hübschen Gesellen an.
»Das Tanzen habt Ihr wohl auf dem Schloß gelernt?« fragte sie neugierig. »Tanzt man dort anders?«
»Wollt Ihr's mit mir versuchen, Jungfrau?«
Sie errötete und ließ sich von ihm umfassen.
Es war ein wunderliches Tanzen. Er beherrschte es wie einer der jungen Barone, denen er es abgesehen hatte, und flog mit nachlässiger Anmut die Bahn entlang, eine angerauchte Zigarette in der Hand.
Sie trippelte vorsichtig und eckig dahin und bewegte leise die Lippen. Er hörte, wie sie den Takt zählte. Es war ihr saure Arbeit.
Mit spöttisch aufgeworfenen Lippen betrachtete Darthe das Paar. Da näherte sich ihr der Dumpje-Wirt.
»Jungfer Darthe – ist's erlaubt?« fragte er herablassend.
Sie sah ihn groß an. »Es ist erlaubt, wenn Ihr vergessen wollt, was die Mutter vorhin mit Euch geredet hat. Die Mutter weiß manchmal nicht, was sie tut.«
Er stellte sich unwissend. »Was hat sie denn gesagt, Jungfer?«
»Ich mag's nicht wiederholen, und wenn Ihr's vergessen habt, um so besser für Euch und mich!«
In seinem wampigen Gesicht zuckte eine lüsterne Falte. »Ich vergesse alles, was ich vergessen soll, Jungfer Darthe,« sagte er grinsend, »ich bin überhaupt ein gutgearteter Mensch. Ihr müßtet mich besser kennen lernen.«
Wohlgefällig blickte er auf das Mädchen. Dann umfaßte er sie und stampfte im Polkatakt rund um den grünen Platz. Heiß wehte sein Atem, und fest drückte er sie an sich. Es war ein behäbiges langatmiges Tanzen. Wieder paßten die Tänzer nicht zusammen. Viermal ging's um den ganzen Platz. Mutter Greetsches Augen leuchteten vor Stolz.
Die Wiese füllte sich mit neuen Paaren. Ringsum auf den Bänken saßen die Wirtsfrauen und Mütter, die Mädchen drängten sich kichernd zusammen wie eine Herde Lämmer. Mit herausfordernden Blicken stampften die Burschen zu zweien oder dreien auf und nieder, sie schossen wie Schäferhunde in das dichteste Gewühl, trieben die Mädchen aus ihren Ecken und holten sie triumphierend hervor.
Gemessen und beinahe andachtsvoll bewegten sich die Paare. Sie tanzten mit sachlichem Ernst und gesenkten Augenlidern, selten flog ein Lächeln über ihre Züge.
Allmählich wurde die Stimmung ungebundener. Man hörte johlende Rufe, Lachen und Kreischen. Immer wieder leuchtete Darthes weißes Kleid in dem Wirrwarr auf. Sie hatte schon mehrere Male mit Grendsche-Jehkab getanzt.
»He! Einen Walzer!« schrie der Dumpje-Wirt laut. Er blähte sich wie ein Puter. Ohne zu fragen, umfaßte er Darthe und zerrte sie in den Tanzkreis.
»Verzeiht, Dumpje-Wirt – ich hab' den ersten Walzer schon versprochen.«
»Wem denn?« Seine Augen funkelten zornig.
»Dem Grendsche-Jehkab!« sagte sie hastig.
Sie log, und der Wirt vermutete es.
Eine giftige Eifersucht schwoll in ihm auf.
»So will ich ihn fragen,« murmelte er grimmig, »mir scheint's, Ihr nehmt's mit der Wahrheit nicht allzu genau, Jungfer.«
»Denkt, was Ihr wollt,« sagte sie kurz.
Ihre Augen suchten Grendsche-Jehkab. Mit einem flehenden Ausdruck blieben sie auf ihm haften.
Der gewandte schlaue Bursche hatte die Situation sofort erfaßt.
»Nu, Dumpje-Wirt,« rief er dem Daherstampfenden harmlos entgegen, »was bringt Ihr Gutes? Ihr seht ja aus, als ob Ihr das Herrenspiel ›Es kommt ein Schiff geladen mit – Äpfeln‹ spielen wolltet.«
»Mein Schiff ist mit anderen Dingen geladen,« grollte der Dumpje-Wirt, »mit wem tanzest du den Walzer?«
»Mit Jungfrau Darthe Semmit – zu dienen,« antwortete Jehkab rasch.
»Nun, dann muß ich freilich zurückstehen, mit so einem schönen geschniegelten Lakaien kann ich's ja nicht aufnehmen!«
»Ja freilich – eine Tonne Fett kann man nicht zum Lakaien gebrauchen,« sprach Grendsche-Jehkab unschuldsvoll.
Ein brüllendes Gelächter belohnte seinen Witz. Mit schwingenden Schritten trat er zu Darthe heran.
»Hab' ich dich endlich, hochmütige Prinzeß?« lachte er zärtlich und preßte sie an sich. Sie sah dankbar zu ihm auf. Fort ging's im wirbelnden Schnellwalzer. Die beiden waren aus einem Guß. Das war kein Anpassen mehr – das waren zwei, die zu eins verschmolzen waren. Bewundernd hingen die Augen aller an diesem Paar. Sie tanzten nur noch allein.
Da brach es durch die gellende Musik – ein schmerzliches Stöhnen. Der alte Semmit, Darthes Vater, war gekommen. Leise war er zu den Zuschauern getreten. Sein graues Haar hing in wirren fleckigen Strähnen um das knochige altgediente Gesicht, um seine eckige Gestalt schlotterte der Rock … den Arm hielt er ausgestreckt auf das Paar gerichtet und stöhnte wie im Krampfe.
»Ich sehe Blut ...,« sprach er mit hohler, entsetzter Stimme, »sein Gesicht ist mit Blut beschmutzt ... die Hände ... die Kleider voll Blut ... laß ab von ihm, Mädchen, laß ab ...« Er kreischte schrill auf, warf die Arme hintenüber und brach zusammen.
Zehn Fäuste griffen zu. Ein dichter Kreis bildete sich um den Alten. Kreischend taumelte Mutter Greetsche zu ihm hin.
»Was ist, Vater Semmit?« – »Was ist? Ist er betrunken?« schwirrte es ringsum.
Das tanzende Paar war einen Augenblick wie erstarrt stehen geblieben. Verwirrt klammerte sich Darthe an ihren Tänzer und stieß ihn gleich wieder angstvoll mit einem Schrei von sich.
Da packte er das Mädchen fester und zwang es mit einer herrischen Gebärde an seine Seite. Er warf den Kopf zurück und blickte trotzig um sich.
»Der alte Semmit redet irre!« sagte er ruhig. »Was faselt er da von Blut an meinen Händen? Rein sind meine Hände von Blut ... die Zähne schlage ich dem ein, der mich einen Mörder heißt!«
Er sah prachtvoll aus in seinem stolzen Zorn.
Darthe brach zuerst das Schweigen. Sie fühlte, sie war Grendsche-Jehkab eine Genugtuung schuldig.
»Vater ... Vater ist krank!« schrie sie gellend auf, »er sieht zuweilen Gesichte ... sieht ... in die Zukunft« – dann schlug sie die Hand vor die Stirn – »... ja, sieht in die Zukunft«, wimmerte sie heiser vor sich hin, als erwache sie jetzt erst zum Bewußtsein des Furchtbaren.
Sie war totenblaß.
In Gruppen umstanden die Leute das junge und das alte Paar. Ein dumpfes Gemurmel ging durch die Reihen.
»Alter Jahnit ... alter Jahnit ... ruhig, ruhig, mein Alterchen,« hörte man Mutter Greetsches beschwichtigende schluchzende Stimme, »das arme alte Männchen ist ja ganz auseinander ... nein, nein, getrunken hat er nicht ...,« erklärte sie den Leuten. »Komm nur, komm – nach Hause wollen wir gehen!«
Willenlos, hilflos wie ein Kind ließ sich Vater Semmit von Mutter Greetsche abführen. Er atmete schwer. Sein struppiger grauer Kopf wackelte haltlos hin und her. Es schien, als habe er nie das Wort »nein« aussprechen gelernt.
Darthe zuckte zusammen – sollte sie den Eltern folgen? Nein! Sie blieb. Ein feuriger trotziger Blick Grendsche-Jehkabs bannte sie.
Er schob ihren Arm in den seinen.
