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Eines Abends, kurz bevor es dunkel wurde, ging Gertrud durch die Straßen von Jerusalem. Sie bemerkte ganz zufällig einen großen, schlanken Mann in einem schwarzen, fußfreien Gewand; er ging gerade vor ihr. Gertrud fand, daß etwas Ungewöhnliches an ihm war, aber sie konnte sich nicht erklären, worin das bestand. Es lag doch wohl kaum daran, daß er einen grünen Turban trug, der ihn als einen der Nachkommen des Propheten bezeichnete. Männern mit dergleichen Kopfbedeckung konnte man in jeder Straße begegnen. Es beruhte weit eher darauf, daß sein Haar nicht geschnitten oder unter dem Turban aufgesteckt war, wie es die Morgenländer sonst zu tun pflegen, sondern in gleichmäßig langen und gleich großen Locken über die Schultern herabhing.
Gertrud ging hinter dem Mann drein und folgte ihm mit den Blicken, und konnte den Wunsch nicht unterdrücken, daß er sich umwenden möge, damit sie sein Antlitz sehen könnte. Da kam ihm ein junger Mann entgegen; er grüßte ehrerbietig, küßte ihm die Hand und ging weiter. Der Schwarzgekleidete stand einen Augenblick still und sah dem Mann nach, der ihn so demütig gegrüßt hatte, und dadurch ging Gertruds Wunsch in Erfüllung.
Gertrud versagte fast der Atem vor Überraschung. Regungslos blieb sie stehen, und legte die Hand aufs Herz. »Das ist ja Christus,« sagte sie. »Das ist ja Christus, dem ich am Waldpfad begegnet bin.«
Der Mann setzte darauf seinen Weg fort. Gertrud versuchte, ihm zu folgen, aber er bog gleich in eine belebte Straße ein, und dort verlor sie bald jede Spur von ihm. Da wandte sie sich um, und kehrte nach der Kolonie zurück. Sie ging sehr langsam; jeden Augenblick blieb sie stehen und lehnte sich an eine Mauer und schloß die Augen.
»Wenn ich es doch nur in meiner Erinnerung bewahren könnte«, murmelte sie; »wenn ich doch nur sein Antlitz immer vor Augen haben könnte!«
Sie versuchte, sich das einzuprägen, was sie eben gesehen hatte. »Sein Bart war ein wenig graugesprenkelt«, wiederholte sie für sich. »Er war ziemlich kurz und zweigeteilt. Er hatte ein langes, schmales Gesicht, die Nase war lang, und die Stirn war breit, aber nicht besonders hoch. Und er glich ganz Christus, so wie ich ihn auf Bildern gesehen habe, er sah gerade so aus wie damals, als er mir auf dem Waldpfad entgegenkam, nur, daß er jetzt noch viel schöner und herrlicher war. Ein Licht strahlte aus seinen Augen und eine große Macht; aber um die Augen lag eine tiefe Dunkelheit und auch viele Runzeln. Ja, um seine Augen herum lag alles vereint, Weisheit und Liebe und Schmerz und Mitleid und noch viel mehr, als könnten die Augen zuweilen einen solchen Blick haben, daß sie durch alle Himmel zu Gott und seinen Engeln hineinzuschauen vermochten.«
Auf dem ganzen Heimweg war Gertrud völlig verzückt. So glücklich hatte sie sich nicht gefühlt seit jenem Tage, als sie Christus auf der Waldwiese begegnet war. Sie ging mit gefalteten Händen, die Augen gen Himmel gewandt, dahin, und sah aus, als wandle sie nicht mehr auf Erden, sondern auf Wolken und blauer Luft.
Daß sie Christus hier in Jerusalem begegnete, das war noch weit bedeutungsvoller, als daß er ihr in dem wilden, einsamen Walde in Dalarne erschienen war. Da war er wie eine Erscheinung an ihr vorübergeglitten, aber als er sich ihr jetzt hier offenbarte, bedeutete das, daß er zurückgekommen war, um unter den Menschen zu wirken.
