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Es lebte einst vor langen Jahren ein reicher und mächtiger König, der hatte alles, was nur sein Herz begehren konnte: große Länder, treue Unterthanen, einen vollen Staatsschatz, eine wunderschöne Frau und ein Haus voll blühender Prinzen. Aber der Geizteufel plagte ihn dergestalt, daß er seines Glückes nicht froh wurde, sondern nur Tag und Nacht darauf sann, wie er noch etwas erpressen und zurücklegen könne. Er haßte jeden Aufwand, ging stets in abgeschabten Kleidern und nie durfte ein Bettler sich der Schwelle seines Palastes nahen. Deshalb gaben ihm seine Landeskinder den Spitznamen »König Filz«. Dieser Name aber gefiel dem König so gut, daß er ihn sich selber beilegte und als höchsten Ehrentitel trug; denn er erklärte es für größeren Ruhm, seine Habe durch weise Ersparnis, als durch blutbefleckte Kriegsbeute zu mehren. Halbe Tage lang saß er in seiner Schatzkammer, die nie ein anderer Fuß als der seinige 116 betreten durfte, und wog jedes neu hinzugekommene Goldstück, ob es das rechte Gewicht habe. Und obwohl sich die Geldsäcke bis an die Decke türmten, fand er doch immer, daß seine Einkünfte viel zu klein seien, und grübelte über allerlei Auskunftsmittel nach, wie er sie zu vermehren vermöchte. Zuletzt schaffte er gar durch ein allerhöchstes Kabinettsdekret im Reiche den Sonntag ab und verordnete, daß der Ertrag dieser fünfzig weiteren jährlichen Arbeitstage vom ganzen Land in den königlichen Säckel fließen sollte.
Bald darauf geschah es, daß im Reich eine große Not und Teurung ausbrach, und daß viele Tausende vor Mangel und Hunger umkamen. Da erschienen Abgesandte des Volks beim König und baten ihn, daß er mit seinem Überfluß dem allgemeinen Elend steuern möge. Er aber schüttelte das Haupt: »Ich heiße Filz,« sprach er stolz, »die Geschichte wird mich einst Filz den Großen nennen. Kein Bettler soll sich rühmen, mir nur einen Heller abgepreßt zu haben.« Da kehrten die Abgesandten mit leeren Händen zurück und das angesammelte Volk verlief sich in der Stille. Nur ein Bettelweib mit sechs zerlumpten, hohläugigen Kindern wollte nicht von der Schwelle des Palastes weichen, und sobald sie eine Gelegenheit erspähte, schlüpfte sie hinein und warf sich dem König zu Füßen.
117 »Ich bin deine treueste Dienerin,« sagte sie; »jahraus jahrein habe ich im Schweiß meines Angesichts die Felder für dich bebaut; jetzt ist es an dir, daß du mich mit meinen sechs Waisen nicht Hunger sterben lässest.«
Er aber sagte:
»Ach was, Hunger ist gesund! Ich hungere das ganze Jahr; ihr werdet es doch nicht besser haben wollen.«
Und als das Weib weinend seine Füße umklammerte, da ließ er sie von seinen Leuten mit Gewalt hinausschaffen; denn, sagte er, er habe ein weiches Herz und könne keine Thränen sehen.
An der Thüre aber riß sich das Bettelweib los, richtete sich auf, daß sie bis an die Decke zu wachsen schien, und rief dem König zu:
»Du kannst keine Thränen sehen? – gut, so sollst du verwünscht sein, nie wieder eine Thräne weinen zu können, bis dein Herz verdorrt und deine Haut einschrumpft und du wirst, was du heißest, ein häßlicher alter Filz.«
Damit war das Weib verschwunden.
Nun brach aber infolge des Elends ein großes Sterben aus; Seuchen verheerten das Land und ergriffen auch die Reichen, ja bis in das Königsschloß drang der schwarze Tod und raffte nacheinander die 118 Königin und alle die schönen Prinzen und Prinzessinnen weg bis auf die jüngste, die liebliche Maja, die am ersten Mai geboren war und selber einem schönen Maitag glich. Und als der König nun eines um das andere den Kopf neigen und die Augen auf immer schließen sah, da hätte er gern seinen halben Schatz, ja noch mehr hingegeben, um diese teuren Leben zurückzuerkaufen; und wie er so thränenlosen Auges an den Särgen seiner Lieben stand, da war es ihm, als erstarre sein Herz vor Leid und Jammer, und er meinte, wenn er nur weinen könnte, würde ihm schon leichter werden. Aber wie er sich auch mühte, er brachte nicht ein einziges Thränlein hervor und alle diese ungeweinten Thränen fielen wie glühende Feuertropfen auf sein Herz zurück, das sie versengten und ausbrannten. Da erschrak der König; denn er gedachte der Bettlerin und ihres Fluchs und er sandte Boten nach allen Richtungen durch sein Reich, um sie zu suchen und zu versöhnen, aber das Weib blieb verschwunden. Nun setzte der König eine große Belohnung für denjenigen aus, dem es gelänge, ihn zum Weinen zu bringen, aber von allen vorgeschlagenen Mitteln wollte keines fruchten; ja es schien gerade, als bewirkten sie alle das Gegenteil; denn immer trockener wurden des Königs Augen, Tag und Nacht zehrte ihm der stumme Jammer am Herzen 119 und er seufzte nach einer Thräne, wie ein Verschmachtender nach einem Tröpflein Wasser. Magier kamen mit ihren Sprüchen und Zaubertränken, Ärzte brachten ihre Mixturen, aber des Königs Augen blieben trocken.
Da verfiel König Filz in schwarze Melancholie. Rastlos verfolgte ihn der Gedanke an jenen Fluch; unheimliche Bilder stiegen in seinem Kopfe auf; er stand halbe Tage vor dem Spiegel und untersuchte, ob seine Haut nicht einzuschrumpfen beginne.
»Wehe mir!« seufzte er, indem er sich bestrich und betastete; »ich bin ausgedörrt, ich werde filzig.«
Und er verbot bei Leibes- und Lebensstrafe das Tragen von Filzhüten und Filzschuhen in seinem Reich; denn der Anblick eines Filzgegenstandes versetzte ihn in wilde Raserei, weil er ihm sein drohendes Schicksal vor Augen brachte.
So vergingen Monde und Jahre; des Königs Haupt ergraute, seine Haut verwelkte, sein Herz verdorrte. »Filz, Filz,« jammerte er unablässig, »vor Zeiten wurden Menschen in Tiere verwandelt, aber in Filz, in schnöden Filz, das ist unerhört!«
Endlich erließ er einen Aufruf durch das ganze Reich, worin er demjenigen, der ihn zum Weinen brächte, die Hand seiner Tochter Maja und die 120 Erbschaft der Krone versprach. Darüber betrübte sich Maja über die Maßen, denn sie hatte ihr Herz an einen schönen Jüngling gehängt, der ein Prinz aus einer Seitenlinie und ein Sonntagskind war und dem dereinst mit der Hand der schönen Maja die Krone hätte zufallen sollen. Aber sie tröstete sich bald; denn sie sah, daß alle die Quacksalber und Abenteurer, die das Schloß überschwemmten, mit Schimpf und Spott abzogen, weil es keinem gelang, den Zauber zu brechen.
