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Aus den Papieren eines Verschollenen.
Wonneschauer durchrieseln mich, ich liege auf meinem Divan ausgestreckt, dessen Polster mich wie weiche Wolken tragen, eine stille alles erfüllende Seligkeit hat mein ganzes Wesen durchflutet. Meine Gedanken ziehen langsam und ebenmäßig hin wie ein Kahn den stillen Fluß hinuntergleitet an blühenden Ufern vorüber; es ist eigentlich gar kein Denken, sondern ich schaue wie durch einen plötzlich gerissenen Schleier die Urbestimmung aller Dinge. Das muß Nirvana sein, das »Nimmerwahnland«, nach dem die Menschheit wie nach einer glückseligen Insel seufzt und in der That, kein Wahnbild steigt mir auf, keine irdische Vorstellung kommt, mich in der Beschauung des unendlichen Glücks zu stören. Die Welt ist mir gleichgiltig, Brüder, Verwandte, Freunde habe ich nicht mehr, dies ist der Zustand der höchsten Philosophie und der höchsten Seligkeit. Ich habe vom Baum der Erkenntnis gegessen – 2 der Baum der Erkenntnis heißt canabis indica – ich bin heute erst geboren – ich bin wie Gott. –
Plötzlich wurde ich in der Betrachtung meines seligen Zustandes durch das Kreischen der Thüre in den Angeln und durch eine tiefe Baßstimme unterbrochen.
Es war Dr. H., der mit einer Cigarre im Mund und mit einer Tasse schwarzen Kaffees in der Hand vor mich trat. Er bog sich über mich und bemächtigte sich meines Handgelenks, um mir den Puls zu fühlen. Dies war mir im höchsten Grade lästig und ich hatte eigentlich Lust den unberufenen Störer wegzuschieben, dazu war mir aber meine bequeme Lage zu lieb.
»Gott sei Dank,« sagte er, »daß Sie mir wenigstens keinen Unfug anstellen, die beiden andern sind ganz von Sinnen. Herr M. starrt mit verglasten Augen vor sich hin und behauptet er sei »transferiert« und Herr B. wollte soeben zum Fenster hinausfliegen, ich muß ihn durch zwei Mann halten lassen. Das verwünschte Experiment! Ich fürchte sehr, es nimmt ein böses Ende.« –
Zu jeder andern Zeit hätte diese Nachricht einen lebhaften Eindruck auf mich gemacht, da die beiden Genannten meine besten Freunde waren, jetzt störte sie mich nur insofern, als sie meine Beschauung unterbrach.
3 »Was kann das meiner Glückseligkeit schaden?« wollte ich entgegnen, fand es aber bequemer zu schweigen. Nach einer Weile sagte ich mit Anstrengung: »Was ist die Uhr?« Meine eigene Stimme klang mir rauh und fremd und wie aus großer Ferne.
Aber ehe er antworten konnte, sprang die Thüre auf und herein trat mit der Reitpeitsche unterm Arm und Sporen an den Füßen mein verstorbener Freund, der Rittmeister von F. Ich wunderte mich nicht im geringsten über sein Erscheinen. Er kam dröhnend mit seinen langen, wuchtigen Schritten auf mich zu und sagte mit dem gewöhnlichen Ton, mit dem er mich sonst zu einer Morgenpromenade einzuladen pflegte:
»He, Siebenschläfer, stehen Sie auf und machen Sie einen kleinen Ritt mit mir, die Pferde stehen vor der Thüre.«
»Der Siebenschläfer sind Sie,« entgegnete ich, aber nur in meinen Gedanken, denn ich brachte keinen Ton hervor. »Sie duseln ja schon seit fast acht Jahren.«
Ich erhob mich indessen und folgte ihm. Vor der Thüre auf der dämmernden Straße standen zwei gesattelte Pferde. Er bestieg seinen Braunen und ließ mir den Rappen, der mir wegen seiner Tücken noch wohl im Gedächtnis war.
»Fürchten Sie nichts,« sagte er, obwohl ich meine 4 Bedenklichkeiten nicht hatte laut werden lassen. »Das Tier hat sich bedeutend verbessert, seitdem es transferiert wurde. Sie wissen ja, bei Sedan – es ist mir unter dem Leib erschossen worden.«
Ich bemerkte jetzt, daß seine Stimme etwas Totes, Eintöniges hatte, was ihr sonst nicht eigen war.
