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Die Geschichten der alten Haushälterin

Großmutter

Ein Jahr nach der großen Reise nach Strömstadt erlebten die Kinder auf Mårbacka einen großen Kummer.

Ihre Großmutter starb. Bis dahin hatte sie Tag für Tag auf dem Ecksofa im Kinderzimmer gesessen und ihnen vorgesungen oder Geschichten erzählt.

Die Kinder wußten es nicht anders, als daß sie von morgens bis abends mit ihnen sang und ihnen erzählte, und daß sie bei ihr saßen und zuhörten. Das war wunderschön gewesen. Kein anderes Kind hatte es so gut gehabt wie sie.

Woher Großmutter alle die Geschichten und Lieder hatte, das wußten sie nicht, aber Großmutter glaubte selber jedes Wort, was sie erzählte. Wenn sie etwas gar zu Merkwürdiges berichtete, pflegte sie den Kindern tief in die Augen zu schauen und in ihrem überzeugendsten Tone zu sagen: »Alles dieses ist so wahr, wie ich euch sehe und wie ihr mich seht.«

Eines Morgens, als sie zum Frühstück heruntergekommen waren, durften sie nicht in Großmutters Zimmer gehen und ihr guten Morgen sagen, wie sie sonst zu tun pflegten, denn Großmutter war krank. Dann war das Ecksofa im Schlafzimmer tagelang leer geblieben, und die Kinder wußten nicht, wie sie die langen Stunden herumbringen sollten.

Nach einigen weiteren Tagen sagte man den Kindern, die Großmutter sei gestorben. Und als diese aufgebahrt in ihrem Sarge lag, wurden sie hineingeführt, und sie sollten ihr die Hand küssen. Aber sie fürchteten sich davor, bis ihnen jemand sagte, dies sei das letztemal, daß sie ihrer Großmutter für alle Freude, die sie ihnen gemacht hatte, danken könnten.

Dann kam ein Tag, an dem man die Märchen und Lieder vom Hofe wegfuhr, eingeschlossen in einen langen, schwarzen Sarg, und sie kehrten nimmermehr zurück.

Das war eine Zeit schmerzlichsten Vermissens für die Kleinen. Es war, wie wenn die Tür zu einer schönen Zauberwelt, durch die sie zuvor hatten frei aus- und eingehen können, verschlossen worden wäre. Und niemand war da, der sie wieder hätte öffnen können.

Nach und nach lernten sie wie andre Kinder mit Puppen und Spielsachen spielen, und man hätte meinen können, sie vermißten ihre Großmutter nicht mehr oder hätten sie gar vergessen. Aber dem war nicht so; sie lebte immerfort in ihren Herzen. Und sie wurden nie müde, den Geschichtchen zu lauschen, die ihnen die alte Haushälterin von ihrer Großmutter erzählte. Diese bewahrten sie in ihrem Herzen wie Schätze, die ihnen nicht verloren gehen konnten.

Das Gespenst am Villarsteinhügel

Die alte Haushälterin pflegte zu sagen, es könne noch nicht gar so lange her sein, seit Mårbacka unter den Pflug genommen worden sei und seßhafte Bewohner bekommen habe, denn ihre alte Herrin habe ihr erzählt, in ihrer Jugend hätten sich die Leute wohl noch daran erinnert, daß Mårbacka einstmals eine Sennerei von einem der großen Bauernhöfe gewesen sei, die auf der westlichen Talseite in der Nähe des Frykensees lagen. Aber die alte Herrin hatte gesagt, jetzt sei es verlorene Mühe nachzuforschen, wann die erste Herde dahin getrieben und der erste Schafstall da errichtet worden sei. Denn Hirten könnten tausend Jahre auf einem Fleck wohnen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und es war wahrlich nicht viel, was aus ihrer Zeit noch in Mårbacka zurückgeblieben war.

Die alte Herrin meinte, es sei jedenfalls ein Hirt gewesen, der der hügeligen Landstraße vor dem Åsberg, wo er sein Vieh und seine Pferde weidete, den Namen Mårbacka gegeben habe. Und außerdem sagte sie, ohne Zweifel hätten die Hirten und ihre Herden die Wege festgetreten.

Jawohl, die Hirten hatten den Weg von Süden her längs des Äsberges genommen, das stand fest; denn von dieser Seite mußten sie mit ihren Herden hergezogen sein. Und der Weg, der von Osten kam und steil am Berge abfiel, der war auch ihr Werk. Diesen Weg nahmen sie, wenn sie die Schafhirten auf der anderen Seite des Åsbergs besuchen wollten. Der Weg aber nach Nordwesten, Sunne zu, war furchtbar schlecht, jetzt noch konnte man erkennen, daß es ein alter Ziegensteig war. Dagegen habe es direkt nach Westen keinen Weg gegeben, meinte die alte Herrin.

Nach Westen zu war alter Seeboden mit moorigen Wiesen und Sumpfland, durch das sich ein Fluß schlängelte. Wenn der Hirt auf der Steinschwelle vor seiner Hütte stand, konnte er den Hof, zu dem er gehörte, drüben auf der andern Talseite liegen sehen; aber um ihn zu erreichen, mußte er weite Umwege nach Norden oder Süden machen.

Häufig mußten die Hirten von Süden her gekommen sein, denn der ›Ruhestein‹, wo sie auf ihrer Wanderung zu rasten pflegten, lag noch am Wegrand, etwas südlich vom Hofe. Aber die Hirten wagten sich des Nachts, nach Einbruch der Dunkelheit, nicht dort aufzuhalten, das war die Schattenseite.

Seht, zu der Zeit, als Mårbacka noch eine Sennhütte war, befand sich in der Gemeinde Sunne ein Pfarrer, der so hart und böse war, daß sich ein Bursche, der als Knecht bei ihm diente, nach ein paar Monaten erhängt hatte. Als der Pfarrer Kunde von dem Geschehenen erhielt, besann er sich nicht lange, sondern beeilte sich, den Toten abzuschneiden und ihn aus dem Hofe fortzutragen. Und die alte Herrin hatte gesagt, er habe aus keinem andern Grunde für entweiht und unrein gegolten, als weil er einen Selbstmörder berührt hatte. In Sunne ließ ihn die Gemeinde nicht mehr die Kirche betreten; diese wurde zugeschlossen, bis ein anderer Pfarrer ernannt und in Sunne eingezogen war.

Aber dieser Pfarrer war auch nach Ämtervik gefahren, um dort Gottesdienst zu halten, denn dort war auch eine Kirche und ein kleines Pfarrhaus, aber kein Geistlicher. Und nun hatte wohl der Pfarrer von Sunne gedacht, Ämtervik liege allzuweit aus der Welt draußen, da könne man noch nicht wissen, daß er unrein war. So könne er sich wohl noch dorthin begeben und Gottesdienst halten.

Er ritt auch nach Ämtervik zur Kirche; aber das böse Gerücht war da gleichzeitig mit ihm eingetroffen, und während er am Altar betete, erzählten die Leute in der Kirche sich flüsternd, was er getan hatte, und daß er deshalb unwürdig sei, ein Gotteshaus zu betreten.

Und damit nicht genug: die Bauern in Ämtervik hatten das Gefühl, er habe ihnen große Mißachtung bewiesen. Sie besprachen sich untereinander, sagten, sie seien geradezu rechtschaffene Leute wie die in Sunne, und sie wollten nicht mit einem Pfarrer vorlieb nehmen, den diese verschmähten.

Einige junge Burschen verabredeten sich, ihm einen Denkzettel zu verabfolgen. Aber da sie wußten, daß es gefährlich sei, Hand an einen Pfarrer zu legen, beschlossen sie zu warten, bis er wieder auf dem Heimweg wäre. Er ritt ja allein, und zwischen Ämtervik und Sunne war manche einsame Stelle, an der er vorbei mußte, wo man ihm in einem Hinterhalt auflauern konnte.

Doch der Geistliche mußte wohl Unrat gewittert haben, denn er kehrte nicht auf dem gewöhnlichen Weg auf der Westseite des Tales nach Sunne zurück, sondern bog in die Sennenpfade ein, die sich auf der Ostseite hinzogen, und dachte, er werde den Weg nach Hause auch auf diese Weise finden.

Und die alte Herrin hatte gesagt, denen, die an der Westseite vergeblich auf ihn gelauert hatten, sei es plötzlich klar geworden, daß er sich weggestohlen habe und sie unverrichteter Dinge wieder heimziehen könnten. Es war aber einer unter ihnen, ein Bruder des durch den Pfarrer in den Tod Getriebenen, der ihn sich nicht so einfach entwischen lassen wollte. Er ergriff eine lange Stange, die noch vom Heuverladen her auf der Wiese lag, und mit dieser in der Hand schwang er sich über den Sumpf im Tale. Die andern machten es ihm nach, und mit Laufen und Springen kamen sie wirklich ohne besonders große Schwierigkeit auf die andere Talseite hinüber. Dicht unterhalb des Schafstalls von Mårbacka fanden sie wieder festen Boden. Sie eilten südwärts weiter, um dem Reiter den Weg abzuschneiden, und an dem Hügel unter dem Ruhestein trafen sie mit ihm zusammen.

Es war nur ihre Absicht gewesen, dem Pfarrer eine gehörige Tracht Prügel zu verabfolgen, aber unglücklicherweise war jetzt der Mann bei ihnen, der einen Bruder zu rächen hatte. Er trug ein Schwert unter dem Mantel, und als die andern den Pfarrer vom Pferde heruntergerissen und ihn zu Boden geworfen hatten, zog er das Schwert hervor und hieb ihm den Kopf ab.

Als die Tat vollbracht war, entsetzten sich alle und jetzt dachten sie nur daran, wie sie es anfangen sollten, unentdeckt zu bleiben. Sie ließen das Pferd laufen und die Leiche am Wegrande liegen, damit es aussah, als ob der Mord von wilden Räubern begangen worden sei. Sie selbst machten sich schleunigst auf den Heimweg, und zwar wieder zurück über die Sumpfwiesen. Sie hofften, es sei kein Zeuge vorhanden, der sie auf der andern Talseite gesehen hatte. Auf dem gebahnten Wege hatte sie niemand gesehen, und daß sie sich über den Sumpf gewagt hatten, das würde ja niemand auch nur ahnen.

Es ging besser, als sie erwarten konnten. Da sich der Geistliche zur Zeit seines Todes in seinen Gemeinden mißliebig gemacht hatte, wurde gar nicht weiter nach ihm gesucht, und als er endlich gefunden wurde, gab man Räubern und Waldläufern die Schuld an der Missetat. Noch im Tode wurde er als unrein angesehen. Niemand wollte die Leiche berühren, und da man der Ansicht war, er dürfe nicht in geweihter Erde ruhen, ließ man ihn lieber gleich liegen, wo er lag. Man bedeckte ihn nur mit Rasenstücken und wälzte einen Haufen großer Steine darüber, damit ihn die wilden Tiere nicht herausscharren könnten.

