Isolde Kurz
Florentiner Novellen
Isolde Kurz

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Anno Pestis

Man schrieb das Jahr des Unheils 1527, das Jahr, wo die Ewige Stadt unter den Piken der Landsknechte blutete, der Papst in der Engelsburg gefangen saß und die Seuche durch alle Gaue Italiens zahllose Opfer mähte. Unter Blut und Greueln ging jene schöne und übermütige Zeit, jene zweite Jugend der Menschheit, welche man die Renaissance nennt, zu Grabe.

Nur den Florentinern war ein kurzer Hoffnungsschimmer aufgegangen, denn sie hatten die Neffen des Papstes, die beiden letzten Sprößlinge vom Stamm des alten Cosimo, ohne Blutvergießen vor die Tür gesetzt und mitten in dem allgemeinen Jammer ihre Unabhängigkeit wieder hergestellt; aber bei dem frommen Dankfest, das den ruhmlosen Sieg feiern sollte, erhob die eben eingeschläferte Feindin, die Pest, das Haupt aufs neue, und genährt durch das Zusammenströmen so großer Volksmassen, griff sie um sich mit der Gewalt einer Feuersbrunst, die in trockenem Holze wütet.

Der wohlhabendere Teil der Bevölkerung war auf das Land oder die naheliegenden Villen geflohen; wen Armut oder Staatsgeschäfte an die Stadt fesselten, der schloß sich in seinem Hause ein, ließ weder Freunde noch Verwandte vor sich und blieb in absichtlicher Unkenntnis ihres Schicksals, um keiner Todesnachricht und keinem traurigen Gedanken Einlaß zu gestatten; andere suchten in rauschenden Bacchanalen Vergessenheit. Die volkreichsten Straßen und Plätze waren verödet, die ausgestorbenen Paläste wurden Diebshöhlen, gefährliches Gesindel trieb sich zur Nachtzeit durch die Straßen und plünderte die unbewachten Häuser, und die Obrigkeit, welche den Räubereien nicht steuern konnte, bot lieber selbst die Hand und teilte die Beute.

Obgleich Kirchen und Klöster zu Spitälern eingeräumt wurden, konnten sie doch die Zahl der Kranken nicht fassen, und es wurde außerhalb der Mauern eine Lazarettstadt aus Holz- und Strohbaracken gebaut, die sich von der Porta alla Croce bis zu der Porta al Prato hinzog, die Hälfte der Stadt Florenz umschließend. So war man bis zu Anfang des Monats August gekommen, wo die Wut der Seuche aufs höchste stieg und man innerhalb der Mauern im Tag bis zu fünfhundert Opfern zählte. Die Menschen wagten nur noch abends und tief vermummt aus den Häusern zu gehen, Spezereikugeln oder von starken Essenzen getränkte Schwämme in der Hand, die sie an das Gesicht gedrückt hielten, »um sich das Hirn zu stärken«, wie man seit Boccaccios Zeiten im Volk sagte, in Wahrheit aber, um nicht die verpestete Luft in die Lungen zu ziehen. Wenn ein Freund dem Freunde, ein Bruder dem anderen begegnete, wichen sie beide schon von weitem aus oder drückten sich mit einem kurzen Kopfnicken, die Kleider fest um den Leib ziehend, eilig aneinander vorüber. Die meisten Läden waren geschlossen, nur die Obst- und Eßwarenhändler, die Fleischer und Bäcker setzten ihr Gewerbe fort, aber sie hatten ihre Gewölbe mit einem eisernen Gitter umzogen, und die Käufer mußten die Ware von der Straße aus in Empfang nehmen. Ja, so groß war die Furcht vor Ansteckung, daß man das Geld nicht mehr mit bloßen Händen zu berühren wagte, sondern die Kaufleute streckten den Kunden eine kleine hölzerne oder eiserne Schaufel hin, um die Münzen aufzufangen, und warfen sie dann in eine mit Wasser gefüllte Schüssel statt in die Kasse.

Wohl hatte man einen eigenen Magistrat zur Bekämpfung der Seuche, die uffiziali della sanità, die der Volkswitz uffiziali del morbo nannte, eingesetzt, und von Staats wegen war alles geschehen, was die ärztliche Wissenschaft jener Tage zur Minderung des Übels vorschrieb und was schon in früheren Epidemien als ebenso nutzlos erfunden worden war. Man hatte, um die Landleute fernzuhalten, die Tore geschlossen, erst die ergriffenen Häuser, dann die Straßen, am Ende ganze Stadtviertel abgesperrt; die Frommen hofften, durch Fasten, Bußübungen und öffentliche Gebete den Zorn des Himmels zu versöhnen, und hatten die Madonna von Impruneta, die uralte Schutzherrin gegen Seuchen, in die Mauern von Florenz geholt, während die Weltkinder in starken Spezereien, mit denen sie noch zu Lebzeiten ihren Leib balsamierten, und in einem reichlichen und sorglosen Leben ihr Heil suchten.

