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Sobald meine Tante gestorben war, die während ihrer ganzen Krankheit auch nicht ein einziges Mal nach mir verlangt hatte, aber von Suzon in aufopfernder Weise gepflegt worden war, suchte ich im Pfarrhause Zuflucht.
Der Pfarrer hatte an Herrn von Pavol geschrieben, um ihm die Erkrankung meiner Tante mitzuteilen, allein das Uebel machte so reißende Fortschritte, daß mein Onkel die Todesnachricht erhielt, ehe er den Brief des Pfarrers hatte beantworten können. Er telegraphierte uns sofort, daß es ihm nicht möglich sei, der Beerdigung beizuwohnen.
Den Tag darauf erhielten wir einen Brief mit der Nachricht, daß er, von einem Gichtanfall kaum erholt, nicht nach dem »Busch« kommen könne und daher den Pfarrer bitten müsse, mich einige Tage später nach C... zu bringen; er hoffe dann soweit hergestellt zu sein, daß er mich dort abholen könne.
Meine Tante wurde ohne großes Gepränge begraben. Sie war nicht beliebt gewesen und verfügte sich mit einem bescheidenen Trauergeleit in die andre Welt.
Als ich von der Beerdigung zurückkam, gab ich mir redlich Mühe, ein wenig Betrübnis zu empfinden, aber vergebens. Wie groß auch meine Gewissensbisse deshalb sein mochten, ich hatte ein Gefühl der Befreiung in Kopf und Herz. Hätte ich damals jenes Wort eines berühmten Mannes schon gekannt, so würde ich es mir sicherlich angeeignet und in einem erhabenen Anfall von Menschenhaß ausgerufen haben: »Ich weiß nicht, was in dem Herzen eines Schurken alles vorgehen mag, aber ich kenne das Herz eines guten, jungen Mädchens, und was ich dort sehe, entsetzt mich!«
Da mir dieser Ausspruch völlig unbekannt war, konnte ich mich seiner auch nicht bedienen, um den Manen meiner Tante gerecht zu werden.
Mein Onkel hatte meine Abreise auf den 10. August festgesetzt; wir hatten den 8. und ich verbrachte diese zwei Tage bei dem Pfarrer, dessen gutes Gesicht sich bei dem Gedanken an unsre Trennung von Stunde zu Stunde mehr verdüsterte.
Am Dienstag morgen ließ er ein ausgezeichnetes Frühstück für mich bereiten, und zum letztenmal setzten wir uns einander gegenüber, um Kräfte zu sammeln; allein jeder Bissen quoll uns im Munde und nur mit Mühe vermochte ich meine Thränen zurückzuhalten.
Der arme Pfarrer hatte die Nacht schlaflos verbracht. Er war viel zu betrübt, als daß er hätte schlafen können, und außerdem hatte er, weil er mich nicht nach C... begleiten konnte, einen siebzehn Seiten langen Brief an meinen Onkel geschrieben, in dem er, wie ich später erfuhr, meine großen und kleinen, sowie mittleren Vorzüge aufzählte; von Fehlern war nicht die Rede.
»Mein liebes, gutes Kind,« sagte er nach langem Schweigen, »nicht wahr, Sie vergessen Ihren alten Pfarrer nicht?«
»Niemals, niemals,« rief ich feurig.
»Sie dürfen aber auch meine Ermahnungen nicht vergessen. Mißtrauen Sie der Einbildungskraft, kleine Reine. Ich möchte sie mit einer Flamme vergleichen, die, vorsichtig genährt, den Verstand erhellt und belebt, die sich aber, wenn man ihr zu viel Nahrung zuführt, in ein Freudenfeuer verwandelt, welches das ganze Haus in Brand steckt und in Schutt und Asche legt.«
»Ich will mir Mühe geben, die Flamme verständig zu dämpfen, Herr Pfarrer, aber ich muß gestehen, daß ich die Freudenfeuer sehr gern habe.«
»Ja, aber hüten Sie sich vor einer Feuersbrunst. Wir wollen nicht mit dem Feuer spielen, Reine.«
»Nur ein ganz klein wenig zündeln, Herr Pfarrer, das ist zu nett. Und wenn man fürchtet, es könne ein Brand daraus entstehen, so gießt man ein bißchen kaltes Wasser auf den Feuerherd.«
»Aber wo nimmt man das kalte Wasser her, Kleine?«
»Ach, das weiß ich noch nicht, aber vielleicht erfahre ich es einmal.«
»Da sei Gott vor!« rief der Pfarrer. »Das kalte Wasser, mein liebes, kleines Mädchen, das heißt Enttäuschung und Kummer und ich werde jeden Tag meine heißen Gebete zum Himmel senden, daß Ihnen diese erspart werden möchten.«
Die Thränen überwältigten mich, als ich meinen Pfarrer so sprechen hörte, und ich mußte ein großes Glas Wasser trinken, um meine Aufregung zu beruhigen.