Ja, dies war so groß, dies, daß Christus gekommen war, daß sie nicht auf einmal alles so durchdenken konnte, was es enthielt, aber Freude und Frieden und Seligkeit waren das erste, was diese Gewißheit mit sich führte.
Als Gertrud zur Stadt hinaufkam und sich der Kolonie näherte, begegnete sie Ingmar Ingmarsson. Er trug noch immer den feinen schwarzen Anzug, der so schlecht zu seinen schwieligen Händen und groben Zügen paßte, und sah schwerfällig und niedergeschlagen aus.
Vom ersten Augenblick an, als Gertrud Ingmar in Jerusalem wiedersah, hatte sie nicht begreifen können, daß sie jemals so an ihm gehangen hatte. Es war ihr auch wunderlich vorgekommen, daß die daheim gemeint hatten, sie könne nie eine bessere Heirat machen. Aber hier in Jerusalem sah er verlassen und unmöglich aus. Sie konnte nicht begreifen, was die daheim Merkwürdiges an ihm sahen.
Aber gleichzeitig empfand Gertrud auch keinen Unwillen gegen Ingmar, und sie hatte gern freundlich gegen ihn sein wollen. Aber dann hatte ihr irgend jemand erzählt, daß Ingmar jetzt von seiner Frau geschieden sei, und nach Jerusalem gekommen war, um sie, Gertrud, zurückzugewinnen. Da hatte sie sich sehr erschrocken und hatte gedacht: »Jetzt kann ich ja nicht einmal mit ihm sprechen; ich muß ihm zeigen, daß ich mir nichts mehr aus ihm mache. Ich kann ihn doch nicht einen Augenblick glauben lassen, daß er mich wiederbekommen kann. Er ist wahrscheinlich hierhergekommen, weil er meint, daß er ein so großes Unrecht gegen mich begangen hat. Aber wenn er sieht, daß ich mir nichts mehr aus ihm mache, so wird er wohl Vernunft annehmen, und wieder nach Hause reisen.«
Aber jetzt, wo Gertrud Ingmar ausserhalb der Kolonie begegnete, dachte sie an nichts weiter, als dass sie einen Menschen getroffen hatte, dem sie ihre grosse wunderbare Entdeckung anvertrauen konnte. Sie stürzte auf ihn zu und rief: »Ich habe Christus gesehen!«
Ein so verzückter Ausruf war wohl nicht wieder über die öden Felder und Hügel von Jerusalem erklungen, seit dem Tage, als die frommen Christen von dem leeren Grabe zurückkehrten und den Aposteln zuriefen: »Der Herr ist auferstanden!«
Ingmar blieb stehen und schlug die Augen nieder, wie er es immer tat, wenn er seine Gedanken zu verbergen wünschte. »Nein wirklich,« sagte er zu Gertrud, »du hast Christus gesehen?«
Gertrud wurde ungeduldig, ganz wie in früheren Zeiten, wenn Ingmar ihren Träumen und Gedanken nicht so schnell folgen konnte. Sie wünschte nur, sie wäre statt seiner Bo begegnet, der würde sie viel besser verstanden haben. Aber trotzdem fing sie an, ihm zu erzählen, was sie gesehen hatte.
Ingmar sagte kein Wort, das andeuten konnte, daß er ihr nicht glaubte, und doch schien es Gertrud so, daß, als sie ihm ihre Geschichte erzählen wollte, diese zu nichts einschrumpfte. Sie war auf der Straße einem Mann begegnet, der Christus glich. Das war das Ganze. Es erging ihr wie mit einem Traum. Es war ihr so wunderlich erschienen, als sie es erlebte, aber jetzt, wo sie versuchte, es zu erzählen, ward es zu nichts.
Trotzdem schien es, als freue sich Ingmar, daß sie ihn anredete. Er fragte Gertrud sehr genau darüber aus, zu welcher Zeit und Stunde sie dem Mann begegnet war. Und er wollte sehr genauen Bescheid über seine Kleidung und sein Aussehen haben.
