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Die Herbstsonne strahlte vom frühen Morgen an und ließ die roten Stühle noch röter erscheinen. Jekaterina Petrowna achtete aber nicht auf die Sonne: so sehr regte sie die Unterredung mit Tante Nelli und Pjotr Pawlowitsch auf. Auch die Gäste waren erregt, aber doch nicht so stark und in anderem Sinne als die Hausfrau: sie waren von den Worten Jekaterina Petrownas beunruhigt, die diese selbst kalt ließen, während ein anderer, unausgesprochener Gedanke in ihrem Hirn bohrte. Das Sonnenlicht fiel an den Köpfen vorbei auf die roten Möbelbezüge, brach sich im geschliffenen Rahmen eines fernen Spiegels und lockte ins Freie. Jekaterina Petrowna sprach so, als ob ihr die Lippen brannten, und brachte ganz andere Worte hervor, als sie wollte. Nelli reckte ihren üppigen, enggeschnürten Busen, und Pjotr Pawlowitsch, der noch ausgemergelter aussah als sonst, hatte einen zärtlichen und gerührten Ausdruck. Frau Pardowa senkte ihr mit roten Flecken bedecktes Gesicht und fuhr fort:
»Ich weiß es nicht; ich fürchte mich zu irren, urteilen Sie aber selbst: mein Mann hat außer der ersten keine einzige Versammlung besucht. Ich sehe, wie gefühllos er geworden ist – Sie verzeihen, er ist ein Verwandter von Ihnen, aber er ist ja auch mir kein Fremder.«
»Sie glauben, daß er erkaltet ist, erloschen?«
»Wenn es nur das wäre, aber ob er überhaupt je gebrannt hat? Sie glauben gar nicht, wie sehr mich das betrübt, ich bin der Gemeinde ja so ergeben! Es ist nicht Sitte, von sich selbst so zu sprechen, aber es ist wahr; mein Herz reißt entzwei! . . .« Und sie drückte die Hand an die linke Seite des enganliegenden schwarzen Mieders.
»Sie Ärmste!« flüsterte Pjotr Pawlowitsch voller Mitgefühl.
»Um so mehr, als ich selbst zum Teil schuld bin . . .«
»Sie, ma chère? Sagen Sie das nicht: Sie verleumden sich selbst!«
»Nein, nein! Sie wissen, ich habe einen Sohn, Viktor.«
»Ja, ja: ein seltsamer Junge.«
»Ein ganz und gar verlorenes Wesen. Ich habe mich von ihm trennen müssen, um Jossif zu behüten, und nun fürchte ich, daß ich damit die Sache verdorben habe, denn Joseph verbringt jetzt ganze Tage bei ihm, und ich weiß nicht, was sie dort treiben. Ich kann ihn ja nicht kontrollieren, Sie verstehen?«
»Sie haben sehr unüberlegt gehandelt.«
»Das sehe ich selbst ein, daß es unüberlegt war.«
Pjotr Pawlowitsch sagte gerührt:
»Vielleicht ist es aber möglich, nicht nur Ihren Gatten wiederzugewinnen, sondern auch den verlorenen Sohn zu bekehren?«
Frau Pardowa schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Ich glaube kaum! Aber ich will noch einen letzten Versuch machen. Sie wissen, ich bin für die Brüder zu jedem Opfer bereit; wenn ich Geld hätte, würde ich alles der Gemeinde geben.«
Nelli blickte Katja, als diese verstummt war, fragend an und sagte etwas trocken:
»Das macht Ihrem Eifer große Ehre.«
»Wie schön wäre es, wenn dies in Erfüllung ginge: viele Mitglieder leiden so große Not!« versetzte Pjotr Pawlowitsch mit besonders frommer Miene.
Die Hausfrau streifte ihn mit einem schnellen Blick und sagte:
»Was soll man noch darüber sprechen? Sie wissen ja, daß ich persönlich nicht einen Groschen besitze. Mir macht aber auch noch etwas anderes Angst. Es ist Josephs Krankheit (Sie wissen natürlich davon), sie wird immer schlimmer, und ich fürchte . . .«
»Daß er sie nicht übersteht? Sie haben sich doch an einen Arzt gewandt?«
»Selbstverständlich. Alles ist in Gottes Hand: wenn es mir beschieden ist, Witwe zu werden, so wird es wohl eine Prüfung sein, eine schwere Prüfung, aber ich werde sie bestehen. Ich befürchte aber etwas Schlimmeres.« Und sie drückte ihr Tuch an die Augen, als ob sie einen Tränenstrom zurückhalten wollte. Die Gäste wechselten besorgte Blicke, und Pjotr Pawlowitsch sagte ermutigend:
»Verzagen Sie nicht, liebste Jekaterina Petrowna: es gibt nichts, was eine Christin in Verzweiflung stürzen könnte!«
»Was befürchten Sie denn, Liebste?« fragte Nelli, näher an sie heranrückend.