Aber die Pest spottete aller Schranken; mit einem Sprung warf sie sich von den ergriffenen Vierteln in das gesunde, wälzte sich, Leichenhaufen im Rücken lassend, nach dem Herzen der Altstadt, dem Mercato, wo die alten Paläste der Großen standen, wie nach den Villen, die als ein grüner Kranz die Stadt umschlossen, den Priester traf der Tod am Altar, in die Versammlung der Frommen schlug er ein wie ein Strahl, der zündet und um sich frißt, die Frauen der Reichen kauften ihn in köstlichen Brokaten, die aus durchseuchten Warenlagern kamen, und machtlos blickte die heilige Jungfrau von Impruneta aus ihrem Rahmen herunter in die Szenen von Not und Jammer, die sie nicht zu beschwören vermochte. Die Teuerung kam hinzu, und indem sie Elend und Unreinlichkeit mehrte, gab sie der Pest neue Nahrung.

Bald waren wenige Häuser, die nicht durch ein weißes Tuch vor der Türe dem Volk verkündet hätten, daß einer ihrer Bewohner der Seuche erlegen sei.

Da konnte man auf der Straße, vor den Häusern, oben auf den Dächern die Notare mit ihren Schreibern die Testamente aufsetzen, Priester im Ornat auf öffentlichen Plätzen die Beichte entgegennehmen sehen, so eilig bereiteten sich die Bürger jeden Standes und jeden Alters zum Sterben.

An einem schwülen Augustabend, als die durchhitzte Erde noch von einem kurzen und darum nicht erquickenden Regen dampfte und schon ein neues Gewitter an dem bleigrauen Himmel stand, kam ein junger Mann langsam aus dem Arco de' Pecori hervor über die Piazza San Giovanni geschlendert, der sich durch Gang und Haltung von allen Vorübergehenden unterschied. Er war von mittlerer Größe und feinen Gesichtszügen, die sorglose Haltung und der verweichlichte aber geschmeidige Körperbau zeigten den Weltmann, das blonde Haar trug er nicht nach altflorentinischer Sitte schlicht in die Stirn gekämmt, sondern kurz und frei um die Schläfen flatternd. In kostbarer spanischer Kleidung kam er so gelassen seines Weges, als ob die Bilder der Zerstörung und des Elends, die an allen Straßenecken kauerten, von seinen Augen gar nicht zurückgespiegelt würden. In der Hand trug er weder Spezereien noch Essenzen, sondern nur einen Jasminzweig von durchdringendem Duft, den er von Zeit zu Zeit mit einem abwesenden Lächeln an die Lippen drückte, daß es nicht schien, als suche er sich dadurch vor der Ansteckung zu schützen, sondern als zaubere der Geruch ihm angenehme Bilder herauf.

Die Begegnenden warfen ihm verwunderte Blicke zu, doch so ganz hatten Rang und Reichtum ihren Zauber nicht verloren, daß man an des reichen Marco Vettori einzigem Sohn vorübergegangen wäre, ohne ihm ein höfliches »Guten Abend, Ser Filippo!« zuzurufen.

Als er um die Ecke des Bigallo biegen wollte, kamen ihm die vermummten Brüder der Misericordia mit einem leeren Sarg entgegen. Er wich ihnen aus, aber statt der Sitte gemäß vor diesen Helden der Bruderliebe sein Haupt zu entblößen, wandte er sich mit Widerwillen weg, und sein Auge blieb an einem in grellen Farben lächerlich aufgeputzten Quacksalber hängen, der vor der offenen Tür von San Giovanni auf einem umgestürzten Karren saß und mit einer vom Schreien heiseren Stimme seine Wunderpillen gegen die Seuche anpries.

 

Wie er so mit abgewandtem Gesicht weiterging, stieß er auf einen anderen, der eben im dunkeln Reisemantel eilfertig um die Ecke bog, beide prallten Stirn an Stirn zusammen und fuhren erschrocken auseinander.

»Du hier, Alessandro?« rief der Blonde, nachdem er dem anderen in das bräunliche Gesicht geblickt hatte, das vom Reisehut halb verdeckt war. »Was führt dich nach Florenz? Aber gleichviel, du kommst zur rechten Stunde.«

»Ja«, entgegnete der im Reiserock, indem er dem Freunde herzlich die Hand schüttelte, »in Zeiten wie diesen gehört der Mann seiner Vaterstadt. Darum bin ich auch hier, der Signoria meine Dienste anzubieten. Eher könnte ich fragen, wie kommt ein Epikuräer wie du in diese ›Stadt der Schmerzen‹«? Ich glaubte dich längst nach dem Mugello geflüchtet, um auf einer deiner Villen einen neuen Decamerone aufzuführen.«

»Was willst du?« antwortete Filippo. »Ich habe fünfundzwanzig Jahre lang die Lebenskunst getrieben, jetzt will ich lernen, mit Kunst und mit Genuß zu sterben, wenn es sein soll. Ich habe die Pest herausgefordert und will sehen, wer eher vom Platze weicht, sie oder ich.«

