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Leutnant Lagerlöf war der festen Überzeugung, daß Kinder vor allem andern lernen müßten, einen guten Mittagsschlaf zu halten, wenn ihnen ihr ganzes Leben lang Gesundheit und Kräfte erhalten bleiben und sie zu nützlichen, tüchtigen Menschen heranwachsen sollten.
Dies wurde den Kindern fest eingeprägt, und zu diesem Zweck nahm der Leutnant jeden Tag, gleich wenn gegessen war, die beiden Jüngsten mit auf sein »Kontor«, das sich in einem kleinen Flügel rechts vom Hofplatze befand.
Dieses Kontor war ein recht geräumiges Zimmer, und es sah darin gewiß noch genau so aus, wie zur Zeit der alten Pastoren, als es diesen noch als Amtsstube diente. In der Querwand, der Tür gerade gegenüber, war ein Fenster, und unter diesem stand ein großes lederbezogenes Sofa mit einem ovalen Tisch davor. Die nördliche Wand entlang stand zuerst ein Bett, dann ein mit schwarzem Leder bezogener Lehnstuhl, dann kam der große schwarze Schreibtisch und ein hoher Schrank mit vielen Schubladen, Chiffoniere genannt. An der südlichen langen Wand befand sich ebenfalls ein Bett und ein mit schwarzem Leder bezogener Stuhl. Dann kam der Ofen, und neben diesem hingen drei Jagdflinten, zwei Jagdtaschen aus Seehundsleder, eine große Reiterpistole und zwei Pulverhörner. Ein Florett kreuzte einen abgebrochenen Säbel, und mitten in dem Waffenkranz prangte ein großes Elchhorn.
An der östlichen Querwand befand sich die Eingangstür mit einem wandfesten Kleiderschrank auf der einen Seite und einem Bücherspind auf der anderen. Unten in dem Kleiderschrank stand des Leutnants schöner Geldschrein mit Kunstschloß und dichten Beschlägen, dieselbe Geldkassette, die der Regimentsschreiber einst benützt hatte und die an der einen Ecke etwas verkohlt war, weil sie einmal nahe daran gewesen war, verbrannt zu werden.
In dem Bücherschrank verwahrte Leutnant Lagerlöf seine großen Rechnungsbücher, und außerdem fanden sich da sämtliche Schulbücher zweier Generationen. Viele Jahrgänge des »Europäischen Feuilleton« standen da in enger Gemeinschaft mit Homer, Cicero und Livius zusammen. Die Biographien Peters des Großen und Friedrichs II. waren hierher verwiesen worden, weil sie in einfachen grauen Pappdeckel gebunden waren, und desgleichen auch Wilhelm von Brauns Werke, diese aber nicht ihres Einbandes wegen, sondern aus anderen Gründen. Auf dem Boden des Schranks lagen Feldmeßgeräte, die aus der Zeit stammten, da Leutnant Lagerlöf bei der Flurbereinigung tätig war, und außerdem standen da auch noch Kästen mit Angelgeräten, Grundleinen und vielem anderen.
Wenn nun der Leutnant und seine beiden Töchterchen das Zimmer betreten hatten, so war das erste, was sie taten, die Fliegen hinauszujagen. Fenster und Türen wurden sperrangelweit aufgemacht, und Leutnant Lagerlöf nahm ein Handtuch, mit dem er die Fliegen jagte, die beiden Kleinen aber nahmen ihre Schürzen ab und schwangen sie eifrig hin und her. Sie wedelten und jagten, sie kletterten auf Tische und Stühle. Die Fliegen flogen umher und surrten und wollten nicht hinaus, schließlich mußten sie doch nachgeben.
Wenn alle Fliegen verschwunden waren, hängte Leutnant Lagerlöf das Handtuch wieder an die Wand, die Kinder banden die Schürzen wieder um, und Fenster und Türen wurden geschlossen. Aber eine Fliege war trotzdem noch da, »die alte Kontorfliege«, wie sie genannt wurde. Sie war diese tägliche Jagd gewöhnt und verstand es, sich zu verstecken, solange sie vor sich ging. Aber sobald es wieder still und ruhig geworden war, kam sie hervor und setzte sich an die Zimmerdecke.