Sie stieß hervor, ohne das Tuch von den Augen zu nehmen:
»Ich fürchte, daß Joseph, auch wenn er am Leben bleibt, nicht mehr zu den vernünftig Denkenden zählen wird!«
»Sie fürchten für seinen Verstand?«
»Ja, das ist es! Ich frage mich sogar, ob er nicht schon etwas gemütskrank ist.«
Tante Nelli ließ ihren Busen erzittern und rief aus:
»Gott ist barmherzig! Machen Sie sich keine solchen Gedanken.«
»Ich wäre froh, wenn ich nicht daran zu denken brauchte, aber ich muß.«
»Und machen Sie sich keine Sorgen, wir wollen uns um alles kümmern und werden Sie nicht im Stich lassen.«
Die Hausfrau bedankte sich nicht einmal bei den Gästen für das Mitgefühl, sie machte einen sehr bekümmerten Eindruck.
Jekaterina Petrowna machte sich das Gesicht frisch, zog ein bescheidenes Kleid an, setzte einen Hut mit langem Schleier auf und wollte gerade das Haus verlassen, als das Dienstmädchen Fräulein Dmitrewskaja meldete. Ljolja, die gleich nach dem Dienstmädchen ins Zimmer trat, war blasser als sonst und schien enttäuscht.
»Ach, Katja, du gehst aus, und ich muß dich so dringend sprechen!«
»Bitte sehr, Ljolja, für dich finde ich immer Zeit.«
Die Hausfrau warf einen Blick auf ihre kleine Uhr, die an einer dreifachen Kette hing, und fügte geschäftig hinzu:
»Bis halb sechs, bis fünf stehe ich dir zur Verfügung, aber wir wollen wenigstens in den Sommergarten fahren, solange die Sonne scheint, dort wird uns niemand stören. Oder willst du vielleicht eine Tasse Tee?«
»Nein, ich möchte keinen Tee, fahren wir.«
Das Fräulein begann schon in der Droschke:
»Wunderst du dich gar nicht, daß ich mich nicht an Sonja oder sonst jemand, sondern an dich wende?«
»Nein, bin ich denn nicht auch deine Freundin?«
Ljolja stemmte den Ellenbogen gegen die Brust Katjas und begann von neuem:
»Du mußt mir in meiner schwierigen Lage helfen und mir das Geständnis erleichtern.«
»Ja, ja!«
»Hat dir vielleicht schon Sonja von mir und Sergej Pawlowitsch erzählt?«
»In Andeutungen, aber es ist ganz gleich, ich verstehe alles.«
Sie stiegen aus der Droschke und gingen langsam durch die leere Allee. Als Katja sah, daß das junge Mädchen in ihrem Geständnis nicht fortfahren wollte, begann sie selbst:
»Ljolja, wenn du meine Hilfe willst, mußt du mir alles sagen.«
»Ja, ich will Hilfe und keine Rettung, Glück und keine Heiligkeit, verstehst du, Glück! Darum wende ich mich auch an dich.«
Ljolja setzte sich auf eine Bank, schmiegte sich an Jekaterina Petrownas Schulter und verstummte wie ohnmächtig. Nun eröffnete jene selbst die Beichte, behutsam an die Herzenswunden des jungen Mädchens rührend:
»Hast du ihn sehr lieb?«
»Ja, ja, ja!« rief Ljolja bekümmert aus.
»Und er?«
»Was?«
»Liebt er dich?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete das Fräulein kaum hörbar, das Gesicht neigend.
»Wieso weißt du es nicht? Hat er dir nichts gesagt, nichts angedeutet?«
»Angedeutet.«
»Hat er dich geküßt?«
»Nein, geküßt hat er mich nicht! Nein, nein!«
»Aber du fühlst, du glaubst, daß er dich liebt?«
»Ich weiß nicht, ich weiß gar nichts, begreif doch, Katja!«
»Ljolja, sei mir nicht böse, wenn ich mit dir sehr direkt rede. Was ich dir sagen werde, kann dir roh erscheinen, aber das kommt, weil ich dir helfen und dich nicht bloß mit schönen Worten beruhigen will.«
»Ja, ja, gewiß . . . Sprich es nur . . .«
»Ich werde dich fragen und nur dann etwas sagen, wenn du selbst nicht antworten kannst. Was willst du eigentlich? Daß er dir gehört, nur dir allein, daß dich keine Eifersucht quält, daß du seiner sicher bist und ihn allein besitzt.«
Ljolja schwieg.