»So leistet dir wohl eine schöne Frau Gesellschaft oder auch mehrere?«

»Die Zahl tut nichts zur Sache«, lachte Filippo. »Die Liebe ist das einzige Kapital, das durch Teilung nicht verliert. Aber sage mir, ist es wahr, daß du eine Schwester der Strozzi zu heiraten gedenkst?«

»Madonna Clarice ist bereits meine Frau«, antwortete Alessandro, »und ich denke, diese Heirat soll mir eine Leiter zu den höchsten Ämtern bauen.«

»Ich bitte dich, rede mir nicht von Staatshändeln«, unterbrach ihn der andere rasch. »Sie sind den Ehrgeiz eines so glänzenden Kopfes nicht wert, geschweige einen Tropfen Herzblut. Was willst du auch von diesem Volk erwarten? Unser Gonfaloniere ist ein Kopfhänger und hält es mit der Mönchspartei. Niccolò Macchiavelli ist tot, Francesco Guicciardini verbannt. Die anderen sind Schafe, die ein Löwenfell umhängen. Wir haben hier die lächerlichste Posse aufgeführt. Die Herren Medici machten einen Spaziergang vor die Stadt, der schöne Ippolito und sein mohrenköpfiger Vetter, da schlossen wir heroisch die Tore hinter ihnen zu; das war alles. Aber nachher die langatmigen Reden von Freiheit und Bürgergröße! Ich saß eben mit ein paar Freunden bei Tische, als der Lärm anging. Ich warf eine Münze in die Luft und rief: ›Die Republik oder die Medici!‹ Die Lilie blieb oben, da gingen wir auf die Straße und riefen: Nieder mit den Pallesken! Aber als es nachher auf der Piazza blutige Köpfe gab, ward mir der Spaß zuviel, und ich ging nach Hause. Das ist die Art, wie man in Florenz Politik treiben muß. Ob uns der Papst oder der Kaiser in die Tasche steckt, gleichviel, er wird eine leere Stadt finden, denn dank unseren Frommen ist heute der Totengräber Herr von Florenz.«

»Es ist nur zu wahr, Filippo«, sagte Alessandro, »ich erkenne meine Heimat nicht mehr, in den Straßen ist alles tot und still, kein Volk, das gafft und lärmt, keine Jugend, die ihre Schönheit und Kleiderpracht zur Schau trägt, kein Händler, der seine Ware ausruft. Selbst auf dem Mercato kein Laut als das Klingeln der Pestglocken; bei der Porta al Prato sah ich ein einziges Fuhrwerk mir entgegenkommen, zwei schwarze Pferde waren vorgespannt, ich glaubte, es sei die Sänfte einer Matrone – es war ein grauenhafter Fasching, der den Triumphzug der Pest bedeuten sollte, aufgeputzte Totengräber tanzten neben dem Karren, klimperten mit Gold und schrien: Es lebe die Seuche! Durch die Barackenstadt bin ich gegangen und wollte die Hütten zählen, die da eine an der anderen aus dem Boden gewachsen sind; ich war schon auf sechshundert gekommen, als ich des Zählens müde wurde. Aber das Schrecklichste sah ich im Borgo San Lorenzo, wo ich meinen alten Lehrer, den hochgelehrten, trefflichen Messer Federigo, besuchen wollte. Als ich an sein Haus kam, der Kirchenfassade gegenüber, da sah ich den Alten auf der steinernen Schwelle sitzen im roten Lucco – denn er trug noch immer die alte Florentiner Tracht –, den Kopf an die Türe zurückgelehnt. Ich rufe ihm von weitem zu und winke, er hört mich nicht. Ich komme näher, sein Gesicht ist schwarz, der zahnlose Kiefer hängt herunter. O Filippo, der Alte war tot und saß auf seiner Schwelle, seit einem Tag umsonst Begräbnis heischend. Seine Söhne hatten ihn krank verlassen, seine Nachbarn hatten ihn, als er tot war, herausgeschleppt und gegen die Tür gelehnt, so erzählten mir die Kinder, die gaffend herumstanden.«

Der andere schüttelte sich und sagte verdrießlich: »Ich habe meinen Dienern bei Strafe der Entlassung anbefohlen, mir nie von Krankheits- oder Todesfällen zu erzählen. Auf der Straße wende ich den Kopf ab, sobald ich den Leichenwagen klingeln höre, und wenn mein eigener Vater darin läge. Welcher Dämon treibt dich, alle diese Schrecken aufzusuchen?«

»Auch der Gatte meiner Schwester ist tot«, fuhr Alessandro fort, »meine Schwester selbst verschwunden, vielleicht im Lazarett, wer weiß es? Die Ricci, die den Erbschaftsstreit mit mir führten, tot bis auf das letzte Glied, und haben mir nicht nur das Meine, sondern auch das Ihre hinterlassen. So mag die Pest noch manchen alten Zwist mit einem Mal geschlichtet haben. Mein Diener Pagolo tot, die schöne Niccolosa tot! Ach Filippo, in eine Totenstadt bin ich gekommen, ich gehe umher, betaste mich und frage mich, ob ich denn selbst noch lebe!«