Doch die alte Herrin hatte gesagt, der tote Pfarrer habe in dem Grab, das ihm auf diese Weise bereitet worden war, keine Ruhe gefunden, und in hellen Mondnächten habe man ihn an dem Hügel unterhalb des Ruhesteins gesehen, im langen Talar und den Kopf in den Händen. Die Pferde sahen ihn besser als die Menschen. Sie scheuten und stiegen, so daß die Reisenden oft zu Umwegen durch wilde Wälder gezwungen wurden.

Solange nur Hirten in Mårbacka wohnten, hatte der Spuk nicht allzuviel zu bedeuten gehabt. Als sich aber neue Ansiedler einfanden und zuletzt ein richtiger Bauernhof erstand, wurde es schon bedenklicher. Niemand wußte, auf welche Weise man das Gespenst zwingen könnte, ruhig in seinem Grabe zu bleiben, und jahraus, jahrein mußte man sich hüten, gegen Mitternacht am Ruhestein vorbeizufahren.

Aber die alte Herrin hatte der Haushälterin versichert, jetzt brauche niemand mehr vor dem Pfarrer ohne Kopf Angst zu haben, denn eine Bauernfrau von Mårbacka, die ein vernünftiges und entschlossenes Weib war und ein wenig mehr verstand als andre Leute, habe ihm Ruhe verschafft.

Das war so zugegangen: jene Bäuerin kam eines Abends spät am Ruhestein vorbeigeritten. Es war heller Mondschein, und wie sie erwartet hatte, stand das Gespenst auf dem Weg unterhalb des Steinhaufens, wie wenn es ihr den Weg versperren wollte.

Aber die Bäuerin hatte keine Angst, und sie ritt ein Pferd, das ebenso ruhig und furchtlos war wie sie selber. Sie ritt dicht zu dem Gespenst hin und ermahnte es, sich zur Ruhe in sein Grab zu legen.

»Wie kommt es, daß du an dem Ort, wo du hingehörst, nicht stille liegen bleiben kannst?« fragte sie. »Du weißt, daß du kein besseres Grab bekommen kannst. Nimmermehr darfst du in geweihter Erde ruhen, du, der du befleckt und unrein warst, als du starbst.«

Dieses sagte sie mit voller Überzeugung, denn der Pfarrer war ja ein böser Mensch gewesen, und sie selber sah ihn für völlig unwürdig an, in Kirchhofserde zu ruhen.

»Und du brauchst auch nicht aus deinem Grab zu steigen, um dich zu rächen«, fuhr sie fort; »denn du liegst hier um deiner eigenen Taten willen und weil du den Lohn empfangen hast, den du verdienst, das weißt du selber recht wohl.«

Während sie so sprach, schien das Gespenst vor ihr dunkler zu werden, und die Gestalt schien an Deutlichkeit zuzunehmen, schließlich sah es aus, als wolle es sich auf sie stürzen. Aber sie fürchtete sich nicht, sondern redete noch einmal zu ihm, um endlich einmal diesem Jammer ein Ende zu machen.

»Wenn du aber still und ruhig in deinem Grabe liegen bleiben willst, so gelobe ich dir, jedesmal ein Vaterunser für dich zu beten, so oft ich hier vorüberkomme«, sagte sie.

Zugleich fing sie an zu beten, und kaum hatte sie die ersten Worte gesprochen, so sah sie, wie das Gespenst sich wie in einem Nebel auflöste und im Mondschein dahinschwand. Es blieb nur noch ein lichtes Schattenbild, und ehe die Bäuerin Amen sagte, war auch dieses entschwunden.

Von der Zeit an ließ sich das Gespenst am Ruhesteinhügel nicht mehr sehen, und nachdem diese Plage zu Ende war, blühte das Glück in Mårbacka neu auf. Es wurde ein ebenso guter Hof mit stattlichen Gebäuden wie irgendeiner im Bezirk, und die Eigentümer lebten in Wohlstand und brauchten um ihr Fortkommen keine Sorge zu haben.

Die alte Herrin hatte gesagt, was am besten zeige, welch ein bedeutender Hof Mårbacka geworden, sei die Tatsache, daß im Anfange des siebzehnten Jahrhunderts ein junger Bursche von dort auf die Hochschule geschickt worden sei. Er hatte es bis zum Pfarrer gebracht, nannte sich nach dem Hofe seiner Väter Morell und wurde später zum Diakonus von Ämtervik gewählt. Er ließ sich auf seinem Erbgut Mårbacka nieder und ist der erste Geistliche gewesen, der im Kirchspiel wohnte. Alle seine Vorgänger hatten ihren Sitz in Sunne gehabt und waren nur an den Predigtsonntagen nach Mårbacka herausgekommen.

Die Bauern in Ämtervik waren es sehr zufrieden, nun ihren eigenen Pfarrer zu haben, und vor allem gefiel es ihnen, daß er seinen eigenen Hof hatte, auf dem er wohnte, und sie ihm somit kein Pfarrhaus zu bauen brauchten. Freilich lag der Hof Mårbacka weit entfernt von der Kirche, aber dieser Mißstand wurde reichlich aufgewogen, denn durch seinen Besitz war der Pfarrer ein wohlhabender, unabhängiger Mann.

Das Pfarrersgehalt war nur klein, und der größte Teil davon fiel an den Probst in Sunne, und der Diakonus wäre ein richtiger Hungerleider gewesen, wenn er Mårbacka nicht besessen hätte.

Um nun diesen Zustand, der für Gemeinde und Pfarrer der vorteilhafteste war, auch in Zukunft zu erhalten, verheiratete der erste Hilfsprediger in Mårbacka eine seiner Töchter mit einem Pfarrer namens Lyselius und richtete es so ein, daß er Hof und Amt zugleich als Erbe empfing.

Ebenso machte es Lyselius. Er gab eine seiner Töchter dem Pastor Erik Wennervik zur Ehefrau, und auch dieser bekam Hof und Amt als rechtmäßiges Erbe.

Und die alte Herrin hatte gesagt, alle seien darüber einig gewesen, daß diese Angelegenheit aufs beste geordnet sei und daß sie so weiterbestehen müsse. Sie meinte, auch die Pfarrtöchter seien stets zufrieden und glücklich dadurch geworden.

Pastor Wennervik

Die alte Herrin hatte der Haushälterin auch erzählt, eigentlich hätten die drei Pfarrer Morell, Lyselius und Wennervik den Hof Mårbacka gebaut.

In noch früherer Zeit, sagte sie, sei Mårbacka nur ein gewöhnlicher Bauernhof gewesen, und obwohl es ein großes und reiches Gut war, habe es doch dort ausgesehen wie auf allen andern Bauernhöfen. Wenn man Platz hatte für zehn Kühe und einen Stall für zwei Pferde, so war das alles, was man erwarten konnte. Das Wohnhaus umfaßte nur eine große Stube, in der alle Hausbewohner lebten und Tag und Nacht aus- und eingingen, sowie eine kleine düstere Küche, die ›kåve‹ genannt wurde. Es befanden sich wohl noch andere Gebäude auf dem Hofe: Vorratshaus und Badestube, Schreinerei und Schmiede, Scheunen und Tennen und mehrere Schuppen; aber sie waren alle klein und konnten wohl auch nicht anders sein, da der Hof damals ebenfalls viel kleiner war. Nur die allernächste Umgebung war urbar gemacht.

Die alte Herrin pflegte zu sagen, es sei gar nicht leicht sich klar zu machen, wie es die drei Pfarrer angefangen hätten, Ställe für zehn Pferde und dreißig Kühe zu bauen, außer all den geräumigen Scheunen und Vorratshäusern und Schuppen, deren sie zu bedürfen vermeinten. Das Brauhaus und die Brauhauskammer, die als Geschäftszimmer verwendet wurde, stammten auch aus jener Zeit, desgleichen auch die Milchkammer, die Webstube und die Verwalterwohnung.

Zu allerletzt – erst etwa um siebzehnhundertneunzig – hatte Pastor Wennervik, der Vater der alten Herrin, ein neues Wohnhaus gebaut. Dieses war in bescheidenerem Maße gehalten als alle die andern Gebäude. Er hatte sich mit einem einstöckigen Hause begnügt, mit Küche und vier Zimmern im Erdgeschoß und zwei Giebelzimmern. Aber sowohl Küche wie Wohnräume waren hell und geräumig und so schön in den Ausmaßen, daß einen das Behagen mit offenen Armen empfing, sobald man nur den Flur betrat.

Pastor Wennervik hatte auch den großen Küchengarten angelegt, mit Gewürzkräuterbeeten und Obstbäumen nördlich vom Wohnhaus, und mit dem kleinen Rosengärtchen an der westlichen Giebelseite. Er soll der Sohn eines Gärtners und im Gartenbau sehr bewandert gewesen sein. Viele kleine Rosenbüsche und veredelte Apfelbäume, die noch jetzt in den Bauernhöfen von Ämtervik stehen, habe er pflanzen helfen.

Er war Hauslehrer auf einem großen Herrenhof gewesen, und die alte Herrin hatte gesagt, er habe dort seine Vorliebe für Zäune und Gattertüren gefaßt. Ein schmuckes weißes Staket mit schönen Türen war rund um den Küchengarten gezogen, und ein andres um das Rosenbeet. Wenn man den Alleeweg hinunterfahren wollte, mußte man zuvor ein stattliches Gatter öffnen. Der ganze hintere Hof, über den man dann mußte, war von Wirtschaftsgebäuden und Lattenzaun umgeben, mit Gattertüren an den verschiedensten Stellen, und ebenso war es auch auf dem Vorderhofe.

Die Kinder hörten gern von Pastor Wennervik erzählen. Sie hatten in einem Wandschrank in der Rumpelkammer lateinische und griechische Bücher gefunden, die seinen Namenszug trugen, und sogar Gedichte von Bellman und Leopold, die er mit eigener Hand abgeschrieben hatte. Auch das Klavier und die Gitarre waren zu seiner Zeit auf den Hof gekommen, und so hatten sich die Kinder ein ganz besonders schönes Bild von Pastor Wennervik gemacht. Nicht nur die alte Haushälterin hatte mit ihm gesprochen, nein, auch ihr Vater und seine Schwestern. Es war ein vornehmer, liebenswürdiger Herr gewesen, der gern gut gekleidet ging. Er liebte nicht nur Blumen und Obst, auch Vögel mußte er gern gehabt haben. Denn von ihm stammte der achteckige Taubenschlag, der auf dem Rasenplatz vor dem Küchenfenster stand. Ja, es war leicht zu merken, daß er alles gut einrichten und ordnen und Mårbacka hatte verschönern wollen. Die Pfarrer, die vor seiner Zeit hier ansässig gewesen waren, hatten meist wie die Bauern gelebt; er aber hatte mit der großen Einfachheit gebrochen und herrschaftliche Sitten eingeführt, die das Leben leichter und angenehmer machten.