»Ehe ich von Ihnen scheide,« begann ich wieder, »muß ich Ihnen noch mitteilen, daß ich glaube, einen großen Hang zur Koketterie bei mir zu bemerken.«
»Das ist der schwache Punkt bei allen Frauen, das weiß ich wohl,« erwiderte der Pfarrer, »aber es darf nicht zu weit gehen, Reine. Uebrigens werden Sie in der Welt und in der Gesellschaft lernen, Ihre Gefühle im Gleichgewicht zu erhalten, und außerdem wird Ihr Onkel Sie sicher leiten.«
»Ach, wie reizend wird das sein, in Gesellschaft zu gehen, Herr Pfarrer! Und ich weiß gewiß, daß ich gefallen werde! Ich bin ja so hübsch, daß ...«
»Gewiß, gewiß, aber trauen Sie übertriebenen Komplimenten nicht und hüten Sie sich vor der Eitelkeit.«
»Bah, es ist so natürlich, daß man gerne gefallen will, da ist nichts Böses dabei.«
»Hm, das ist eine etwas laxe Moral,« erwiderte der Pfarrer, sich durch die Haare fahrend. »Aber diese Auffassung entspricht Ihrem Alter, und Gott sei Dank, daß Sie noch nicht mit dem Prediger sagen: ›Alles ist eitel, es ist alles ganz eitel!‹«
»Was der Prediger Salomo doch übertreibt! Er war aber auch so alt, und ich glaube, seine Ansichten sind auch ganz veraltet.«
»Nun, nun, lassen wir dies. Ich weiß wohl, daß ein hübsches junges Mädchen, das ohnehin in sein eignes Gesichtchen ziemlich verliebt zu sein scheint, die heilige Schrift und die Gedanken eines armen Landpfarrers nicht verstehen kann.«
Er sah mich lächelnd an, aber seine Lippen bebten, denn die Stunde der Abreise war gekommen.
»Nehmen Sie sich in acht, Reine, daß Sie sich unterwegs nicht erkälten.«
»Aber, Herr Pfarrer, wir sind im August, und es ist ja zum Ersticken.«
»Das ist wahr,« stimmte der Pfarrer zu, der den Kopf ein wenig verlor. »Deshalb decken Sie sich nicht zu sehr zu aus Angst, sich zu erkälten.«
Wir erhoben uns, nachdem wir einige vergebliche Versuche gemacht hatten, etwas Pastete und Brot zu knabbern.
»Wie weh thut es mir,« rief ich und brach plötzlich in Schluchzen aus, »wie weh thut es mir, von Ihnen fortgehen zu müssen, lieber Herr Pfarrer!«
»Nicht weinen, nicht weinen, das ist ja abgeschmackt,« mahnte der Pfarrer, ohne zu bemerken, daß ihm dicke Thränen über die Backen rollten.
»Ach, lieber Herr Pfarrer,« begann ich wieder, von plötzlicher Reue ergriffen, »ich habe Sie oft furchtbar geärgert.«
»Nein, nein, Sie waren die Freude meines Lebens, mein einziges Glück.«
»Was wird aus Ihnen werden ohne mich, armer Herr Pfarrer?«
Der Pfarrer antwortete nicht; er durchmaß das Zimmer mit großen Schritten, schnäuzte sich laut und brachte es fertig, die Rührung zu unterdrücken, die ihm die Kehle zuschnürte und sich nur allzugern in lautem Schluchzen Luft gemacht hätte.