Es wurde indes nicht mehr Jagd auf sie gemacht, denn diese Fliege war ihnen zu schlau, diese Fliege konnten sie nicht loswerden, das wußten der Leutnant und die Kinder recht wohl. Deshalb gingen sie nun an das nächste, was vor dem Mittagsschlaf besorgt werden mußte.
Auf das Ledersofa wurden zwei lederbezogene Kissen und ein Federkissen als Kopfunterlage für Leutnant Lagerlöf gelegt; auf diese streckte er sich aus, schloß die Augen und tat, als ob er schliefe.
Aber dann kamen die kleinen Mädchen auf ihn zugestürzt und warfen sich über ihn mit lautem Geschrei. Wie kleine Bälle wurden sie weit ins Zimmer hinein zurückgestoßen, kamen aber sofort wieder heran, wie eigensinnige junge Hündlein. Sie zerrten den Leutnant am Bart, zupften ihn am Haar, kletterten auf das Sofa und trieben allen möglichen Unfug. Wenn dann alle drei sich recht toll vergnügt hatten, klatschte Leutnant Lagerlöf in die Hände und sagte: »Jetzt ist's genug.«
Aber das half kein bißchen, die Kinder machten lustig weiter. Sie krochen auf das Sofa, wurden wie Bälle auf den Boden geworfen, kamen abermals herbei und schrien und lärmten.
Wenn es noch eine Weile so weitergegangen war, klatschte Leutnant Lagerlöf zweimal in die Hände und sagte: »Jetzt ist's aber wirklich genug.«
Doch auch das half nicht das geringste, die Kinder kamen unter Schreien und Lachen herbeigestürzt, wurden weit zurückgeschleudert, ließen sich aber nicht abwehren.
Doch jetzt dauerte es nicht mehr lange, bis Leutnant Lagerlöf dreimal in die Hände klatschte und sagte, nun sei es zu Ende, wirklich zu Ende.
Und dann krochen die beiden Kinder sofort in ihr Bett. Sie zogen ihr Kopfkissen hervor, legten es unter den Kopf und streckten sich aus, um zu schlafen.
Doch siehe, nach einer kleinen Weile fing Leutnant Lagerlöf an zu schnarchen. Er schnarchte nicht gerade durchdringend, aber doch immer laut genug, daß die beiden Kinder, die sich daran gewöhnen sollten, nach Tisch zu schlafen, wach gehalten wurden.
Sie durften nicht aufstehen, durften sich nicht bewegen oder miteinander plaudern, sondern mußten ganz still auf einem Fleck liegen bleiben.
Sie betrachteten die Flickenteppiche auf dem Fußboden und erkannten an den Flicken Frau Lagerlöfs und Mamsell Lovisas alte Kleider wieder, die in Streifen geschnitten zu Läufern gewebt worden waren. Sie richteten ihre Blicke auf General Malmbergs Porträt, das zwischen zwei Schlachtenbildern an der Wand hing, sie besahen sich das Tintenfaß und die Schreibfeder, das Elchhorn und die Jagdtaschen, das Florett und die weitberühmte Flinte, die Hasentöter genannt wurde. Auch verfolgten sie die Verzierungen an der Decke und zählten die Sterne auf der Tapete, die Nagelköpfe im Fußboden und die Vierecke der Vorhänge. Wahrlich, die Zeit wurde den Kleinen sehr lang!
Draußen vor dem Fenster hörten sie die lustigen Stimmen der größeren Kinder, die keinen Mittagsschlaf mehr zu halten brauchten. Ach, da draußen aßen die andern jetzt Kirschen und Stachelbeeren und unreife Äpfel – sie waren frei und glücklich!
Die einzige Hoffnung der Kleinen war die Kontorfliege. Denn diese summte und summte um Leutnant Lagerlöfs Gesicht herum und machte sich so lästig bemerkbar, wie nur möglich. Und wenn sie nur aushielt, dann mußte es ihr schließlich doch gelingen, den schlafenden Vater aufzuwecken.
Es war nicht in unsrer Zeit, als sich ereignete, was im folgenden erzählt wird. Es lag weit zurück, bis in die dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Die Gymnasiasten in Karlstadt hatten sich im Anfang des Herbstsemesters ungewöhnlich ruhig verhalten. Sie hatten weder Schlägereien mit den Gassenjungen angezettelt noch irgendeinen andern Unfug getrieben. Die ganze Stadt verwunderte sich darüber und war froh und dankbar, obgleich man immerhin eine gewisse Leere empfand.