Da ließen sich eines Abends zwei Fremde von ungewöhnlichem Aussehen im Schlosse melden; der eine war ein hagerer, lang aufgeschossener Mann mit spitziger Nase, spitzigem Knebelbart und dürren Beinen; er hielt beständig die Stirne gefaltet und ein sauersüßes Lächeln spielte um seine Lippen. Der andere war in allem das völlige Widerspiel des ersten: eine untersetzte, fette, kurzbeinige Gestalt mit glattgeschorenem Haupt, gequollenem, bartlosem Gesicht, in dem beständig ein Ausdruck stiller Rührung und Salbung lag. Während der eine, sobald er ins Portal getreten war, sofort alles, was er sah, bekrittelte und heruntersetzte, fand der andere im Gegenteil alles vortrefflich, ohne dadurch je mit seinem Reisebegleiter in Widerspruch zu geraten; denn er war immer sofort bereit, auch diesem wieder recht zu geben.
121 So beschaffen waren die beiden Männer, die sich jetzt in das Kabinett des Königs führen ließen.
»Ich bin der berühmte Doktor Meerrettich aus Nürnberg,« sagte der erste; »dies hier ist mein Gehilfe Schwammerling, Homöopath und Seelenarzt. Ich bin von weitem hergereist, um Ew. Majestät verstopfte Thränenkanäle zu öffnen und den versprochenen Lohn zu verdienen.« Während er so sprach, bohrte er seine stechenden kleinen Äuglein in das rechte Auge des Königs und dieser verspürte sofort in demselben ein ganz eigentümliches Jucken und Prickeln, als ob es übergehen wollte; es war aber nur eine Anwandlung, denn das Auge blieb nach wie vor trocken.
Meerrettich kramte nun allerlei Lanzetten und Büchschen heraus; sagte in näselndem Ton, er habe das Übel als ein lokales erkannt und sei gesonnen, es durch Operation zu beseitigen.
Schwammerling gab seinem verehrten Kollegen vollkommen recht, nur, setzte er mit gerührtem Tone hinzu, wäre es seine Ansicht, daß man gleichzeitig auch auf das Gemüt des Königs wirken sollte, und dann begann er eine lange, schwungvolle Rede, deren Sinn der König nicht verstand, die ihn aber mit tiefer Rührung ergriff; denn es war ihm plötzlich, als ob es in seinem Herzen zu tauen anfange; es 122 perlte auf seinem linken Auge und die versammelten Höflinge riefen mit lautem Jubel: »Der König weint!« Der Truchseß eilte herbei, um in einer goldenen Schale die vermeintliche Thräne aufzufangen; aber so weit war es noch nicht; es war nur ein feuchter Schimmer im Auge des Königs wahrzunehmen, weiter nichts.
Da sagte Meerrettich:
»Wir haben gezeigt, was wir können. An einem Tag ist ein so eingewurzeltes Übel nicht zu tilgen, aber mit der Zeit werden wir es schon bewältigen.«
Nun ließen sich die beiden Fremden im Schlosse häuslich nieder und nisteten sich so im Herzen des Königs ein, daß er keinen Augenblick ohne sie leben konnte.
Wenn Meerrettich loszog und in seiner bissigen Manier über Land und Leute zu schimpfen, alle Staatseinrichtungen herunterzusetzen und mit seiner spitzigen Zunge alles, was ihm aufstieß, kurz und klein zu hacken anfing, so überfiel den König jedesmal jenes Prickeln und Beißen im rechten Auge, und wenn dann Schwammerling anhob, ihm herzbewegende Geschichten zu erzählen, dann ergriff ihn eine solche Rührung auf dem linken Auge, daß er sogleich meinte, einen Strom von Thränen weinen zu müssen: aber so dienstfertig auch der Truchseß sein goldenes 123 Schüsselchen unterhielt, es fiel kein Tröpfchen hinein. Da wollte der König zuweilen ungehalten werden, daß die Heilung so langsam vorwärts schreite; allein die beiden Doktoren vertrösteten ihn mit der Operation aufs Frühjahr; denn, sagte Schwammerling, wenn alle Bächlein zu fließen anfangen, dann sei auch die Zeit gekommen, daß das Eis von seinen Augen schmelze.
Und so groß ward allmählich der Einfluß der beiden Doktoren, daß das ganze Land vor ihnen zitterte und daß man ihnen im Schloß fast größere Ehrfurcht erwies, als dem König selber. Besonders der spitzige Doktor Meerrettich gewann ein solches Ansehen, daß ihm niemand je zu widersprechen wagte. Dabei war es wunderbar, daß ihn keiner ansehen konnte, ohne sofort nasse Augen zu bekommen, weshalb die Leute bald heimlich anfingen, über den seltsamen Mann die Köpfe zu schütteln. Am auffallendsten benahmen sich die beiden bei Tische. Sie aßen nur Gemüse; Fleischkost verschmähten sie gänzlich, da sie behaupteten, zur Sekte der Vegetarianer zu gehören. Meerrettich zeigte noch eine besondere Vorliebe für allerlei scharfe und beizende Zuspeisen, und davon vertilgte er solche Mengen, daß es niemand ohne Schauder mit ansehen konnte. Sein Lieblingsgericht aber waren Rettiche aller Art, die 124 man ihm täglich zu Hunderten vorsetzen mußte. Diese ergriff er beim Schwanz, hob sie in die Höhe, steckte sie in den Mund und zermalmte sie hastig zwischen seinen weißen Zähnen, wobei er die Augen eindrückte und mit einem sonderbaren Lächeln zu Schwammerling hinüberblinzelte. Die Schwänze warf er alle zusammen auf den Boden und trat sie mit Füßen. Nach solchen Rettichhekatomben kam er immer in ganz besonders gute Laune, was er dadurch zu verstehen gab, daß er alles, was ihm in den Weg kam, mit seiner bösen Zunge durchhechelte und selbst des Königs geheiligte Majestät nicht verschonte. »Jetzt bin ich wieder von Grund aus hergestellt,« pflegte er alsdann zu sagen. Der andere dagegen aß nichts so gern wie Trüffelgerichte mit kleinen Erdschwämmen. Diese ließ er langsam auf der Zunge zergehen, schnalzte dazu vor Vergnügen, strich sich behaglich mit der Hand den Magen herab, als wollte er sie noch auf ihrer Fahrt begleiten, und sagte dazu: »Gut Nacht, lieb Vetterchen!« daß alle, die es hörten, eine heimliche Gänsehaut überlief.
Nur eine war im Schloß, die ihren Abscheu vor den beiden Fremden ganz offen an den Tag legte, und dies war die schöne Maja. So oft sie nur den spitzigen Meerrettich erblickte und daran dachte, daß ihr Vater sie demselben zur Frau geben wolle, so 125 entstürzte ihr eine Flut von Thränen, und oft klagte sie weinend ihrem geliebten Sonntagskind, daß der abscheuliche Doktor es gewagt habe, sie bei der Hand zu ergreifen und sein liebes Bräutchen zu nennen; dann saßen sie oft halbe Tage zusammen und beratschlagten, wie Maja dem entsetzlichen Schicksal entgehen könne, Frau Doktor Meerrettich zu werden.
Das alles aber merkte Meerrettich wohl; deshalb war ihm auch Sonntagskind ein Dorn im Auge und er sann schon längst darüber nach, wie er den Prinzen aus dem Weg schaffen könne. Es waren jetzt nur noch wenige Tage zum schönen Mai, und auf den ersten dieses Monats war die große Operation festgesetzt. Es sollte alsdann vor versammeltem Hof eine Thränenprobe abgehalten werden, und wenn dieselbe zum Ruhm der beiden Doktoren ausfiele, so sollte noch am selben Tag die Hochzeit der schönen Prinzessin mit dem garstigen Quacksalber stattfinden.
Da erklärten die beiden Ärzte, sie hätten eine Salbe aus allerlei beizenden Kräutern für die Augen des Königs zu bereiten, welche mit drei Tropfen von dem Herzblut eines Sonntagskindes angerührt werden müsse.