Aber als sie nach der Kolonie zurückgekehrt waren, eilte Gertrud von Ingmar fort. Sie fühlte sich sehr niedergeschlagen und war entsetzlich müde. »Ich sehe wohl, daß es die Absicht des Herrn ist, daß ich dies keinem andern Menschen erzählen soll. Ach, wie glücklich war ich doch, solange niemand weiter als ich davon wußte!«
Sie beschloß, zu niemand weiter darüber zu reden. Sie wollte auch Ingmar bitten, darüber zu schweigen. »Es ist ja wahr, es ist ja wahr,« wiederholte sie sich selbst, »daß ich ihm begegnet bin, so wie ich ihn auf dem Waldpfade sah. Aber es ist wohl viel verlangt, daß mit jemand glauben soll.«
Ein paar Tage darauf ward Gertrud sehr überrascht. Gleich nach der Abendmahlzeit kam Ingmar zu ihr, und erzählte ihr, daß er den Mann mit dem schwarzen Gewand jetzt auch gesehen habe.
»Seit du mir erzähltest, daß du ihn gesehen hattest, bin ich in derselben Straße auf und nieder gegangen, und habe auf ihn gewartet«, sagte Ingmar. – »Ingmar, dann glaubst du mir ja doch!« sagte Gertrud, und freute sich sehr. Die ganze Sicherheit des Glaubens flammte von neuem in ihr auf. – »Du weißt ja, ich gehöre nicht zu denen, die leicht glauben«, sagte Ingmar.
»Hast du je so ein Gesicht gesehen?« fragte Gertrud. – »Nein, nie habe ich ein solches Gesicht gesehen.« – »Siehst du es denn nicht beständig vor dir, wo du gehst und stehst?« – »Ja, das tue ich, das ist wahr.« – »Glaubst du denn nicht auch, daß es Christus ist?« – Ingmar vermied es, hierauf zu antworten. »Das ist seine Sache, uns zu zeigen, wer er ist.«
»Wenn ich ihn doch nur noch einmal sehen könnte«, sagte Gertrud. – Ingmar stand da und sah unschlüssig aus. »Ich weiß wohl, wo er heute abend ist!« sagte er nachdenklich. Gertrud war gleich Feuer und Flamme. »Was sagst du da, Ingmar, du weißt, wo er ist? Dann kannst du ja mit mir dahingehen, damit ich ihn wiedersehen kann.« – »Aber es ist ja finstere Nacht«, sagte Ingmar. »Es ist gewiß nicht ratsam, zu dieser Zeit nach Jerusalem hineinzugehen.« – »Ach, das hat nichts auf sich,« sagte Gertrud, »ich bin zu viel späterer Zeit da gewesen, wenn ich die Kranken besuchte.«
Es kostete Gertrud viel Mühe, Ingmar zu überreden. »Glaubst du nicht, daß ich den vollen Gebrauch meiner Sinne habe? Willst du deswegen nicht mit mir gehen«, sagte sie, und ihre Augen wurden dunkel und unheimlich. – »Es war gewiß dumm von mir, dir zu erzählen, daß ich ihn gefunden habe,« sagte Ingmar, »aber jetzt glaube ich doch, daß es am besten ist, wenn ich mit dir hingehe.« – Gertrud sah so glücklich aus, daß ihr Tränen in die Augen traten. »Aber wir müssen sehen, daß wir von der Kolonie fortkommen, ohne daß uns jemand sieht«, sagte sie. »Ich will es hier niemand erzählen, ehe ich ihn nicht noch einmal gesehen habe.«
Es gelang ihr, eine Laterne zu finden, und endlich machten sie sich damit auf den Weg. Sturm und Regen schlugen ihnen entgegen, aber Gertrud achtete nicht darauf. »Weißt du auch ganz sicher, daß ich ihn heute abend sehen werde«, sagte sie einmal über das andere. »Bist du wirklich sicher, daß ich ihn zu sehen bekommen werde?«
Gertrud sprach unaufhörlich. Jetzt war es, als liege nichts mehr zwischen ihr und Ingmar. Sie schenkte ihm ihr ganzes Vertrauen wie in alten Zeiten. Sie erzählte ihm von allen den Morgenstunden, die sie auf dem Ölberge gestanden und gewartet habe. Sie erzählte auch, welche Qual es für sie gewesen war, daß zuweilen Leute da hinaufgekommen waren, die dagestanden und sie angesehen hatten, während sie auf den Knien lag und zum Himmel emporsah. »Du kannst mir glauben, es war nicht angenehm für mich, daß mich alle so sonderbar ansahen, ganz als ob ich von Sinn und Verstand wäre. Aber ich wußte ja so sicher, daß Christus kommen würde, und da konnte ich es nicht lassen, da hinaufzugehen, und auf ihn zu warten.