Als aber der Herbstjahrmarkt herannahte, wo Leute aus ganz Wermland in der Kreisstadt erwartet wurden, fühlten die Gymnasiasten, daß es jetzt an der Zeit sei, ihr Ansehen aufrechtzuerhalten. Jetzt handelte es sich ja nicht allein um Karlstadt, sondern um die ganze Provinz. Nach gründlicher Überlegung und als die verschiedensten Vorschläge gemacht und verworfen worden waren, wurde ein Schuljunge namens Friedrich Sandberg zu den Gymnasiasten befohlen.
Natürlich folgte er dem Rufe, denn zu jener Zeit hätte man keinem Schuljungen raten können, sich gegen die Gymnasiasten aufzulehnen. Sie waren die Obrigkeit, und es wäre keinem gut gegangen, der versucht hätte, einem Befehl von ihrer Seite nicht nachzukommen.
Als Friedrich Sandberg vor den Gymnasiasten erschien, wurde ihm ein Hemd mit steifgestärktem Kragen und Jabot angezogen, ferner eine großgeblümte seidene Weste, graue Beinkleider mit Spannriemen, ein blauer Rock mit glänzenden Knöpfen und feine Lackschuhe. Dann wurden ihm die Haare gekräuselt und toupiert, Handschuhe und Spazierstock ihm in die Hand gedrückt und zu guter Letzt wurde ihm ein hoher Zylinderhut mit geschwungenem Rand auf den Kopf gesetzt. Wäre Friedrich Sandberg nur nicht gar so klein gewesen, daß die Hosen Falten schlugen, die Rockschöße fast auf dem Boden schleiften und ihm der Hut bis über die Ohren herunterhing, dann hätte er einen so flotten Kavalier vorgestellt, wie nur je einer auf den Straßen der Stadt dahingewandert war.
Sobald Friedrich Sandberg fertig angezogen war, wurde ihm befohlen, zu Mamsell Broström zu gehen.
Und als er die Bodenkammer, wo Mamsell Broström wohnte, erstiegen hatte, stand sie eben vor dem Ofen und buk Hippen. Sie war gerade nicht besonders sorgfältig angezogen. Im Mieder und Unterrock stand sie vor dem Ofen, und der kleine Schuljunge meinte, er habe noch niemals solche Arme und Beine, solche Hände und Füße und einen Körper von solchem Umfange gesehen.
»Mein Name ist Friedrich Sandberg«, begann er, »und ich soll untertänigst fragen, ob ich wohl Mamsell Broström zum Jahrmarktsball in der Freimaurerloge einladen dürfte?«
Mamsell Broström gehörte nicht gerade zu der guten Gesellschaft und hatte wahrscheinlich nicht die Absicht gehabt, auf den Jahrmarktsball zu gehen. Als sie nun aber von einem so flotten Kavalier eingeladen wurde, dachte sie keinen Augenblick daran, nein zu sagen, sondern sie verneigte sich vor Friedrich Sandberg und sagte, sie sei überaus dankbar und fühle sich sehr geehrt, sie werde sich mit dem größten Vergnügen in der Freimaurerloge einfinden.
Friedrich Sandberg war über den freundlichen Empfang sehr erfreut, denn es hätte ebensogut auch anders gehen können; sobald es anging, verabschiedete er sich und lief eilends zu den Gymnasiasten und berichtete ihnen, wie alles abgelaufen war.
Acht Tage nachher wurde Friedrich Sandberg abermals zu den Gymnasiasten befohlen. Wieder wurden ihm ein Herrenhemd mit gestärkter Hemdenbrust, Kragen und Jabot, Halsbinde, seidne Weste, graue Beinkleider mit Spannriemen, ein blauer Frack mit glänzenden Knöpfen und Lackschuhe angetan. Die Haare wurden ihm gekräuselt und toupiert, Handschuhe und Spazierstock in seine Hand gegeben und ihm obendrein ein hoher Zylinderhut mit geschweiftem Rand aufgesetzt. Als er ganz fertig angezogen war, wurde er noch einmal zu Mamsell Broström geschickt.