»Oder ist es nicht so? Ohne Eifersucht, ohne den Wunsch zu herrschen, willst du nur, daß er dich liebt und daß du es weißt?«
»So ungefähr, aber auch noch nicht ganz.«
»Aber in jedem Fall strebst du nicht allein nach geistiger Gemeinschaft?«
»Ja«, hauchte das Mädchen kaum hörbar.
»Du vertraust mir doch?« fragte die Ältere streng.
»Würde ich denn sonst mit dir darüber sprechen? Ich glaube, daß du es bewirken kannst, und bitte dich nur, es zu wollen.«
Katja seufzte auf.
»Du kränkst mich, Ljolja! Glaubst du denn wirklich, daß ich fähig wäre, nicht dein Bestes zu wollen? Hör auf! Du vertraust mir, und ich sage dir – alles wird gut werden, alles wird, wie wir beide es wollen!«
Sie küßte Ljolja, die immer noch gebeugt saß, und erhob sich, als hielte sie das Gespräch für beendet.
Vor der Pantelejmon-Brücke sah sie auf ihre Uhr und sagte:
»Jetzt muß ich dich verlassen, morgen früh komme ich zu dir, wir haben noch vieles zu besprechen.«
Sie fühlte, wie Ljolja, die sich auf ihren Arm stützte, plötzlich erbebte und sich wie eine Saite spannte, und blieb stehen. Das Fräulein streckte die Hand aus und sagte:
»Nein, es wird nichts daraus, es wird nichts daraus!«
Über das Marsfeld fuhr eine Droschke, in der man das dunkle Profil Adventows und daneben eine breite, flache Studentenmütze erkennen konnte. Frau Pardowa sah sich nach allen Seiten um und sagte:
»Sei still, Ljolja, beruhige dich, morgen komme ich zu dir.«
Ljolja weinte nur; Jekaterina Petrowna half der Weinenden in eine Droschke, deren Nummer sie sich aufschrieb, stieg auch selbst in einen Wagen und fuhr in die Neue Gasse. Unterwegs sah sie einigemal auf die Uhr und trieb den Kutscher zur Eile an; um so mehr mußte es auffallen, daß sie, als sie am Ziel war, weder hastig zahlte, noch ehe der Wagen hielt, noch die Treppe atemlos, den Mantel im Laufen aufknöpfend, hinaufrannte: vielmehr bezahlte sie den Kutscher sehr bedächtig, holte aus der Tasche einen Zettel, verglich die darauf notierte Hausnummer mit der auf dem Haustor angebrachten, legte ihren ohnehin dichten Schleier doppelt zusammen, ging zweimal bis zur nächsten Straßenecke und klingelte schließlich mit großer Sicherheit nach dem Portier des Nebenhauses. Es war der ziemlich schmutzige Eingang zu einem obskuren Hotel. Ein fauler, verschlagener Bursche in ärmelloser Joppe blickte die Besucherin fragend an; sie erkundigte sich leise:
»Ist der Herr auf Nummer 37 schon da?«
»Gewiß; er erwartet Sie, treten Sie ein.«
Er lief durch den finsteren Korridor mit der qualmenden Lampe voraus und bemühte sich, das Gesicht der Dame durch den dichten Schleier zu erkennen. Auf das Klopfen tönte es: »Ich bitte!« An einem runden Tisch stand ein Mann mit breitem, weißem, etwas zerknittertem Gesicht. Wir würden in ihm unschwer Broskin erkennen, Jekaterina Petrowna aber kannte oder erkannte ihn nicht, denn sie ging einige Schritte auf ihn zu und fragte:
»Broskin, Alexander Alexejewitsch?«
»Der bin ich«, entgegnete jener schnell.
Jekaterina Petrowna entledigte sich der Handschuhe und des Mantels, den Broskin schnell an den Kleiderhaken hängte, behielt aber den Hut auf und lüftete nicht einmal den Schleier.
»Wollen wir Platz nehmen«, sagte sie, sich auf das Sofa setzend. »Es kommt doch niemand herein?«
Sascha drehte lächelnd den Schlüssel in der Tür um und setzte sich auf das Sofa dicht neben Jekaterina Petrowna.