Darüber erschrak der König sehr!
»Ich habe nur ein einziges Sonntagskind hier 126 am Hofe; das ist mein lieber Neffe und Pflegesohn, den kann ich euch doch nicht schlachten lassen.«
Aber Meerrettich verlangte so nachdrücklich den Tod des Prinzen und Schwammerling unterstützte ihn mit einem solchen Schwall von Worten, und beide malten dem König das drohende Schicksal so erschütternd aus, daß Filz schließlich nachgab und das Sonntagskind noch in derselben Nacht morden zu lassen versprach.
Aber Maja, die schon längst nichts Gutes ahnte, hatte an der Thüre die Reden der beiden Fremden belauscht. Und als ihr Vater sein blutiges Versprechen gegeben hatte, ging sie fort, schlich sich leise, leise in die Kammer des Sonntagskindes und berichtete ihm den Plan, der gegen ihn geschmiedet worden, und beschwor ihn mit Thränen, augenblicklich aus dem Haus und der Stadt und womöglich aus dem Reich zu fliehen.
Nach langer Weigerung ließ sich der Prinz von ihr beinahe mit Gewalt fortdrängen. Sie gab ihm noch eine gute Wegzehrung mit und das arme Sonntagskind schlich zum Haus und zur Stadt hinaus und wanderte fort in die wilde Welt hinein.
Als er aber den Markstein des Königreichs erreicht hatte, drehte er sich um und warf einen letzten Blick auf das Land, das seine Heimat gewesen war. 127 Da ergriff ihn ein so schneidender Schmerz, daß er meinte, das Herz werde ihm zusammengeschnürt. Er mußte sich auf den Markstein setzen, und eine Flut heißer Thränen quoll ihm aus den Augen.
Während er so weinte, hörte er einen leisen Flügelschlag rauschen und ein zierliches Knäblein, nicht mehr als spannelang, kam mit einer goldenen Schale auf ihn zugeflattert, in der es geschickt die Thränen von seinen Wimpern auffing.
»Wer bist du?« rief der Prinz erstaunt, und seine Thränen stockten plötzlich.
»Erblickst du mich?« sagte der Knabe freundlich mit einem feinen Stimmchen. »Dann mußt du wohl ein Sonntagskind sein, denn andere können mich nicht sehen.« Dabei ließ er sich neben dem Prinzen auf den Meilenstein nieder. »Du mußt nämlich wissen, daß ich ein Thränenknabe bin und meine Aufgabe ist es, alle Thränen, die ich finde, in meinem Schälchen zu sammeln. Heute aber gab es viel zu thun; denn da drüben ist ein Vater von zehn Kindern gestorben und da kannst du dir denken, daß ich müde geworden bin. Ich wäre dir deshalb sehr dankbar, wenn du aufhören wolltest zu weinen, damit ich ein wenig ausruhen kann.«
Da trocknete das Sonntagskind rasch seine Augen; denn es war immer froh, anderen eine Gefälligkeit erweisen zu können.
128 »Du wirst freilich müde sein, armer Kleiner,« sagte er. »Ich kann gar nicht begreifen, wie du nur fertig wirst mit so viel Arbeit; es werden ja so schrecklich viel Thränen auf der Erde geweint.«
»Ich bin auch nicht allein,« entgegnete der Knabe; »ich habe viele Tausende von Brüdern, die alle desselben Amtes walten, und diese Thränen bringen wir unserer Gebieterin, der Thränenfee, die über alle Thränen der Erde gesetzt ist. Diese läßt sie von ihren anderen Dienern zählen und wägen; denn am Gewicht erkennt man, ob es echte oder falsche – nämlich die sogenannten Krokodilsthränen – sind, und dann trägt sie die Thränensee zum Throne Allvaters, wo sie jeden Tag Rechnung ablegen muß. Und nun erzähle du, was dir fehlt und warum du so bitterlich geweint hast, der du doch ein Sonntagskind bist und nur Freude und Sonnenschein kennen solltest.«
Da berichtete der arme Prinz alles, was er auf dem Herzen hatte: von seinem Oheim, der nicht weinen konnte; von der schönen Maja und dem garstigen Meerrettich, und auch daß man ihn hatte töten und sein Herzblut abzapfen wollen, verschwieg er nicht.
»Deinen Oheim kenne ich wohl,« erwiderte der Knabe, als er geendet hatte; »das ist ein recht böser Mann, der hat uns vormals viel Mühe und Arbeit 129 gemacht; aber jetzt büßt er auch, wie er verdient hat.«
»O,« rief der Prinz neugierig, »weißt du, wie es zuging, daß er seine Thränen verlor?«
»Freilich weiß ich es,« entgegnete dieser. »Dein Oheim hat durch seinen Geiz und seine Hartherzigkeit so viele Menschen ins Elend gestoßen und so viele Thränen fließen gemacht, daß wir den ganzen Tag nicht mit Sammeln fertig werden konnten und daß uns allen oft die Schalen überliefen. Als er aber gar auch noch den schönen Sonntag aus dem Land gejagt hatte, da war es nicht mehr auszuhalten; denn der hatte uns wenigstens noch von Zeit zu Zeit eine Feierstunde verschafft. Jetzt aber war aller Sonnenschein aus dem Lande geschwunden und nur Sorge und Kummer führten drin ihr Regiment. Da konnten wir die Arbeit nicht mehr bewältigen und wir klagten der Thränenfee unsere Not. Diese stieg hinauf mit ihrer Thränenurne zum Throne Allvaters und zeigte ihm, daß sie voll war zum Überfließen und daß sie und die Ihren ihrem Amte nicht mehr genügen konnten. Und Allvater zählte die Thränen, die an diesem Tage in deines Oheims Reich geflossen und er fand, daß es ihrer mehr als zu viel waren. Und er erlaubte der Thränenfee, den harten Mann nach Gebühr zu strafen. 130 Da hat sie ihm denn ein Siegel vor die Augen gedrückt, das ihm Meerrettich mit allen seinen Latwergen nicht öffnen wird. Das ist nämlich für euch Sterbliche die härteste Strafe, nicht weinen zu können; denn die Thränen sind euch zur Linderung all eurer Leiden gewährt worden; die schwemmen alle Bitternis mit fort, darum sind sie auch so salzig. Wenn sie aber keinen Ausweg finden, so lagern sich solche Mengen von Salz inwendig ab, daß der Mensch von innen versalzen muß und von außen zusammenschrumpft wie altes Pergament. So wird es deinem Oheim gehen und kein Meerrettich und kein Schwammerling können ihm helfen, wenn nicht die Thränenfee selber sich erweichen läßt und ihre Siegel löst.«
»Ach,« sagte der Prinz nach einigem Schweigen, denn er war über diese Enthüllungen sehr nachdenklich geworden – »da du alles weißt, könntest du mir nicht auch ein Mittel angeben, wie die Gunst der Thränenfee zu gewinnen wäre, daß mein Oheim durch mich seiner Thränen wieder habhaft würde und ich selbst den bedungenen Lohn gewinnen könnte.«
»Da kann ich dir keinen Rat geben,« erwiderte der Kleine. »Du müßtest dich an die Thränenfee selber wenden und die ist in diesem Augenblick weit fort über Land. Wegen deiner Maja aber kannst du ruhig sein. Denn wenn der König sieht, daß ihm 131 der Doktor auch nicht helfen kann und ihm nur die Augen kitzelt, daß sein Durst nach Thränen immer brennender wird, so wird er ihn mit Schimpf und Schande von sich jagen, das ist gewiß. Also sei du nur getrost! – wenn ich die Thränenfee sehe, will ich sie von dir grüßen und sie bitten, daß sie dir beistehe. Du bist ja ein Sonntagskind und da muß zuletzt noch alles gut werden.«
Der Prinz dankte dem guten Knaben und versprach ihm zum Lohn, mit den Thränen künftig viel karger zu sein und ihm auch bei andern so viel wie möglich Mühe zu sparen.