Der kleine Wagen hielt vor der Thür. Perrine, in vollem Staat, sollte mich nach C... begleiten und meinem Onkel überantworten.
Der Pächter war damit betraut worden, uns an Suzons Stelle zu fahren, die, ganz ihrem Kummer überlassen, bis auf weiteres den »Busch« hüten sollte.
Ich hieß Jean vorausfahren, und der Pfarrer und ich legten ein kleines Stück Weges zu Fuß zurück, um noch länger beisammen zu sein.
»Ich schreibe Ihnen alle Tage, Herr Pfarrer.«
»Das wäre zu viel verlangt, mein liebes Kind. Schreiben Sie mir nur jeden Monat einmal, aber recht vertraulich und ausführlich.«
»Ich werde Ihnen alles, aber auch rein alles schreiben, selbst meine Gedanken über die Liebe.«
»Das wollen wir abwarten!« erwiderte der Pfarrer mit ungläubigem Lächeln. »Das Leben, das Sie erwartet, wird Ihnen so viel Neues und so viel Zerstreuung bringen, daß ich nicht allzusehr auf Pünktlichkeit rechne.«
Jean hatte gehalten, um auf uns zu warten, und ich sah ein, daß ich gehen mußte. Ich ergriff beide Hände meines Pfarrers und weinte von ganzem Herzen.
»Das Leben bringt uns doch auch recht häßliche Augenblicke, Herr Pfarrer!«
»Das geht vorüber, das geht vorüber,« erwiderte er mit von Thränen erstickter Stimme. »Leben Sie wohl, mein liebes, gutes Kind, vergessen Sie mich nicht und hüten Sie sich ... hüten Sie sich ...«
Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen und half mir aufsteigen.
Ich nahm den ehemaligen Platz meiner Tante ein, wo ich von einer Seite durch einen alten Koffer ohne Schloß, von der andern durch zahllose unförmliche, von Perrine verfertigte Pakete halb erdrückt wurde.
»Leben Sie wohl, Herr Pfarrer, leben Sie wohl, lieber alter Herr Pfarrer!« rief ich.
Mit liebevollem Winken wandte er sich rasch ab. Durch meine Thränen hindurch sah ich, wie er sich mit großen Schritten entfernte und seinen Hut auf den Kopf setzte – ein unumstößlicher Beweis dafür, daß sein Gemüt nicht nur heftig bewegt, sondern völlig aus dem Gleichgewicht gekommen war.
Nachdem ich gut zehn Minuten lang geschluchzt hatte, fand ich es an der Zeit, Perrines Rat zu folgen, die in allen Tonarten wiederholt hatte: »Man muß sich Vernunft annehmen, Frölen, man muß sich Vernunft annehmen!«
Ich steckte mein Taschentuch ein und begann zu überlegen.
Wahrhaftig, es ist doch etwas Wunderbares ums Leben! Wer hätte noch vor vierzehn Tagen gedacht, daß sich meine Träume so rasch verwirklichen und ich nun in kürzester Zeit Herrn von Conprat wiedersehen sollte? Dieser verführerische Gedanke vertrieb die letzten Wolken, die meinen Geist verdüsterten, und ich fand nun, daß das Firmament schön und das Leben angenehm sei, und daß Tanten, die sich in den Himmel oder ins Fegefeuer verfügen, das Gescheiteste thun, was sie überhaupt thun können.
Mein zweiter Gedanke galt meinem Onkel. Es lag mir sehr viel an dem Eindruck, den ich auf ihn machen würde, und ich war mir bewußt, daß das schwarze Kleid und der eigentümliche Hut, mit denen mich Suzon möglichst geschmacklos herausgeputzt hatte, sehr lächerlich aussahen. Dieser Unglückshut verursachte mir wahre Folterqualen, selbstverständlich nur moralische. Aus schwarzem Krepp verfertigt, der noch aus der Zeit von Herrn Lavalles Tod herstammte, machte mein Hut ganz den Eindruck eines Brotkuchens, den sich freche Schnecken zum Schauplatz ihrer Belustigungen auserkoren haben. Er stand mir höchst unvorteilhaft zu Gesicht, und da mir dieser Gedanke unerträglich erschien, nahm ich ihn ab und schob ihn in meine Kleidertasche, deren Tiefe und Weite dem praktischen Sinn Suzons alle Ehre machten.