Im Flug ließen wir die dämmernde Campagna, in der meine Wohnung lag, hinter uns, die Pferde schienen den Boden nicht zu berühren, denn man hörte keinen Hufschlag. Als ich zufällig nach dem Bergeinschnitt hinüberblickte, wo das Städtchen Fiesole liegt, da sah ich einen ungewohnten Lichterglanz und der Kirchturm, dessen Zifferblatt sonst bei Nacht im Mondlicht schimmerte, war verschwunden.
»Die Fässulaner beraten eben auf dem Forum, ob sie der römischen Gesandtschaft den verlangten Zuzug bewilligen sollen,« erklärte mir mein Begleiter, indem er mit der Reitpeitsche nach der erleuchteten Stadt hinüber deutete.
Ich hatte keine Zeit mich darüber zu verwundern, denn eine riesige Mauer, die ich vorher nicht gesehen hatte, stieg plötzlich schwarz vor meinen Augen auf und wir ritten durch einen engen Thorweg, dessen Pflaster unter uns ächzte und dröhnte.
»Das ist die Porta San Gallo, wir sind im alten Florenz,« sagte mein Gefährte.
5 Ich sah mich mit großen Augen um, verschwunden war der Viale mit seinen Blütenbäumen, mit seinem Weiher und seinen Anlagen, eine eng zusammengedrängte schwarze Häusermasse starrte mir entgegen, aus der sich nur einzelne Türme und Befestigungswerke noch dunkler und drohender abhoben, aber mein Erstaunen wuchs, als wir in die engen finstern Gassen einbogen. Lautloses Menschengewimmel füllte alle Straßen und Plätze, zerlumpte halbnackte Gestalten mit fahlen Gesichtern und verglasten Augen lehnten an den Häusern oder lagen auf dem Boden, Priester drängten sich mit ihren Rauchfässern durch die schweigende gleichsam versteinerte Menge, die schwarzen Brüder der Misericordia eilten fackeltragend mit Bahren und Särgen vorüber, Särge wurden aus den Häusern getragen, aus den Fenstern niedergelassen, Särge bedeckten den Boden, ganz Florenz schien ein einziger, großer schwarzer Sarg. Und dabei summte und dröhnte es mir vor den Ohren, wie das Geläut von hundert Glocken und eine feuchte, moderartige Atmosphäre umwehte mich wie Grabesluft.
»Das ist die Pest, die hier ihre Ernte hält,« sagte mein Gefährte, »vorwärts, vorwärts!«
Die Pferde flogen weiter, mir aber war es, als ob alle Türme der Stadt mit den Köpfen zu wackeln anfingen, und als ob sich die Häuser gegeneinander 6 neigten, um sich wie ein Grabgewölb über unsern Häuptern zu schließen. Weiter, weiter, die schweren Paläste begannen zu tanzen, die Kirchen schwankten hin und her, alles schien aus den Fugen gerissen, ohne Boden sich im Leeren zu drehen. Ängstlich suchte ich den Turm des Palazzo Vecchio, damit er meinem Auge einen Halt gebe, denn das war der einzige feste Punkt in diesem tollen Gewimmel.
Als wir die alte Piazza della Signoria erreichten, fanden wir das Gewühl noch dichter als in den andern Stadtteilen. Ich sah aber keine Pestkranken mehr, sondern ein lärmendes, tobendes Volk, das sich untereinander drängte und stieß und die Hälse reckte, um irgend ein außergewöhnliches Schauspiel zu erhaschen. Niemand bemerkte uns, niemand wich uns aus und doch glitten unsere Pferde durch das dichteste Gewühl ohne jemand zu berühren, es war als sei alles nur Rauch und Dunst und Schemen. Vor dem Palazzo Vecchio ragte ein Gerüst aus Scheitern, Söldner mit Hellebarden umstanden es, Ratsherren in wallenden Togen schritten majestätisch die Treppe des Palastes herunter und wurden vom Volke jubelnd begrüßt.
»Was ist das? Ein Autodafe!?« fragte ich meinen Begleiter.