Mårbacka besaß noch ein altes großes Ölbild aus seiner Zeit. Es stellt seine Jugendliebe dar, ein reiches, vornehmes Fräulein aus Västergötland. Er war der Hauslehrer ihres Bruders gewesen, und da er schöner und einnehmender war als irgendein anderer Mann, den das Fräulein bis dahin kennengelernt hatte, so hatte sie sich in ihn verliebt, und er liebte sie natürlich wieder. Sie pflegten sich heimlich im Schloßpark zu treffen, um von ihrer Liebe zu reden und sich ewige Treue zu geloben. Aber eines schönen Tages wurden sie entdeckt, und der junge Hauslehrer bekam seinen Abschied.

Alles, was ihm von seinen ersten Jugendträumen blieb, war das Bild der Geliebten, und das war im Grunde recht wenig. Das junge Fräulein hatte es auch mit dem Maler nicht gut getroffen. Sie saß auf dem Bild mit einem überaus faden und ausdruckslosen Gesicht unter dem gepuderten Haar; man hätte dieses Gesicht ebensogut für eine schöne Maske halten können, wie für ein menschliches Antlitz.

Aber ein edles Gepräge trugen Haupt und Antlitz dennoch, und für den, der selbst gesehen hatte, wie diese Augen strahlen und diese Lippen lachen konnten, war das Bild trotz allem schön. Und Pastor Wennervik wurde vielleicht wie einst das Herz warm, wenn er den Blick auf das Bild richtete.

Vielleicht strömte auch von diesem Bilde die Kraft aus, die bewirkte, daß der unbedeutende Landpfarrer sein Heim mit Blumen und Vögeln umgab und sein Leben mit Musik und alten Liedern zu verschönern strebte.

Der Gänserich

Eines aber hatten die Kinder doch an Pastor Wennervik auszusetzen: Er hatte in seinen alten Tagen noch Jungfer Raklitz, seine alte Haushälterin, geheiratet. Diese war von Hof zu Hof gegangen und solange von harten Hausmüttern gehetzt und gedemütigt worden, bis sie dem Gelüste nicht mehr widerstehen konnte, nun auch ihrerseits zu hetzen und zu demütigen.

Wenn Pastor Wennervik nun doch einmal heiraten wollte, so hätte er jedenfalls daran denken müssen, sein liebes junges Töchterlein vor der Stiefmutter zu schützen. Daß es dieser hatte erlaubt sein sollen, ihrem Stiefkind zu befehlen, wie es ihr gerade paßte, sie zu strafen, sie zu schlagen und ihr eine ganz unangemessene Arbeitslast aufzubürden, das konnten die Kinder ganz und gar nicht begreifen.

Sie hatten einen ungeheuren Spaß an dem Bock, der sich einstens betrunken hatte und in diesem Zustand die Frau Raklitz samt ihrem Branntweinkrug umstieß.

Und ebenso nahmen sie Partei für die Marktleute, die ihr auf dem Markt von Ombergshed ihr Obst stahlen und ihr dann noch zuriefen, der Pfarrer von Mårbacka sei ein viel zu guter Mann, um sich von armen Leuten seine Äpfel bezahlen zu lassen.

Und die Kinder waren ganz entzückt von dem Meisterdieb, der die Türe von Frau Raklitz' Vorratshaus öffnete, obgleich sie ein neues Schloß davor hatte legen lassen, das groß und schwer genug für ein Gefängnis gewesen wäre.

Und um den großen Gänserich gab es beinahe Tränen.

Zu Frau Raklitzens Zeit hatte man an einem schönen Apriltage die ganze Gänseherde von Mårbacka auf den Hügel beim Hofe hinausfliegen lassen. Zur selben Zeit waren Wildgänse hoch in der Luft herangeflogen gekommen und hatten nach ihrer Art gerufen und geschrien. Die zahmen Gänse hatten geantwortet und mit den Flügeln geschlagen, wie sie in jedem Frühjahr taten, und niemand hatte je gedacht, man müsse sie einsperren.

Eine Wildgansherde folgte der andern, und die zahmen Gänse wurden immer aufgeregter. Und ehe man sich's versah, flog ein großer Gänserich hinauf in die Luft und vereinigte sich mit den Wildgänsen.

Auf Mårbacka dachte man nicht anders, als daß er schon nach einer kleinen Weile wieder zurückkehren werde; aber man wartete vergeblich, er kam nicht wieder. Er war und blieb weg. Und als er auch in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht wiederkehrte, glaubte man, man werde ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Gewiß war er eine Beute der Füchse oder der Adler geworden, wenn er nicht gar von hoch oben mit zersprengter Lunge abgestürzt war. Es war ja ganz undenkbar, daß eine zahme Gans mit den wilden Gänsen hinauf zum hohen Norden fliegen könne.

Den ganzen Sommer hörte man nichts von ihm; aber dann wurde es wieder Herbst, und eine Schar Wildgänse nach der andern kam dahergeflogen. Sie riefen und schrien, wie es ihr Brauch war, und die zahmen Gänse auf dem Hügel beim Hof schlugen mit den Flügeln und gaben Antwort.

Frau Raklitz sah, wie die Gänse unruhig wurden, und wollte nun gescheiter sein als das letztemal. Sie befahl ihrer Stieftochter Lisa Maja, hinzulaufen und die Gänse einzusperren.

Lisa Maja tat, wie ihr befohlen, aber sie war noch nicht an dem Hügel angelangt, als sie ein starkes Sausen in der Luft gerade über sich vernahm. Und ehe sie sich noch besinnen konnte, ließ sich eine große Schar Gänse gerade vor ihr auf dem Boden nieder. Ein stattlicher weißer Gänserich ging an der Spitze der Schar, ihm folgte eine große graue Wildgans mit neun gesprenkelten Jungen. Die Pfarrerstochter wagte nicht, sich zu rühren, aus Furcht, sie zu verscheuchen. Sie öffnete nur ganz sachte das Hoftor und verbarg sich dahinter.

Der Gänserich marschierte geradeswegs in den Hof hinein, und die ganze Familie folgte ihm. Sie verschwanden alle, und Lisa Maja schlich sachte hinterher, um zu sehen, was da vor sich ging. Und siehe, der weiße Gänserich schritt unentwegt zum Gänsestall und rief und lockte, bis sein ganzes Gefolge mit hineinging. Dann zeigte er ihnen den Weg zum Futtertrog, der mit Hafer und Wasser versehen war, und begann zu fressen.

»Seht, an so etwas bin ich gewöhnt. So hab' ich es meiner Lebtage gehabt, keine Nahrungssorgen, immer einen gefüllten Futtertrog«, schien er den Seinen zu sagen.

Aber Lisa Maja Wennervik schlich herzu, und kaum waren sie alle im Gänsestall, so machte sie die Türe hinter ihnen zu. Dann eilte sie zu Frau Raklitz.

»Liebe Mutter!« rief sie, »komm und sieh! Der Gänserich, der im Frühjahr fortflog, ist wiedergekommen mit einer Wildgans und neun Jungen.«

Aber sie bereute es ihr ganzes Leben lang, daß sie den Gänserich eingesperrt und seine Rückkehr verkündet hatte. Denn Frau Raklitz suchte wortlos nach dem kleinen Messer, das sie beim Gänseschlachten benutzte, und ehe der Abend kam, waren der prächtige weiße Gänserich, die graue Wildgans und alle die niedlichen kleinen Gänschen tot und gerupft.

»Du hast es dem Gänserich schlecht gelohnt, daß er mit so vielen schönen Gänsen zu uns zurückgekehrt ist«, sagte Lisa Maja. Mehr wagte sie nicht zu sagen.

»So wird es allen Gänsen hier auf dem Hofe gehen, wenn sie sich gegen meinen Willen auflehnen und ihre eigenen Wege gehen«, versetzte Frau Raklitz mit einem bösen Lächeln um den strengen Mund.

Die Lemminge

Frau Raklitz war schon schwierig für Lisa Maja gewesen, als deren Vater noch lebte, aber nach seinem Tode im Jahre 1801, als sie die Alleinherrscherin war, wurde sie natürlich noch viel härter und herrschsüchtiger. Die Stieftochter befand sich ohne jeden Schutz und Schirm ganz in ihrer Gewalt. Sie war erst siebzehn Jahre alt und viel zu jung, um sich mit der messen zu können, die alt und klug war. Wohl hatte sie einen Bruder, aber der war das ganze Jahr in Uppsala auf der Universität, von ihm war keine Hilfe zu erwarten.

Maja Lisa und ihre Stiefmutter waren denn auch bald in offener Fehde. Frau Raklitz wollte ihre Tochter dem alten Brauche gemäß mit dem Hilfsprediger, der an Stelle ihres Vaters gekommen war, verheiraten. Aber davon wollte Lisa Maja nichts wissen. Sie widerstand jedem Überredungsversuch sowohl von seiten ihrer Mutter als von der Gemeinde, die den alten Brauch für das einzig richtige hielt. Die Pfarrerstochter jedoch hatte ihre eigenen sonderbaren Ansichten. Sie wollte keinen Mann heiraten, nur weil er Pfarrer von Ämtervik war, sondern sie wollte ihn auch lieben können.

Der neue Prediger wollte seine Werbung mit Gewalt durchsetzen und steckte sich hinter die Stiefmutter, die ihm mit Zucker und Peitsche helfen sollte. Aber die Pfarrerstochter blieb bei ihrem Nein, und nun war Frau Raklitz auf den Gedanken gekommen, nach Öjervik zu Landrat Sandelin, Lisas Vormund, zu fahren und mit ihm die Sache zu besprechen.

Jawohl, das tat sie auch, und sie fand selbstverständlich sowohl bei dem Landrat wie bei seiner Frau die gewünschte Zustimmung. Die beiden kannten Frau Raklitz gut. Sie hatte lange Jahre in Öjervik als Haushälterin gedient, und so wußten sie, welche kluge und überlegte Person sie stets gewesen war. Wahrlich, sie hatte ganz recht, wenn sie die Pfarrerstochter auf Mårbacka mit dem Hilfsprediger verheiraten und auf diese Weise die alte Ordnung aufrechterhalten wollte. Etwas anderes konnte ihrer Meinung nach gar nicht in Frage kommen.

Frau Raklitz war, wie gesagt, wohlbekannt auf Öjervik. Man lud sie zum Abendessen ein, und dann setzte sich der Landrat zu ihr und besprach die Sache bis tief in den Abend hinein. Es war elf Uhr vorüber, als sich Frau Raklitz endlich auf den Heimweg machte. Aber die Luft war klar und der Mond hell, man brauchte also nicht zu fürchten, daß sie nicht wohlbehalten heimkäme.

Frau Raklitz war sehr zufrieden mit ihrer Reise, als sie von Öjervik abfuhr. Bei Landrats war sie gut aufgenommen worden, der Vormund hatte vollständig mit ihr übereingestimmt, Lisa Maja müsse den Hilfsprediger heiraten, das sei das einzig richtige.