Ich hätte es ja lieber gesehen, wenn er mit großer Macht und Herrlichkeit in den Wolken der Morgenröte gekommen wäre,« sagte sie, »aber was mache ich mir daraus, wenn er nur gekommen ist. Was tut es, daß er in dieser dunklen Winternacht kommt! Es wird doch Tag und heller Morgen, wenn er sich zeigt.
Und denke doch, Ingmar, daß du gerade zu dieser Zeit hierher kommen mußtest, wo er anfängt aufzutreten und zu wirken! Du bist glücklich, du hast nicht zu warten brauchen. Du kommst gerade zur rechten Zeit!«
Gertrud blieb plötzlich stehen, sie hielt die Laterne in die Höhe, so daß sie Ingmar ins Gesicht sehen konnte. Er ging dahin und sah so schwermütig und finster aus.
»Wie alt du doch in diesem Jahr geworden bist, Ingmar«, sagte sie. »Ich kann mir wohl denken, daß du dich mit Gewissensbissen um meinetwillen gequält hast. Aber du mußt nicht mehr daran denken, daß du mir ein Unrecht zugefügt hast. Es war Gottes Wille, daß es so kommen sollte. Es ist Gottes große Gnade gegen dich und gegen mich. Er wollte uns gerade in der richtigen, guten Zeit hierher nach Palästina führen.
Jetzt werden Vater und Mutter sich auch freuen, wenn sie Gottes Absicht verstehen können«, fuhr Gertrud fort. »Ja, sie haben mir nie ein hartes Wort geschrieben, weil ich sie verließ. Sie verstehen wohl, daß ich es daheim nicht aushalten konnte, aber ich weiß, daß sie große Bitterkeit gegen dich gehegt haben. Aber nun werden sie sich schon mit den beiden Kindern aussöhnen, die in ihrem Hause aufgewachsen sind. Weißt du, daß ich fast glaube, daß sie mehr um dich getrauert haben als um mich?«
Ingmar schritt schweigend in Sturm und Regen neben ihr dahin, er konnte ebensowenig dies wie alles andere verstehen, was Gertrud sagte. – »Er glaubt offenbar nicht, daß ich Christus gefunden habe,« dachte Gertrud, »aber was tut das, wenn er mich trotzdem zu ihm führt. Ach, wenn ich nur noch eine kleine Geduld haben könnte, dann weiß ich, daß ich bald sehen werde, wie alle Völker der Erde und alle Fürsten die Knie vor ihm beugen, vor ihm, der der Heiland ist.«
Ingmar führte Gertrud in den mohammedanischen Teil der Stadt, und sie durchschritten viele dunkle und winkelige Straßen. Endlich blieben sie vor einer niedrigen Pforte in einer hohen Mauer ohne Fenster stehen und stießen sie auf. Sie kamen durch einen langen Gang und gelangten in einen erleuchteten Hof.