»Hiermit erkläre ich allen Anwesenden,« rief er laut und trotzig, »Darthe Semmit hier ist meine Braut!«
Totenstille. Dann ein lautes, johlendes Bravogeschrei. Trunkene heisere Rufe.
»Der ist schneidig! Der versteht's! Ein Mordskerl!«
Darthe stand da wie blutübergossen. Sie wagte nicht zu widersprechen. Liebte sie ihn? Haßte sie ihn? Sie wußte es nicht.
Da stand der Dumpje-Wirt vor ihnen.
Die Arme übereinander gekreuzt, betrachtete er mit höhnischem Lachen das junge Paar.
»Meinen Glückwunsch!« sagte er laut und hämisch.
Dann schritt er breitspurig an ihnen vorüber.
»Eine Polka!« schrillte laut die trockene Stimme des Zehse-Wirts.
Das verstimmte Quintett setzte mit einer scharfen Dissonanz ein. Ein paar Polkatakte folgten.
»Ruhe!« brüllte der Dumpje-Wirt. Er war auf eine Bank gestiegen.
»Still, still, der Dumpje-Wirt will reden!«
Alles drängte und schob sich näher an die Bank heran.
»Genossen und Brüder!
Es ist jetzt nicht die Zeit, sich mit Verlobungen und Heiraten zu befassen. Das mögen wir den Nichtstuern und ›Herrendienern‹ überlassen. Brüder und Genossen – unsere Zeit ist eine große Zeit, eine gute Zeit! Lange genug hat unser Bruder, der lettische Bauer, dem von Rechts wegen das lettische Land gehört, seinen gekrümmten Rücken noch tiefer gebückt und dem großen Herrn Baron mit demütigem Grinsen die gnädige Hand geküßt, hat ihm Frohndienste geleistet, für ihn gesät und geerntet und gedarbt – der Tag der Umkehr, der Tag der Rache ist nicht mehr fern. Keine Herren soll es mehr geben, weder hohe noch niedrige. Wir sind unsere eigene Herren! Oder wollt ihr euch noch ferner vor dem blutsaugerischen Leuteschinder, dem Baron, oder vor dem heuchlerischen Pfarrer bücken? Haben die Schwarzen nicht lange genug unsere Rubelchen gestohlen, unsere Hühnerchen gegessen? Wir aber haben gehungert und gedarbt!«
Ein spöttischer Zuruf Grendsche-Jehkabs: »Der mit seinem Fettwanst redet von Hungern und Darben!« wurde nicht beachtet. Wie in einem Rausch sprach der Dumpje-Wirt weiter, von Haß und blinder Wut und Rednerehrgeiz getragen. Die Worte flogen ihm zu.
»Brüder und Genossen! Die Tage der Deutschen im Lande sind gezählt. Mögen sie fliehen, wenn ihnen ihr Leben lieb ist! Hier dulden wir keine deutschen Herren mehr. Ihre Schlösser, ihre Güter, ihre Ställe, ihre Pferde und Kutschen und Rinder sind unser! Greifen wir nur zu! Nicht mehr stehen wir allein und schutzlos wie eine verwirrte Herde Schafe dem gierigen Raubtier, dem Wolf gegenüber – den Wölfen von Wolfshausen!«
Dröhnendes Gelächter.
»Das lettische Zentralkomitee steht hinter uns! Das lettische Zentralkomitee denkt und sorgt und handelt für uns. Das lettische Zentralkomitee wird uns unsern Tag der Rache bestimmen – er ist nicht fern. Bis dahin noch geduldet euch und haltet euch ruhig – wir Mitglieder des Komitees kennen den Tag. Dann wird kommen die Stunde, da wir jubeln, da wir siegen, da wir die Herren im Lande sein werden!
Hoch das lettische Zentralkomitee! Nieder mit den Deutschen!«
Mit einer großtuerischen Gebärde stieg er von der Bank. Aus der Brusttasche zog er ein Bündel Proklamationen. Gierige Hände griffen danach.
»Hoch ... hoch! Nieder ... nieder! – Das lettische Zentralkomitee ... die Deutschen ... hoch! nieder!« heulte es wie ein wühlender Sturm durch die Masse. Sie hoben die Hände hoch, sie brüllten, sie johlten, die Weiber kreischten laut – ihre Wangen brannten, ihre Augen glühten.
Der Dumpje-Wirt war der Held des Tages. Was wollte neben ihm Grendsche-Jehkab mit seiner improvisierten Verlobung bedeuten? Er war einfach nicht mehr da. Vergessen. Ausgewischt.
Und der Jubel erreichte seinen Höhepunkt, als der Dumpje-Wirt noch einmal auf die Bank stieg und schrie.
»Einige Brüder und Genossen! Ich setze euch aus meiner Tasche vier Tonnen Bier und ein Faß Branntwein! Die Keller der Deutschen werden uns bald bessere Getränke liefern. Dann fließt Wein und Champagner – heute aber nehmt vorlieb, Brüder – ein Lump, der mehr gibt, als er hat!«
»Hurra dem Dumpje-Wirt! Hurra! Hoch! Hoch! Es lebe der Dumpje-Wirt! Der Dumpje-Wirt hoch!« brüllten hundert heisere Kehlen.
Ein ungeheurer Jubel hatte sich der lettischen Genossen bemächtigt.
Bleich mit verzerrtem Gesicht stand Grendsche-Jehkab da. Auf seinen blassen Wangen brannten zwei kreisrunde rote Flecke. Seine Lippen zuckten – der Dumpje-Wirt hatte ihn öffentlich beschimpft! Angstvoll umklammerte Darthe seinen Arm. Rauh stieß er sie zurück.
Ein lodernder Blick voll grenzenlosen Staunens, voll empörter Verachtung maß ihn von oben bis unten. Sie wandte ihm den Rücken und schritt hastig davon.
Er sprang ihr nach.
»Seht ... seht das Brautpaar! Das Brautpaar!« schallten höhnende Rufe. »Die Bettelbraut und der Herrenknecht!«
In ohnmächtiger Wut preßte er die Zähne zusammen und ballte die Fäuste.
»Wollen sehen,« murmelte er halblaut, »wer mehr vermag – Ihr mit Eurem leeren Schwatzen und Reden oder ... ich!«
Sie hatte die Worte gehört, doch wandte sie den Kopf nicht um. Jetzt ging er neben ihr her.
»Darthe!« keuchte er heiser, »willst du mich zum Gespött der Leute machen?«
Sie blieb stehen und sah ihn mit flammenden Augen an.
»Darthe Semmit läßt sich nicht zum zweiten Male fortstoßen. Sie hat sich dir nicht aufgedrängt, Grendsche-Jehkab. Um deinetwillen bin ich geblieben, als meine Eltern gingen. Ist das der Dank? Für eine Minutenbraut bin ich mir selbst zu schade!«
»Minutenbraut ...,« wiederholte er. »Aber Darthe, was redest du denn? Wußte ich denn, was ich tat, als ich dich stieß? Ich dachte ja nur an den feisten Protzen, den Dumpje-Wirt ... Du bist meine Braut und sollst es bleiben und nun erst recht!«
»Dazu gehören zwei!« sagte sie kurz.
Er legte sich aufs Bitten und Schmeicheln.
»Aber Darthing, liebes Darthing ...«
Endlich wandte sie den Kopf. »Bin ich dein liebes Darthing?« fragte sie ernst.
»Bei meiner Seele!« schrie er. »Wen sollte ich denn sonst auf der Welt lieber haben?«
Sie war versöhnt. Stumm reichte sie ihm die Hand. »Ich halte zu dir,« sagte sie einfach, »was auch kommen mag!«
»Was auch kommen mag ...«, wiederholte er.
Durch niedriges Buschwerk und Gestrüpp schritten sie quer über die Wiese, die Nachmittagssonne zeichnete ihre langen schrägen Schatten in das Gras. Ein gequältes Stöhnen hemmte ihre Schritte. Sie traten hinter einen breiten Wacholderbusch. Da lag die »hohe Polizei« gefesselt – der Landgendarm Kalning, einen Knebel im Munde.
»Lassen wir ihn liegen!« sagte Grendsche-Jehkab schadenfroh und versetzte dem Manne einen Fußtritt. »Es geschieht ihm recht.«
Darthe stand unschlüssig daneben.
Ein plötzlicher Verdacht stieg in Grendsche-Jehkab auf. Er bückte sich und nahm dem Manne den Knebel aus dem Munde.
»Wer hat dich gefesselt?« sprach er finster. »Die Wahrheit, Mann, oder ...«
»Der Dumpje-Wirt war's mit zwei Burschen!« stöhnte der Polizist.