Außerdem hatte ich auch noch die Angst, dumm zu erscheinen, denn ich wußte wohl, daß eine Menge Dinge, die andern ganz selbstverständlich waren, für mich eine Quelle der Ueberraschung und Bewunderung sein würden. Ich beschloß also, damit meine Eigenliebe nicht in Gefahr gerate, durch Spott verletzt zu werden, mein Erstaunen sorgfältig zu verbergen.
Auf diese Weise mit meinen Gedanken beschäftigt, erschien mir der Weg kurz und ich glaubte noch weit von C... entfernt zu sein, als wir schon dort anlangten. Wir begaben uns geradeswegs nach dem Bahnhof und fuhren so rasch durch die Stadt, als es die steifen Beine unsres Pferdes gestatteten.
Mein Onkel war weder groß noch mager, und ich hatte mir ihn natürlich lang und dürr gedacht, weshalb ich sehr überrascht war, als sich ein ländlich aussehender Biedermann mit schwerfälligen Schritten der Chaise näherte und rief, das heißt, soweit mein Onkel überhaupt jemals etwas rief: »Guten Tag, Nichte, ich glaube wahrhaftig, ich habe beinahe warten müssen.«
Er war mir beim Absteigen behilflich und küßte mich herzlich. Danach betrachtete er mich vom Kopf zu Fuß und sagte: »Nicht größer als eine Elfe, aber verteufelt hübsch!«
»Ganz meine Meinung, Onkel,« erwiderte ich mit bescheidenem Augenniederschlag.
»Wie, das ist auch deine Meinung?«
»Gewiß, und auch die meines Pfarrers und die von ... Aber hier ist ein Brief des Pfarrers an dich, Onkel.«
»Warum ist er nicht hier?«
»Er wurde durch verschiedene kirchliche Feierlichkeiten abgehalten.«
»Schade, ich hätte ihn gerne gesehen ... Hast du keinen Hut, liebe Nichte?«
»Doch, Onkel, er befindet sich in meiner Tasche.«
»In deiner Tasche? Warum denn?«
»Weil er ganz abscheulich ist, Onkel!«
»Ein schöner Grund, das! Ist es jemals dagewesen, daß man den Hut in der Tasche trägt! Man reist nicht ohne Hut, Kleine. Setze ihn rasch wieder auf, während ich dein Gepäck aufgebe.«
Durch diesen Verweis ziemlich außer Fassung gebracht, pflanzte ich den Hut schleunigst wieder auf meinem Haupte auf, aber nicht ohne zu bemerken, daß eine Reise in die Rocktasche dem Wohlbefinden dieser Produkte der menschlichen Industrie nicht besonders förderlich ist.
Dann verabschiedete ich mich von Perrine und Jean.
»Ach, Frölen,« sagte Perrine, »wenn Sie die schönste und beste Kuh wären, könnte mir der Abschied von Ihnen nicht schwerer werden.«
»Schön Dank!« erwiderte ich halb lachend, halb weinend. »Gib mir einen Kuß und lebe wohl!«
Ich küßte die festen, roten Backen Perrines, auf die, wie ich fest überzeugt war, schon mehr als ein Schwerenöter im Vorbeigehen einen schmatzenden Kuß gedrückt hatte.
»Adieu, Jean!«
»Auf Wiedersehen, Frölen,« sagte Jean mit albernem Lachen, wodurch man schließlich seine Rührung so gut ausdrücken kann als auf andre Weise auch.
Wenige Augenblicke später saß ich, völlig verwirrt und betäubt durch den Lärm des Bahnhofes und die Neuheit meiner Lage, meinem Onkel gegenüber im Zug.
Als ich mich wieder ein wenig gefaßt hatte, betrachtete ich Herrn von Pavol genauer.