Während der Wagen mit großer Geschwindigkeit auf dem Weg dahinrollte, der vom Ufer des Frykensees nach Sunne führt, überlegte Frau Raklitz eifrig, wie sie ihre arme Stieftochter quälen und peinigen wolle, bis sie deren Willen gebrochen habe. Es war ja nur zu Lisa Majas eigenem Besten, wenn diese es auch jetzt noch nicht einsah, und ihre Stiefmutter brauchte sich also deshalb keinerlei Gewissensbisse zu machen.

Auf einmal fuhr der Rappe zusammen und wich so jählings zur Seite, daß der Wagen beinahe umgefallen wäre. Das Pferd schien plötzlich ganz scheu geworden und am Durchgehen zu sein. Es rannte vom Weg ab, setzte über den Grabenrand und landete auf einem Acker, ehe der lange Bengt es zum Stehen bringen konnte. Als der Knecht das Tier endlich wieder in die Gewalt bekam, zitterte es wie Espenlaub. Obwohl es auf demselben Fleck stille stand, hob es doch immerfort die Beine auf, eins nach dem andern, und dabei schrie es, wie man selten ein Pferd schreien hört, bisweilen sprang es auch gerade in die Höhe. Es war nicht um die Welt auf die Straße zurückzubringen. Als der lange Bengt versuchte, es vorwärts zu treiben, schlug es nach hinten aus, daß der Wagen Gefahr lief, zertrümmert zu werden.

»Was gibt's? Was ist denn los, Bengt? Kannst du mir nicht sagen, was los ist?« keuchte Frau Raklitz, und in ihrem Schrecken kniff sie den Knecht fest in den Arm. »Ist das Pferd verrückt geworden?«

»Der Gaul hat mehr Verstand als wir beide«, sagte der lange Bengt. »Nein, er ist nicht verrückt. Aber er sieht etwas, was wir mit wachen Augen nicht wahrnehmen können.«

Und jetzt trieb der Rappe mit aller Gewalt rückwärts. Er hielt die Nase am Boden und schnaubte und wich zurück, ohne zu fragen, was aus dem Gefährt und seinen Insassen werden würde. Glücklicherweise befand man sich auf einem Felde, das im Sommer Roggen getragen hatte und nun abgeerntet und eben dalag. Noch hielt sich der Wagen auf seinen Rädern, aber er näherte sich immer mehr einem breiten, tiefen Graben.

Gerade als der Wagen am Grabenrand angelangt war, hielt der Rappe an. Es war, als fühle er sich der schlimmsten Gefahr entronnen. Er stand still, ohne noch weitere Sprünge zu machen, aber er schnaubte immer wieder aufs neue.

»Es wäre am besten, wenn die gnädige Frau ausstiege«, sagte der lange Bengt zu Frau Raklitz; »dann will ich sehen, ob ich das Pferd zwingen kann, an dem vorüberzufahren, was es sieht, was es auch immer sein mag.«

Die Pfarrfrau öffnete den Fußsack, aber als sie den Fuß auf die Erde setzen wollte, zog sie ihn mit einem Schrei zurück und sprang eiligst wieder in den Wagen.

»Ich kann nicht aussteigen«, sagte sie zu dem langen Bengt, »er bewegt sich.«

»Ich glaube, Ihr seid ebenso verrückt geworden wie das Pferd«, sagte der lange Bengt. »Was bewegt sich denn?«

»Der ganze Acker bewegt sich, der ganze Boden bewegt sich!« rief Frau Raklitz; ihre Stimme bebte, und sie war dem Weinen nahe.

»Ach was!« versetzte der lange Bengt, indem er rasch vom Wagen heruntersprang. Er glaubte, es sei ein Geist, der ihnen im Wege stehe und das Pferd erschrecke; aber Geister pflegen doch aus der Luft zu kommen, daß sie am Boden hinkröchen, das hatte er noch nie gehört.

Aber der lange Bengt sprang auch eiligst auf den Wagen zurück und dachte nicht mehr daran, auszusteigen, denn die Pfarrfrau hatte wahr gesprochen – der Boden bewegte sich.

Er zitterte nicht wie bei einem Erdbeben, glitt auch nicht dahin wie bei einem Erdrutsch, nein, es war, als ob jede einzelne Erdscholle Beine bekommen hätte und nun auf dem Weg nach dem Frykensee unterwegs sei.

Frau Raklitz und der lange Bengt saßen im Wagen und starrten auf den Boden, und da sahen sie schließlich, daß es eine Menge kleiner Tiere war, die über den Acker hinliefen; aber das verminderte ihr Entsetzen nicht. Mit natürlichen Dingen konnte das nicht zugehen. Wo sollte denn diese Masse von Tieren hergekommen sein? Auf dem ganzen Roggenfelde war auch nicht ein Fleckchen Erde, das nicht in Bewegung gewesen wäre.

Alle diese Tiere, oder was es nun sein mochte, liefen über den Graben auf die Landstraße, und von dort stürzten sie sich über eine Böschung geradenwegs in den See. Und es gab sicherlich keine Zahl, die ihre Menge auszudrücken vermocht hätte.

Der Rappe war nun ruhiger geworden. Nur wenn die Tiere ihm zwischen den Hufen durchliefen, schnaubte er und bäumte sich zurück. Wer sich aber nicht beruhigen konnte, das war Frau Raklitz. Ihre Zähne klapperten vor Entsetzen, und sie murmelte und redete mit sich selbst.

Immerhin blieb sie still sitzen, solange der Wagen noch auf dem Acker war. Der Rappe aber wollte nicht die ganze Nacht hier draußen stehen, sondern setzte sich nun aus eigenem Antrieb sachte in Bewegung Langsam hob er Fuß um Fuß, mit größter Vorsicht, aber ging es doch vorwärts.

Die sonderbaren Tiere wichen dem Pferd und dem Gefährt nicht aus. Es knirschte unter den Rädern, wenn die Körper zermalmt wurden.

Als die Pfarrfrau das Knirschen hörte, geriet sie außer sich. Mit wildem, unheimlichem Schreien fuhr sie in die Höhe.

Der lange Bengt schlang den Arm um sie, damit sie nicht aus dem Wagen springen konnte. »Sie holen mich!« schrie sie, »sie holen mich! Sie sind auf dem Rad, sie sind auf dem Trittbrett, sie sind im Wagen!«

Das Pferd lief jetzt schneller. Der Wagen rollte ungleichmäßig, aber sicher dahin, und es knirschte und knackte immerfort, während die Räder über die kleinen Tiere wegrollten.

»Sie sind im Wagen, sie sind im Wagen!« schrie Frau Raklitz. Damit sprang sie auf und stand nun aufrecht auf dem Sitz. »Sie ziehen mich am Rock, die wollen mit mir in den See!«

Der lange Bengt mußte aufstehen und sie festhalten. »Es geschähe dir recht, wenn ich dich für all deine Schlechtigkeit hinunterfallen ließe«, murmelte er; aber er hielt sie doch fest an den Armen.

Endlich kamen sie wieder auf die Straße und fuhren da auch über eine Unzahl der wandernden Tiere. Aber schließlich blieb der Rappe stehen und wieherte vergnügt.

»So, jetzt ist's überstanden. Setzt Euch, Frau Raklitz! Kommt, setzt Euch doch wieder!«

Aber Frau Raklitz war weit entfernt, sich zu beruhigen. »Sie sind im Wagen, sie ziehen mich am Rock, sie wollen in den See mit mir!« rief sie.

Der lange Bengt mußte sie mit Gewalt vom Sitz herunterheben und niedersetzen. Sie sträubte sich, und er wagte nicht sie loszulassen.

»Vorwärts, mein Rappe! Du findest deinen Weg, auch ohne daß ich die Zügel halte.«

Der Rappe setzte sich in Bewegung, während Frau Raklitz vor Schluchzen bebte und lange Geschichten erzählte von Tieren, die auf Räder kletterten und in den Wagen wollten.

»Jetzt lauf, Rappe!« befahl der lange Bengt, »sonst wird sie mir noch ganz verrückt, ehe ich sie heimbringe.«

Der Rappe verstand ihn wohl. Jedenfalls wollte er selber gern heim an seine Krippe kommen. Er lief bergauf, bergab, ohne die Fahrt zu verlangsamen.

Dem langen Bengt perlte der kalte Schweiß auf der Stirne. Er versuchte, der Pfarrfrau einzureden, daß die Gefahr vorüber sei; aber sie glaubte ihm nicht.

»Du bist lieb, guter Bengt«, sagte sie weinend, »aber du wirst mir nicht weismachen, daß wir gerettet sind. Ich höre sie, ich sehe sie, sie springen uns nach, sie wollen in den See mit mir.«

Als sie endlich vor der Veranda von Mårbacka hielten und eines der Dienstmädchen herzukam, um der Pfarrfrau aus dem Wagen zu helfen, wagte diese nicht auszusteigen.

»Nein, nicht du«, sagte sie, »du hast keine Macht. Du kannst mich nicht vor ihnen retten.«

Das Mädchen wich erschrocken zurück, denn Frau Raklitz sprach plötzlich ganz anders als sonst.

»Hol die Pfarrtochter!« befahl Frau Raklitz. »Hol Lisa Maja! Sie ist die einzige, die Macht über die Bösen hat!«

»Mamsell Lisa Maja ist schon zu Bett gegangen«, entgegnete das Mädchen.

»Geh nur und bitte sie, so schnell wie möglich zu kommen!« sagte der lange Bengt, »Sag ihr, die Frau Pfarrer habe unterwegs einen großen Schrecken gehabt.«

Frau Raklitz saß noch immer im Wagen und schauderte und bebte, bis ihre Stieftochter sich angekleidet hatte und auf der Treppe erschien.

»Ach, Gott segne dich!« rief Frau Raklitz und streckte die Arme nach ihr aus. »Komm und hilf mir! Sei mir nicht böse! Ich will auch niemals wieder häßlich gegen dich sein!«

»Was ist dir denn, liebe Mutter?« fragte die Pfarrtochter und trat an den Wagen.

»Komm und gib mir die Hand!« sagte die Stiefmutter. »Ach, du Liebe du, halte sie fern, solang ich aussteige! Laß sie mich nicht fassen! Gegen dich können sie nichts ausrichten. Du hast Macht über sie.«

Als sie endlich aus dem Wagen gestiegen war, fiel sie der Stieftochter um den Hals. »Geh niemals von mir!« flehte sie. »Sei mir nicht böse! Du sollst auch heiraten dürfen, wen du willst, ich werde kein Wort dagegen sagen.«

»Sie hat unterwegs eine Erscheinung gehabt«, erklärte der lange Bengt. »Alle kleinen Tiere der Hölle waren unterwegs, und sie meint, sie seien noch hinter ihr her und wollten sie in den Frykensee hineinzerren.«

Die Pfarrtochter schlang die Arme um ihre Stiefmutter. »Komm, liebe Mutter«, sagte sie. »Nun bist du in Mårbacka. Hier kann meiner lieben Mutter nichts Übles widerfahren.«

Frau Raklitz war so verschüchtert und erschüttert, daß die Pfarrtochter mit ihr scherzen mußte, wie mit einem Kind, um sie zu bewegen, in ihr Zimmer und zu Bett zu gehen. Sie durfte die Stiefmutter nicht verlassen, sondern mußte bei ihr sitzen, ihr die Hand halten und ihr Gejammer anhören, bis es Tag wurde.