»Der Dumpje-Wirt ...« Ein Leuchten flog über Grendsche-Jehkabs Züge. Er zog sein Messer und durchschnitt die Bande.
»Wer dich befreit hat, darüber schweigst du,« herrschte er den Mann an, »aber den Dumpje-Wirt magst du immerhin anzeigen bei der hohen Polizeibehörde in Bauske. Eben noch hat er das Maul vollgenommen und das Volk aufgehetzt.«
Der Polizist rieb sich die steifen Glieder und nickte. »Vielen Dank, Grendsche-Jehkab,« sagte er. Dann schlich er sich in der Richtung nach Bauske davon.
Stumm schritten die beiden weiter. Darthe hielt den Kopf gesenkt.
»Bist du kein Roter, Jehkab?« brach sie plötzlich das Schweigen.
Er lachte. »Weil ich den Spürhund da losließ? Und wie! Aber das Wichtigtun und protzige Reden führt zu nichts. Dem Dumpje-Wirt wird eine gute Lehre von Nutzen sein. Überhaupt, auf Wirte verlassen wir uns nicht. Die sind Besitzer. Ich weiß vielleicht mehr als alle. Heute um drei Wochen soll's losgehen!«
»Heute um drei Wochen?« fragte Darthe mit funkelnden Augen.
»Jawohl. Und halt' den Mund, Mädchen.«
Sie gab ihm die Hand. »Geh jetzt, Jehkab – es ist besser, wenn Vater dich nicht sieht. Wir halten zusammen.«
Zögernd stand er da. »Wie du willst,« sagte er endlich und schlug den Weg ein, den er gekommen war.
Darthe wandte sich um und blickte ihm lange nach.
*
Wind war gesät und Sturm fegte durch das Land – der Sturm, der nicht mehr zu halten war.
Nach sonnigem Herbstwetter waren trübe Regentage gefolgt. Schwer und breit und grau rauschte der Fluß dahin, und dunkle Wolken hingen über nebelgrauen Wäldern und nassen Stoppelfeldern.
Dem Flußufer entlang, stromaufwärts, schritt an einem trüben Herbsttage eine weibliche schlanke Gestalt. Sie war in ein dichtes Tuch gehüllt und kurz geschürzt. Die derben ledernen Bauernschuhe traten tapfer vorwärts in das lehmige Erdreich, und hoch auf spritzte bei jedem Schritt das schmutzige Wasser. Unter dem groben Wolltuch hob sich in schweren Flechten das kronenförmig aufgesteckte Haar, über die braune Stirn hingen feuchte Strähnen.
Darthe Semmit ging einen schweren Gang, denn sie hatte eine Mission zu erfüllen. Die Mission aber hatte ihr niemand anders diktiert als der, der allein rechte Missionen befiehlt – Gott – und ihr Herz.
Stundenlang war sie geduldig gegangen. Der Weg war weit und beschwerlich. Und immer lauter und vernehmlicher rauschte der Fluß. Es schien, als habe er ihr etwas zu sagen, und er hatte ihr auch etwas zu sagen. Du tust recht, du tust recht, rauschten und murmelten die dunklen Wellen, die an ihr vorüberwirbelten.
Sie blieb stehen und schöpfte tief Atem. Ihre Kindertage fielen ihr ein und die Märchen der toten Großmutter. Es waren doch schöne stille Zeiten gewesen, als sie den kleinen Bruder Jahnit wiegen mußte, schöne stille Zeiten. Der Jahnit war nun schon ein großer Bursch und ging drüben in Bauske in die Tischlerlehre. Der hatte sie nicht mehr nötig und die Großmutter auch nicht. Wer hatte sie denn eigentlich nötig? Der Vater ... die Mutter – Grendsche-Jehkab?
Sie schüttelte düster den Kopf. Vater und Mutter, die hatten einen Sohn und gingen ihre eigenen Wege, wie sie selbst ihre eigenen Wege ging – sie hatten sie nicht nötig. Und Grendsche-Jehkab? Ging er nicht auch eigene Wege? Lief er nicht jedem hübschen Mädchen und jedem Rockzipfel nach? War er treu? War er zuverlässig? Konnte sie ihm trauen?
Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie kannte ihn zu wenig. Aber heute, ja heute würde jemand sie nötig haben – Baroneß Marga. Sie schritt hastig vorwärts, und wieder versank sie in Erinnerung. Wie war das damals gewesen, als die Baroneß Marga ins Wasser gefallen war? Wie hatte es in der dunklen Stube geleuchtet, als die helle nasse Gestalt mit dem rotgoldenen Haar hereintrat! Und wie vernarrt waren die beiden, der junge Baron und Grendsche-Jehkab, in das schöne Mädchen gewesen! Sie hatte es schon damals gespürt. Richtig vernarrt waren sie beide, ja alle drei.
Wie hatte der Grendsche-Jehkab sich zu Boden geworfen, um ihr die Stiefelchen auszuknöpfen! Wie eifersüchtig hatte der Jungherr Wolf ihn fortgejagt! Und dann die weißen Wasserrosen, die Grendsche-Jehkab mühselig für sie gepflückt hatte – heute würde er ja wohl keine Blumen mehr für sie pflücken.
Nein, er war ja ihr Feind, wie sie selbst ihre Feindin war. Sie war ja Lettin und allen Deutschen feindlich gesinnt, am meisten den Baronen und Landesbedrückern.
Aber Baroneß Marga bedrückte ihre Leute nicht. Das mußte wahr sein. Still und friedlich lebte sie bei ihrer alten harthörigen Tante, und manchmal war sie in die Bauernhütten gekommen, wenn es galt, eine Wunde zu verbinden oder ein krankes Kind zu pflegen. Nein, Baroneß Marga war keine Leuteschinderin. Aber sie war eine Deutsche und eine Baroneß, und darum mußte Darthe sie hassen.
Und sie haßte sie – redlich und aufrichtig. Nur sonderbar, daß sie sie beinahe zugleich liebte. Wie gütig hatte die Baroneß mit ihr gesprochen, wie traurig hatte sie ausgesehen, als sie die goldene Nadel zerbrach und fortwarf! Und das hatte Darthe eigentlich furchtbar gefallen. Sie selbst hätte es genau so gemacht an Stelle der Baroneß. Denn auf Gut und Geld gingen sie ja beide nicht aus. War der Grendsche-Jehkab etwa reich? Und brauchte die Baroneß nicht bloß ihren kleinen Finger auszustrecken – und Baron Wolf war froh, sie zu seiner Baronin zu machen. Nein, geldgierig war sie nicht – sie war gütig und gerecht und ehrlich – aber sie war einmal eine Baroneß, und darum mußte sie sie hassen.
Wieder blieb Darthe stehen. Wenn sie doch den Grendsche-Jehkab ebenso hassen könnte wie die Baroneß Marga – dann, ja dann wäre sie glücklich, denn dann war alles klar. Er war ja so veränderlich, bald kümmerte er sich nicht um sie, bald sagte er ihr die schönsten Dinge. Jetzt war er voll düsterer Rachepläne gegen die Barone, dann wieder renommierte er mit der silbernen Zigarettentasche, die ihm der junge Baron geschenkt. Heute war er bereit, persönlich dem Baron Wolf das Schloß über dem Kopf anzuzünden, wie alle Herrenhäuser in einer kurzen Weile angezündet werden sollten, morgen wieder erzählte er voll Stolz, daß der Baron ihm vertraue wie keinem, nicht mal dem Verwalter. Aber eins war ihr gewiß – Grendsche-Jehkab würde seine Hände nie mit Herrenblut beflecken – und ihr Vater hatte sich geirrt. – Hatte sich ihr Vater geirrt? Konnte es nicht sein, daß Jehkab jemals einen Mord beging – aus Zorn – aus Rachsucht – aus Eifersucht?
Aus Eifersucht. Das schon – vielleicht. Aber auf wen sollte er denn eifersüchtig sein? Hieß man sie nicht »die hochmütige Darthe«? Ging sie mit irgend einem Burschen um? Sie lachte. Die konnten lange warten. Im Grunde gefiel ihr doch keiner so gut wie Jehkab.
Wieder blieb sie stehen und schaute sich um. Dort führte der Weg nach Rothof, dem Wohnsitz der Baroneß Marga, und dort zwischen dem goldleuchtenden herbstlichen Laub der Kastanien schimmerte das steile Ziegeldach des alten zweistöckigen Hauses. Sie schlug einen Fußpfad ein, der ihr bekannt war. Es war vielleicht ratsamer, die Landstraße zu meiden.