Er nickte. »Sie erwarten eben den Fra Girolamo. Vorwärts!«
7 Unsere Pferde wandten sich dem Arno zu. Da sah ich, wie aus einer der Nischen, die die Hallen der Uffizien schmücken, eine gewaltige Gestalt langsam herunterstieg. Sie trug einen Lorbeerkranz um die strengen Schläfen, in der Linken hielt sie ein Buch, die Rechte war drohend erhoben, wie zu einer schweren Verwünschung. Mein Begleiter wich ehrerbietig zur Seite. »Den Hut ab,« flüsterte er mir zu, »es ist Dante.«
Aber so verworren es auch in meinem Kopfe aussah, das war mir doch zu stark und mein historisches Gewissen begann sich zu sträuben. Zugleich überfiel mich aber auch eine tödliche Angst, denn es war, als müsse ich wahnsinnig werden.
»Um Gotteswillen,« rief ich, »was ist das? Savonarola, Dante, Römer in Fiesole? In welchem Jahrhundert leben wir denn? Was ist aus der Zeitfolge geworden?«
»Zeitfolge?« sagte mein Begleiter geheimnisvoll. »Das ist auch so ein beschränkter irdischer Begriff. Es ist ja alles gleichzeitig vorhanden, die Staubgeschöpfe können es nur nicht auf einmal fassen und haben es deshalb in tausend kleine Schachteln eingeteilt. Sehen Sie, das Heute ist zugleich Gestern und Morgen, die Toten sind noch lebendig, die Lebenden sind zugleich schon tot und die noch 8 Ungeborenen sind schon von Urbeginn vorhanden. Verstehen Sie mich?«
So unsinnig das alles war, so glaubte ich es doch in diesem Augenblick sehr gut zu verstehen und es war mir als würde es plötzlich hell in meinem Kopf.
»Ja,« rief ich entzückt, »das ist die Wahrheit, sie ist mir oft schon blitzartig durch den Kopf gezuckt, aber ich konnte sie nicht halten. Jetzt aber habe ich sie ganz erfaßt. Ja, es ist alles gleichzeitig, Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, alles durchdringt sich, alles ist eins.«
»Sie werden dies später nimmer verstehen, armer Freund,« sagte der andere »und es wird sein, als hätten Sie nichts geschaut.«
Wir hatten jetzt die finstere Stadtmauer im Rücken und brausten in schwindelnder Eile über ein weiches Erdreich hin; Landhäuser, Felder, Dörfer tauchten auf Sekunden auf und verschwanden ebenso schnell in der Nacht. Ich hatte nicht Zeit, auf das alles zu achten, ich war nur beschäftigt, die Erleuchtung, die plötzlich über mich gekommen war, festzuhalten. »Alles ist gleichzeitig, alles ist eins,« wiederholte ich mir unaufhörlich.
Weiter und weiter ging's, da öffnete sich endlich eine weite, von zackigen Felsen begrenzte Ebene vor 9 unseren Augen, in der Ferne dämmerte die schroffe Apenninenwand.
»Wir sind zu Pistoja,« sagte mein Begleiter. Das ganze Feld war übersät von Truppen, die wie zum Angriff gerüstet standen. Ich vernahm verworrenes Getöse, ich sah Waffen und Helme blinken und bog mich im Sattel vor, um das Feldzeichen zu erkennen, das aus ihrer Mitte hervorragte und einem römischen oder französischen Adler glich.