Aber von dieser Nacht an wagte es Frau Raklitz nicht mehr, häßlich gegen ihre Stieftochter zu sein. Sie wurde niemals wieder, wie sie gewesen war, hielt sich am liebsten in ihrem Zimmer auf und überließ Lisa Maja das Hauswesen. Sie half wohl bei vermehrter Arbeit vor einem Feiertag oder einem Festessen, aber niemals mehr außerhalb des Hauses.

So lebte sie bis zum Jahre 1835. Man weiß nicht, ob sie ihrer Stieftochter aufrichtig zugetan war, aber als sich Lisa Maja endlich verheiratete und kleine Kinder ins Haus kamen, hatte sie diese sehr lieb. Jeden Tag kamen die Kleinen zu ihr in das Zimmer auf der Westseite des Hauses und sagten ihr guten Tag. Sie trank sehr gern Kaffee und wollte immer Feuer im Ofen haben, um sich Kaffee kochen zu können. Auch die Kinder wurden häufig mit Kaffee bewirtet, aber die Mutter hielt das nicht für zuträglich für die Kleinen. Sie verbot ihnen, sich bei der Großmutter zum Kaffee einladen zu lassen.

Am nächsten Tage waren die beiden Jüngsten, Nana und Lovisa, wie gewöhnlich zu Besuch im Westzimmer, und als sie wieder herauskamen, rochen sie schon von weitem nach Kaffee.

»Nun, was habt ihr heute bei der Großmutter bekommen?« fragte die Mutter.

»Suppe, Mütterchen«, antworteten beide wie aus einem Mund und ohne Zaudern.

»Und worin hat denn die Großmutter die Suppe gekocht?« fragte die Mutter.

»Im Kaffeetopf, Mütterchen«, erwiderten die Kleinen ebenso prompt wie vorher.

Das klang aber so überaus drollig, und die Kinderlein waren so klein und dumm, daß man nichts tun konnte als laut lachen.

Der Neck

Im südlichen Teil des Kirchspiels gibt es Gegenden, in denen sich die Natur viel schöner und reicher darbietet als im Norden bei Mårbacka.

Dort schneidet der Frykensee tiefe Buchten ins Land hinein, eine nach der andern, und an jeder Bucht liegen Strandwiesen mit gutem Ackerboden, Laubwälder und meistens auch drei oder vier vortreffliche Bauernhöfe der alten Art. Zwischen den Buchten strecken sich Landzungen weit ins Wasser vor, bergig und waldig und so wild und ungastlich, daß kein Mensch daran denkt, sie urbar zu machen oder sich dort anzubauen.

An einem Sommertag war Lisa Maja Wennervik nach Bößviken geritten, der südlichsten der Buchten, um von den herrlichen Birnen zu bestellen, die dort unter dem Schutz der Berge wuchsen. Von den Bewohnern in Bößviken war sie gut aufgenommen worden, hatte auch noch in mehreren Hütten guten Tag sagen müssen, und so war es recht spät geworden, ehe sie den Heimweg antrat.

Aber sie ritt furchtlos durch die helle Sommernacht dahin, obwohl sie ganz allein war. Lisa Maja ließ das Pferd im Schritt gehen, denn die Nacht war herrlich, und sie konnte sich nicht satt sehen daran. Einmal ritt sie hoch auf dem Berg im wildesten Wald, in dem es so dunkel war, daß sie sich vorstellte, wie es wäre, wenn plötzlich Räuber oder wilde Tiere aus dem Dickicht hervorbrechen und sie vom Pferd herunterreißen würden. Dann wieder ging es hinab durch lichte Täler mit tauigen Wiesen, schönen Birkenhainen und weißglänzendem Wasser. Am Himmel stand noch ein farbiger Schein vom Sonnenuntergang, und die Röte spiegelte sich im See. Lisa Maja hatte noch nie etwas Lieblicheres gesehen als diese Sommernacht.

An einer der Buchten sah Lisa Maja einen großen prächtigen Hengst auf der Strandwiese weiden. Es war ein Apfelschimmel mit einer Mähne, so lang, daß sie am Boden schleifte, und auch sein Schwanz reichte beinahe bis zur Erde und war so dicht wie eine Roggengarbe. Der Hengst war breit in den Lenden mit hohem Widerrist, helläugig, mit schlanken Beinen und kleinem Kopf. Die Hufe waren weiß und glänzten wie Silber, wenn er sie aus dem Grase hob. Er war nicht beschlagen und trug an seinem Körper keine Spuren von Sattel- oder Zaumzeug.

Lisa Maja war langsam einen Hügel herabgeritten, und der Rappe ging im Schritt weiter der Wiese zu, auf der der Hengst weidete. Sie kamen ihm so nahe, daß nur noch ein Zaun zwischen ihnen war. Lisa Maja brauchte nur die Hand auszustrecken, um dem schönen Tier den Rücken zu streicheln.

Der Hengst hatte sich bis jetzt nicht um sie gekümmert. Nun endlich hob er den Kopf und betrachtete das junge Mädchen.

Und Lisa Maja Wennervik war wunderschön; wenn sie ausritt, warfen die jungen Burschen Axt oder Sense oder was sie gerade in der Hand hatten, weg, um nach der Straße zu eilen und sich über die Zäune zu beugen, bis sie vorüber war.

Aber siehe, als jetzt der prächtige Apfelschimmel die Augen zu ihr erhob, da war ihr, als sei in seinem Blick ebenso viel Bewunderung zu lesen, wie in dem der Bauernburschen, wenn sie sich über den Zaun beugten.

Einen Augenblick sah der Hengst Lisa Maja an, dann warf er sich heftig herum und rannte im Galopp davon mit wild wehender Mähne und waagrecht hinausstehendem Schwanze. Er brauste über die ganze Wiese dahin und stürzte sich zum Schrecken des jungen Mädchens in den See. Das Ufer war seicht in der Bucht, und als er ins Wasser sprang, spritzte es um ihn auf wie der Schaum eines Wasserfalls. Plötzlich war er verschwunden.

Lisa Maja glaubte, es sei ein Unglück geschehen, und der Hengst, der in seiner wilden Hast zu rasch ins tiefe Wasser geraten sei, müsse ertrinken. Sie wartete einen Augenblick, ob er wieder an die Oberfläche schwimme, aber er kam nicht mehr zum Vorschein. Ruhig wie ein Spiegel lag der See.

Da fühlte Lisa Maja ein heißes Verlangen, an den See hinunterzureiten und wenn möglich das prächtige Tier vom Tode zu retten. Wie sie das angreifen wollte, wußte sie allerdings nicht; aber der Hengst war das schönste Pferd, das sie je gesehen hatte, und sie konnte sich nicht dabei beruhigen, hier müßig an der Landstraße zu halten und keinen Versuch zu machen, ihm zu helfen.

Sie ergriff die Zügel ihres Pferdes, wendete es dem Zaune zu und gab ihm einen Schlag mit der Reitgerte, damit es hinübersetze. Aber der Rappe war ein Pferd, das mehr als Menschenverstand hatte, und anstatt über den Zaun zu springen, zog er vor, sich in größter Eile auf den Heimweg zu begeben. Das junge Mädchen in seinem hohen Stuhlsattel hatte keine Gewalt über das Reitpferd und merkte auch bald, daß es keinen Zweck hätte zu versuchen, es zum Gehorsam zu zwingen. Der Rappe wußte, was er wollte. Er wußte auch, was das für ein Hengst war, den seine Reiterin retten wollte.

Und als Lisa Maja auf dem nächsten Hügel ins Waldesdunkel eintauchte, war auch ihr klar geworden, wen sie gesehen hatte. Von dem silbergrauen unbeschlagenen Hengst mit der schleppenden Mähne hatte sie schon viele, viele Male reden hören. Es konnte niemand anders sein als der Neck.

Als sie heimgekehrt war und ihr Abenteuer erzählte, stimmten alle mit ihr überein, daß sie den Neck gesehen hatte und niemand sonst, und daß sie und alle auf ihrem Hofe sich wohl in acht nehmen müßten, denn gewiß werde nun bald eines von ihnen ertrinken.

Aber in Mårbacka gab's keinen See, und der alte Seeboden westlich vom Hofe war nunmehr ganz ausgetrocknet, da fand sich keine Spur von Sumpf oder Moor mehr. Sogar der Fluß, der früher breit und gefahrdrohend dagelegen, war klein geworden und konnte im Sommer nur noch als gewöhnlicher Bach gelten.

Im August jedoch, als die Nächte dunkler wurden und die Nebel über Fluß und Wiesen schwebten, da geschah es, daß ein alter Mann von Mårbacka gen Westen seiner Heimat zuwanderte. Was ihm begegnet war oder was er im Nebel gesehen haben mag, hat niemand erfahren, aber heim kam er nicht in dieser Nacht, und am andern Tag fand man ihn ertrunken in dem Flüßchen, dessen Wasser ihn kaum bedeckte. Er war alt und gebrechlich, und die Trauer um ihn war vielleicht nicht allzu groß; aber jetzt war man auf Mårbacka seiner Sache auch vollkommen sicher, daß Lisa Maja den Neck gesehen hatte und keinen anderen. Wäre sie ihm an jenem Abend hinab zum Frykensee gefolgt, dann hätte er sie unbarmherzig mit in die blaue Tiefe gezogen.

Der Regimentsschreiber

Es mußte mit der Bekehrung der Frau Raklitz doch nicht gar so weit hergewesen sein, denn die alte Haushälterin konnte den Kindern nicht genug einprägen, welch ein Glück es für Lisa Maja gewesen war, einen so vorzüglichen Mann wie den Regimentsschreiber Daniel Lagerlöf bekommen zu haben. Er war zwar nicht vermögend, aber gut und klug und ehrenhaft. An ihm bekam sie gerade das, was sie für ihr Leben brauchte.

Freilich, ein Pfarrer war er nicht, aber sein Vater, Großvater und Urgroßvater waren Geistliche und samt und sonders mit Pfarrerstöchtern verheiratet gewesen, so daß er mit allen alten Pfarrfamilien in Wermland verwandt war. Ein großes Talent zum Predigen oder Reden hatte er allerdings nicht von seinen Ahnen geerbt, aber die Freude am Leiten und Ordnen ganzer Versammlungen lag ihm im Blute, und die Leute in Ämtervik, die ihn erst mit scheelen Augen betrachtet hatten, weil er eine Pfarrerstochter geheiratet und dadurch mit der alten Ordnung gebrochen hatte, gewöhnten sich rasch daran, ihn in allen Gemeindeangelegenheiten schalten und walten zu lassen.