Schwarz und schwer hingen die Wolken über dem roten Dach. Wie würde das aussehen, wenn die Flammen da herausschlügen? Noch stand das Haus still und friedlich da, und seine nassen Fensteraugen blinkten.
Wenn nur die Baroneß zu Hause war! Und wie würde sie Darthe empfangen? Noch waren ja die Deutschen Herren im Lande, und die Baroneß war ihr vielleicht noch böse wegen der Nadel.
Ein feiner Regen begann hastig zu sprühen. Darthe verlangsamte ihre Schritte. Sie ging zögernd um das große Rasenrund herum, das von Akaziengebüsch eingefaßt war. Rechts und links standen die Kleeten, die Gesindewohnungen, der Pferdestall, der Viehstall, alles altmodisch aus ungestrichenem Holz aufgebaut. Das fängt Feuer wie Zunder, dachte sie.
Endlich trat sie in die herrschaftliche Küche.
Am Herd hantierte die alte weißhaarige Wirtin, eine treue langbewährte Person. Sie klapperte mit Topfdeckeln und Schüsseln.
»Guten Tag,« sagte Darthe.
Über ihre Hornbrille hinweg sah die Alte sie an.
»Wer bist du, und was willst du?«
»Darthe Semmit heiß' ich und muß das gnädige Fräulein Baroneß sprechen.«
»Du mußt, ei, ei!« sagte die Alte tadelnd und wiegte ihren weißen Kopf mit dem winzigen aufgesteckten gelblichweißen Haarknötchen. »Die alte Höflichkeit ist schon lange aus der Mode, wie mir scheint. Vor vierzig Jahren noch, als ich jung war und hübsch wie du, da sagte man: Darf ich das gnädige Fräulein Baroneß sprechen? So sagte man damals, mein liebes Kind.«
Ein spöttisches Lächeln flog über Darthes Züge. Sie blieb stumm.
»Ist's denn gar so eilig?« fragte die Alte wieder. Ein lauernder Blick, scharf wie Essig, flog über die Hornbrille zu Darthe.
»Es ist eilig!« sagte Darthe mit Nachdruck.
Zornig ließ die Alte einen eisernen Topfdeckel auf den Herd klirren, wischte sich die Hände in einem groben Handtuch rein, strich sich das glatte Haar noch glatter und zupfte ihre Schürze zurecht.
»Nun, so komm!« sagte sie verdrossen. »Leg' zuvor dein nasses Tuch ab.«
Sie führte Darthe durch einen schmalen Gang, durch ein geräumiges einfaches Speisezimmer in eine kleine freundliche Stube. Weiße Mullgardinen hingen vor den Fenstern. Das Zimmer stand voller Rohrmöbel und hatte nur zwei gepolsterte Stühle. In der Ecke ein kleiner Schreibtisch, an den Wänden altmodische Familienbilder.
Sie klopfte an die nächste Tür und trat, ohne die Antwort abzuwarten, ein.
Darthe sah sich neugierig um. Alles gutes Futter fürs Feuer, mußte sie wieder denken.
Jetzt ging die Tür auf, und lächelnd, strahlend wie eine junge Rose, stand die Baroneß da. Ihre Wangen aber und ihre Augen waren feucht von Tränen.
»Darthe Semmit,« sagte sie, »ich freue mich herzlich, dich zu sehen!« Sie legte ihr die schlanken Hände auf die Schultern.
In Darthes Augen leuchtete ein warmes Licht, doch sie besann sich – sie haßte ja die Baroneß. Schroff trat sie einen Schritt zurück.
»Ist niemand hier, der uns hören kann?« fragte sie in gedämpftem Tone.
Befremdet blickte Baroneß Marga sie an.
»Nein,« sagte sie ruhig, »die alte Ohsoling ist durch eine andere Tür wieder hinausgegangen, und hier unten bin ich allein. Hast du mir ein Geheimnis zu sagen?«
»Ja!« sagte Darthe fest und schwer.
Die Baroneß schloß beide Türen vorsichtig, setzte sich quer über einen Rohrstuhl, kreuzte die Arme nachlässig über der Lehne und sah Darthe erwartungsvoll an.
»Nun, so sprich, Mädchen!« sagte sie.
Wie wurde doch Darthe das Sprechen so schwer, sie hatte es sich leichter gedacht! Sie schluckte hastig ein paarmal und fühlte, wie sie zitterte.
»Frierst du, Kind?« fragte die Baroneß besorgt, »du bist ja ganz naß.«
»Nein, nein, lassen Sie nur,« Darthe würgte an den Worten, »ich bin gekommen, um Sie zu warnen, gnädiges Fräulein!«
Die leuchtenden Augen der Baroneß wurden immer größer. Das krause goldrote Haar umfloß sie wie ein Heiligenschein.
»Mich zu warnen – – wovor?«
»Fliehen Sie!« stieß Darthe, jetzt am ganzen Leibe bebend, hervor. »Fliehen Sie so schnell als möglich. Man will Ihnen Ihr Haus niederbrennen!«
Eine jähe Röte schoß in das weiße schöne Gesicht.
»Woher weißt du das, Darthe Semmit?« Die Stimme klang ruhig und gefaßt.
»Ich hab's – von den Roten – das lettische Zentralkomitee hat den Tag dazu bestimmt. Heute um zwei Wochen, da werden alle Güter im Kreise angesteckt!«
» Alle Güter?« schrie die Baroneß. Sie faßte Darthe am Arm.
Das Mädchen nickte. Ihr war die Kehle wie zugeschnürt.
»Sie dürfen mich – nicht angeben, gnädiges Fräulein,« sagte sie endlich stockend, »sonst schlagen mich die Unsrigen tot.«
Das Fräulein stand hoch und vornehm da. Sie war bleich wie ein weißes Tuch.
» Dich angeben – nein! Die Sache aber muß ich angeben, damit Vorsichtsmaßregeln getroffen werden.«
Darthe sank in sich zusammen. Ihre Knie zitterten.
»Tun Sie es nicht … tun Sie es nicht …,« würgte sie flehend und hob die Hände – »ich hab' mein Volk verraten!«
»Willst du, daß ich die Meinigen verrate? Wenn ich schwiege, wäre das Verrat. Ich muß reden, Mädchen.«
Jetzt erst wurde sich Darthe der Tragweite ihrer Warnung bewußt. Ein kalter Schauer um den anderen schüttelte sie. Sie biß die Zähne zusammen.
»Es tut mir leid, daß ich's Ihnen gesagt habe,« sprach sie hart.
Da fühlte sie sich von zwei weichen schlanken Armen umfaßt.
»Nein, Darthing, nein! Das soll, das darf dir nicht leid tun! Ich danke dir, danke dir von ganzem Herzen, aber sieh, ich wäre ja der letzte Lump, wenn ich mich allein rettete und die anderen Güter brennen ließe. Baron von Wolfshausen muß ich's sagen, ich kann, ich darf ihm nichts verschweigen – er ist mein Verlobter, Darthing. Vor einer halben Stunde noch war er hier.«
Baroneß Margas Gesicht war von heißen Tränen überströmt. Sie streichelte Darthe die Wangen.
»Er sagt's keinem weiter, wenn ich ihn bitte,« fuhr sie fort, »und den anderen kann ich ja sagen, daß ich einen Drohbrief erhalten habe.«
Darthe schüttelte den Kopf. »Und ich hab' meine Leute doch verraten,« murmelte sie.
Die Baroneß trat zurück. »Hast du mich denn so lieb, Kind?« fragte sie. »Wie kann ich dir das vergelten?«
»Lieb?« Darthe öffnete weit die dunklen Augen. »Ich hab' Sie nicht lieb – ich hasse Sie, denn Sie sind ja unsere Feindin!«
Wieder umschlangen sie die weichen Arme.
»Darthing, Darthing,« schluchzte die Baroneß, »wenn mich doch viele so hassen würden wie du! Du hast mich ja lieb, Darthing! Weißt du es denn nicht?«
Nein, Darthe hatte es nicht gewußt. Ihre Lippen zuckten. Sie seufzte schwer auf, als habe sie diese plötzliche Erkenntnis von einer drückenden Last befreit. Zwei große Tränen rollten langsam über die braunen Wangen.
»Ja … ich habe Sie lieb … darum konnte ich nicht anders.«
»Lieber Gott, lieber, großer, guter Gott!« stammelte die Baroneß außer sich, »ich danke dir!«
Langsam schlug Darthe die Augen zu dem Fräulein auf.