»Sie brauchen weder zu wissen, wer ich bin, noch mein Gesicht zu sehen. Ich will Ihnen sagen, was ich von Ihnen wünsche, und bin überzeugt, daß wir uns verstehen werden. Die Sache hat für uns beide Vorteile.«
Sascha schwieg und starrte die Unbekannte an. Diese fuhr mit ruhiger Stimme fort:
»Was ich Ihnen sagen werde, geht weder Sie noch mich, sondern eine Person an, mit der Sie nicht schlecht stehen und an deren Schicksal gewisse Menschen, die mir nahe sind, Interesse haben. Ich spreche von Viktor Michailowitsch Oserow, den Sie gut kennen. Sehen Sie, er besitzt Papiere, die für ihn sehr gefährlich werden können. Die Papiere gehören nicht ihm, sondern Leuten, die keinerlei Nachsicht verdienen, die niedrig und vielleicht verbrecherisch sind. Sie werden keine Bedenken haben, Oserow bei Gelegenheit zu verraten, durch diese Dokumente ist er ganz in ihrer Gewalt.«
»Er kann doch die Papiere vernichten oder zurückgeben?«
»Sie sind ihm zur Aufbewahrung anvertraut worden, und er will nicht als Feigling dastehen.«
»So, so. Was wünschen Sie also von mir?«
»Ich möchte, daß Viktor Michailowitsch vor Erpressungen und andererseits auch vor der Polizei sicher ist.«
»Mit anderen Worten, Sie wünschen, daß sich die Papiere nicht bei ihm befinden?«
»Das ist es, Sie haben meine Gedanken richtig erraten.«
»Ich will es ganz einfach sagen, meine Dame: Sie möchten, daß ich Viktor Michailowitsch diese Papiere stehle und Ihnen übergebe?«
»Wozu solche Ausdrücke! Aber im Grunde genommen wünsche ich natürlich, daß die Papiere sich bei mir befinden oder daß ich wenigstens weiß, wo sie sind.«
»Sie sind doch bei Viktor Michailowitsch, wie Sie selbst gesagt haben!«
»Ja, aber wo: trägt er sie bei sich oder hält er sie irgendwo verschlossen?«
Sascha blickte sie prüfend an und sagte:
»Das ist eine sehr schwierige Sache, meine Dame.«
»Das heißt, Sie wollen eine ordentliche Bezahlung? Sagen Sie ganz offen, wieviel?«
Broskin sagte es.
»Hören Sie, bedenken Sie, was Sie sagen! Ihre Forderung ist unerhört. Ich könnte es auch auf anderem Wege erfahren, ich dachte mir, daß es über Sie leichter sein würde.«
Katja erhob sich und begann auf dem ausgetretenen Teppich auf und ab zu gehen.
»Warum sind Sie so aufgebracht, Jekaterina Petrowna, es ist doch keine Sünde, seine Forderung zu nennen.«
Die Dame blieb stehen.
»Meinen Sie mich? Wo haben Sie die Jekaterina Petrowna her?«
»Wozu diese Kunststücke? Sie sind doch Viktor Michailowitschs Mama?«
Durch den Schleier konnte man nicht sehen, wie blaß Jekaterina Petrowna plötzlich geworden war. Sie lächelte und sagte neckisch:
»Sie schmeicheln mir wirklich nicht! Halten Sie mich denn für so alt? Beruhigen Sie sich, ich bin nicht die Frau Pardowa und kenne sie nicht einmal. Mich hat Sofja Karlowna Dreistück hergeschickt; vielleicht ist Ihnen auch dieser Name nicht unbekannt?« Sascha schwieg. Jekaterina Petrowna setzte sich wieder hin, legte ihre Hand ohne Handschuh auf seinen Arm und begann:
»Wir wollen vernünftig sprechen. Die Personen, die an dieser Sache interessiert sind, können Ihnen die Summe, die Sie verlangen, nicht geben. Ich möchte ihnen aber so gern helfen, daß ich imstande wäre, Ihnen auch meinerseits etwas anzubieten. Irgend etwas. Natürlich kein Geld, wo sollte ich es hernehmen. Vielleicht könnte ich mich für Sie irgendwo verwenden, was weiß ich?«
Sie rückte näher an ihn heran und blickte ihm, unzweideutig lächelnd, ins Gesicht. Sascha zeigte mit den Augen auf das elektrische Licht. Katja nickte kaum merklich, und einen Augenblick später war es dunkel. Als er sie aber umarmte, flüsterte die Pardowa ihrem Kavalier doch zu:
»Was tun Sie, lassen Sie mich, ich bin nicht dazu hergekommen!« Aber sie rührte sich nicht.
Broskin sprach kein Wort und atmete schwer. Katja war sogar gesprächiger als er: zwischen den Seufzern hauchte sie ab und zu:
Als das Licht wieder brannte, fragte Broskin, der mit einer Zigarette im Mund an der Tür stand, mit einem Lächeln:
»Sie sind also nicht Viktor Michailowitschs Mama?«
Katja brachte vor dem trüben Spiegel ihren Hut in Ordnung und sagte nichts. Sascha fuhr fort:
»Uns kann es ja auch gleich sein, ob Sie seine Mama sind oder nicht. Viel Glück!« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.