Auf den ersten Blick machte mein Onkel mit seiner gut gebauten, mittelgroßen, breitschulterigen Gestalt und seinen dicken, roten, ungepflegten Händen nichts weniger als einen aristokratischen Eindruck. Er hatte ein ziemlich rotes Gesicht, eine hohe Stirne, eine große Nase und trug seine Haare sehr kurz geschoren; seine forschenden kleinen Augen lagen tief zurück unter den buschigen, hervorstehenden Brauen. Aber bald entdeckte man hinter diesem gewöhnlichen Aeußern den Mann von Welt, den vornehmen Herrn. Der bedeutendste Zug an ihm, der sofort in die Augen sprang, lag um seinen Mund. Kräftig und scharf geschnitten, hatte dieser hübsche Mund, trotz der etwas dicken Unterlippe, einen feinen, spöttischen, schlauen, ironischen Ausdruck, der selbst die Kecksten entwaffnete und zum Schweigen brachte. Beobachtete man diesen genauer, so vergaß man nicht nur alles Gewöhnliche, das im Aeußern meines Onkels liegen mochte, sondern man fand vielmehr gar nichts Gewöhnliches mehr an ihm und mußte zugeben, daß seine derbe Erscheinung den geistvollen Mund erst recht zur Geltung brachte.
Mein Onkel sprach nicht viel und immer langsam, aber seine Worte trafen meist den Nagel auf den Kopf. Manchmal gefiel er sich darin, sehr energische Ausdrücke zu gebrauchen, die einen um so eigentümlicheren Eindruck machten, als sie langsam und bedächtig ausgesprochen wurden. Er war kaum sechzig Jahre alt, litt aber häufig an Gicht, und sein Geist war durch das körperliche Leiden ein wenig schwerfällig geworden. Allein wenn er auch seine frühere Schlagfertigkeit nicht mehr in vollem Maße besaß, so brachte doch sein Mund durch eine kaum merkliche Bewegung alle möglichen Schattierungen von Ironie, Schlauheit und Spott zum Ausdruck, und gar manchmal habe ich gesehen, daß mein Onkel einen Menschen förmlich vernichtete, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben.
Natürlich war ich viel zu unerfahren, um Herrn von Pavols Natur sofort in dieser Weise ergründen zu können, aber ich betrachtete ihn mit dem größten Interesse. Er seinerseits las den Brief, den ich ihm gebracht hatte, und richtete ab und zu einen forschenden Blick auf mich, wie um festzustellen, daß mein Gesicht den Versicherungen des Pfarrers nicht widerspreche.
»Du siehst mich so beharrlich an, liebe Nichte,« sagte er, »findest du mich so schön?«
»Nicht im geringsten!«
Mein Onkel schnitt ein Gesicht.
»Das nenne ich Offenheit! Kannst du mir vielleicht sagen, warum du so blaß bist?«
»Weil ich halb tot bin vor Angst, Onkel.«
»Angst! Vor was hast du denn Angst?«
»Wir fahren so schnell – es ist schrecklich!«
»Ach so, ich verstehe! Du fährst wohl zum erstenmal mit der Eisenbahn? Beruhige dich, es ist nicht gefährlich.«
»Und meine Cousine, Onkel, ist sie in Pavol?«
»Gewiß, sie freut sich sehr darauf, dich kennen zu lernen.«
Mein Onkel richtete noch einige Fragen an mich über meine Tante und über mein Leben im »Busch«, dann nahm er eine Zeitung zur Hand und sprach kein Wort mehr bis zu unsrer Ankunft in V...
Dort stiegen wir in einen zweispännigen Landauer, der uns nach Pavol bringen sollte. Mein unelegantes Gepäck wurde so gut es ging in dem schönen Fuhrwerk untergebracht, wo es sich sehr schofel ausnahm, was ich als große Demütigung empfand.
Kaum saßen wir im Wagen, als mir mein Onkel eine Düte mit Backwerk gab, um mich zu erfrischen und sich selbst ungestört in eine neue Zeitung vertiefen zu können.
Dies Vorgehen begann mich zu reizen.
Ganz abgesehen davon, daß es nicht in meiner Natur lag, lange still zu bleiben, hatte ich auch eine Menge Fragen an meinen Onkel zu richten. Sobald das Vergnügen, in einem hübschen, weichen, wohlgepolsterten Wagen dahin zu fahren, den Reiz der Neuheit für mich verloren hatte, wagte ich es, das Schweigen zu brechen.