»Auch der schöne Cecco hat daran glauben müssen, der Riese, der aussah, als sollte er hundert Jahre alt werden«, sagte Filippo. »Bei der Porta Pinti war es, da gingen wir spazieren, als uns der Pestkarren entgegen kam; ein wunderschönes totes Mädchen lag darin. Cecco im Übermut hält den Karren auf und steckt den Kopf hinein, um die Leiche auf Mund zu küssen. Nach ein paar Stunden erkrankte er und zwei Tage später lag er im selben Karren. Aber was stehen wir da und jammern wie die alten Weiber: Der ist tot und jener liegt im Sterben! Lassen wir die Toten ihre Toten begraben und behalten wir unseren letzten Blutstropfen der Freude vor! Wohl dem, der sich keine einzige versäumte schöne Stunde vorzuwerfen hat! Wüßtest du, wie süß die Küsse sind, die der Tod würzt! Wie die strengsten Lippen dürsten nach einem Tropfen aus dem Becher, der zur Neige geht! Jetzt lebt man rasch, in einen Tag drängt sich der Inhalt von Jahren zusammen. Nackt und aufrichtig, wie sie Gott erschaffen hat, steht jede Seele vor dir. Jetzt kein langer Dienst mehr mit Seufzen und Schmachten, kein Paradieren vor den Fenstern der Schönen, ein Wort öffnet dir alle Türen: Madonna, es ist vielleicht die letzte Nacht, die wir leben. O die letzte, letzte Freude zu versäumen! Diese Zauberformel treibt die Nonne vom Altar weg in deine Arme und die Witwe von der Leiche ihres Gatten. Morgen nicht mehr sein! Die schönen Arme, die dich heute umfangen, ein Raub scheußlicher Verwesung! Es ist ein Tropfen im Kelch des Genusses, der die Sinne umnebelt, der dich taumeln macht, ohne den künftig jeder Trank schal und nüchteren sein wird. Ich glaubte, ein Meister in der Kunst des Lebens zu sein, und sehe, daß ich nichts genossen habe bis auf diese Tage. Komm, Alessandro, wir wollen eine Gesellschaft gründen, von der man noch in hundert Jahren in Florenz reden soll. Meine späten Enkel sollen sagen: Als die Freude aus der Welt vertrieben war, fand sie eine Zuflucht in Filippo Vettoris Haus. Auf meine Schwelle will ich die Statue der Pest stellen, die den blinden Cupido an der Hand führt, vom ersten Florentiner Künstler gefertigt. Dann wollen wir umhergehen, eine andere und klügere Misericordia, und unsere Festgenossen suchen. Was jung und schön und geistreich ist, wem noch ein Funke von Lebenslust in den Adern glüht, sei bei uns willkommen. Mit den feinsten Weinen will ich meine Tafel würzen, die auserlesenste Musik soll unseren Ohren schmeicheln, und Gespräche wollen wir führen, um die uns Sokrates und Alkibiades beneiden sollen. Wen das Schicksal ereilt, dem sei nicht weiter nachgefragt, keiner habe Anspruch auf Totenklage! Stirbt das schönste Weib aus unserem Kreise, morgen umarmen wir ein schöneres! Euthanasia soll unsere Gesellschaft heißen, und unser Gruß soll sein: Stirb wohl! Bist du der Unsere, Alessandro, oder hält dich Madonna Clarice zu fest im Bann?«

Der andere machte eine Handbewegung, als schüttle er einen Strohhalm vom Ärmel.

»Ich bin dabei, was die Abende betrifft, aber den Tag muß ich mir freibehalten. Morgen früh stelle ich mich den Prioren der Zünfte vor, du weißt, mein Leben gehört dem Staat –«

»Gut, ich lasse dir den ganzen Tag, um das Vaterland zu retten«, rief Filippo lustig, »aber am Abend bist du mein. Ein paar Freunde und Freundinnen findest du immer bei mir. So mag denn unter unserem Festjubel und dem Geplärr der Dominikaner das alte Florenz seinem letzten Stündlein entgegengehen! Kommst du gleich mit mir?«

»Nein, ich danke dir, ich habe heute noch viel zu tun, ich muß erst mein Haus in Ordnung bringen, denn den Verwalter haben sie ins Lazarett geschafft. Aber morgen bin ich bei dir, morgen abend.«

»Morgen ist spät, komm lieber heute mit mir. Mein Herz sagt mir, daß du heute kommen sollst. Du kennst den weisen Spruch des großen Lorenzo:

Chi vuol esser lieto, sia!
Di doman non c'è certezza!Wer frohgemut sein will, sei es:
was morgen sein wird wissen wir nicht.

Jetzt gelten keine Wechsel mehr auf so langen Termin.«

Er wollte sich des Freundes bemächtigen, aber dieser wehrte ab und vertröstete nur immer auf morgen. Da mußte Filippo nachgeben, er schickte sich zum Gehen an und rief noch dem Freund zurück: »Komme sicher, gute Nacht! Auf frohes Sterben!«

»Ich komme sicher, gute Nacht!« war die Antwort. Aber in den Sternen stand es anders geschrieben.