Als er diesmal in die Bodenkammer trat, stand Mamsell Broström vor dem Spiegel und probierte ein rotes Tüllkleid an. Das Kleid ließ Hals und Arme frei. Und Mamsell Broström drehte und wendete sich ungeduldig vor dem Spiegel hin und her und schien entsetzlich schlechter Laune zu sein.
Friedrich Sandberg betrachtete die dicken Arme, die da aus dem roten Tüll herausquollen, sowie die unter dem kurzen Gewand sichtbaren dicken Beine. Er betrachtete diese mächtige Person, die zweimal so groß und zweimal so breit und zweimal so dick war wie er. Sein Blick richtete sich auf die groben Wangen, die kupferrot geworden waren, weil Mamsell Broström beständig vor dem Ofen stand und Hippen buk. Er betrachtete auch das üppige schwarze Haar, das struppig ihr Gesicht umgab, er begegnete dem scharfen Blick der rotunterlaufenen Augen, er hörte die grollende Stimme, und da bekam er Angst. Am liebsten wäre er davongelaufen; aber er war von den Gymnasiasten ausgeschickt und wußte, was diese sagen würden, wenn er der Obrigkeit nicht gehorchen würde.
So verbeugte er sich denn vor Mamsell Broström und sagte:
»Ich möchte untertänigst fragen, ob ich am Jahrmarktsball Mamsell Broström um den ersten Walzer bitten darf?«
Mamsell Broström war gerade, an diesem Morgen recht bedenklich gewesen; sie hatte bereut, ihr Jawort gegeben zu haben und sich gefragt, ob sie hingehen solle oder nicht. Möglicherweise hätte sie sich auch den ganzen Ball aus dem Sinne geschlagen, wenn jetzt nicht Friedrich Sandberg erschienen wäre und sie um den ersten Walzer gebeten hätte.
Nun aber, wo sie eines Kavaliers sicher sein konnte, wurde sie rasch wieder guter Laune, und sie antwortete Friedrich Sandberg, sie fühle sich geehrt und geschmeichelt und werde mit dem größten Vergnügen mit ihm tanzen.
An demselben Tage war der Jahrmarktsball, und Mamsell Broström begab sich in die Freimaurerloge mitten unter die Bewohner von Karlstadt und die Jahrmarktsreisenden. Sie ging durch den Damensalon und trat in den Ballsaal. Da ließ sie sich auf einer der kleinen gepolsterten Bänke nieder, die an den Wänden entlang liefen.
Mamsell Broström trug ein Kleid aus rotem Tüll; das war für sie das schönste, was es gab, und sie war höchst zufrieden mit sich selbst. Die Leute starrten sie zwar an, das sah sie wohl, aber sie kümmerte sich nicht darum; da sie nun einmal eingeladen war, hatte sie ebensogut das Recht, hier auf dem Jahrmarktsball zu tanzen wie alle die andern. Sie sah, daß die andern Damen Bekannte hatten, mit denen sie sich unterhielten; aber auch das machte ihr nichts aus, denn sobald die Musik zum Tanze anstimmte, würde man schon sehen, daß sie einen Kavalier hatte, und zwar einen ebenso feinen, wie irgendeine der anderen Damen.
Als die Regimentskapelle zum ersten Tanz aufspielte, sah sie, wie die Buchhalter vom Hüttenwerk die Töchter der Hüttenbesitzer, die Offiziere die Damen des Regiments und die Verkäufer die Mädchen aus den Kreisen der Kaufleute engagierten. Jeder nahm seine Dame und manche wandten sich auch an andre, aber alle traten vor und drehten und schwangen sich, nur allein Mamsell Broström nicht, die an der Wand saß und auf Friedrich Sandberg wartete.
Die Gymnasiasten saßen droben auf der Galerie bei der Musik und sahen von da Mamsell Broström im roten Tüllgewand an der einen langen Saalwand sitzen, damit der, den sie erwartete, sie auch leicht entdecken könne.
Die Gemahlin des Landeshauptmanns sah durch ihre Lorgnette und fragte, wer denn dort so geputzt und groß mitten auf der Langseite des Saales sitze. Die Hüttenbesitzerstöchter rümpften die Nase über sie, die adeligen Fräulein fragten, wie denn eine solche Person hier auf den Jahrmarktsball habe kommen können; aber Mamsell Broström blieb immerfort in einsamer Größe auf ihrem Platze sitzen. Friedrich Sandberg zeigte sich nicht, und kein andrer Herr sah nach ihr hin.