Einige Diener waren in einer Ecke des Hofes beschäftigt, und ein paar alte Männer saßen, die Beine unter sich gezogen, auf einer steinernen Bank an der einen Mauer, aber niemand beachtete Ingmar und Gertrud, als sie eintraten. Sie setzten sich auf eine andere Bank, und Gertrud fing an, sich umzusehen. Es war ein Hof von der Art, wie sie sie viele in Jerusalem gesehen hatte. Um alle vier Seiten herum lief ein überdeckter Säulengang, und über dem offenen Platz in der Mitte war ein großes, schmutziges Zeltdach aufgespannt, das in Fransen und Fetzen herabhing.
Es schien in früheren Zeiten ein reiches und ansehnliches Haus gewesen zu sein, obwohl es jetzt verfallen war. Die Säulen sahen so aus, als seien sie aus einer Kirche hierhergebracht worden. Sie waren offenbar einstmals oben reich geschmückt gewesen, aber jetzt waren alle die Verzierungen verwittert und zerbrochen. Der Kalk an den Wänden war stark mitgenommen, und aus Luken und Löchern guckten schmutzige Lumpen hervor. An der einen Mauer waren eine Menge alter Kisten und Hühnerkäfige aufgestapelt.
Gertrud flüsterte Ingmar zu: »Bist du ganz sicher, daß ich ihn hier sehen soll?«
Ingmar nickte bestätigend. Er zeigte auf zwanzig kleine Teppiche aus Lammfellen, die in einem Kreis mitten im Hof lagen. »Hier habe ich ihn gestern mit seinen Jüngern gesehen«, sagte er.
Gertrud sah ein wenig enttäuscht aus, aber bald lächelte sie wieder. »Ist es nicht wunderbar, daß er immer so kommt«, sagte sie. »Man erwartet ihn in Ehren und Herrlichkeit und Reichtum, aber er will von so etwas nichts wissen, er kommt in Armut und Niedrigkeit. Aber du begreifst doch, daß ich nicht bin wie die Juden, die ihn nicht anerkennen wollen, weil er nicht als der Fürst dieser Welt vor sie hintritt.«
Nach einer Weile kamen einige Männer von der Straße herein. Sie gingen langsam nach der Mitte des Hofes und setzten sich auf die kleinen Schaffelle. Alle, die in den Hof hereinkamen, waren in morgenländische Gewänder gekleidet, aber sonst waren sie alle sehr verschieden. Einige waren jung, einige alt, einige kamen in kostbaren Pelzwerken, andere waren wie arme Wasserträger und Landarbeiter gekleidet. Allmählich, während sie hereinkamen, begann Gertrud ihnen Namen zu geben und Geschichten von ihnen zu erzählen.
»Siehst du, das da ist Nikodemus, der bei Nacht zu Jesus kam«, sagte sie von einem alten, vornehmen Mann. »Und der da mit dem großen Bart ist Petrus, und der da hinten sitzt, ist Joseph von Arimathia. Ja, ich habe bisher nie verstehen können, wie es zuging, wenn Jesus seine Jünger um sich versammelte. Und der da hinten, der mit niedergeschlagenen Augen dasitzt, ist Johannes, und der Mann mit dem roten Haar unter der Pelzmütze ist Judas. Aber die beiden, die mit gekreuzten Beinen auf der Steinbank sitzen, und aus ihren Wasserpfeifen rauchen, und so aussehen, als ginge das ganze, was sie bald hören werden, sie gar nichts an, das sind ein paar Schriftgelehrte. Die glauben nicht an ihn, die sind nur aus Neugierde hierher gekommen, nur um ihm zu widersprechen.«
Während Gertrud noch so redete, war der Kreis vollzählig geworden. Gleich darauf kam der Mann, auf den sie warteten, und stellte sich in die Mitte.
Gertrud hatte nicht bemerkt, woher er kam, sie sah ihn an. »Ja, ja, das ist er!« rief sie aus und faltete die Hände.
Sie starrte ihn lange an, während er ganz still stand, die Augen im Gebet gesenkt. Und je länger sie hinsah, um so mehr ward sie in ihrem Glauben bestärkt.