Alessandro di Francesco della Stufa stammte aus einem alten, angesehenen Florentiner Geschlecht. Er war jung, schön und reich und stand an Bildung keinem seiner Zeitgenossen nach. Die ersten Humanisten Italiens waren seine Lehrer gewesen, und in der Schule Francesco Guicciardinis hatte er die Staatsweisheit gelernt. Er hatte die letzten Jahre auf auswärtigen Gesandtschaften zugebracht und die Vaterstadt nur auf kurzen Besuchen wiedergesehen. Er kannte die Höfe von Rom und Paris, war in Venedig von der Serenissima ehrenvoll empfangen worden und hatte überall in der Gesellschaft der ersten Staatsmänner und Gelehrten, der ausgezeichnetsten Künstler gelebt, war von den schönsten und gefeiertsten Frauen seiner Zeit verzogen worden. Vor kurzem hatte er in Lucca eine Landsmännin, die stolze Ciarice degli Strozzi heimgeführt. In Florenz hatte er einst Herz und Hand einer andern gelobt – aber das war lange her.

Als Filippo ihn verlassen hatte, trat er nachdenklich unter die Tür von San Giovanni, wo er vor sechsundzwanzig Jahren die Weihe der Taufe empfangen hatte. Beim Eintritt tauchte er den Finger in den Weihkessel, denn obwohl ein Anhänger der platonischen Lehre, war er doch in allen seinen Gewohnheiten ein Sohn der Kirche geblieben. Ein blinder Bettler in Lumpen kniete am Eingang, ein paar Kerzen brannten trübe auf dem Hauptaltar, der Rest der Kirche lag in Dämmerung. Die Schar der Gläubigen, die sonst abends den Tempel füllten wie ein gemeinsames Haus, war verschwunden. Alessandro machte ein paar Schritte durch den hallenden Raum. Dann wandte er sich zum Hauptaltar zurück und erblickte auf den Stufen des Chors eine in brünstiges Gebet versunkene Gestalt, die er zuerst nicht beachtet hatte, denn sie kniete nahe der Tür, durch die er eingetreten war. Von dem Gesicht, das sie dem Hochaltar zukehrte, konnte er nur ein edles blasses Oval erkennen, langes, schwarzes Trauergewand verhüllte den ganzen Wuchs, und doch sagte ihm ein unbeschreibliches Etwas, daß diese einsame Beterin jung und schön sein müsse.

Sobald der junge Mann dieser Erscheinung ansichtig ward, schwand der Ernst aus seinen Zügen, er nahm eine leichtere Haltung an, schlug den Mantel zurück, daß das spanische Wams darunter zum Vorschein kam, und seine Schritte hallten stärker durch die leere Runde, während sein Degen leise auf dem Mosaikboden der Kirche klirrte. Da fuhr die Beterin zusammen und wandte ihm ein schönes, aber marmorbleiches Gesicht zu, dem der ungewisse Lichtschein vom Altar her einen fremden Reiz gab.

Der junge Mann trat neben sie und sagte bescheiden: »Madonna, ich sehe, Ihr seid allein, bald werden sie die Kirche schließen, die Straßen wimmeln von verdächtigem Gesindel – wollt Ihr Euch meinem Schutz und meiner Begleitung vertrauen, um nach Hause zu gehen?«

Die Schöne zitterte bei seinen Worten so stark, daß sie sich mit dem Arm auf die steinernen Stufen stützen mußte, neben denen sie auf den Knien lag. Sie antwortete stoßweise mit unsicherer Stimme und gesenktem Haupt: »Messere, ich habe kein Haus mehr – das Haus Gottes ist jetzt das meinige.«

Der junge Mann beugte sich mit Teilnahme zu ihr nieder und sagte: »Habe ich Euch erschreckt, Madonna? Ein schwerer Kummer scheint auf Euch zu lasten.«

Sie richtete den Kopf auf und sagte mit lieblichem Ton: »Ja, ich bin erschrocken, als ich die Stimme hörte, die ich nie wieder zu vernehmen glaubte. Kennt Ihr die arme Bianca nicht mehr, die Ihr einst glauben ließet, daß sie Eurem Herzen die Nächste sei?«

»Bianca«, stotterte der junge Mann, »Ihr seid es und so allein zu dieser Stunde!«

»Ich habe zum Herrn gebetet, daß er dieses jammervolle Volk erlöse – und mich zugleich.«

»Oh, er hat Euch gewiß erhört, Ihr werdet leben«, rief Alessandro, der nicht mehr wußte, was er sagte, und war ihr behilflich, sich aufzurichten.