»Sind das die Legionen Napoleons,« fragte ich, »oder bereitet sich hier im Dunkeln eine Schlacht der Zukunft vor, die noch in keinem Geschichtsbuch verzeichnet steht?«
»Wir sind im Lager Catilinas,« war die Antwort, »dort neben dem Adler steht der Feldherr und giebt eben das Signal.«
In diesem Augenblick erscholl Trompetengeschmetter, die Kohorten rückten im Laufschritt vor, die feindliche Reiterei flog von der andern Seite herbei, die Heere vermischten sich unter markerschütterndem Getöse. Mein Begleiter wollte mich zurückhalten, aber schon hatte mich der Schlachtruf mitgerissen und mein Pferd trug mich an der Seite des Führers in das dichteste Gewühl. Ich sah einen verworrenen Knäuel von Menschen und Pferden, ich hörte das Stöhnen der Verwundeten, und das Klirren der Harnische, die 10 aufeinander prallten, denn hier wurde Mann an Mann gerungen. Ein See von Blut stieg vor meinen Augen auf, immer weiter riß mich die Schlacht, ich saß jetzt auf Pferdeknochen und arbeitete mich durch ganze Hügel von Leichen durch. Sieh, wer liegt da am Boden entseelt, aber mit drohend gefalteter Stirn, mit der im Tod erstarrten Rechten noch den Griff des Schwertes umklammernd? Ich erkannte das trotzige Gesicht des Feldherrn, teilnehmend beugte ich mich zu ihm nieder, da erscholl plötzlich eine näselnde Stimme hinter mir:
»Paululum etiam spirans, ferociamque animi quam habuerat vivus in voltu retinens.« Erstaunt drehte ich mich um und erkannte meinen Begleiter, der neben mir stand. Es war aber nicht mehr der Rittmeister von F., sondern mein alter Präzeptor M., der mit einer Tabaksdose in der Hand auf dem Katheder thronte und den Sallust erklärte, indem er sich an den markigsten Stellen durch moralische Betrachtungen unterbrach.
»Ja,« näselte er und nahm eine Prise, »dahin haben noch immer Ehrgeiz und Verderbtheit geführt. O Catilina, du warst ein tüchtiger Soldat, aber durchaus kein moralischer Charakter. Hütet euch, ihr Jünglinge, ihm nachzueifern.«
»Aber so kommen Sie doch herunter, vielleicht ist 11 noch Hilfe möglich,« rief ich angstvoll und griff nach der Hand des Toten.
»Hinweg,« rief er, und streckte mir das kleine Stöckchen, in das die Reitpeitsche eingeschrumpft war, entgegen: »Sie sind der schlechteste Lateiner in der ganzen Klasse, Sie haben kein Recht an diesen Toten.«
Bestürzt ließ ich den Arm des Gefallenen fahren, denn ich sah in diesem Augenblick, wie der Katheder meines kleinen Präzeptors den Hals ausreckte, sich dehnte und in die Höhe schwoll und sich plötzlich als ein riesiger Strauß in die Lüfte erhob. Gleichzeitig fühlte ich, daß auch mir der Boden unter den Füßen schwand, ein Etwas, von dem ich nicht wußte, ob es ein Luftballon, ein Vogel oder ein Pferd war, trug mich schwindelnden Flugs in die Höhe, daß bald die höchsten Zacken der Apenninen wie Sandkörner unter mir lagen. Aber Entsetzen sträubte mir die Haare, als ich zur Erde niedersah: ich erblickte einen wahnsinnigen Wirrwarr, Meere, Gebirge und Länder tanzten aus den Fugen gerissen in chaotischem Gewimmel, Blasen sprangen auf, aus ihnen stiegen andere Blasen empor, alles mischte und verschlang sich und ganz unten saß eine riesige Kreuzspinne, die endlose Fäden spann, mit denen sie alles umstrickte, und einer dieser Fäden spann sich bis an mein Hirn empor. Nirgends war ein fester Punkt, nur die 12 Zahlen standen in Reih' und Glied, Gewehr bei Fuß und zogen gleichsam einen starren militärischen Kordon um das Ganze, wie ein streng discipliniertes Armeekorps eine aufrührerische Stadt einschließt.
Immer höher ging's mit reißender Schnelle, ich wunderte mich selbst, daß mir nicht der Atem verging. Wohlbekannte geometrische Figuren sausten, hinkten und kugelten je nach ihrer Leibesbeschaffenheit an mir vorüber, einige nickten mir höhnisch zu und ich meinte gerade diejenigen zu erkennen, die mir während meiner Schulzeit das meiste Kopfzerbrechen verursacht hatten, ich sah wie sich parallele Linien in der Unendlichkeit schnitten; ein unförmliches, viereckiges Wesen, das mit zwei Armen wie mit Windmühlenflügeln um sich focht, wälzte sich mir entgegen und ächzte und quiekte: »Das Quadrat der Hypothenuse ist gleich dem Quadrat –«
»Um Gotteswillen,« schrie ich, »das ist ja der pythagoräische Lehrsatz, er kommt, er will mich zwingen, ihn zu beweisen.«
»Seien Sie ruhig,« beschwichtigte mein Begleiter, den ich jetzt wieder ganz deutlich erkannte. »Hier muß nichts mehr bewiesen werden, hier versteht sich alles von selbst, wir sind jetzt in der Sphäre der Philosophie.«
Hier begann mir das Atmen schon merklich schwerer 13 zu werden, Schwindel erfaßte mich und ich bat meinen Begleiter zurückbleiben zu dürfen.