»Werden Sie fliehen?« fragte sie beinahe schüchtern.
»Ich weiß es nicht, aber ich danke dir für diese Stunde, Darthe Semmit. Ich habe nichts auf der Welt, womit ich dir zeigen könnte, wie sehr ich dir danke. Nichts ist groß genug dazu, aber ich gebe dir etwas … mein Herz. Willst du es nehmen, Darthing?«
»Ja!« sprach Darthe. »Ich werde Sie nie vergessen, Fräulein!«
Sie wandte sich zur Tür.
»Gott schütze dich, Darthing!« rief ihr die weiche Stimme des Fräuleins nach.
Wie betäubt ging Darthe hinaus.
Sie öffnete und schloß die Türen mechanisch und bemerkte nicht, daß die alte Ohsoling ihr mit offenem Munde nachstarrte, als sie ohne Gruß an ihr vorüberschritt ins Freie. Der Regen war stärker geworden, und nun erst sah Darthe, daß sie ohne Umschlagetuch war. Zögernd stieß sie die Küchentür wieder auf.
»Ich hab' mein Tuch vergessen,« sagte sie tonlos.
»Ei, sieh doch, das gnädige Fräulein haben ihr Tuch vergessen,« höhnte die alte Ohsoling giftig, »und das Lebewohlsagen haben das Fräulein auch vergessen!«
Darthe wandte nicht einmal den Kopf. Stumm ging sie hinaus.
Ein kräftiger Wind hatte sich erhoben. Triefende goldgelbe Kastanienblätter wehten von den alten Bäumen, und der Wind trieb sie flüsternd vor ihr her, quer über den Weg. Sie hüllte sich fester in ihr Tuch und schauerte zusammen. Mochten die Volksgenossen immerhin kommen – ihr Fräulein Marga würde sich zu schützen wissen, ihr Fräulein Marga, das ihr, Darthe Semmit, ihr Herz geschenkt hatte, und die sie liebte. Ja, nun empörte sich nichts in ihr dagegen. Sie hatte sie lieb, ganz einfach, da konnte niemand dagegen an. Ein fröhlicher Trotz stieg in ihr auf, und rüstig schritt sie aus, den Fußpfad entlang.
Bald war sie wieder am Fluß. Die dunkle Flut rauschte an ihr vorüber, schnell, wie schnell – es war, als ob sie zu einem Wettlauf einlade. Und Darthe ging schnell, viel schneller als sie gekommen war. Eine weiche, nebelige Dämmerung senkte sich leise, leise herab. An den rinnenden Zweigen der Weidenbüsche, die sich über das fließende Wasser beugten, schien die Dunkelheit grau hinunter zu schleichen. Auf einem abseits liegenden Gehöft schlug ein Hund an, das gedämpfte Brüllen einer Kuh wurde hörbar – sonst Stille. Dunkler ward es und dunkler, schwarz drängten sich die Wacholder und Weidenbüsche zusammen, der Fluß rauschte lauter und vernehmlicher, der Regen strömte, und am dunklen Himmel jagten unruhige zerrissene Wolken.
Tapfer und stetig schritt das Mädchen durch die dunkle Herbstnacht. –
Zu Hause lagen Vater und Mutter in tiefem Schlummer.
Darthe schlief bis in den Tag hinein den traumlosen Schlaf eines glücklichen erschöpften Kindes.
Um die Mittagszeit, früher als gewöhnlich, kam Mutter Greetsche heim und warf einen fragenden Blick auf ihre Tochter.
Darthe saß über ihrer gewohnten Näharbeit und rührte sich nicht.
Aufgeregt ging Mutter Greetsche hin und her, nahm die Suppe vom Herd und schöpfte saure Grütze aus dem Kübel in eine Tonschüssel.
»Wo bist denn gewesen?« fragte sie plötzlich.
Darthe sah von ihrer Arbeit nicht auf. »Am Fluß!« erwiderte sie lakonisch.
Breitspurig stellte sich die Frau vor ihr auf. »Bei nachtschlafender Zeit? Was treibst du dich denn nur immer am Fluß herum, Mädchen?«
Darthe schwieg. Das rote breite Gesicht der Frau wurde immer aufgeregter. »Ich hab' den Grendsche-Jehkab beim Zehsewirt getroffen,« begann sie unsicher.
Darthe blickte auf. »So?« fragte sie.
»Ja – er ist aus dem Dienst gejagt – hat Streit gehabt mit dem Baron.«
»Warum denn?«
»Was weiß ich? Geld soll abhanden gekommen sein, so sagte mir die Zehsewirtstochter – die hat's von der Verwalterin. Und grob ist er gewesen.«
Darthe wurde dunkelrot. »Und dann soll nu gerade der Jehkab …,« sprach sie zitternd.
»Nu, das ist ja noch nicht gesagt … aber wütend war der Bursch – ganz auseinander. Geflucht und geschrien hat er wie ein Rasender. Einen großen Skandal hat's gegeben.«
Beide schwiegen. Die Zeit schien stille zu stehen. Klirrend warf Darthe die Schere auf den Tisch. Im Hofe krähte ein Hahn.
»Ich war nur froh, daß der Vater nichts davon hörte,« begann die Frau wieder. »Der Jehkab ist kein guter Mensch, Mädchen.«
Darthe lachte schwer und bitter auf.
»Mit mir hat er sich auch ausgeredet,« fuhr Mutter Greetsche zögernd fort.
»Was hat er denn gesagt?« fragte Darthe gleichmütig.
»Nu, dies und das – reden kann er ja wie ein Schwarzrock. Heiraten mag er nicht mehr – das war die Hauptsache.«
Darthe beugte sich weit vor. »Wie?« dehnte sie ungläubig.
»Nu ja, Kind, 's wär' keine Zeit zum Heiraten, hat er gesagt. Und ein armes Mädchen könnt' er nicht nehmen; und 's wär' ihm nicht ernst gewesen damals beim Grünfest – nur aus Trotz hätt' er's getan … das sollt' ich dir sagen.«
Schwer und lähmend kroch es durch Darthes Glieder. Wie erstarrt saß sie da. Die böse Falte auf ihrer Stirn grub sich tief und drohend ein.
Sie raffte sich auf und packte ihr Nähzeug hastig zusammen. »'s ist gut, Mutter!« sagte sie heiser.
»Nimm dir's nicht zu Herzen, Mädchen,« sagte Mutter Greetsche tröstend, »du findest noch sicher einen guten Mann.«
»Meinst du?« stieß Darthe höhnisch hervor.
»Und wie! Hätt'st nur damals den Dumpje-Wirt nicht vor'n Kopf stoßen sollen. Wärst bald eine reiche Frau geworden!«
Jetzt sprang Darthe auf wie eine wilde Katze. Ihre Augen funkelten.
»Hör' auf, Mutter!« schrie sie wütend. »Sprich mir noch einmal vom Dumpje-Wirt – und du siehst mich nie wieder!«
»Nu, nu,« beschwichtigte Mutter Greetsche erschreckt, »ich sag' ja nur so. Was ist denn nur dabei? So sei doch nicht gleich so auseinander, Mädchen!«
Damit stellte sie die Suppe auf den Tisch, legte einen Laib Schwarzbrot daneben und drei Holzlöffel. »Nu kommt der Vater.«
Gebückt und grau schlich die krumme Gestalt Jahn Semmits an den kleinen Fenstern der Hütte vorüber.
Stöhnend trat er ein und hing die Mütze an den Nagel.
Er setzte sich an den Tisch, faltete die Hände und flüsterte ein Gebet. Stumm und schweigsam wurde die Mahlzeit eingenommen. –
Am Nachmittag des nächsten Tages trug Darthe ein Bündel auf den Zehsehof. Sie hatte einen Kleidrock an die Zehsewirtstochter abzuliefern.
Es war ein kalter, windiger Herbsttag. Graue fliegende Wolken eilten einander überhastend in Schichten über den trüben Himmel. Klagend rauschte der müde Birkenwald an der Landstraße. Die verwitternden Stoppeln der Felder standen graugelb und starr in die Höhe. Welke Blätter jagten vom Winde getragen über sie hin und verfingen sich in den Stoppeln. Die Wagenspuren der Landstraße standen noch voll Wasser.
Darthe schlug einen Feldweg ein. Vor ihr lag mit der Rückseite das Gehöft des reichen Zehsebauern. Sie ging um das Gesinde herum und trat in das Gehöft. Viehstall, Wagenscheune, Kornspeicher und Kleete rahmten den viereckigen Hof ein.