Das Thränenknäblein flatterte davon, und auch der Prinz machte sich auf und schritt getrösteten Herzens in das fremde Land hinein.
Als er kaum einige Schritte gegangen war, da sah er auf einem Acker eine alte Frau arbeiten, die mühte sich so, daß ihr der Schweiß in hellen Tropfen über das Gesicht lief. – Das ist doch hart, dachte er, daß sich die alte Frau so um ihr tägliches Brot plagen muß. Freundlich trat er auf sie zu und erbot sich, ihr bei ihrem Geschäft behilflich zu sein. Die Frau reichte ihm, ohne aufzusehen, einen Spaten hin und er legte rüstig mit Hand an. Es war ein Wunder, wie ihm das von statten ging, gerade als habe er sein Lebtag nichts gethan, als auf dem Felde 132 gearbeitet. Erst als der ganze Acker umgejätet war, erlaubte er sich auszuruhen. Da legte auch die Frau den Spaten weg, ging nach ihrer Hütte und brachte ein einfaches Abendmahl, das sie mit dem Sonntagskind teilte. Der Prinz aß mit trefflichem Appetit, teils weil er von der harten Arbeit hungrig geworden, teils auch, weil er von seines geizigen Oheims Tafel her kein Feinschmecker war.
»Gute Mutter,« sagte er, nachdem er sein Abendbrot verzehrt hatte, »ich bin fremd und obdachlos, wollt Ihr mich nicht zu Euch nehmen? Ich will Euch gern dafür künftig Eure Arbeit ganz allein thun, damit Ihr ruhen könnt in Eurem Alter.«
»Darf nicht ruhen, darf nicht ruhen, mein Söhnchen,« sprach die Alte. »Muß arbeiten von morgens früh bis abends spät, das ist meine Bestimmung. Frau Woche muß selbst ihr Geschäft verrichten und kann dich junges Blut nicht zu sich nehmen. Wenn du aber eine Unterkunft suchst, so geh' hinüber in den großen Wald. Da in einer Eisenhütte wohnen meine Söhne, man nennt sie nur die sieben Brüder; du kannst sie nicht verfehlen. Die nehmen gern einen tüchtigen Arbeiter, wie du bist, zu sich. Sage ihnen einen Gruß von der Alten und sie habe dich geschickt.«
Und als ihr das Sonntagskind dankbar die Hand küßte, setzte sie freundlich hinzu:
133 »Du wirst wahrscheinlich nur sechse daheim finden, denn der Älteste ist fast immer über Land. Wenn er aber kommt, so sieh zu, daß du seine Gunst gewinnst; denn wen der in seine Obhut nimmt, der ist geborgen für immer. Und nun geh' mit Gott!«
Der Prinz machte sich wieder auf die Beine und kaum hatte er den Waldweg betreten, als ihm das Dröhnen vieler Hämmer und das Schnurren von Rädern entgegentönte. Diesem Schall ging er nach und erreichte bald, unter dunkeln Tannen und hundertjährigen Eichen versteckt, den Eisenhammer der sieben Brüder. Fünf baumstarke Männer schmiedeten und hämmerten mit nackter Brust am Feuer; ihre Gesichter waren so rot wie die Flamme, die um sie loderte; die Räder schwirrten und die Ambosse ächzten unter ihren sehnigen Händen, daß es eine wahre Lust war. Der sechste hatte sich von der Arbeit weggeschlichen und lag mit aufgeschlagenen Hemdärmeln unter dem Fenster, wo er sich aus einer Weinflasche gütlich that. Er trug einen arg zerlumpten blauen Kittel, sein Gesicht war blaurot aufgelaufen und auch seine Nase spielte vom Kupfer so stark ins Bläuliche hinüber, daß man leicht erkennen konnte, daß er die Flasche nicht erst heute zur Busenfreundin gemacht hatte. Im Augenblick, als sich das Sonntagskind näherte, warf eben einer der fünfe den Hammer zu 134 Boden, stürzte sich auf den am Fenster, riß ihm die Flasche weg und schrie zornig:
»Du blauangelaufener Faulpelz und Bärenhäuter, hat man dich wieder einmal ertappt auf dem sauren Most?«
Das war aber nur so eine Redensart, denn es war gewiß kein saurer Most in der Flasche. Nun kamen auch die andern herzu, umringten zankend und scheltend den ertappten Sünder und ermahnten ihn mit harten Worten, vom Trunk zu lassen und seine Pflicht zu thun.
»Sieh uns an!« riefen sie. »Wann gestatten wir uns solchen Müßiggang? – und wir hätten doch ebensoviel oder so wenig Recht dazu wie du. Wir plagen uns den lieben langen Tag, nur um unserm Ältesten, wenn er heimkommt, eine Freude zu machen, und du bildest dir ein, du dürfest leben wie ein Graf oder wie er, der doch dein und unser aller Herr und Gebieter ist!«
»Ihr seid dumm genug,« entgegnete höhnisch der Blauangelaufene, »daß ihr euch so schindet und plagt, und alle für den einen. Doch das könnt ihr halten, wie ihr wollt. Ich aber bin der Zweitälteste und wenn unser Bruder fort ist, führe ich das Regiment und ich will doch sehen, wer von euch Gelbschnäbeln mir etwas drein reden darf.«
135 Dabei stieß er den Hammer und die andern Werkzeuge, welche ihm seine Brüder aufnötigen wollten, zurück, und wer weiß was sich noch aus diesem Streit entsponnen hätte, wäre nicht plötzlich das Sonntagskind dazwischen getreten.
»Ihr habt einen Gehilfen nötig,« sagte er; »so nehmt mich; mich schickt eure Mutter!«
Die Männer drehten sich um und betrachteten mit zweifelnden Blicken seine schlanke Gestalt und weiße Haut. Der Prinz aber setzte schnell hinzu: »Stoßt euch nicht an meinem Aussehen; wenn ich auch ein Prinz und ein Sonntagskind bin, so bin ich doch gar nicht verzärtelt und habe Mark in den Knochen wie einer. Soll ich euch eine Probe ablegen?«
Damit griff er nach dem Hammer und führte einen so gewaltigen Schlag, daß der Amboß barst und der Hammer zersplitterte. Deß wunderten sich die Brüder über die Maßen, sie schüttelten ihm die Hand und sagten:
»So, du bist ein Sonntagskind? So bleibe nur bei uns, du sollst über nichts zu klagen haben!«
Da blieb das Sonntagskind in der Eisenhütte bei den sieben Brüdern und teilte ihr hartes Tagwerk und ihr schmales Brot. Er verrichtete alle Arbeit für den Blauen, der den ganzen Tag auf der 136 faulen Haut lag und schlief oder Maulaffen feil hielt. Und wenn die andern den Faulpelz an seine Pflicht mahnten, so antwortete dieser jedesmal, er sei der Zweite im Regiment und schere sich den Teufel um seine Brüder. Die Anderen erzählten dem Sonntagskind, der Älteste habe ihn so verwöhnt, weil er ihn zuweilen auf seine Reisen mitgenommen. Von ihrem Ältesten aber sprachen sie immer mit glänzenden Augen und fast andächtigem Gesicht; sie konnten dem Prinzen nicht genug rühmen, wie schön und gut er sei, und daß sie alle diese harte Arbeit nur um seinetwillen verrichteten, damit er selber immer schön gekleidet gehen und die feinsten Bissen speisen könne, und seine schönen Hände nie für gemeines Tagewerk zu regen brauche. Dafür belohne er sie aber auch durch schöne Geschenke, die er für sie mitbringe; seine Ankunft sei jedesmal ein Fest; denn dann ruhe jede Arbeit und die Freude ziehe mit ihm ein.