»Nein, nein,« rief er, »Sie haben die Wahrheit noch nicht gesehen, wir müssen weiter, höher, ich nehme Sie mit in die reine Abstraktion.«
»Gnade, Gnade,« schrie ich voll Entsetzen, »ich kann nicht mit in die Abstraktion, ich bin ja Fleisch und Blut.«
»Das macht nichts, Sie werden dort oben schon abstrahiert werden, die ganze Welt muß abstrahiert werden, immer fort, immer fort bis sie schließlich von sich selber abstrahiert, das ist die Zukunft des Universums. Nur Mut, wir haben nicht mehr weit bis zur ersten Station, bis dahin reichen die Zahlen, dann hören aber auch die auf, weil der Weltäther zu dünn wird.«
Und in der That, da standen sie noch immer und stiegen und türmten sich auf, die wohlbekannten Zahlen mit ihrer Descendenz ins Äonenhafte, doch immer noch in der Region der Wesenheit, sie gaben meinem Bewußtsein den letzten Anhaltspunkt, wie sollte es aber nachher werden? Höher und höher ging's, schwindelnde blitzartige Ideen zuckten vor mir auf, ich meinte schon sie zu fassen, aber weg waren sie. Groteske Gedankenformationen – ich kann sie nicht anders bezeichnen – schossen an mir vorüber und schrieen 14 im Tone der Florentiner Droschkenkutscher: »Vuole, Signore, vuole?« Philosophische Systeme boten sich an, uns in die reine Abstraktion zu führen; mein Begleiter stieß sie mit der Reitpeitsche zurück und es ging weiter. Auf einem Meilensteine saß eine verhüllte Gestalt, die mir mit der Hand winkte. »Es ist die Mystik, weichen Sie aus,« raunte mir mein Gefährte zu. Schauer ergriff mich und zugleich empfand ich eine heftige Anziehung, unwiderstehlich wollte es mich nach jener Seite reißen, aber mein Führer faßte mich noch rechtzeitig bei den Haaren und zerrte mich in der entgegengesetzten Richtung fort. Einen Augenblick rissen die Wolken und ich meinte einen schönen wohlbekannten Frauenkopf zu erblicken, aber alsbald verwischten sich die Züge und es ward wieder Nacht um mich.
Aber halt, was ragt dort unbeweglich wie ein Meilenzeiger aus dem Chaos hervor und streckt den Arm aus? »Das ist der Wegweiser nach der Sphäre der reinen Abstraktion,« sagte mein Führer. Als ich ihn aber näher ansah, erkannte ich einen menschlichen Kopf und dieser Kopf trug ganz deutlich die Züge des Königsberger Philosophen. Im Nu stürzte ich auf ihn zu und umklammerte ihn mit Heftigkeit, als ob er mich schützen könne. Da las ich auf seinem Arm die Aufschrift: »Zur reinen Abstraktion.« Die Arme 15 sanken mir herab und willenlos ließ ich mich weiter ziehen.
»Sehen Sie hinab,« gebot plötzlich mein Begleiter. Ich sah hinab und erkannte unser ganzes Planetensystem, das vor meinen Augen ausgebreitet lag. Statt des formlosen Chaos erblickte ich jetzt deutlich unzählige einzelne Weltkörper, die sich in gleichmäßigen Schwingungen durcheinander drehten, aber ihre Gesichter waren schmerzverzerrt und zugleich schlugen tausendstimmige, markzerreißende Jammerlaute an mein Ohr.