Die Kinder waren sehr erstaunt, die alte Haushälterin in dieser Weise reden zu hören. Sie hatten Geschichten von ihrem Großvater gehört, wie sie unter dem Volke im Schwange gingen. Er sollte ein großer Geigenkünstler und wenigstens in jungen Jahren so schwermütig gewesen sein, daß er das Leben daheim nicht ertragen konnte und man ihn deshalb seine eigenen Wege gehen lassen mußte.

Aber das bestritt die alte Haushälterin auf das entschiedenste. Dem Regimentsschreiber hatte nie etwas gefehlt. Was für eine Einbildung! Sie begriff nicht, wer den Kindern so etwas vorgeredet hatte. Nein, das einzige war, daß er oft auf Reisen ging; aber das waren stets Reisen gewesen, die er von Amts wegen machen mußte. Da er ja Regimentsschreiber war, mußte er einmal im Jahr durch ganz Wermland reisen, um die Kriegssteuer zu erheben. Und er war ja auch nicht nur Regimentsschreiber, sondern zugleich auch Verwalter des Kymsberghammers ganz oben an der nördlichen Grenze. Dort mußte er auch alle Augenblicke hinreisen, und zum dritten und letzten stand er so hoch in Ansehen, daß er auch als Vormund und Vermögensverwalter in Anspruch genommen wurde. Am meisten Last hatte er mit der Vormundschaft der Frau des Landrats Sundelin auf Öjervik gehabt, die von dem Hüttenbesitzer Antonsson sieben Eisenhämmer geerbt hatte. Monatelang hatte er sich in den vielen Hammerwerken westlich vom Frykensee aufhalten müssen, um dort die verworrenen Dinge wieder in Ordnung zu bringen.

Aber sobald er nur abkommen konnte, eilte er heim nach Mårbacka, und wenn er zufällig frühmorgens unbemerkt dort ankam, da legte er wohl seine Geige an die Wange, stellte sich unter das Schlafzimmerfenster und weckte seine Frau mit seinem Spiel.

Soviel konnte ja Wahres an der Sache sein; aber wenn es hieß, er sei von Hause fortgelaufen und lange fortgeblieben, ohne daß jemand wußte, wo er war, so bildeten sich die Leute das nur ein, weil sie sahen, daß auf Mårbacka gewöhnlich die Frau alles leitete und anordnete.

Die Kinder waren ganz betrübt, als sie hörten, welch ein ernster, nüchterner Verstandesmensch der Großvater gewesen sein sollte. Aber sie konnten doch nicht anders, als der alten Haushälterin Glauben schenken.

Eines Abends jedoch, als die Eltern auswärts eingeladen waren, hatte das Stubenmädchen, das aufbleiben und die Herrschaft erwarten sollte, das neue Kindermädchen Maja, die Nachfolgerin von Back-Kajsa, überredet, ihr während des Aufbleibens Gesellschaft zu leisten.

Sie machten in der Kinderstube ein großes Feuer im Ofen, zogen die kleinen roten Stühlchen der Kinder herbei, setzten sich darauf und flüsterten ganz leise miteinander, damit die kleinen Mädchen, die drüben in ihren Bettchen schliefen, nicht im Schlafe gestört würden.

Plötzlich ging die Tür auf, und die Haushälterin trat herein. Sie hatte sich gewundert, wohin denn das Stubenmädchen gegangen sein mochte, und sie im ganzen Hause gesucht.

Nun setzte auch sie sich an den warmen Ofen. Sie konnte ja doch nicht schlafen, ehe sie ihre Herrschaft wieder wohlbehalten daheim wußte.

Als nun diese drei so recht gemütlich beim Feuer saßen, nahmen die beiden Dienstmädchen die Gelegenheit wahr, die alte Haushälterin in einer wichtigen Sache um Rat zu fragen.

»Lisa und ich, wir beide möchten uns gern Traumgrütze kochen«, sagte die Kinder-Maja, »aber wir wissen nicht, ob es irgendeinen Zweck hat.«

Auf diese Weise verlockten sie die alte Haushälterin, ihnen zu erzählen, wie es damals zugegangen war, als Mamsell Lisa Maja Wennervik einen Traumpfannkuchen gebacken hatte.

In der letzten Weihnachtszeit, die Pastor Wennervik noch erlebte, hatte Mamsell Lisa Maja sich damit vergnügt, in der Neujahrsnacht einen Traumpfannkuchen zu backen. Sie war damals siebzehn Jahre alt, und so war die Zeit für sie herangekommen, wo ein junges Mädchen ans Heiraten zu denken pflegt. Lisa Maja rührte drei Löffel Wasser, drei Löffel Mehl und drei Löffel Salz zusammen, goß die Mischung in die Pfanne, aß dann soviel davon, als sie vermochte, und legte sich schlafen. Aber sie fand lange keinen Schlaf, denn sie fühlte nach dem salzigen Pfannkuchen einen brennenden Durst, und es war natürlich streng verboten, vor dem Einschlafen etwas zu trinken.

Als sie am anderen Morgen erwachte, konnte sie sich nicht erinnern, etwas geträumt zu haben. Später am Tage trat sie zufällig auf die Veranda hinaus, und da blieb sie plötzlich ganz erfreut stehen. Jetzt fiel ihr ein, daß sie letzte Nacht im Traum genau auf derselben Stelle gestanden hatte. Und wie sie so dastand, waren zwei fremde Herren, ein alter und ein junger, auf sie zugekommen. Der alte Herr hatte gesagt, er sei der Propst Lagerlöf von Arvika, und er komme mit seinem Sohn, um Lisa Maja zu fragen, ob sie durstig sei und einen Trunk Wasser haben möchte?

Und sofort war der junge Herr mit einem Glase frischen Wassers zu ihr getreten und hatte es ihr angeboten. Sie war so froh, als sie das klare frische Wasser sah, denn noch im Traume fühlte sie den Durst in ihrem Halse brennen.

Damit war der Traum zu Ende; aber von Stund an wußte Lisa Maja, wer ihr Gatte werden würde, weil man den, der einem im Traume Wasser zu trinken anbietet, wenn man vorher einen Traumpfannkuchen gegessen hat, heiraten wird.

Mamsell Lisa Maja wunderte sich sehr, wie das zugehn sollte, denn damals kannte sie niemand, der Lagerlöf hieß; aber siehe, gleich nach Neujahr kam ein Schlitten auf den Hof gefahren. Lisa Maja stand eben am Fenster, und als sie den erblickte, der im Schlitten saß, hatte sie einen lauten Schrei ausgestoßen und die Haushälterin in den Arm gekniffen.

»Da kommt der, den ich im Traume gesehen habe«, sagte sie. »Du wirst sehen, er heißt Lagerlöf.«

Und so war es auch. Der da in dem Schlitten angefahren kam, hieß Daniel Lagerlöf. Er war der Verwalter des Hüttenwerks auf Kymsberg und ausgefahren, Heu zu kaufen.

Zuerst erschrak Lisa Maja, als sie ihn sah. Er war nicht gerade schön, und er sah sehr schwermütig und düster aus; sie konnte sich gar nicht vorstellen, daß sie diesen Mann je lieb gewinnen könnte.

Aber er war über Nacht in Mårbacka geblieben, und am nächsten Morgen hatte der Knecht eine gar merkwürdige Kunde gebracht. Zwei Wölfe und ein Fuchs waren in die Wolfsgrube gefallen. Und da vom Hofgesinde niemand gewußt hatte, wie man die Gefangenen aus der Grube herausbringen könnte, war der Verwalter von Kymsberg ohne irgendeine andere Waffe als einen Knotenstock in die Grube hinuntergesprungen, hatte die Wölfe mit einem Hieb über den Schädel betäubt und ihnen dann eine Schlinge um den Hals gelegt, damit man sie hinaufziehen konnte.

Aber Mamsell Lisa Maja war vollständig überwältigt von dieser Tapferkeit, und nun wendete sich ihr Herz dem Verwalter zu. Jetzt war sie ganz mit sich im reinen, daß sie diesen und keinen anderen zum Manne haben wolle.

Er seinerseits verliebte sich wohl bei dieser ersten Begegnung in Lisa Maja, ließ sich aber nichts anmerken. Er war nämlich schon einmal verlobt gewesen, und obwohl seine Braut tot war, wollte er ihr doch die Treue halten und an keine andere denken.

Jedenfalls aber kam er diesen Winter noch öfter nach Mårbacka, um Heu zu kaufen, und da fand er gar bald heraus, wie schwer Lisa Maja es bei ihrer Stiefmutter hatte. Das Mädchen tat ihm von Herzen leid, und er hätte ihr sehr gern geholfen, aber er konnte ja um seiner Braut willen durchaus nicht um sie werben. Dafür aber kam er auf den Gedanken, sein Bruder, der droben in den finnischen Wäldern irgendwo Pfarrer war, solle sie heiraten.

Wirklich brachte er auch eine Begegnung zwischen seinem Bruder und Lisa Maja zustande; aber damit richtete er das größte Unheil an. Der Pfarrer verliebte sich so heftig in Mamsell Lisa Maja, daß er sein Leben lang an keine andre mehr denken konnte, sie aber liebte den Verwalter von Kymsberg und wollte den andern durchaus nicht haben.

Pastor Lagerlöf brachte es jedenfalls nicht bis zu einer Verlobung. Er erhielt den Befehl vom Bischof, eine Person zu heiraten, die er jahrelang im Hause gehabt und der er die Ehe versprochen hatte. Frau Raklitz hatte dabei die Hand im Spiele, und es entstand nichts als großes Unglück aus der ganzen Sache, denn als Pastor Elof Mamsell Lisa Maja nicht bekam, ergab er sich dem Trunk und war bald ebenso heruntergekommen, wie er zuvor prächtig und ausgezeichnet gewesen war.

Danach aber hatte Daniel Lagerlöf niemand mehr, den er hätte an seine Stelle setzen können, und wenn er der Pfarrtochter auf Mårbacka helfen wollte, so mußte er es schon selber tun. Und da meinte er wohl, es habe mehr Sinn, einer Lebenden beizustehen, als eine Tote zu betrauern, und so faßte er Mut und warb um Lisa Maja.

Diese war überglücklich und glaubte, nun sei aller Kummer zu Ende; aber gar bald merkte sie, daß ihr Verlobter sehr eigentümlich und verschlossen war. Er kam nur selten auf Besuch, und wenn er kam, konnte er stundenlang still dasitzen und sie immer nur ansehen. Oder er legte die Geige ans Kinn und spielte ununterbrochen, von dem Augenblick an, wo er kam, bis er wieder fortging.