»Wir fragen ihn nie woher er kommt, noch wohin er geht,« sagten sie. »Zur erwarteten Stunde steht er in unsrer Mitte, und dann ist es, als verwandle sich unsre Hütte in ein Königsschloß.«
Das Sonntagskind wurde nun sehr begierig, diesen Ältesten zu sehen, und konnte seine Ankunft kaum erwarten; auch erinnerte er sich, daß ihm die alte Frau gesagt hatte, er müsse seine Gunst zu 137 erwerben suchen. Deshalb widmete er sich mit doppeltem Eifer seiner Aufgabe, damit der Älteste ja mit ihm zufrieden sein solle.
Eines Tages bemerkte der Prinz eine ganz besondere Bewegung unter den sechs Brüdern; das Hammerwerk stand still; dafür arbeiteten sie aber desto emsiger, den Boden zu scheuern, alles spiegelblank zu putzen und ihrem Heimwesen ein trauliches Ansehen zu geben. Selbst der faule Blaue rappelte sich von seiner Bärenhaut auf und regte rüstig die Hände. Das Sonntagskind aber ward in den Wald hinausgeschickt, um frische Eichenzweige von den Bäumen zu schneiden und schöne Kränze zu winden; denn, sagten die Brüder, sie erwarteten jetzt die Ankunft ihres Ältesten.
Und des andern Morgens stand plötzlich der Ersehnte in ihrer Mitte, schön und glänzend wie der junge Tag, der eben über den Eichenwipfeln emporstieg. Er war prächtig gekleidet und von seinen Augen und seinem glänzenden Antlitz strahlte ein Schimmer, der nicht von dieser Welt war. Golden wie die Sonne glänzte sein Gelock, und wie Sonnenschein war auch sein Lächeln und seine Rede. Die sechs Brüder und das Sonntagskind mit Feierkleidern angethan, umringten ihn jubelnd und der schöne Gast teilte an alle Geschenke aus, auch der faule Blaue ward nicht vergessen.
138 Als er aber des Prinzen ansichtig ward, lächelte er ihn freundlich an und rief:
»Ei, das ist ja eines meiner Pflegekinder, was hat dich zu mir hergeführt?«
»Wollte Gott, ich wäre dein Pflegekind,« antwortete der Prinz bescheiden. »Dann müßte es mir ja gut gehen in der Welt, hat die alte Frau gesagt. Aber ich bin nur ein armes Sonntagskind und ein vertriebener Prinz, und habe hier bei deinen Brüdern Dienste genommen.«
»So,« sagte der schöne Ankömmling und zog ein finsteres Gesicht, »dein alter Filz von Oheim hat dich auch zum Land hinausgestoßen? Hat er es mir doch selbst nicht besser gemacht. Aber, warte nur, die gerechte Strafe wird ihn treffen!«
Da schüttelten die sechs Brüder ihre sehnigen Arme und riefen im Chorus: »Rache! Rache!« und der Blaue schrie am lautesten.
Der Prinz aber erzählte nun, wie den König die Strafe bereits getroffen habe, und während er sprach, fiel ihm plötzlich ein, daß heute der erste Mai sei, der Tag, an dem seine schöne Prinzessin dem garstigen Quacksalber angetraut werden solle, und darüber brach er in bittere Thränen aus. Der Schöne aber trat gütig auf ihn zu und sagte tröstend:
»Weine nicht! Du bist ja einer von den Meinen, 139 ein Sonntagskind, ich sehe es an dem roten Kreuz auf deiner Stirne. Ich war dabei, als du geboren wardst, und da habe ich dir diesen Stempel aufgedrückt, den niemand sieht als ich und an dem ich die Meinigen erkenne. Denn alle, die mit diesem Kreuz gezeichnet sind, die sollen es mühelos gut haben auf dieser Erde. Unsichtbar umgeben sie dienstfertige kleine Geister, die ihnen die Pfade ebnen und auch das Unheil zum Heil verkehren.«
»Du mußt nämlich wissen,« fuhr er fort, »daß ich der Sonntag bin, den dein Oheim vor Jahren aus schnödem Geiz des Landes verwiesen hat. Aber es ist hohe Zeit, daß ich dahin zurückkehre, und darum will ich dich zum Boten erwählen, daß du mir die Thore öffnest und meine Ankunft allem Volk verkündest. Mache dich sogleich auf und kehre in das Königsschloß zurück; dort ist der Tisch schon gedeckt. Deine Braut erwartet dich und das Land will dir huldigen als seinem König.«
Da nahm der Prinz mit heißem Dank von dem Sonntag Abschied, die Brüder drückten ihm derb die Hand und selbst der faule blaue Montag, mit dem er sonst auf etwas gespanntem Fuß gestanden, gab ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß auf den Weg. –
Die schöne Maja hatte unterdessen traurige 140 Tage in ihres Vaters Hause verlebt. Des Königs Gemüt war seit der Flucht des Sonntagskindes noch trüber und menschenfeindlicher geworden, und Maja sah wohl, daß es die Reue über die Ermordung seines Neffen war, was ihn so bedrückte; allein sie wagte nicht ihn aufzuklären. Er hoffte nicht einmal mehr auf seine Heilung, hatte aber auch nicht die Kraft, sich den beiden Doktoren zu widersetzen, die sich schon wie die Herren gebärdeten und im ganzen Land glänzende Vorbereitungen zu der Vermählung der Königstochter mit dem geheimen Leibarzt Sr. Majestät, dem allererleuchtetsten und weisesten Dr. Meerrettich, treffen ließen. Sie brachten den ganzen Tag in einem geheimen Kabinett zu und niemand wußte, was sie da zusammen brauten. Über Sonntagskinds Verschwinden beunruhigten sie sich nicht; denn ein alter Diener, der noch menschlichere Zeiten im Hause gesehen, hatte ihnen ein Schälchen Lämmerblut gereicht mit dem Vorgeben, daß es aus der Todeswunde des Prinzen geflossen sei.
So kam der Vorabend des Festes heran. Große Geschäftigkeit herrschte im Schloß, Köche und Küchenmägde wußten nicht mehr, wo ihnen der Kopf stand. Denn seit der Ankunft der beiden Doktoren ging es immer hoch her bei Tafel. Und gar für die morgige Feier durfte nicht gekargt werden, und sollte darüber 141 der lang gesparte Schatz des Königs in Rauch aufgehen. Denn über seinem Unglück hatte der König sogar seine Sparsamkeit vergessen. Bis spät in die Nacht hinein wurde geschmort und gebacken, und erst als die Mitternachtsstunde heranrückte, verstummte allmählich das Summen und Treiben in Küche und Vorratskammern.