»Du kannst doch sehen, daß er kein Mensch ist,« flüsterte sie, und Ingmar antwortete ebenfalls flüsternd: »Gestern, als ich ihn zuerst sah, glaubte ich auch, daß er mehr sei als ein Mensch.«
»Es ist Seligkeit, ihn nur zu sehen«, sagte Gertrud. »Ich könnte mir nicht vorstellen, daß er mich um etwas bitten könnte, was ich nicht für ihn tun würde.«
»Das kommt wohl daher, weil wir gewohnt sind, uns den Heiland so vorzustellen«, sagte Ingmar.
Der Mann, von dem Gertrud glaubte, daß er Christus sei, stand jetzt mit hoher und gebieterischer Haltung mitten in dem Kreis seiner Anhänger. Dann machte er eine kleine Bewegung mit der Hand, und plötzlich fingen alle die, die rings umher an der Erde saßen, an, ein lautes: »Allah, Allah«, anzustimmen. Gleichzeitig begannen sie den Kopf zu bewegen, warfen ihn mit einem Ruck erst nach rechts und dann nach links, nach rechts, nach links. Sie bewegten sich alle in demselben Takt und riefen jedesmal, wenn sie den Kopf herumdrehten: »Allah, Allah!« Der in der Mitte stand fast regungslos da, gab aber den Takt durch eine leichte Neigung des Kopfes an.
»Was ist dies?« fragte Gertrud. »Was ist dies nur einmal?«
»Du bist länger in Jerusalem gewesen als ich«, sagte Ingmar. »Da weißt du selbst wohl besser als ich, was es ist.«
»Ich habe wohl davon gehört, daß es Leute gibt, die die tanzenden Derwische heißen,« sagte Gertrud, »dies hier ist gewiß ihr Gottesdienst.«
Sie saß still da und dachte nach; dann sagte sie: »Du kannst mir glauben, dies ist nur der Anfang; das ist vielleicht hier zu Lande Sitte und Gebrauch. Es ist wohl dasselbe, als wenn wir daheim den Gottesdienst mit einem Gesang einleiten. Wenn dies vorüber ist, fängt er sicherlich an, seine Lehre auszulegen. Ach, wie ich mich danach sehne, seine Stimme zu hören!«
Die Männer, die mitten auf dem Hof saßen, riefen fortwährend: »Allah, Allah!« während sie den Kopf von der einen Seite nach der andern warfen. Sie bewegten sich in immer schnellerem Takt; die Stirn war ihnen mit Schweißtropfen bedeckt, und die Allahrufe klangen wie Geröchel.
So fuhren sie mehrere Minuten ununterbrochen fort, bis ihr Führer eine leichte Bewegung mit der Hand machte; da hielten sie augenblicklich inne.
Gertrud hatte mit niedergeschlagenen Augen dagesessen, um nicht sehen zu müssen, wie sie sich quälten. Als es jetzt still wurde, sah sie auf und sagte zu Ingmar: »Jetzt wird er wohl reden. Wer doch so glücklich wäre, seine Predigt verstehen zu können! Aber ich will schon zufrieden sein, wenn ich nur seine Stimme zu hören bekomme.«
Einen Augenblick war es ganz still, aber bald gab der Führer ein Zeichen, und seine Anhänger fingen von neuem an, »Allah, Allah!« zu rufen.
Diesmal machte er ihnen ein Zeichen, den ganzen Oberkörper und nicht nur den Kopf zu bewegen. Bald war das ganze wieder in vollem Gange. Der Mann mit dem mächtigen Gesicht und den schönen Christusaugen dachte an nichts weiter, als seine Anhänger zu immer heftigeren Bewegungen anzuspornen. Er ließ sie Minute auf Minute fortfahren. Wie von einer übernatürlichen Kraft getragen, hielten sie viel länger aus, als man es menschlichen Kräften zutrauen sollte. Es war sehr unheimlich, alle diese Männer zu sehen, die dem Tode vor Anstrengung nahe schienen, und die stöhnenden Schreie zu hören, die aus ihren ausgedorrten Kehlen hervordrangen.