Schließlich kam er nur noch ganz selten nach Mårbacka, es konnte ein ganzes Jahr vergehen, ohne daß er seine Braut sah.

Wenn sie ihn gelegentlich einmal fragte, wann die Hochzeit sein solle, kam er immer mit neuen Ausflüchten. Zuerst sagte er, sie müßten warten, bis er soviel verdient habe, daß er Mårbacka erwerben und die Miterben ausbezahlen könne. Ein andermal mußte er seine Brüder unterstützen, die in Lund studierten, und wieder ein andermal mußte die Hochzeit aufgeschoben werden, weil er versuchen wollte, als Regimentsschreiber angestellt zu werden.

Er schob auf und schob auf. Bald hatte er zuviel zu schreiben, bald mußte er zuviel umherreisen.

Zum Schlusse glaubte außer Lisa Maja kein Mensch mehr, daß es noch zu einer Hochzeit käme. Das schlimmste dabei war für Lisa Maja, daß nun die jungen Herren von Sunne und Ämtervik wieder auf Freiersfüßen nach Mårbacka kamen. Lisa Maja gab ihnen zwar zu verstehen, wie vergeblich ihre Bemühungen waren, aber einige von diesen Freiern waren überaus hartnäckig. Sie kamen nach wie vor, und als Lisa Maja ihnen die Besuche auf Mårbacka untersagte, legten sie sich am Waldrand auf die Lauer und paßten ihr auf, wenn sie des Wegs daherkam.

Alles Schlechte, was sie von Daniel Lagerlöf wußten, kramten sie vor ihr aus. Einmal bekam sie zu hören, er sei der Genosse aller der nichtsnutzigen und dem Trunke ergebenen Kavaliere, die in der Gegend umherfuhren, die Höfe aussogen und der Schrecken aller ordentlichen Menschen waren; dann wieder behaupteten sie, er laufe im Walde umher wie ein wildes Tier.

Einige ärgerten Lisa Maja auch mit der Nachricht, Daniel Lagerlöf sei jetzt Regimentsschreiber geworden und könne nun wohl heiraten, wenn er der Sache nicht überdrüssig geworden wäre; und andre erschreckten sie mit der Behauptung, er laufe der Tochter des Finnen Erik nach, der der Reichste im Lande sein sollte.

Aber nichts von alledem berührte Mamsell Lisa Maja auch nur im geringsten. Sie blieb gleich vergnügt und vertraute fest auf ihren Traum; o ja, es kam sicher so, wie ihr da offenbart worden war.

Eines Tages jedoch drang ein Gerücht zu ihr, wonach ihr Verlobter gesagt haben sollte, wenn er nur seine Verlobung los wäre, so ginge er ins Ausland und lernte ordentlich Geige spielen.

Das ergriff sie, wie noch nichts sie ergriffen hatte, und sie ging hinaus, um mit dem langen Bengt zu sprechen.

»Hör' einmal, Bengt«, sagte sie. »Du mußt die Kutsche anspannen und gleich nach Kymsberg hinauffahren, um den Regimentsschreiber zu holen, denn jetzt will ich mit ihm reden.«

»Ja, ich will's wohl versuchen«, erwiderte der lange Bengt; »aber was soll ich tun, wenn er nicht gutwillig mitkommt?«

»Sag' ihm, du dürftest nicht allein zurückkommen«, sagte sie; und dann fuhr der lange Bengt nach Kymsberg.

Es ist eine ganze Tagreise hinauf nach Kymsberg, und der lange Bengt kam auch erst am folgenden Abend wieder. Aber da hatte er auch wirklich den Regimentsschreiber bei sich im Wagen.

Mamsell Lisa Maja empfing ihn freundlich wie immer. Sie führte ihn in den Saal und bat ihn, sich zu setzen und sich von der langen Reise auszuruhen, auch sagte sie, das Abendessen würde schnell bereitet werden, denn er müsse sicherlich hungrig sein.

Der Regimentsschreiber ging im Zimmer auf und ab und sah finster und ungeduldig aus. Er schien nur auf den Augenblick zu warten, wo er wieder seiner Wege gehen könnte.

Als sie dann beim Abendbrot saßen, das Brautpaar ganz allein, wendete sich Lisa Maja in dem Augenblick, wo gerade Maja Perstochter mit dem Essen hereinkam, an den Regimentsschreiber, gerade als ob sie bis dahin gewartet hätte, und fragte ihn, ob es wahr sei, daß er seine Verlobung mit ihr lösen wolle.

»Ach ja«, sagte er und sah ebenso trübsinnig drein wie die ganze Zeit vorher. Das täte er am allerliebsten, und sie müsse das eigentlich schon lange gemerkt haben.

Da stieg Lisa Maja das Blut ins Gesicht, und sie sagte, wenn sie ihn bis jetzt nicht darüber gefragt habe, so sei das nur aus dem Grunde geschehen, weil sie es für ganz gewiß ansehe, daß sie beide füreinander bestimmt seien.

Doch da brach er in ein häßliches Lachen aus und fragte, was sie damit sagen wolle.

Sie wurde noch röter, und dann berichtete sie ihm mit wenigen Worten, wie sie in der Neujahrsnacht den Traumpfannkuchen gebacken und ihn mit seinem Vater im Traume gesehen und was sein Vater zu ihr gesagt habe.

Er legte Messer und Gabel nieder und sah sie mit großen Augen an.

»Das hast du dir hinterher ausgedacht«, sagte er.

»Du kannst Maja Perstochter fragen, ob ich nicht schon, ehe du aus dem Schlitten stiegst, gewußt habe, wer du bist, ja, gleich bei jenem ersten Male, wo du hierherkamst, um Heu zu kaufen«, versetzte Mamsell Lisa Maja und wendete sich an die Haushälterin, die eben um den Tisch herumging und die Schüsseln reichte.

»Ja, aber warum hast du früher nie davon gesprochen?« fragte er.

»Weil kein andres Band zwischen uns sein sollte, als dein eigner Wunsch, das kannst du dir wohl denken«, antwortete sie.

Nun saß er wieder ganz still da, aber er schien von dem, was er gehört hatte, tief ergriffen.

»Kannst du mir sagen, wie der Mann aussah, der sagte, er sei der Propst Lagerlöf in Arvika?« fragte er nach einer kleinen Weile.

»Jawohl«, antwortete sie und fing gleich an, den Propst zu beschreiben. Und sie mußte ihn wohl auch Zug um Zug getroffen haben, denn der Sohn wurde so verdutzt, daß er vom Tisch aufstand.

»Aber mein Vater starb ja in dem Jahr, wo du geboren wurdest«, sagte er. »Du hast doch wohl von ihm erzählen hören.«

»Ich hatte vorher nie einen Menschen namens Lagerlöf gesehen und habe auch, ehe ich von euch geträumt habe, niemals weder von dir noch von deinem Vater reden hören«, erwiderte Mamsell Lisa Maja. »Frag' doch Maja Perstochter, die hier neben uns steht, ob sie mich nicht oftmals deinen Vater genau so hat beschreiben hören.«

Da blieb Daniel Lagerlöf dicht vor Lisa Maja stehen. »Wenn ich es doch glauben dürfte!« sagte er. Und noch einmal wanderte er durchs ganze Zimmer. Dann trat er wieder zu ihr. »Dann wärst du ja das Mädchen, das mein lieber Vater mir bestimmt hat«, sagte er.

Aber was Mamsell Lisa Maja darauf erwiderte, das hat die alte Haushälterin nie erfahren, denn sie begriff, daß es nun an der Zeit für sie sei, sich zu entfernen.

Jedenfalls saß das Brautpaar noch stundenlang beisammen und sprach miteinander, und am nächsten Tag war die Versöhnung geschlossen, und kurz darauf wurde Hochzeit gefeiert.

Und Mamsell Lisa Maja hat der alten Haushälterin erzählt, daß nichts im Wege gestanden habe, als seine Schwermut und seine Grillen. Einmal hatte er gedacht, er wolle seiner ersten Braut kein Unrecht tun; dann wieder hatte er an seinen Bruder Elof gedacht, und daß er doch selber nicht glücklich werden dürfe, weil der Bruder durch seine Veranlassung so unglücklich geworden war.

Aber durch Lisa Majas Traum hatte er nun etwas Festes und Sicheres, wonach er sich richten konnte, und nun fand er auch den Mut, das zu tun, was sein größter Wunsch war.

Und von seinem Hochzeitstag an wurde er ein ganz andrer Mensch. In den ersten Jahren bekam zwar die Schwermut noch hin und wieder Macht über ihn; aber später wurde er ruhig und gleichmäßig in seiner Stimmung. Sein Bruder ertrank ein Jahr, nachdem die Hochzeit auf Mårbacka stattgefunden hatte, und danach brach wieder eine lange schwere Zeit über ihn herein; aber auch diese ging vorüber.

Er und die alte Herrin waren dann sechsundvierzig Jahre lang verheiratet, und während der letzten dreißig Jahre war alles überwunden; es gab keine glücklicheren Menschen auf der ganzen Welt.

Die Kinder aber lagen in ihren Bettchen und lauschten und staunten, und zugleich wurden sie von Herzen froh; denn ihr Großvater war bis jetzt nur ein lebloses Bild für sie gewesen, jetzt aber war er zu einem Menschen von Fleisch und Blut geworden.

Die Landwehrmänner

Im Jahr 1810, als Großmutter mehrere Jahre verheiratet war und schon zwei Kinderchen hatte, saß sie eines Abends am östlichen Fenster der Küche. Die Dämmerung war hereingebrochen, und da der März schon weit vorgeschritten war und sie kein Licht anstecken wollte, hatte sie zu ihrem Strickstrumpf gegriffen, denn stricken konnte sie auch in der tiefsten Dunkelheit.

Wie sie so bei ihrer Arbeit saß, hob sie ganz unwillkürlich den Kopf und sah durchs Fenster hinaus. Doch da wollte sie kaum ihren Augen trauen. Noch vor ganz kurzem war es draußen still und klar gewesen, und nun herrschte dichtes Schneegestöber. Der Schnee fiel so dicht, daß sie kaum den Lichtschein des gerade gegenüberliegenden Fensters der Gesindestube unterscheiden konnte. Der Wind fegte in heftigen Stößen daher, der Schnee prasselte gegen die Wände, und in der kurzen Zeit, die Frau Lagerlöf dagesessen hatte, waren von dem immer dichter fallenden Schnee schon die Büsche und der Lattenzaun ganz bedeckt.

Die Dunkelheit war seit dem Ausbruch des Unwetters rasch tiefer geworden, aber Frau Lagerlöf konnte doch sehen, daß mehrere große Tiere durch die Schneewehen nach dem hinteren Hofe jagten. »Hoffentlich nehmen sich die Mädchen in acht und gehen nicht hinaus, um Holz zu holen«, dachte sie, »denn die Graubeine sind heut abend unterwegs.«

Gleich danach hörte sie einen Schrei und sah einen Wolf vom hintern Hof herkommend an ihrem Fenster vorbeilaufen. Er trug etwas im Rachen, das sich wehrte und Widerstand leistete. Frau Lagerlöf meinte auch, es sei ein Kind; aber was für ein Kind hätte das sein sollen? Ihre eigenen waren an ihrer Seite, und andre Kinder gab es nicht auf dem Hofe.