Vor der Tür auf der Bank saßen zwei, die semmelblonde Zehsewirtstochter und – Grendsche-Jehkab.
Verwirrt sprang er auf. Sie maß ihn mit flammenden Blicken.
»Guten Abend, Zehsetochter,« sprach sie ruhig. »Ich bring' Euch Euren Kleidrock.«
Die Semmelblonde sah sie spöttisch an.
»Es ist gut,« sagte sie, »legt nur ab in der Stube.«
»Wollt Ihr nicht anprobieren?« fragte Darthe wieder. »Ich hab' keine Zeit, später wieder daran herumzuändern.«
Gelangweilt erhob sich das Mädchen von der Bank. »Habt Ihr denn so ungeheuer viel zu tun, Darthe Semmit?« fragte sie spitz.
Sie traten in die geräumige warme Stube. In buntem Durcheinander standen modische Möbel und Bauerngerät. In der Ecke ein altes schlechtes Tafelklavier. »Ich hab' meine Arbeit und bin zufrieden,« erwiderte Darthe. »Unnütze Arbeit mag wohl niemand gern.«
Sie löste das Bündel und nahm den Rock heraus. Die Zehsewirtstochter stand steif und gespreizt da und ließ sich von Darthe den Rock überwerfen und zuhaken. Sie rührte keinen Finger. Nicht umsonst war sie ein Jahr in Mitau in der Stadttöchterschule gewesen und hatte Klavierspielen gelernt.
Darthe kniete am Boden und zupfte die Rockfalten zurecht. »Seid Ihr zufrieden, Zehsetochter?« fragte sie.
Linda Zehse fuhr mit den roten Fingern tastend am Rock hin und her. »Er ist zu kurz!« sagte sie endlich.
»Er ist genau eine Handbreit vom Boden entfernt,« erwiderte Darthe. »So hattet Ihr's bestellt.«
»Es ist gut!« meinte die Wirtstochter verdrießlich. »Hakt ihn wieder auf. Ich bin Euch achtzig Kopeken schuldig.«
»Neunzig Kopeken!« sagte Darthe scharf.
»Ach ja, ich vergaß!«
Sie zog eine grünseidene gehäkelte Börse aus der Tasche und zählte Darthe umständlich das Geld in die Hand.
Der neue Rock lag am Boden.
»Legt den Rock doch ordentlich zusammen,« befahl Linda Zehse, »und kommt in spätestens drei Tagen wieder. Könnt' sein, daß ich noch vieles brauchen tät.«
Ein triumphierend-lauernder Blick fuhr aus den hellblauen Augen in die schwarzbraunen Darthes.
Gemächlich faltete Darthe das Tuch zusammen, in dem sie den Kleidrock getragen, und faßte die Türklinke.
»Lebt wohl, Zehsetochter,« grüßte sie kurz.
Mit hochmütigem Nicken beantwortete die Wirtstochter den Gruß.
Die Bank vor der Haustür war leer. Grendsche-Jehkab hatte sich eilig davongeschlichen.
»So ein Lump!« knirschte Darthe zwischen den Zähnen, »so ein elender Lump!« Dann warf sie den Kopf zurück und schritt hastig die Landstraße entlang. Sie ging nicht den Weg, den sie gekommen war. Wieder trat ihr die lichte Gestalt der Baroneß vor die Seele. War die etwa hochmütig? Gott schütze dich! waren ihre Abschiedsworte gewesen – und ich schenke dir mein Herz, willst du es nehmen, Darthing? Umarmt hatte sie sie wie eine Schwester, gedankt hatte sie ihr und geweint wie ein Kind. Und ihr wollten die lettischen Genossen das Haus über dem Kopf anzünden? War das nicht bitteres Unrecht? Ihr, die niemandem Böses getan hatte, die allen Leuten wohltat und half, wo sie konnte! Warum? Weil sie eine Baroneß war. Besser eine Baroneß als eine Wirtstochter wie Linda Zehse. Ja, es war bitteres Unrecht, die Volksgenossen taten Böses, und aus Bösem konnte nichts Gutes kommen.
Der sonnige Herbsttag fiel ihr wieder ein, da drüben auf der Wiese des Dumpje-Wirts die Ausgrabungen vorgenommen wurden. ›In diesen Gräbern‹, hatte das gnädige Fräulein gesagt, ›sollen einige des Volkes ruhen, die vor euch Herren im Lande waren. Alle werden wir einst in Gräbern ruhen.‹ Ja, so war's. Die alten Völker, die hier geherrscht hatten, waren hinweggestorben wie Gras – andere Völker waren gekommen, und auch sie würden vergehen. Die Zeit mähte sie alle hinweg wie mit einer Sense. Und alle, alle würden sie endlich in Gräbern ruhen. Lohnte es sich da, einander zu befehden und zu hassen?
Unwillkürlich hatte sie ihre Schritte nach der Wiese hinübergelenkt. Da stand sie vor der halbverschütteten Grube des Gotengrabes und blickte hinein. Alle Zorn- und Rachegedanken waren verflogen. Eine müde Traurigkeit war über sie gekommen.
Langsam schlich sie hinunter zum Fluß. Er glitt rauschend und ruhelos an ihr vorüber, und mechanisch, wie von einer geheimnisvollen Macht gezogen, wanderte sie ihm nach, stromabwärts.
Dichtes Weidengestrüpp hemmte ihren Weg. Das Ufer wurde steil und abschüssig. Verloren blickte sie um sich, sie fühlte sich müde und zerschlagen.
Da lag ein großer Feldstein. Sie hatte als Kind manchmal hier gespielt und hatte Kuchen aus Lehm darauf geformt. Jetzt setzte sie sich auf ihn, stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte in die schwärzliche Flut. Grau in grau lag das jenseitige Ufer mit seinen dunstigen Waldfernen. Es dämmerte. Mit einem Male fuhr sie auf. Ein gräßlicher Schrei, laut und gellend, bohrte sich durch die Stille. Sie hörte etwas aufklatschen, als habe einer einen Block ins Wasser gewälzt. Ein ächzend gurgelnder Laut – hastig eilende Schritte – dann nichts mehr.
Zitternd stand sie still. Hier war etwas Furchtbares geschehen. Sie bog vorsichtig das Weidengestrüpp auseinander – nichts. Hastig klomm sie die steile Böschung hinauf und spähte in den Fluß – – da sah sie etwas Dunkles dahintreiben – regungslos – tot. Es war ein Mensch!
Ein Schauer überlief sie. Sie hastete den Flußrand entlang wie gehetzt, und wieder blieb sie stehen wie angewurzelt. Sie sah Fußspuren, aufgewühlte Erde – und da – Blut … ja Blut!
Kalt rieselte es ihr über den Rücken. Sie blickte mit großen leeren Augen um sich und sah einen Mann in hastigem Lauf quer über die Wiese stolpern. Sie sah ihn von rückwärts und erkannte – – Grendsche-Jehkab! – –
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich eine unheimliche seltsame Kunde durch das Land: der junge Majoratsherr Baron Wolf von Wolfshausen war ermordet worden. Niemand war der Tat auf der Spur, niemand hatte seine Leiche gefunden, und dennoch glaubte niemand an ein Verunglücken, an eine plötzliche Abreise oder sonst einen Grund, der sein Verschwinden erklärt hätte. Wie grinsende Fratzen aus dunklen Ecken tauchten mit der gleichen dringlichen Hartnäckigkeit die gleichen Gerüchte immer wieder auf: Baron Wolf war ermordet worden. Nur über dem »Wie« schwebte ein phantastisches Dunkel. Und überall herrschte eine lauernde Spannung, die sich in manchen Gehöften zu offenkundiger Schadenfreude steigerte. Die Tat wurde jubelnd gepriesen. Sie war das Befreiungssignal für die aufrührerischen Elemente. Sie war der zündende Blitz in der drohenden Gewitterschwüle – sie war die erste tödliche Kugel in das feindliche Lager. Die Spannung wuchs. Selbst friedliche Leute, die sich von dem allgemeinen Aufruhr abseits hielten, hatten sich in gierige Maulwürfe verwandelt. Überall suchte man in fieberhaftem Eifer nach den Spuren des Verschollenen.
Mittlerweile aber ruhte die Leiche Baron Wolfs, von einem vorspringenden abgebrochenen Ast gehalten, zwei Fuß unter dem Wasser in seinem strömenden Grabe.