Nach Verlauf einer Weile entstand eine Pause; dann begannen die heftigen Bewegungen von neuem, und dann trat wieder eine kleine Pause ein.
»Diese Kerle müssen sich offenbar lange eingeübt haben,« sagte Ingmar, »ehe sie gelernt haben, so unaufhaltsam fortfahren zu können.«
Gertrud sah mit einem hilflosen und ängstlichen Blick zu Ingmar auf. Ihre Lippen bebten ein wenig. »Glaubst du denn, daß er gar nicht hiermit aufhören wird?« fragte sie. Dann warf sie der mächtigen Gestalt, die dort gebieterisch und befehlend mitten zwischen ihren Anhängern stand, einen Blick zu, und faßte neue Hoffnung. »Du sollst sehen, die Kranken und die Unglücklichen werden bald kommen und ihn aufsuchen«, sagte sie innig. »Wir werden sehen, wie er die Wunden der Aussätzigen heilt, und die Blinden wieder sehend macht.«
Aber der Derwisch fuhr fort, wie er begonnen hatte. Er gab Zeichen, daß sie sich alle erheben sollten, und dann wurden die Bewegungen noch wilder und heftiger. Sie blieben alle auf ihren Plätzen stehen; aber ihre armen Körper bewegten sich und schwankten mit der größten Heftigkeit hin und her. Die Augen starrten glanzlos und blutunterlaufen geradeaus, mehrere von den Männern schienen nicht zu wissen, wo sie waren, ihre Körper bewegten sich gleichsam unfreiwillig hin und her, auf und nieder, schneller und schneller.
Schließlich, als sie wohl ein paar Stunden dagesessen hatten, ergriff Gertrud in ihrer großen Pein Ingmars Arm. »Hat er sie denn nichts anderes zu lehren?« flüsterte sie.
Denn jetzt begann sie zu verstehen, daß der Mann, den sie für Christus gehalten hatte, keine andere Lehre zu geben hatte, als diese wilden Übungen. Er hatte keine anderen Gedanken, als diese wahnsinnigen Menschen aufzureizen und anzuspornen. Wenn sich einer von ihnen eifriger und anhaltender bewegte als die andern, stellte er ihn mitten in den Kreis hinein, und ließ ihn da stehen und stöhnen und sich winden als Vorbild für die andern. Er selber wurde auch eifriger. Auch sein Körper fing an, sich zu schwingen und zu verdrehen, als sei er nicht imstande, sich ruhig zu verhalten.
Gertrud saß da und kämpfte mit dem Weinen und mit der Verzweiflung. Alle Hoffnungen und Träume zerbarsten. »Hat er sie denn nichts, gar nichts zu lehren?« fragte sie noch einmal.
Gleichsam als Antwort gab der Derwisch einigen Dienern, die nicht an den Übungen teilgenommen hatten, ein Zeichen. Sie ergriffen ein paar Instrumente, die an einer Säule hingen, ein paar Trompeten und Tamburine. Sobald die Musik ertönte, wurden die Rufe wilder und gellender, und die Männer bewegten sich immer heftiger. Mehrere von ihnen warfen ihren Fes und ihren Turban ab und lösten ihr Haar, das fast eine Elle lang war. Es sah schrecklich aus, wenn sie sich so schwangen, so daß ihr Haar bald über ihr Antlitz flog, bald ihnen um den Kopf wirbelte. Ihre Augen standen ihnen immer starrer aus den Köpfen, ihre Gesichter wurden wie die von Leichen, ihre Bewegungen gingen in Krampfzuckungen über, und der Schaum stand ihnen vor dem Munde.
Gertrud erhob sich, und alle Freude und Begeisterung war erstorben. Die letzte Hoffnung starb jetzt. Es blieb nichts zurück als ein tiefer Ekel. Sie ging auf den Ausgang zu, ohne dem nur noch einen Blick zuzuwerfen, den sie eben noch für den Heiland gehalten hatte, der auf die Erde entsandt war.