Die arme Maja lag in ihrem Bette und weinte bittere Thränen – Thränen im Überfluß, in ihr Kopfkissen. – »Da hab' ich nun was Rechtes an meinen Thränen,« sagte sie zu sich selber. »Ich kann gar nicht begreifen, wie mein Vater so darauf erpicht ist; wenn ich nur könnte, ich möchte sie ihm gerne abtreten.«
Indes sie so dalag und ihrem Schmerz freien Lauf ließ, kam allmählich die Mitternacht heran. Da war es, als ob plötzlich ein ganz eigenes Leben in ihrem Zimmer beginne. Die Scheiben klirrten, die Tapeten knisterten und die Dielen knarrten unablässig, als hätten sie einander etwas recht Wichtiges zu erzählen, und besonders wollte es Maja bedünken, daß sie die alte Wanduhr mit ganz bedeutsamen Augen ansehe. Es fiel ihr ein, daß heute Walpurgisnacht sei und daß um diese Zeit allerlei Zauber wirke; deshalb wickelte sie sich fester in ihre Decken und wollte die Augen von der Uhr abwenden, aber 142 sie konnte nicht loskommen. Da schien es ihr plötzlich, als höre sie in dem Ticken der alten Schwätzerin ganz deutlich ihren Namen nennen.
»Maja, Maja,« sagte der Perpendikel.
»Was gibt's?« entgegnete sie erschrocken.
»Stelle doch ein wenig die Uhr!« fuhr der Perpendikel fort, »und nimm mich aus meiner unbequemen Lage herunter, daß ich mich ein wenig ausruhen kann. Man wird ja ganz steif und krampfig, wenn man immerfort auf dem Kopf gehen muß.«
Zitternd erhob sich Maja vom Lager, schlich mit bloßen Füßen an das Uhrengehäuse und stellte mit einem Ruck das Uhrwerk, indem sie zugleich den glatten kalten Perpendikel von seinem Posten herunternahm und behutsam auf den Boden stellte.
Der schlug vor Freude ein paar Purzelbäume, reckte und dehnte sich, richtete sich sodann auf seinem einen Bein kerzengerade auf und hob seinen glänzenden Messingkopf in die Höhe, der einer gelben Mondscheibe glich.
»Ach,« sagte er mit einem tiefen Seufzer, »du glaubst gar nicht, was das für ein unbehagliches Leben ist! Ich bin der geplagteste Mann im ganzen Hause. Keine Ruh' bei Tag und Nacht, nichts was mir Vergnügen macht, und ich war doch auch in Arkadien geboren!«
143 »Wer hat dich denn zu diesem schlechten Leben verdammt, du armer Mann?« fragte die gutherzige Maja.
»Ach, ich war so ein fürwitziger kleiner Junge; da stach mich einmal die Neugier; ich kletterte an der Uhr hinauf und guckte zum Hinterthürchen hinein, um den Uhrengeist in seiner Werkstätte zu belauschen, wie er da auf seinen Rädchen und Klappen hämmert und surrt; aber da sah mich die böse Sieben, die da droben auf dem Zifferblatt nämlich; die sagte es dem Zeiger, und der Zeiger zeigte es dem griesgrämigen Alten, dem Uhrengeist an; der kam aus seinem Häuschen heraus, nahm mich beim Schopf und hing mich an einem Bein auf, und da muß ich ihm nun zur Strafe Schnellläufersdienste thun und noch dazu auf dem Kopf. Ist das nicht schändlich? – Nur wenn die Uhr einmal zufällig stehen bleibt, dann schläft der böse Alte ein und ich kann ausschnaufen und mich auch mit den zwölf niedlichen Fräulein da droben ein wenig lustig machen.«
So flunkerte der Perpendikel, indem er sich fortwährend überschlug, wie Maja überhaupt bemerkte, daß er nicht lang aufrecht stehen konnte, weil sein Kopf viel zu schwer war und ihn immer nach unten zog.
»Ach, Perpendikel,« sagte nun Maja, »wenn du 144 so gelehrt bist und sogar den Zeitgeist bei der Arbeit belauscht hast, so könntest du mir wohl einen Rat geben, wie ich den abscheulichen Meerrettich los werden kann.«
»Hm, hm,« entgegnete dieser, »wenn ich nur reden dürfte – aber in diese Dinge darf ich mich nicht mischen. Kommt Zeit, kommt Rat! – Jetzt sei so gut und mach' mir die Thüre auf; ich möchte ein wenig hinaus ins Freie, meiner alten Freundin droben auf dem Dach, der Wetterfahne, einen Besuch abstatten und sehen, ob sie's immer noch so flott treibt wie vor Jahren.«
Dienstfertig öffnete ihm Maja die Thüre und begleitete ihn auch auf den Korridor hinaus, um ihm zu seinem weiteren Fortkommen behilflich zu sein. Mit Erstaunen sah sie, wie rasch und geschickt er sich bei seiner unbequemen Gangart fortbewegte. Er stellte sich zuerst auf den Kopf, schnellte sich dann mit einer starken Bewegung weit voran und kam auf sein eines Bein zu stehen, dann schlug er wieder der Länge nach zu Boden, richtete sich auf, ruhte auf dem Kopf ein wenig aus und weiter gings in regelmäßigen Sprüngen, bis die letzte Thür erreicht und er mit einem Satze im Freien war.
Nachdenklich wollte Maja in ihr Schlafzimmer zurückkehren, als ein ungewohntes Geräusch von der 145 Küche her ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie vernahm viele verworrene Stimmen, die aber viel zu fein und dünn waren, um von den Köchen oder Küchenjungen herzurühren.
Vorsichtig näherte sie sich der verschlossenen Thüre und lugte durchs Schlüsselloch. Da erblickte sie auf dem Boden in zahlreichen Gruppen die wunderbarste Versammlung, die sie je gesehen hatte. Ganz in der Mitte saß auf ihren Schwanz gekauert eine riesige rote Rübe, und um sie her eine ganze Menge roter, gelber und weißer Rüben, Schwarzwurzeln, Rettiche, Petersilien, Artischocken, verschiedene Lauche und Pilze, daneben mit ernster Miene ein riesiges Krauthaupt und alle möglichen Garten- und Waldgewächse, die der Koch für den morgigen Schmaus in Bereitschaft hielt. Jetzt aber waren sie aus ihren Schüsseln und Körben heruntergekrochen und hatten sich alle hier versammelt zum Gericht. Denn daß ein Gericht gehalten wurde, erkannte Maja auf den ersten Blick an den strengen, strafenden Mienen und dem feierlichen Ton der Redner. Vor der roten Rübe, die das Richteramt verwaltete, stand der Kläger in Gestalt eines finsterblickenden Rettichs, eine langaufgeschossene Spargel schrieb das Protokoll auf den Rücken einer schwerfälligen jungen Kartoffel, die auch hatte mit zu Gericht sitzen wollen, aber schlaftrunken eingenickt war.
146 Maja stand vor Erstaunen und Schreck wie eingewurzelt; aber die Neugier siegte und sie klinkte ganz leise die Thüre auf, um ja nichts von dieser außergewöhnlichen Sitzung zu verlieren. Da vernahm sie, wie die rote Rübe sprach:
»Da sich die Delinquenten geweigert haben, vor unserem Richterstuhl zu erscheinen, so seid ihr einig, daß das Urteil in contumaciam über sie gesprochen werden soll?«
»Ja, ja,« riefen alle einstimmig, »nieder mit ihnen, nieder!«
»So antwortet mir, sind die beiden Angeklagten: Meerrettich aus Nürnberg, der sich den Geh. Leibarzt Sr. Majestät des Königs Filz nennt, und sein Gehilfe Schwammerling, schuldig des Abfalls von den Ihren, des Betrugs und der Widersetzlichkeit?«
»Schuldig!« tönte es in schauerlichem Chor zurück, daß Maja auf ihrem Lauscherposten zusammenbebte.
»Welche Strafe hat der vorgebliche Doktor Meerrettich verdient?« hob der Richter wieder an.
»Den Tod, den Tod als Verräter!« riefen alle.
»Und sein Gehilfe?«
»Den Tod nach Standrecht!« hallte es zurück.