Die eine aber, die den Leuten hätte sagen können, was mit Baron Wolf geschehen war, die eine schwieg, und der andere, der die schmachvolle Tat vollbracht hatte, der schwatzte laut und zudringlich und pries sich vor den Leuten glücklich, daß er schon ein paar Tage früher den Dienst des Barons verlassen habe und somit alle Verantwortung von sich abschütteln könne. Er war ja auch an dem Abend bei dem Zehsewirt gewesen, die Zehsewirtstochter konnte das bezeugen.
Geradezu der Verzweiflung nahe war der Pastor. In seiner Gemeinde, in seiner von ihm gehüteten Herde konnte eine ruchlose Mörderhand sich an dem Leben des jungen Majoratsherrn vergreifen, an dem jungen Leben seines Taufkindes und Konfirmanden, seines Schülers, den er wie einen Sohn liebte und den er bald zu trauen gehofft hatte. Wie schlecht mußte er da seine Herde gehütet haben! Nein, er war nicht mehr wert, das geistliche Amt zu verwalten, und in tiefer Zerknirschung reichte er beim kurländischen Konsistorium seine Bitte um Entlassung ein. Dazu kam aber noch ein anderes, Persönliches: er selbst war die schuldlose Veranlassung der Mordtat gewesen. Er hatte den jungen Baron gebeten, die am Fluß gelegenen Pastoratsfelder zu besichtigen und zu entscheiden, ob ein Stück Weideland zum Kornbau umgeackert werden solle oder nicht. Er hatte Baron Wolf begleiten wollen auf seinem Gange, aber ein plötzliches Unwohlsein hatte ihn daran verhindert. Die Blutspuren, die Darthe noch gesehen hatte, waren vertilgt und verschwunden. So blieb die Tat in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt, aber an dem Morde selbst zweifelte niemand.
Von der Seelennot des alten Herrn drang die trübe Kunde direkt zu Darthe Semmit. Mäuschen, die Darthe ebenfalls mit Näharbeit versorgte, hatte sich schluchzend darüber ausgesprochen. Dennoch konnte Darthe schweigen.
Ja, Darthe konnte schweigen, und sie schwieg. Das Furchtbare, das sie allein gesehen hatte, lag wie ein drückender Alp auf ihr und hatte ihr Inneres von Grund auf zerwühlt und zerrissen. Fräulein Marga – das war ihr Hauptgedanke bei Tag und bei Nacht. Fräulein Marga war ein Leid geschehen. Und Grendsche-Jehkab, ihr früherer Verlobter, war der Mörder. Sie wurde stumpf und dumpf; mühselig rannen ihre Tage dahin.
Der folgende Sonntag brachte eine völlig gefüllte Kirche. Die Leute kamen aus Neugier – was würde der alte Pastor diesmal zu sagen haben?
Darthe saß auf einer der hintersten Bänke. Weit vorn sah sie Grendsche-Jehkab und auf der Frauenseite die Zehsewirtstochter sitzen, neben ihr Mäuschen und die Frau Pastor, und dort – rechts von der Pastorin – Darthe setzte der Herzschlag aus – sah sie das rotblonde schimmernde Haupt der Baroneß Marga!
Sie trug tiefe Trauer. Ein Streifen ihres abgekehrten Gesichts war von schneeiger Blässe.
Über der Gemeinde lagerte eine dumpfe erwartungsvolle Stille.
Gebückt und langsam trat der Pastor zum Altar. Er sah krank und verfallen aus und sprach die Liturgie mit hohler, zitternder Stimme.
Ein Flüstern ging durch die Reihen.
Dann wurde das zweite Kirchenlied gesungen. Es war ein Bußlied.
Endlich betrat der alte Mann die Kanzel.
Das sonst so milde, freundliche Gesicht war streng und düster. So hatte Darthe ihren Pastor nie gesehen. Die alten blauen Augen durchliefen forschend und zögernd die gedrängten Reihen.
Er beugte sein Haupt zum Gebet, und als er es wieder erhob, da sah sie es wieder: das war nicht mehr der milde, väterliche Freund – er war ein anderer geworden, ein Ankläger und Richter.
»Gemeinde des Herrn!« sagte er, nicht wie sonst »liebe Gemeinde«.
»In unserer Mitte ist eine furchtbare, schreckensvolle Tat geschehen. Eine feige Mörderhand hat unsern jungen Majoratsherrn, Baron Wolf von Wolfshausen, hinterrücks und heimtückisch erstochen. Dann hat der elende Mörder ihn, den wehrlosen, den gütigen Herrn in den Fluß gestoßen. Gestern nachmittag ist es der Polizei endlich gelungen, die Leiche zu finden.«
Er machte eine längere Pause. Die Köpfe beugten sich vor, ein dumpfes Gemurmel ging von Mund zu Mund.
»Gemeinde des Herrn!« begann der alte Mann wieder und reckte seine gebeugte Gestalt hoch empor. »Ich klage wider dich beim Throne Gottes! Ich muß wider dich klagen. Dem Mörder stehe ich noch nicht gegenüber und kann ihn seiner furchtbaren Schuld nicht überweisen, doch die Zeit wird kommen, denn das gerechte Auge Gottes schläft nicht. Dich aber, meine langjährige Gemeinde, klage ich an, denn der Geist der Empörung, des Aufruhrs, der Unzucht und des Mordes geht wie ein zehrendes lüsternes Fieber in dir um. Aus deiner Mitte hat sich die Mörderhand erhoben, dein böser, unbotmäßiger Geist war es, der die Klinge führte. Darum klag' ich dich an! Wie kann ein Geist der Ordnung, der Gesittung und Treue eine solche Tat vollbringen? Ihr steht unter einem bösen Geist – deshalb klage ich wider euch. Und ich klage mich an, Gemeinde des Herrn! Ich bin mit schuld an der Tat. Ich habe es nicht verstanden, euer Vertrauen zu gewinnen, eure Seelen vor der Ruchlosigkeit zu bewahren. Ich bin ein unnützer Knecht gewesen all die vielen Jahre hindurch, und darum will ich mein Amt verlassen!«
Ein leises Schluchzen ging durch die Reihen der Frauen. »Nein! Nein!« schallten vereinzelte Rufe.
»Der Haß zwischen Letten und Deutschen ist künstlich gesät,« fuhr der alte Pastor fort, »aber ihr habt ihm eure Herzen geöffnet! Der Pastor, der Baron – ist ein Deutscher – und damit habt ihr geglaubt alles abzutun. Den Menschen dabei habt ihr vergessen. Ihr wolltet nicht hören, ihr wolltet eure Seelen nicht auftun dem Worte Gottes, das ›der Deutsche‹ predigte, und ihr seid schnell gesunken, nur allzu schnell von Stufe zu Stufe. Gerechtigkeit und Glaube hat euch verlassen. Wie ein Schiff ohne Steuer treibt ihr dem Verderben entgegen. Freiheit ist eure Losung, Befreiung von der ›Knechtschaft der Deutschen‹, aber unfreier denn jemals seid ihr geworden, Knechte eurer Begierden, eurer Habsucht, eurer Rachsucht! Ihr seid wie Kain, der die Bruderhand gegen Abel erhob. Und darum klag' ich euch an!«
Mit flammenden Augen stand der Pastor da – er hielt seine Hand weit ausgestreckt, und Darthe sah es mit Entsetzen – seine Finger wiesen in die Richtung, wo Grendsche-Jehkab war.
Die Gemeinde saß stumm und verwirrt. Auch die lautesten Schreier hielten die Köpfe gesenkt. Sie wagten kaum zu atmen.
»Kehrt um, solange es noch Zeit ist!« sprach der Pastor dumpf nach einer schweren Pause.
Und nun verlas er den Text. Er hatte den Brudermord Kains gewählt.
Die Predigt war schlicht und ergreifend, aber wie ein Nachklang zu der erschütternden Einleitungsrede hallte sie an Darthens Sinnen vorüber.
Endlich verlas der Pastor die Geborenen, Verstorbenen und Brautpaare. Nachdem er die Namen der Täuflinge genannt hatte, fuhr er fort:
»Baron Wolf von Wolfshausen – gefallen durch Mord. Gott allein sieht ins Verborgene und wird richten und strafen zu seiner Zeit. Gott sei der Seele des Sünders gnädig!«
Dann folgte ein Gebet.
Ein leises Schluchzen zitterte durch den Raum, ein Scharren und Murmeln. Baroneß Marga war ohnmächtig zusammengebrochen. Sie wurde in die Sakristei getragen. Mäuschen und die Pastorin folgten weinend.