»Onkel,« begann ich, »wenn du nicht mehr lesen würdest, könnten wir ein wenig miteinander plaudern.«
»Gerne,« erwiderte er und faltete seine Zeitung sofort zusammen. »Ich glaubte, es sei dir angenehm, wenn ich dich deinen Gedanken überlasse. Und was sollen wir erörtern? Die Orientfrage, die Volkswirtschaft, Puppenkleider oder Sitten und Gebräuche der Wickelschwanzaffen?«
»Das interessiert mich alles gar nicht; und was übrigens die Sitten und Gebräuche der Wickelschwanzaffen betrifft, so glaube ich, daß ich mindestens soviel darüber weiß wie du.«
»Leicht möglich, allerdings,« erwiderte Herr von Pavol, ziemlich überrascht durch mein sicheres Auftreten. »Wähle dir lieber selbst ein Thema.«
»Sag mal, Onkel, bist du nicht ein bißchen ungläubig?«
»Was, zum Kuckuck, sagst du da, Nichte?«
»Ich frage, ob du nicht ein bißchen ungläubig oder spitzbübisch seist?«
»Du ... du machst dich wohl über mich lustig?« rief mein Onkel und brachte einen wenig parlamentarischen Ausdruck in Anwendung.
»Werde nicht böse, Onkelchen, ich fange nur mit Sittenstudien an, die mir interessanter sind als die der Wickelschwanzaffen. Ich will wissen, ob meine Tante recht hatte, als sie behauptete, alle Männer seien Halunken.«
»Deine Tante war wohl nicht recht bei Trost?«
»Nur als sie sich nach der andern Welt aufmachte – sonst nicht,« erwiderte ich gelassen.
Herr von Pavol betrachtete mich mit sichtlicher Verwunderung.
»Nimm mir's nicht übel, liebe Nichte, aber du drückst deine Meinung doch ein wenig zu unumwunden aus. Es scheint, du hast dich mit Frau von Lavalle nicht gut vertragen?«
»Durchaus nicht. Sie war unausstehlich und hat mich mehr als einmal geschlagen. Frage nur den Pfarrer, dem sie die Thür wies, weil er für meine Interessen eingetreten ist. Und wie kommt es denn, Onkel, daß du mich so lange bei ihr gelassen hast? Sie war eine ganz gewöhnliche Person und du hast sie auch nicht leiden können.«
»Als deine Eltern starben, Reine, war meine Frau sehr krank und ich war nur allzu froh, daß meine Schwägerin die Sorge für dich auf sich nehmen wollte. Ich habe dich erst wiedergesehen, als du sechs Jahre alt warst; du schienst lustig und gut versorgt, und seither habe ich dich, meiner Treu, fast vergessen gehabt, was ich heute sehr bedaure, da du, wie es scheint, nicht glücklich warst.«
»Aber jetzt behältst du mich immer bei dir, Onkel?«
»Ganz gewiß,« versicherte Herr von Pavol beinahe lebhaft.
»Wenn ich sage, immer, so meine ich natürlich nur bis zu meiner Verheiratung, denn ich werde mich bald verheiraten.«
»Du wirst dich bald verheiraten! Was, du bist ja kaum der Kinderstube entwachsen und sprichst davon, dich zu verheiraten? Die Ehe ist eine dumme Einrichtung, merke dir dies, liebes Kind.«
»Warum denn?«
»Die Frauen sind keinen Pfifferling wert,« erwiderte mein Onkel in überzeugtem Ton.
Erschrocken lehnte ich mich in meine Ecke zurück und dachte bei mir, diese Ansicht sei für meine Tante von Pavol gerade nicht schmeichelhaft. Als ich die Bemerkung meines Onkels hin und her überlegt hatte, begann ich wieder: »Da ich einen Mann heiraten werde, kann es mir ganz einerlei sein, wenn die Frauen keinen Pfifferling taugen. Mein Mann muß eben mit mir fertig werden, so gut er kann.«
»Das nenne ich Logik! Du scheinst ein rechter Tausendsasa zu sein. Alle jungen Mädchen sind aufs Heiraten erpicht, das ist ja bekannt.«
»Also teilt meine Cousine meine Ansichten?«
»Ja,« erwiderte mein Onkel etwas verstimmt.