Die schwarzen Augen glühten fieberhaft in ihrem blassen Gesicht, sie hielt seinen Arm fest umklammert, und ihr Atem streifte seine Wange. Sein Auge ruhte wie gebannt auf ihr und suchte die wohlbekannten Züge in dem bleichen, aber herrlichen Geschöpf, das in der vollen Entfaltung seiner Reize vor ihm stand und ihm jetzt noch tausendmal begehrenswerter erschien, als in der ersten kindlichen Blüte. »Mein Haus ist ausgestorben, mein Mann ist tot, die Dienerschaft geflohen«, flüsterte sie. »Das Grauen trieb mich fort, aus jeder Ecke starrten mich Gespenster an.«

Sie sank mit den Knien nach vorwärts, als breche sie zusammen, und er mußte sie in den Armen auffangen, so groß schien ihre Bewegung.

»Meine Bianca«, sagte er, von Mitleid und Zärtlichkeit übermannt, »du bist nicht allein, ich habe dich wiedergefunden und verlasse dich nicht.« Sie schauerte in seinen Armen zusammen. Ein Blitz von Freude und Triumph schoß wie ein spitzer Dolch aus ihren Augen, aber er sah es nicht, und sie senkte gleich die Blicke wieder und fragte schüchtern: »Wohin wollt Ihr mich führen?« Er schwieg einen Augenblick, und sein Gewissen sagte ihm, daß er an der einst so Heißgeliebten einen neuen Verrat zu begehen im Begriff sei. Aber die Nähe des schönen Geschöpfes, dessen Herz er an dem seinigen klopfen fühlte, das verführerische Dunkel und die Einsamkeit rissen sein ganzes Sein in einen Wirbel hin, in dem jede bessere Regung unterging. Filippos Reden brausten ihm verworren in den Ohren nach. Das Verderben schwebte so nahe über ihren Häuptern, und das Leben war doch so verlockend schön. – Er dachte an die langen Nächte, die er vor ihrem Fenster verseufzt hatte, als die Brüder sie eingeschlossen hielten und sie nur einen flüchtigen Gruß über die Straße tauschen konnten, an ihre Schönheit, die er nur so kurze Zeit besessen hatte, ehe die Signoria ihn mit einer Mission nach Frankreich betraute.

»Zu mir, in mein Haus«, sagte er mit einer Stimme, von der sich jeder Laut wie ein schmeichelndes Hündchen zu ihren Füßen zu schmiegen schien. – »Das deinige ist verwüstet und ausgestorben, auch das meinige ist leer, weil kein häusliches Feuer darin brennt. Ich bin ganz allein – Bianca, komme du mit mir – Bianca, ich habe dich nie vergessen, es war eine höhere Macht, die uns voneinander riß. Diese langen Jahre – wie oft habe ich an dich gedacht! In jeden Gedanken an die Vaterstadt hat sich dein Bild verwoben. – Und jetzt, Bianca, sind wir vielleicht Sterbende – sollen wir nicht die kurze Stunde noch glücklich sein?«

»Ja«, sagte sie entschlossen und drückte mit Kraft seinen Arm, »ich folge Euch.«

Ein böses Lächeln ging plötzlich über sein Gesicht, aber um es zu verbergen, beugte er sich zu ihr herab und küßte sie rasch.

Sie riß sich los, trat einen Schritt zurück und wies mit abgewandtem Gesicht nach dem Altar. Bei dieser Bewegung kam ein weißes Tuch zum Vorschein, das sie wie eine Schärpe am Gürtel befestigt trug.

Er erblaßte, wich zurück und fragte betreten: »Was bedeutet dieses Tuch?«

Sie lachte laut auf, daß es unheimlich durch das Gewölbe hallte. »Erschreckt Euch dieser Lappen?« sagte sie. Sie schwieg ein wenig, dann fuhr sie gleichgültig fort: »Ich habe ihn umgeknüpft, um unbehelligt hierherzukommen. Ihr sagtet ja selbst, die Stadt wimmle von verdächtigem Gesindel. Seht, unter diesem Zeichen geht man so sicher wie unter Engelsfittichen.«

Ihm war das warme Blut plötzlich erkaltet. Ein Unbehagen schauderte ihm durch alle Glieder, ihr Wesen schien ihm fremd und seltsam aufgeregt. Aber er schämte sich, dieser Anwandlung nachzugeben. Mit einer Art von Zorn riß er ihr das weiße Tuch ab, das wie die Klapper der Aussätzigen im Orient seinen Träger in den Augen der Mitgeschöpfe zum Schreckbild machte.

»Jetzt werde ich dich beschützen«, sagte er.

Von der heftigen Bewegung war ihm der Gürtel zugleich in der Hand geblieben. Ihr weites schwarzes Oberkleid fiel auseinander und zeigte ein duftiges linnenes Untergewand, das sich mit schönen Goldstickereien um die Brust schmiegte und bis auf die Knöchel niederfiel. Er umfaßte sie wieder, sie folgte dem Zug seiner Arme und legte das Gesicht an seine Schulter, daß die langen losgegangenen Haare über seinen Arm fielen, indem sie ihn mit beiden Händen festhielt, als fürchtete sie, er könnte ihr wieder entrinnen.

»Komm, komm fort von hier!« flüsterte sie ihm in die Ohren.