Aber siehe, dicht hinter dem ersten Wolfe kam auch sofort ein zweiter dahergekeucht, und auch dieser trug ein Kind im Rachen.

Da litt es die Großmutter nicht länger auf ihrem Stuhle. Sie fuhr so schnell empor, daß der Stuhl umfiel, eilte in die Küche und durch die Küchentüre hinaus ins Freie. Aber dort blieb sie stehen. Vor ihr lag die klare, stille, liebliche Frühlingsnacht. Nirgends eine Spur eines Schneegestöbers und nirgends ein Wolf. Sie mußte über ihrem Strickstrumpf eingenickt sein, und was sie gesehen hatte, war nur ein Traum gewesen.

Doch dahinter mußte etwas Ernsthaftes verborgen liegen, das verstand die Großmutter. »Wir müssen jedenfalls gut auf die Kinder achtgeben«, sagte sie zu den Dienstleuten, »das war kein leerer Traum, sondern eine Warnung.«

Doch den Kindern stieß nichts Gefährliches zu; sie wuchsen und gediehen, und das Gesicht oder der Traum, oder was es nun war, geriet in Vergessenheit, wie so vieles andre dieser Art.

Im August desselben Jahres kam eine Schar armer Kriegsleute durch Mårbacka gezogen. Sie waren zerlumpt, ausgehungert und krank, die Leiber zum Gerippe abgemagert und die Augen gierig wie die wilder Tiere. Alle sahen aus wie vom Tode gezeichnet.

Sie erzählten, sie kämen vom oberen Ende des Frykensees und aus dem Bezirk im nördlichen Teil des Frykentals. Jetzt jedoch, wo sie sich ihrer Heimat näherten, seien sie nicht froh, denn sie fürchteten, ihre Angehörigen würden sie nicht wieder erkennen wollen.

Vor zwei Jahren waren sie als frische, starke Burschen ausgezogen. Was würden die Leute daheim sagen, wenn man sie so elend wiedersah? Sie taugten zu nichts anderm mehr, als in die Kirchhofserde gelegt zu werden.

Die Armen waren gar nicht im Krieg gewesen, sie waren nur hin und her marschiert in Hunger und Kälte. Sie hatten kein Gefecht gesehen, sondern nur mit Krankheiten und Verwahrlosung gekämpft.

Viele Tausende waren sie gewesen, als sie auszogen, aber ein Tausend nach dem andern war umgekommen. Sie berichteten, viele von ihnen seien in offene Prahme gesetzt und gezwungen worden, mitten im Winter über das wilde Meer zu rudern. Wie es auf der Fahrt zugegangen, das wußte niemand; aber als die Prahme an Land trieben, da hatte die Besatzung an den Rudern gesessen, tot, mit Eis überzogen und erfroren.

Die wenigen, die noch am Leben geblieben waren, suchten nun den Heimweg auf eigene Faust. Aber auf ihrer Wanderung war es ihnen oft begegnet, daß sie, sobald sie sich Ortschaften und Höfen genähert hatten, mit Steinwürfen fortgejagt worden waren.

Ein Kummer aber nagte am meisten an ihnen: daß sie nicht in den Krieg gekommen und totgeschossen worden waren, sondern sich in unendlicher Qual nun weiter durchs Leben schleppen mußten!

Sie wußten nur zu gut, in welchem Zustande sie sich befanden, voller Ungeziefer, stinkend vor Schmutz und unheimlich anzusehen. Als sie nach Mårbacka kamen, begehrten sie kein Bett und kein Dach; sie baten nur um ein paar Bündel Stroh und ein trockenes Plätzchen, auf dem sie sich niederlegen könnten.

Auf Mårbacka empfing man die armen Kriegsleute nicht mit Steinwürfen. Der Regimentsschreiber war auswärts, aber seine Frau erlaubte ihnen, ein Lager im hinteren Hofe dicht am Zaun aufzuschlagen. Grütze und Suppe kochte man für sie in großen Kesseln, und was an Kleidern erforderlich war, wurde ihnen gegeben.

Die Leute vom Hofe standen in hellen Haufen unaufhörlich an dem Lagerplatz, um den Berichten dieser armen Menschen zuzuhören. Allerdings konnten nicht alle reden. Manche gaben auf keine Anrede eine Antwort, so stumpf waren sie. Sie schienen gar nicht mehr zu wissen, wer sie waren und woher sie kamen.

Es war etwas so Außerordentliches, wie manche dieser Männer verwandelt waren, daß die Kunde davon durchs Land ging und die Leute von weit hergewandert kamen, um sich selbst zu überzeugen.

»Der dort«, sagte ein Fremder, der die bemitleidenswerten Reisekameraden lange betrachtet hatte, »ja, der dort drüben soll der Sohn von Jörgen Persa in Torsby sein! Aber ich kenne Jörgen Persas Sohn. Der war ein feiner Bursch. Da ist keine Spur von Ähnlichkeit vorhanden.«

Eines Tages kam eine arme Witwe des Wegs daher. Sie stammte aus einem kleinen Walddörfchen ganz im Norden, wo sie ihr Leben in hartem Kampf mit Hunger und Not fristete.

»Ist einer unter euch, der Börje Knutsson heißt?« fragte sie, nachdem sie die kranken Landwehrleute eine Weile betrachtet hatte.

Keiner aus der ganzen Schar gab Antwort. Die Leute kauerten mit hochgezogenen Beinen auf dem Boden und stützten das Kinn auf die Knie. So saßen sie oft stundenlang, ohne sich zu rühren.

»Wenn einer von euch Börje Knutsson heißt, so soll er sich zu erkennen geben, denn er ist mein Sohn«, sagte die Frau.

Keiner der armen Elenden sagte ein Wort oder machte eine Bewegung. Sie hoben nicht einmal den Blick zu ihr auf.

»Seit er fortgezogen ist, hab' ich jeden Tag geweint«, fuhr die arme Witwe fort. »Wenn er unter euch ist, könnte er doch wohl aufstehen und es mir sagen, denn ich selbst erkenne ihn nicht wieder.«

Aber alle blieben stumm, und die Frau ging langsam wieder fort.

Dem ersten Menschen, dem sie begegnete, berichtete sie, was ihr geschehen war. Und dabei war sie ruhig und beinahe froh.

»Bis jetzt hab' ich gemeint, ich müßte verrückt werden, wenn mein Sohn nicht zurückkäme«, sagte sie. »Aber jetzt danke ich Gott, daß er nicht unter diesen Gerippen ist.«

Die Landwehrmänner rasteten eine ganze Woche in Mårbacka. Dann setzen sie etwas gestärkt und erquickt ihren Weg nach Norden fort.

Aber sie hatten die Ruhr zurückgelassen. Alle Leute auf dem Hofe erkrankten schwer, aber es starb niemand außer den beiden Kinderchen der Großmutter. Sie waren noch zu zart, um dieser Krankheit widerstehen zu können.

Als die beiden Kinder in ihren Särgen lagen, da dachte die Großmutter: »Wenn ich getan hätte wie die andern, wenn ich das fremde Volk nicht aufgenommen, sondern sie mit Steinwürfen fortgejagt hätte, dann wären meine Kinder noch am Leben.«

Aber als sie das dachte, fiel ihr wieder das Gesicht von jenem Frühlingsabend ein, nämlich die Wölfe und die Kinder, die jene fortgeschleppt hatten.

»Unser Herrgott trägt keine Schuld«, sagte sie, »er hatte mich gewarnt.«

Die Kinder waren ja nicht gestorben, weil man barmherzig gewesen war, sondern weil man sie nicht mit der nötigen Vorsicht vor Ansteckung behütet hatte.

Als die Großmutter einsah, wieviel sie selbst Schuld hatte, daß ihre Kinderchen nun tot und begraben waren, wollte sie der Schmerz fast überwältigen. »Das kann ich nie verwinden«, dachte sie. »Ich werde nie wieder ein ganzer Mensch werden.«

Was ihre Verzweiflung noch vermehrte, war der Gedanke, wie ihr Mann den Verlust der beiden Kleinen aufnehmen werde. Er war seit mehreren Monaten nicht mehr daheim gewesen. Die Schwermut hatte wohl die Oberhand gewonnen, und nun wagte er sich nicht zurück in sein Haus. Wo er jetzt war, wußte sie nicht. Sie konnte ihm nicht einmal Nachricht von dem Vorgefallenen geben.

Nun würde er gewiß denken, es sei die Strafe Gottes, weil sie geheiratet hatten. Vielleicht würde er überhaupt nicht mehr zu ihr zurückkehren.

Die arme Frau war sich jetzt nicht mehr klar darüber, ob er nicht doch am Ende recht hätte. Vielleicht war es das beste, wenn sie sich nie wiedersahen.

Alle Leute auf dem Hofe waren tief betrübt über den schweren Kummer der Großmutter, und sie wußten nicht, wie sie ihr helfen sollten. Aber der lange Bengt, der älteste Knecht von allen, war nicht bange, auch einmal auf eigene Faust zu Werke gehen, und so begab er sich zum zweitenmal nach Kymsberg, um zu versuchen, den Hausherrn herbeizuschaffen.

Dieses Mal dauerte es keine zwei ganzen Tage, bis der lange Bengt zurückkam. Er hatte den Regimentsschreiber richtig gefunden und sein Anliegen vorgebracht; aber kaum war er fertig mit seiner Rede, da ließ der Hausherr auch schon ein frisches Pferd vor den Wagen spannen. Ohne anzuhalten, fuhr er die ganze Nacht hindurch, so daß er schon am andern Morgen in Mårbacka war.

Und als er ankam, war er nicht steif und rauh. Er schloß seine Frau sanft in die Arme, wischte ihr die Tränen ab und tröstete sie mit den mildesten Worten.

Es war, als vermöge er ihr erst jetzt, wo er sie vernichtet und schmerzerfüllt sah, die ganze Größe seiner Liebe zu zeigen.

Sie empfand es wie ein Wunder.

»Und ich glaubte, ich müsse auch dich noch verlieren«, sagte sie.

»Ich bin nicht der, den man im Leid verliert«, erwiderte er. »Dachtest du, ich könne dich verlassen, weil du zu barmherzig gewesen bist?«

In dieser Stunde tat sie einen tiefen Blick in sein Herz; nun verstand sie ihn besser als je zuvor.

Ja, nun wußte sie es: in frohen, guten Tagen, da mußte sie auf eignen Füßen stehen, und dazu war sie auch imstande. Aber im Leid, im Kampf und in ernsten Zeiten, da würde er allezeit an ihrer Seite stehen als ihr Schirm und Schutz.


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