»Um so besser,« sagte ich und rieb mir vergnüglich die Hände. »Ist sie groß?«
»Groß und schön,« entgegnete Herr von Pavol wohlgefällig, »eine majestätische Schönheit und die Freude meiner alten Tage. Uebrigens wirst du sie sofort sehen, wir sind gleich da.«
Wir bogen auch wirklich in eine lange Allee von großen, alten Ulmen ein, die nach dem Schloß führte.
Meine Cousine empfing uns an der Auffahrt.
Mit der majestätischen Würde einer Königin, die einem Unterthanen eine Gnade erweist, zog sie mich in ihre Arme.
»Gott, wie schön Sie sind,« sagte ich und betrachtete sie mit Verwunderung.
Nur selten begegnet man einer ganz unanfechtbaren Schönheit, aber die meiner Cousine war in die Augen springend und über jeden Zweifel erhaben. Sie gefiel nicht immer, weil ihr Gesicht manchmal hochmütig und ein wenig hart erschien, aber selbst diejenigen, die sie am wenigsten bewunderten, mußten mit meinem Onkel sagen: »Sie ist verteufelt schön!«
Sie hatte braune, ziemlich tief in der Stirne wurzelnde Haare, ein vollkommen reines, griechisches Profil, eine prachtvolle Hautfarbe, blaue Augen mit dunklen Wimpern und schön gezeichnete Brauen. Groß, kräftig, mit sehr entwickelten Formen, hätte sie älter als achtzehnjährig ausgesehen, wenn nicht ihr Mund, trotzdem er etwas verächtlich geschwungen war, durch seine Kindlichkeit ihre große Jugend verraten hätte. Ihr Gang und ihre Bewegungen waren langsam und ein wenig lässig, aber stets harmonisch und natürlich.
Ein Freund meines Onkels hatte einmal scherzend geäußert, mit fünfundzwanzig Jahren werde sie von Kopf zu Fuß einer Juno gleichen, und dieser Name war ihr geblieben.
Ich wurde plötzlich von einer wahren Leidenschaft für meine herrliche Cousine ergriffen, und mein Onkel hatte seinen Spaß an meiner Verwunderung.
»Du hast wohl noch nie eine hübsche Dame gesehen, Nichte?«
»Ich habe überhaupt nichts gesehen, da ich in einem Loch lebendig begraben war.«
»Du hättest in den Spiegel sehen können, Reine; Herr von Conprat hat uns mit Recht gesagt, du seist hübsch.«
»Paul von Conprat?« rief ich.
»Es ist wahr,« begann mein Onkel wieder, »ich habe ganz vergessen, mit dir von ihm zu sprechen. Es scheint, daß er einmal während eines Gewitters im ›Busch‹ Zuflucht gesucht hat.«
»Ich weiß es noch gut,« erwiderte ich errötend.
»Kommt er am Montag zum Frühstück, Blanche?«
»Ja, Vater; der Herr Major hat heute die Einladung angenommen. Wer hat denn für deine Kleider gesorgt, Reine?«
»Suzon, das Ebenbild meiner Tante in Dummheit und Geschmacklosigkeit,« erwiderte ich zornig.
»Wir werden gleich morgen deiner Toilettennot abhelfen, Reine,« sagte mein Onkel; »doch solltest du mehr Achtung für das Andenken von Frau von Lavalle haben. Du hast sie nicht geliebt, aber sie ist tot und Friede ihrer Asche! Komm zu Tisch; nachher soll dich dann Juno auf dein Zimmer führen.«
Ich verbrachte einen Teil der Nacht in wohligen Träumen an meinem Fenster und betrachtete die dunklen Baummassen dieses Pavol, wo ich lachen, weinen, vergnügt und verzweifelt sein, und wo sich mein Schicksal erfüllen sollte.
So glücklich fühlte ich mich, daß mein Pfarrer an jenem Abend in meiner Erinnerung nur noch wie ein kaum bemerkbarer ferner Punkt vorhanden war.