»Wie soll die Strafe an dem Delinquenten Meerrettich vollzogen werden?«
»Durchs Reibeisen! Durchs Reibeisen!«
147 »Und an Schwammerling?«
»Durchs Hackmesser, wegen mildernder Umstände!«
»Und wer soll das Urteil vollstrecken?«
»Die schönste Königstochter!« riefen alle.
Da fuhr Maja so heftig zusammen, daß sie an die Thüre stieß, welche knarrend aufsprang. Aber ehe sie Zeit fand, zu entfliehen, hatten sich schon alle die kleinen Küchengeister auf sie gestürzt und sie am Kleide gefaßt, um sie in ihren Kreis zu ziehen.
»Schönste Königstochter,« riefen sie, »du sollst unser Gericht, unser gerechtes Gericht vollstrecken. Nimm Reibeisen und Hackmesser und bringe sie von Rechts wegen vom Leben zum Tode!«
»Um Gottes willen,« wehrte Maja mit aufgehobenen Händen, »was haben euch denn die Doktoren zuleide gethan?«
»Abtrünnige sind sie, Verräter!« sprach das Krauthaupt feierlich. »Sie haben ihren Stamm verlassen, verleugnet und verfolgt, wo sie nur konnten. Sie sind mit den Menschen zu Tische gesessen und haben die Gebeine der Ihrigen unter die Füße getreten; darum müssen sie sterben. Und dich haben wir zum Werkzeug gewählt, weil du selbst durch ihren Tod vom größten Übel befreit werden sollst. Sieh uns an! Alle, die wir hier beisammen sind, müssen morgen 148 deinem Feste zu Ehren den Tod erleiden. Aber das kränkt uns nicht, wenn wir nur zuvor die Strafe an den Verrätern vollzogen sehen. Vorwärts und fasse Mut! Willst du dein Leben an einen gemeinen Meerrettich verschleudern?«
Ratlos sah sich Maja um; da erblickte sie etwas Glänzendes, das durch die offene Thüre auf sie zugeschossen kam.
»Ach, Perpendikel!« rief Maja.
»Vorwärts!« sagte der Perpendikel, »jetzt gilt's, das ist die rechte Stunde. Wenn du die versäumst, so ist alles verloren. Sowie ich wieder in meinem Gehäuse hänge und meinen Werktagsgang gehe, dann ist es zu spät und der gute Zauber hat keine Macht mehr.«
»Ach, was sinnt ihr mir an?« entgegnete sie. »Das schickt sich nicht für mich, ich bin doch kein Henker.«
»Ei,« sagte der Perpendikel, »für eine künftige Hausfrau schicken sich Reibeisen und Hackbrett wohl. Frisch, Bräutchen, Hand angelegt! Morgen ist dein Hochzeitstag!«
Da dachte Maja wieder mit Schaudern an den verhaßten Bräutigam, der ihr geliebtes Sonntagskind hatte schlachten wollen, und ein unbeschreiblicher Zorn überkam sie. Widerstandslos ließ sie sich von den 149 kleinen Rachegeisterchen fortziehen nach dem Zimmer, wo die beiden Fremden schliefen, denn sie bewohnten auf ihren ausdrücklichen Wunsch ein gemeinsames Kabinett; der Perpendikel kugelte voraus, um den Weg zu zeigen. Aber wie erstaunte Maja, als sie in das Zimmer trat und an des Doktors Stelle einen langen, kahlen, ganz gemeinen Meerrettich im Bette liegen sah! Zögernd wagte sie es endlich, näher zu treten und eine Hand nach ihm auszustrecken – er blieb aber unbeweglich liegen. Dann trat sie zurück und blickte nach Schwammerling. Statt seiner erblickte sie einen breiten, aufgequollenen, höchst ekelhaften Pilz auf den seidenen Kissen.
»Jetzt siehst du ihre wahre Gestalt,« sagte der Perpendikel; »sie waren nie etwas anderes als das gemeinste Gewächs, nur gut für die Küche. Aber eure Augen waren mit Blindheit geschlagen; diese Strafe hatten höhere Wesen über euch verhängt.«
Da griff Maja entschlossen nach dem Meerrettich. Mit zwei Fingern packte sie ihn und zog ihn aus dem Bett. Vier kräftige, feuerfarbene Rüben überreichten ihr das Reibeisen, und das Krauthaupt riß sich ein großes Blatt vom Leib, welches die sterblichen Überreste des Gerichteten empfangen sollte. Anfangs griff die Prinzessin noch etwas ängstlich an; als sie aber sah, daß kein Blut floß, wurde sie immer 150 herzhafter, und in wenigen Minuten lag der ganze Meerrettich geschabt und zerrieben auf dem Blatte. Dann trocknete sich Maja die Stirn und blickte nach Schwammerling. Da überreichten ihr die kleinen Geister mit Jauchzen Hackbrett und Messer, und während alle in die Hände klatschten und jubelten und der Perpendikel fröhliche Purzelbäume über den Boden schoß, ward auch an Schwammerling das Urteil vollzogen. Als die Rache gesättigt war, sammelten sich alle zu einem feierlichen Zug, voran das Krauthaupt mit den vier roten Rüben, welche die Reste der Gerichteten trugen, und schritten ernst zur Küche zurück. Maja folgte wie im Traum. Dort angekommen, stellten sie sich wieder in einem Kreise auf, das Krauthaupt trat aus der Mitte hervor und schickte sich zu einer Rede an. Da erhob sich aus dem Nebenzimmer, welches Majas Schlafgemach war, ein eigentümliches Surren und Schnarren, welches aus dem Gehäuse der alten Uhr zu kommen schien; es war, als möchte sie sich gern in Bewegung setzen und könne nicht, weil ihr etwas fehle.
Der Perpendikel fuhr in die Höhe. »Ich komme, ich komme!« rief er und schoß hinaus. Gleich darauf erscholl ein feierlicher Schlag, der Ein Uhr nach Mitternacht verkündete. Maja sah sich um: da lagen alle Gemüse, Feld-, Garten- und Waldgewächse, die 151 eben noch in buntem Chaos durcheinander gewimmelt, friedlich wieder in ihren Körben, als hätten sie sich nie vom Platz geregt. Auf dem Küchentisch aber lag ein abgerissenes Krautblatt auf einem Tellerchen, welches einen geriebenen Meerrettich und einen kleinen gehackten Erdschwamm enthielt. Zugleich strömte kalte Nachtluft durch das offen gebliebene Fenster und fröstelnd schlich sich Maja in ihr Bett zurück.
Als sie am andern Morgen aus einem tiefen Schlaf erwachte, fiel ihr erster Blick auf den Perpendikel an der Wand, der ruhig seiner Wege ging, als wüßte er von nichts, und Maja mußte lachen über ihren sonderbaren Traum. Da traten die Kammerfrauen mit dem Brautschmuck herein. Gefaßt ließ sich die Prinzessin zum Feste schmücken; denn seit ihrem Traum war eine wunderbare Heiterkeit über sie gekommen und es dünkte ihr, als müsse noch alles recht werden.