Er hob sie auf und trug sie wie ein Kind zum Tempel hinaus. Diesmal vergaß er, auf der Schwelle das Weihwasser zu nehmen, und wäre fast über den blinden Bettler gestolpert, der unter der Türe eingeschlafen war

Als sie im Freien standen, war sie es, die ihn so eilig fortzog, als ob ihr in jeder Minute eine Seligkeit verlorengehen könnte.

Der Himmel war kohlschwarz geworden, der Wind fegte die Via Calzajuoli herunter und schleuderte ihnen einen Staubwirbel ins Gesicht. Madonna Bianca blieb plötzlich stehen, legte die Hand auf die Brust und seufzte tief und schmerzhaft auf.

»Schließe die Augen«, sagte er, »ich führe dich.« Er schlug die eine Hälfte seines Mantels über sie und schlang ihr einen Arm um den Leib, sie beim Gehen leicht unterstützend, daß er sie wie ein Bündel unter dem Arm zu tragen schien. Auf dem Ponto vecchio machten sie halt, um Atem zu schöpfen. Die schweren Wolken zerrissen endlich wie ein Vorhang im Westen und ließen eine ungeheure schwefelgelbe Feuermasse sehen, das Tal stand einen Augenblick in Flammen, dann wurde es noch dunkler als zuvor.

»Ist das nicht der Weltuntergang, den uns Frate Ambrogio täglich von der Kanzel verkündet?« flüsterte Madonna Bianca, in den Arm des jungen Mannes geschmiegt.

Sie gingen weiter, das Geländer streifend. Da stieß Messer Alessandro auf einen weichen Klumpen und zog mit Grausen den Fuß zurück. Ein schwarzer Fleck lag am Boden, noch dunkler als die Dunkelheit, die ringsum herrschte. Alessandro wußte augenblicklich, daß er auf einen menschlichen Körper getreten war, denn so groß ist die Würde des Menschenleibes, daß er auch in der äußersten Entweihung und im Dunkel der Nacht eine instinktive Scheu um sich verbreitet. Auch war es nicht der einzige Leichnam, den man in diesen Tagen auf der Straße liegen sehen konnte.

»Ein Sterndeuter sagte mir vor kurzem, auf dem Weg der Liebe werde ich den Tod finden«, sagte der junge Mann mit gezwungenem Lachen. »Jetzt gehe ich den Weg der Liebe, und hier liegt der Tod.«

Als sie in die Nähe der Via de' Bardi kamen, wo Alessandros Haus stand, fragte Bianca plötzlich: »Und wo ist Madonna Clarice?«

Alessandro war betroffen.

»Sprich nicht von ihr, denke nicht an sie!« war seine Antwort. »Sie ist fern und hat hier nicht zu gebieten.«

»So liebt sie Euch nicht, daß sie darauf verzichtet, die Gefahr mit Euch zu teilen?«

»Sie hat nicht zu lieben, sie hat nur zu gehorchen«, entgegnete er hart.

Von da an sagte Madonna Bianca kein Wort mehr auf dem ganzen Wege.

Als der Morgen dämmerte, fuhr Messer Alessandro aus einem unruhigen Schlafe auf. Seine Schläfen hämmerten, seine Lippen waren wie ausgedörrt, und auf der Brust und unter der Achselhöhle empfand er ein unleidliches Zerren und Brennen. »Ich werde nach dem Arzt schicken müssen«, sagte er beklemmt, indem er den Kopf aufrichtete.

»Messere, Ihr werdet besser tun, den Priester zu rufen«, antwortete Madonna Bianca kalt, ohne sich von ihrem Sitz zu erheben, von wo sie seit Stunden bleich und regungslos auf den Schläfer herabgeblickt hatte.

Er sah sie starr mit aufgerissenen Augen an. Da schlug sie das weiße linnene Gewand zurück, und bei dem fahlen Morgenlicht sah er über der marmornen Brust drei kleine brandrote Bläschen von einem bläulichen Hof umgeben.

»Sehet her«, sagte sie, »das habe ich gestern abend vergessen Euch zu zeigen.«

Eine eiskalte Hand fuhr ihm ins Herz, und vor ihm stand grauenvoll das Gespenst der Vernichtung. Im nächsten Augenblick ward es ihm siedend heiß, er riß sein Hemd auf, und auf seiner Brust sah er dieselben kleinen brandroten Flecken, die schwerste Form der Pest, die man damals kannte, die Vorzeichen des sicheren Todes.