»Das ist der sogenannte Weltschmerz,« erklärte mein Führer, »und diese Musik nennt man Sphärenharmonie.«
»Ist's möglich?« rief ich erschüttert aus, »also auch sie leiden? Aber was thun sie denn?«
»Das Gleiche wie die Kleinen auch: sie quälen und werden gequält.«
»Aber um Gotteswillen, wie können sie das? Sie haben ja keinen Willen und gehen nur gewiesene Bahnen.«
»Haben wir denn einen Willen und gehen wir nicht auch ganz gewiesene Bahnen? Gerade so nimmt sich das Menschenleben in der Vogelperspektive aus, nur in verkleinertem Maßstab.«
»O Gott,« rief ich, »also hat der Pessimismus 16 recht und ich mußte bis hier herauf kommen, um das zu erfahren!«
»Pessimismus,« sagte er streng, »das ist grundverkehrt und ganz irdisch.«
»Aber die ganze Schöpfung ist doch nur ein disharmonisches Jammergeschrei.«
»Unsinn,« sagte er, »vor dem verstehenden Ohr werden diese Töne zur schönsten Melodie. Haben Sie nie eine Katzenorgel gesehen? Man kneipt eine Reihe Katzen am Schwanz ein und bringt jeder einen Schmerz bei. Jede kreischt ihre Note und man kann so ein ganzes Konzert aufführen. So werden auch diese Schmerzenstöne da oben zum reinen Vollakkord.«
Ich glaubte ihn völlig zu verstehen. »Ja,« rief ich hingerissen – »Sphärenharmonie, Weltschmerz, Katzenorgel – das ist das Rätsel, über dessen Lösung Jahrtausende gesonnen haben. Wenn mir nur diese göttliche Erkenntnis nicht wieder abhanden kommt!«
Jetzt aber fühlte ich, daß mir der Atem ausging, das Blut quoll mir aus den Fingerspitzen und ich empfand eine namenlose Qual, während wir immer noch höher stiegen.
»Nur Mut,« flüsterte mein Begleiter, »wir nähern uns schon der reinen Abstraktion, wir sind gleich vollends am Ziel.«
Das betäubende Getöse, das uns bis hierher 17 begleitet hatte, verstummte allmählich, bläulicher Äther umfloß mich, und machte mir das Atmen unmöglich. Ich strengte mich an um etwas zu unterscheiden und meinte auch wirklich die reine Abstraktion bald als einen riesigen Destillierkolben, bald als ungeheure Luftpumpe zu erkennen, aber die Augen traten mir aus den Höhlen, Flammengarben zuckten auf, ich glaubte zu ersticken. Ich sah noch wie sich mein Führer höher und höher schwang, aber die Kraft, die mich bisher getragen hatte, wich unter mir, ich stürzte kopfüber ins Leere, in reißendem Fall ging es abwärts, da schoß plötzlich eine helle Sternschnuppe vorüber, mit der Kraft der Verzweiflung packte ich eine Zacke derselben, an der ich mir die Finger schmerzlich verbrannte, und mit ihr kam ich rasch und nicht allzu unsanft zur Erde nieder. –
Als ich die Augen aufschlug, lag ich wieder auf dem Divan, aber am Finger empfand ich einen brennenden Schmerz und Dr. H., der mit seiner Tasse in der Hand vor mir stand, sagte:
»Es ist genau halb zehn Uhr. Aber wer zum Teufel heißt Sie denn gerade in meine brennende Cigarre greifen? Haben Sie sich weh gethan?«
»Um Gotteswillen, was ist vorgefallen und wie lange stehen Sie schon hier?« rief ich.
»Was haben Sie denn nun?« fragte er unruhig. 18 »Sie haben ja noch soeben ganz vernünftig mit mir gesprochen. Sie fragten mich wie viel Uhr es sei, sonst ist nichts vorgefallen.«
Ich sah ihn groß an. »Und wie viel Zeit ist denn seit meiner Frage verflossen?« sagte ich erstaunt.
»Nur so viel als ich brauchte um auf meine Uhr zu sehen,« entgegnete er. »Fangen Sie nur nicht auch zu delirieren an. Trinken Sie diese Tasse Kaffee, die wird Sie ernüchtern, und dann verhüte der Himmel, daß ich mich je wieder zu einem Experiment mit dem verwünschten Haschisch verstehe.« 19