Eintönig las der alte Mann weiter: »Aufgeboten zum ersten Male: Der Grendsche-Häuslerssohn Jehkab Abol und die Wirtstochter Linda Zehse.«
Darthe fuhr auf, als habe sie einen Peitschenhieb erhalten. Atemlos beugte sie den Kopf vor, ihre Augen traten aus den Höhlen, sie sprang auf und sank im nächsten Moment kraftlos auf die Bank zurück.
Dann aber raffte sie sich wieder zusammen und stürzte mit wankenden Knien hinaus.
Noch einige Minuten und die Kirche begann sich langsam zu leeren. Düster, mit gerunzelten Brauen und gesenktem Nacken strömten die Männer hinaus; die Frauen hatten verweinte Augen und rote Flecken auf den Wangen.
Frei und ehrlich blickten die hellen Augen Vater Semmits um sich. In seinem Hause ging der böse Geist nicht um. Er hatte ein gutes Gewissen. Fassungslos schluchzte Mutter Greetsche. Der Dumpje-Wirt war nicht gekommen. Unsicher schritt Vater Zehse neben seiner Tochter her. An ihrer Seite hielt sich Grendsche-Jehkab.
Er war bleich. Seine Haare klebten an seiner Stirn. Unruhig suchend gingen seine Augen hin und her. Er redete auf Linda Zehse ein und lachte – lachte verwirrt und gezwungen.
Da trat Darthe Semmit vor. Furchtlos blickte sie ihm in die Augen.
»Schuft!« sagte sie laut und ruhig.
Ihre Stimme war hart wie klingender Stahl.
»Du Schuft!« wiederholte sie zum zweiten Male langsam und deutlich.
Er stürzte sich mit geballten Fäusten auf sie.
»Rühre mich nicht an!« gellte sie, »oder …! Ich bin zu gut für deine feigen …«
Sie sprach das letzte Wort nicht aus, aber ihre Drohung war so wild, der Ton ihrer Worte so grauenvoll, daß er zurückprallte.
Er erzwang ein schallendes Gelächter.
»Darthe Semmit ist verrückt geworden!« schrie er. »Aus unglücklicher Liebe! Vorwärts – lassen wir sie laufen!«
Mit einer prahlerischen Gebärde schob er die leere Luft gleichsam von sich.
Aber Darthe hatte sich schon abgewendet. Mit düster gesenktem Kopf schritt sie unbehelligt nach Hause. –
Die folgenden Tage brachten klares Frostwetter. Eine dünne harte Eisdecke hatte sich über den angeschwollenen Fluß gelegt, als sei er ihr zu rebellisch geworden, und als müsse sie ihn in strenge Haft nehmen.
Die aufgeweichten Wege waren hart und starr. In den ausgefahrenen Wagenspuren knisterte bröckliges Eis. Polternd dröhnte jedes Gefährt über die Landstraße. Und über den hartgefrorenen Weg dröhnten diesmal wuchtige, taktfeste Schritte – eine Abteilung Dragoner. Der kommandierende Offizier nahm Quartier in dem verwaisten Schloß derer von Wolfshausen.
Furcht und Zittern ergriff die Gemeinde. War die Stunde der Vergeltung schon da, ehe die Herrenhäuser in Flammen standen? Der Tag war gekommen, den viele als die Stunde der Befreiung kaum erwarten konnten. Die Herrenhäuser und das Schloß von Wolfshausen aber standen fest und sicher da, und nur der junge Besitzer ruhte allzufrüh in seinem stillen Grabe.
Es wurden Haussuchungen vorgenommen. Der Dumpje-Wirt war in Haft gesetzt worden. Allüberall herrschte eine dumpfe gedrückte Stimmung. Nächtliche Streifzüge der Dragoner vermehrten die Unruhe. Ein Versuch, den Viehstall eines Nachbargutes in Brand zu stecken, war rechtzeitig vereitelt worden. Hier und da flammten einige Scheunen auf, doch war der Schaden nicht erheblich, und die Wachsamkeit der Dragoner wurde verschärft.
Die Erbitterung in der Gemeinde stieg. Überall finstere, sorgenvolle Mienen. Mit unverhohlenem Mißtrauen betrachtete jeder Nachbar den andern: war er der Verräter? Wer hatte die Dragoner so rechtzeitig gerufen? Sie waren am Tage vor dem angesetzten Datum des Brandes eingetroffen. Ja, es gab einen Verräter unter ihnen.
Und allmählich wurden murrende Stimmen laut, die sich gegen den rätselhaften Mord des Barons aussprachen, die den Fall beklagten. Der Mörder hatte ihnen allen durch seine unbedachte verfrühte Freveltat die Rechnung verdorben. Er trug die Schuld, daß man der ganzen Gemeinde diese Dragonerspürhunde auf den Hals gehetzt hatte. Er allein. Aber wer war der Mörder? Ja, wer war er?
Darthe wußte es, und seit einer Stunde wußte es noch ein anderer, der kommandierende Offizier, und bald, bald würde es die ganze Gemeinde wissen.
Sie hatte sich bei dem Offizier Einlaß verschafft und hatte ihm den Tatbestand knapp und klar berichtet. Dann war sie gegangen. Und nun stand sie an der Stelle, wo der Mord geschehen war, fest in ihr Umschlagetuch gehüllt, und starrte auf das glitzernde Eis des gefangenen Flusses nieder. Hier war ihres Bleibens nicht länger. Was weiter geschah, wollte sie nicht sehen, nicht wissen.
Sie hatte nur noch ein Ziel: Baroneß Marga. Aber noch gestern hatte ihr Mäuschen im Pastorat erzählt, daß die Baroneß mit ihrer harthörigen Tante fortgezogen sei, nach Mitau.
Und nun wollte sie nach Mitau.
Der Fluß führte direkt bis vor die Mauern des alten kurländischen Städtchens, aber das Eis war noch unsicher, und diesseits des Flusses mochte sie nicht wandern. Sie wollte bekannten Gesichtern nicht mehr begegnen. Ihr Leben bisher sollte ausgelöscht und vergessen sein.
Also mußte sie hinüber.
Drüben winkte ein neues Leben. Jenseits des Flusses war das neue, das unbekannte Land, das neue Leben, nach dem sie sich sehnte. Der Fluß, ihr alter Freund, führte sie auf geradem Wege dorthin, wo jemand sie lieb hatte und vielleicht nötig hatte.
Sie mußte über den Fluß.
Zögernd klomm sie die steile Böschung hinunter und setzte den Fuß aus das junge Eis.
Noch einmal sah sie sich um. Am gottblauen Himmel stand die Sonne siegreich und heiter und warf jubelnde Strahlen auf das funkelnde Eis, auf das erstarrte Gelände drüben und die blauen fernen Tannenwälder.
Und noch einmal stand ihre Kindheit in heller Ferne vor ihrer Seele. Sie mußte an die Märchen der toten Großmutter denken, an den Regenvogel, der nicht mit hatte helfen wollen, als die andern Tiere auf das Geheiß Gottes fleißig gruben, um Flüsse und Ströme zu scharren.
Und über ihr düsteres Gesicht flog das erste Lächeln seit vielen langen Tagen.
Vorsichtig gleitend schritt sie weiter – das Eis hielt – sie war über die Mitte des Flusses hinausgekommen.
Plötzlich aber gab es einen Krach. Eckige Strahlen zeichneten sich blitzartig auf der dünnen Eisschicht.
Sie tat noch zwei Schritte. Da barst das Eis auseinander. Sie stürzte in den Strom. Schwarz und lüstern kam das Wasser aus der Tiefe gekrochen. Gurgelnd schlug es über ihr zusammen.
Sie sank und sank, ohne ein Glied zu rühren. Das schwere Wollentuch, die Kleider sogen sich voll von dem eiskalten Wasser. In ihren Ohren brauste der Sturm. Aber über den Sturm hinaus tönte die freundliche Stimme der Großmutter. »Lauf nicht immer an den Fluß, Kind, sonst läuft er einmal nach dir und holt dich.« Sie aber lag im tiefen Sande und sonnte sich … Und der Herrgott kam des Wegs und fragte so recht freundlich: »Was tust du denn hier in der Sonne, liebes Buttchen?« … und der Herrgott hatte strahlendes goldrotes Haar und trug die Züge der Baroneß Marga, und um sein Haupt wehte ein lichter goldener Heiligenschein …
»Ich will dir mein Herz schenken, liebes Darthing – willst du es nehmen? …«
Dann hörte sie nichts mehr.
*