Er sprang vom Lager auf, als wollte er das Weib erdrosseln. Aber er blieb mit geballten Fäusten vor ihr stehen und stieß nur mit dumpfer Stimme heraus: »Du – du – du hast mir das getan!«

»Ja«, sagte sie ruhig mit einem Lächeln, das dem Lächeln der Wahnsinnigen glich, »ich, die unglückliche Bianca, der du ihre Jugendblüte gestohlen hast, die du dem Zorn ihrer Verwandten preisgabst und einem unwürdigen Mann in die Arme triebst, die du auch gestern nur vom Altar wegholtest, um sie aufs neue zu betrügen. Der du das Leben vergiftet hast und die jetzt auch ihr ewiges Heil verwirkt hat durch die gräßlichste und abscheulichste Tat, von der die Welt jemals hörte. Aber ich bereue sie nicht. Als das Unglück über unsere Stadt hereinbrach und alle auf den Knien lagen und zum Himmel flehten um Rettung, da jubelte mein Herz allein der Vernichtung entgegen. Und ich ahnte doch nicht, welche Rache, welche Seligkeit mir noch vorbehalten war. Nie wird sich mehr die blonde Ciarice deiner Liebe erfreuen. O was sind alle Pulver der Borgia und der Medici gegen die Wollust, dem Feinde den eigenen Mund wie einen Giftbecher zu reichen und zu sagen: Trink! War der Becher nicht verlockend, war der Trank nicht süß? – Er hat schneller gewirkt, als ich dachte.« Er brach in wilde Verwünschungen aus und tobte wie ein Verzweifelter durchs Zimmer. Er überhäufte sie mit den schrecklichsten Drohungen, aber war es die Kraft der Krankheit, die ihn lähmte, oder die dämonische Natur des Weibes vor ihm, er wagte nicht, den Finger gegen sie aufzuheben. Sie ließ ihn wüten und saß unbeweglich. Plötzlich hob sie die Hand auf und unterbrach ihn.

»Still«, sagte sie mit unheimlichem Lächeln. »Hörst du es die Straße herunterklingen? Das ist der Karren, vor dem alles, was Leben hat, sich schaudernd verkriecht. In wenig Stunden werden sie uns zusammen auf diesen Karren legen, in eine Grube werden sie uns beide werfen, ein Feuer der Verdammnis wird unsere Seelen empfangen. O möchte doch ein Sturmwind uns in ewiger Qual dahintragen, in Ewigkeit zusammengeschmiedet wie jenes andere jammervolle Paar!«

»Scheusal! Megäre!« sagte er mit dem tiefsten Abscheu. »Pfui über deine feige Tat! Aber wenigstens sollst du nicht triumphieren, in deiner Gesellschaft will ich nicht sterben – ich rufe meine Diener –«

Er wollte hinausstürzen, aber sie hielt ihn mit Kraft am Arm zurück.

»Bleib«, sagte sie mit einem Ton, in dem Haß und Zärtlichkeit kämpften, »wenn du deine Diener rufst, schaffen sie dich hinaus in die Baracken, von wo dich erst die Totengräber wieder abholen! Bleibe hier, meine Rache ist gesättigt, jede Pflege, die dir das Sterben erleichtern kann, sollst du von meiner Hand empfangen, denn mich hält eine wunderbare Kraft aufrecht.«

Er hörte schon nicht mehr, denn er starrte mit abwesenden Blicken vor sich hin und ließ sich nach dem Lager zurückführen, auf das er taumelnd niedersank. Die Wut schien alle seine Lebenskraft aufgezehrt und dem Fieber die alleinige Herrschaft über seinen Körper gelassen zu haben. Er streckte noch den Kopf vor, denn er glaubte die große Glocke zu hören, die die Bürger von Florenz in Tagen der Not zum »Parlamento« rief.

»Die Signoria erwartet mich«, lallte er mit schwerer Zunge, aber in seinem Hirn fing es zu brausen an, tiefe Betäubung umfing ihn, und sein Blick wurde gläsern.

Nach einer Weile öffneten sich seine Lippen noch einmal und murmelten abgerissene, unverständliche Worte, und einmal schien es der bleichen Wärterin an seiner Seite, als flüsterte er: »Bianca!«

Da beugte sie sich zu ihm hinab und küßte ihn mit ihren blutlosen Lippen auf die Stirn. Dann setzte sie sich neben ihn auf den Rand des Lagers, und unverwandt in das Gesicht des Sterbenden starrend, wartete sie ruhig wie ein Todesengel auf seine und ihre letzte Stunde.

Als der Freund am Abend nicht versprochenermaßen beim Festmahl erschienen war, machte sich Messer Filippo Vettori noch spät in der Nacht mit fackeltragenden Dienern auf nach seinem Palast, um den Säumenden abzuholen.

Als er an der Haustür den Klopfer fassen wollte, griff er in einen weichen Stoff. Die Diener leuchteten mit den Fackeln her, und Messer Filippo fuhr wie von einer Schlange gebissen zurück, denn er hielt ein weißes Tuch in der Hand. Eine Weile stand er tief erschüttert.

»Armer Alessandro«, rief er, »wer hätte gestern gedacht, daß du heute schon die weiße Fahne aufstecken würdest!«

Dann aber fiel ihm ein, daß Schreck und Kummer den Körper empfänglicher für die Ansteckung machen. Er trat eilig den Rückweg an, indem er aus voller Kehle in die Nacht hinaussang:

Quant' è bella giovinezza
Che si fugge tuttavia!
Chi vuol esser lieto, sia!
Di doman non c' è certezza!Wie schön ist die Jugend,
die doch so schnell vergeht!
Wer frohgemut sein will, sei es:
was morgen sein wird wissen wir nicht.

 

Ende


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