»Es tut mir so leid um dies Land«, sagte Ingmar, als sie wieder auf der Straße standen. »Welche Lehren gab es hier in den alten Zeiten, und jetzt geht der ganze Unterricht dieses Mannes darauf hinaus, sie dazu zu bringen, sich wie Verrückte zu schwingen und zu drehen.«
Gertrud erwiderte nichts, sie schritt schnell heimwärts. Als sie vor der Kolonie standen, erhob sie die Laterne. »Hast du ihn gestern auch so gesehen?« fragte sie, und sah Ingmar ins Gesicht mit Augen, die vor Zorn erglühten.
»Ja«, erwiderte Ingmar, ohne sich zu besinnen.
»Tat es dir so leid, daß ich glücklich war, daß du ihn mir zeigen mußtest?« sagte Gertrud. »Dies verzeihe ich dir niemals«, fügte sie nach einer Weile hinzu.
»Ich verstehe dich wohl,« sagte Ingmar, »aber man muß doch tun, was recht ist.«
Sie schlichen durch die Hintertür hinein. Gertrud verließ Ingmar mit einem erbitterten Lachen. »Jetzt kannst du ruhig schlafen«, sagte sie. »Du hast deine Sache gut gemacht, ich glaube nicht mehr, daß dieser Mann Christus ist. Ich bin nicht länger von Sinn und Verstand, du hast deine Sache gut gemacht.«
Ingmar ging schweigend die Treppe hinauf, die zu dem Schlafsaal der Männer führte. Gertrud folgte ihm. »Denke daran, was ich dir gesagt habe, dies verzeihe ich dir niemals«, wiederholte sie.
Darauf ging sie in ihr Zimmer, legte sich ins Bett und weinte sich in Schlaf. Früh am nächsten Morgen erwachte sie, blieb aber in ihrem Bett liegen. Sie lag da und wunderte sich: »Was ist dies nur, warum stehe ich nicht auf? Woher kommt es, daß ich nicht mehr nach dem Ölberge hinausgehen will?«
Und sie hielt die Hände vor die Augen und weinte wieder. »Ich erwarte ihn nicht mehr, ich habe keine Hoffnung mehr. Es tat gestern zu weh, als ich sah, daß ich mich geirrt habe. Ich wage nicht mehr, ihn zu erwarten, ich glaube nicht mehr, daß er kommt.«
Fast eine ganze Woche hielt Gertrud sich vom Ölberge fern. Aber dann erwachten die alte Sehnsucht und der alte Glaube wieder in ihr. Eines Morgens schlich sie von neuem hinaus, und dann war alles wieder wie vorher.
Eines Abends, als die Kolonisten wie gewöhnlich in dem großen Saal versammelt waren, sah Ingmar, daß sich Gertrud neben Bo setzte und lange und eifrig mit ihm redete.
Nach einer Weile erhob sich Bo und trat zu Ingmar heran. »Gertrud hat mir erzählt, was du neulich abend versuchst hast, für sie zu tun«, sagte Bo. – »Hat sie das getan?« sagte Ingmar, er wußte nicht, wo der andere hinauswollte. – »Du mußt nicht glauben, daß ich nicht verstehe, daß du die Absicht hattest, ihren Verstand zu retten«, sagte Bo. – »So schlimm war es wohl nicht mit ihr«, sagte Ingmar. – »Doch,« sagte Bo, »wer sich ein Jahr mit dem Kummer herumgetragen hat, der weiß, wie schlimm es war.«
Er wandte sich um und wollte gehen; da reichte ihm Ingmar plötzlich die Hand. »Ich will dir etwas sagen,« sagte er, »niemanden hier möchte ich lieber zum Freunde haben als dich.« – Da huschte ein Lächeln über Bos Antlitz. »Ich glaube, es wird nicht lange dauern, bis wir wieder Feinde sind«, dachte er. Aber er ergriff trotzdem Ingmars Hand und drückte sie.