Der König saß indessen im Festschmuck auf seinem Thron, um ihn her alle Würdenträger des Reichs, und wartete der Dinge, die da kommen sollten. Aber die beiden Doktoren waren nicht erschienen, und als die Zeit zu lang wurde, da begann der König unruhig auf dem Throne hin und her zu rücken. Der Kammerdiener, den man nach ihnen aussandte, brachte die Meldung, die beiden Herren hätten noch nicht 152 geruht, sich zu erheben. Da schickte man ihn zurück, um sie zu wecken, und diesmal berichtete er mit Bestürzung, daß er die beiden Betten leer gefunden habe. »Sie müssen wohl in aller Frühe über Land gegangen sein, da sie noch niemand gesehen hat,« meinte der oberste Kämmerer, und der König setzte sich wieder auf dem Thron zurecht und hub aufs neue zu warten an. Der ganze Hof wartete mit ihm und so leise, daß man eine Mücke hätte schwirren hören; es wagte aber keine zu schwirren. Als jedoch Stunde um Stunde verrann und die Erwarteten noch immer nicht erschienen, da ward zuerst das versammelte Volk unruhig und es entstand ein unwilliges Murmeln unter dem Hofgesinde, das sich bis in den Festsaal verbreitete. Der König fragte nach der Ursache und man antwortete ihm, die Braten für das Festmahl würden nächstens anbrennen und die Suppe werde kalt. Dies verdroß den König über die Maßen; er erhob sich und gab das Zeichen, daß das Mahl ohne die Gäste beginne. Bei Tafel saß Maja im bräutlichen Schmuck zur Rechten ihres Vaters. Der Platz für die Gäste war leer geblieben.
Als schon das Mahl begonnen hatte, erschien plötzlich ein Jüngling, den niemand kannte, im Saal; es war eine schlanke, kräftige Gestalt mit 153 sehr gebräuntem Antlitz und kostbar gekleidet, welche ungezwungen durch die Reihen schritt und sich auf den leeren Stuhl zur Linken des Königs niederließ. Maja stieß einen Schrei aus, als sie des Fremden ansichtig wurde; er aber winkte ihr mit der Hand, zu schweigen, und sie sah stumm auf ihren Teller nieder. Alle Anwesenden blickten verwundert auf den Ankömmling; da aber der König kein Zeichen des Mißfallens gab, so wagten auch die andern nicht, das ihrige laut werden zu lassen. Es war überhaupt, als ob der König von allem um ihn her gar nichts wahrnehme; finster brütend blickte er vor sich nieder und ließ durch einen Wink alle Speisen an sich vorübergehen. Noch auffallender benahm sich der Fremde; denn er drehte beständig den Kopf nach hinten, als ob jemand hinter seinem Stuhle stehe, mit dem er sich durch Gebärden und Zeichen unterhalte, es war aber niemand zu sehen. Plötzlich erschien ein zierlich gekleidetes Knäblein und stellte eine kleine goldene Schale, worin auf einem grünen Blatt ein unscheinbares Gehäcksel lag, vor den rätselhaften Fremden hin. Maja schauderte zusammen, denn sie gedachte an ihren Traum. Der König aber wendete langsam den Kopf, wie von einem Magnet angezogen; ein freundliches Lächeln glitt über seine Züge und er blickte das unbekannte Gericht mit sehnsüchtigen Augen 154 an. Rasch und mit einer tiefen Verbeugung überreichte ihm der Fremde die Schale und der König kostete. Alsbald verzog er bitterlich die Lippen und drückte die Augen ein; da er aber dabei zu lächeln versuchte, so kam es, daß er das allersonderbarste Gesicht schnitt und die Anwesenden kaum ihre Lachlust bemeistern konnten. Der König aber hob mit einem Blick nach oben die Schale in die Höhe, setzte sie dann vor sich nieder und verzehrte ihren ganzen Inhalt.
Er blinzelte ein wenig und hob die Augen dankbar nach dem fremden Spender dieser Labung.
»Mein Neffe!« rief er plötzlich; »liebes Sonntagskind, du lebst und dein schuldloses Blut ist nicht vergossen worden! O wohl mir, daß diese Last von meinem Herzen gewälzt ist! Komm, komm in meine Arme!«
Der Prinz küßte ihm gerührt die Hand, und als sich die beiden umschlungen hielten, wurden des Königs trübe Augen heller und heller; zwei glänzende Tropfen traten hervor, durchsichtig wie Krystall; sie quollen langsam nieder und ihnen folgte ein heller Wasserstrahl.
»Der König weint!« riefen alle und flogen von den Sitzen; durch den Palast hinaus auf den Vorplatz, und durch die ganze Residenz verbreitete sich 155 wie ein Lauffeuer der Ruf, den ein tausendstimmiges Echo zurückhallte: »Der König weint!«
Ja, er weinte und durch seine Thränen hindurch hielt er unverwandt die Augen auf den Wiedergefundenen geheftet, der nun auch von den andern erkannt und jubelnd umringt wurde.
»Aber wo sind meine teuren Freunde, die Nächsten an meinem Thron?« rief der König schluchzend. »Wo bist du, edler Meerrettich, daß ich dich als Schwiegersohn umarme, und du, mein würdiger Schwammerling?«
»Du wirst sie niemals wieder sehen,« sprach der Prinz feierlich. »Sie haben ihre Bestimmung erfüllt und erheben auf Belohnung keinen Anspruch mehr. Nein, niemals wieder!«
»Niemals wieder!« sagte der König dumpf, und seine Thränen strömten heftiger.
Da trat der Prinz mit der freudestrahlenden Maja vor ihn und verlangte den bedungenen Lohn für seine Heilung.
»Nimm sie!« sagte der König, »und meinen Segen dazu und seid glücklich!«
Indes sich alle glückwünschend um das verlobte Paar drängten, tönten von außen neue, noch lautere Jubelrufe des Volkes herein:
»Der Sonntag kommt, der Sonntag ist wieder da; es lebe der Sonntag!«
156 Da öffnete sich die Thüre und herein trat ein schöner Jüngling, dessen lichtes Haupthaar glänzte wie die Sonne. Er führte ehrerbietig eine alte Frau mit runzeligem Gesicht und schwieligen Händen am Arm, in welcher einige der Anwesenden jene Bettlerin zu erkennen glaubten, welche König Filz einst vor langen Jahren aus seinem Schloß gestoßen hatte und deren Fluch ihm so verhängnisvoll geworden war. Sechs rüstige, baumstarke Männer in Arbeitskitteln folgten diesem Paar. Der Schöne küßte Braut und Bräutigam auf die Stirn, begrüßte alle Anwesenden und setzte sich dann mit seiner Mutter und den sechs Brüdern zu Tisch und alles Licht schien nur von seiner Stirne auszustrahlen. Maja aber blickte mit verklärtem Gesicht auf ihren Bräutigam und wunderte sich, wie er in der kurzen Abwesenheit sich so verändert hatte, so schön und männlich geworden war. Alle Anwesenden schmausten, zechten und jubelten, und die sechs Brüder aßen wie ein ganzes Regiment. Es versteht sich, daß der blaue Montag auch heute des Guten ein wenig zu viel that.
Nur der alte König war ganz still von der Tafel weggeschlichen, um in der Stille sich seiner wieder gewonnenen Thränen zu freuen. Er weinte vor Freude, vor Rührung, vor Reue; er weinte unaufhaltsam, und als am Abend der Prinz mit seiner 157 schönen Braut am Arme spähend vor der Thüre seines Gemaches stand, da sah er den Alten sanft entschlummert in seinem Lehnstuhl liegen mit einem Lächeln auf dem toten Antlitz, wie ein schlafendes Kind.
Aber ein kleiner Knabe mit glänzenden Flügeln an den Schultern flatterte auf den jungen König zu und zeigte ihm ein Gefäß schier größer als er selbst, bis an den Rand gefüllt, mit einem klaren, glänzenden Naß.
»Sieh, wie schwer!« sagte der Kleine, »es zieht mich fast zu Boden.«
»Sei getrost!« entgegnete der junge König. »Von nun an sollst du bessere Tage haben in meinem Reich.«
Hoffen wir, daß er sein Wort gehalten hat! 158