Dann kam das Abendessen und danach wurde wieder getanzt; dann brachen die vornehmen Familien allmählich auf, die Herren fingen an, etwas erhitzt auszusehen, aber Mamsell Broström saß noch immer auf demselben Platz.
Schließlich kam aber doch der Gerber Grunder zu ihr hin und forderte sie zu einer Polka auf.
»Es ist wahrhaftig Zeit«, sagte Mamsell Broström.
Das sagte sie so laut, daß man es im ganzen Saale hörte, und dieser Ausspruch wurde in Wermland zu einem geflügelten Wort.
Der Gerber hatte die ganze Zeit beim Kartenspiel in den Nebenzimmern gesessen und keine andre Absicht gehabt, als nun auch ein Tänzchen zu machen; und da er sonst keine Dame sah, die frei gewesen wäre, merkte er nicht, in welcher Gemütsstimmung Mamsell Broström war.
Als sie nun aufstand, um sich in das Gewimmel der Tanzenden zu stürzen, wollte sich der Gerber höflich und verbindlich zeigen, und so fragte er:
»Sollen wir vorwärts oder rückwärts tanzen, Mamsell Broström?«
»Das ist mir einerlei, wenn es nur losgeht«, erwiderte Mamsell Broström.
Auch dies sagte sie so laut, daß man es im ganzen Saale hörte, und auch dies wurde zu einem geflügelten Wort in Wermland.
Am Tage nach dem Jahrmarktsball wurde Friedrich Sandberg aufs neue vor die Gymnasiasten geladen. Er wurde mit dem gestärkten Herrenhemd, mit Kragen und Jabot, Halsbinde und seidener Weste, grauen Beinkleidern mit Spannriemen, blauem Frack mit blanken Knöpfen und Lacklederschuhen bekleidet. Seine Haare wurden gekräuselt und toupiert, Handschuhe und Spazierstock wurden ihm in die Hand gegeben und obendrein bekam er einen hohen Zylinderhut mit geschweiftem Rand aufgesetzt. Alsdann wurde er noch einmal zu Mamsell Broström geschickt.
Als er bei ihr in die Bodenkammer trat, stand sie wie bei seinem ersten Besuch vor dem Ofen und buk Hippen. Diesmal trug sie kein rotes Tüllgewand, sondern stand in Mieder und Unterrock da wie zuvor, und der Schuljunge dachte, er habe noch niemals solche Hände und Füße, solche Arme und Beine, so ein bärbeißiges Gesicht, so borstiges Haar und eine so gewaltige, kraftstrotzende Gestalt gesehen.
Die Worte wollten ihm im Halse steckenbleiben, aber drei der allergefährlichsten Gymnasiasten standen horchend vor der Tür, und Friedrich Sandberg wußte, was das bedeutete, bei der Obrigkeit in Ungnade zu fallen.
»Ich möchte mich untertänigst erkundigen, ob Mamsell Broström gestern auf dem Jahrmarktsballe vergnügt gewesen ist«, sagte Friedrich Sandberg, indem er sich verbeugte.
Mehr gibt es nicht zu berichten, denn wie Friedrich Sandberg aus der Stube hinaus, durch den Bodenraum, die Treppe hinunter und auf die Straße kam, das wußte er selbst nicht, und genauso erging es auch den Gymnasiasten, die vor der Tür auf der Lauer gestanden hatten. Auch sie wußten nicht, wer ihnen die Treppe hinuntergeholfen hatte. Aber es war recht gut, daß sie dabei waren, da war Friedrich doch nicht allein bei der Bewirtung. Sie reichte reichlich hin für ihn und für die andern.
*
Aber Leutnant Lagerlöf, der zu jener Zeit die Karlstädter Schule besuchte, war dies Abenteuer unauslöschlich ins Gedächtnis geschrieben, und wenn er abends im Schaukelstuhle saß, erzählte er dieses Ereignis gerne seinen Kindern. Wohl war er selbst ein überaus guter und ungefährlicher Mann, aber an einem echten Spitzbubenstreich konnte er sich immer und immer wieder erfreuen.
Zu Großmutters Zeiten lebte eine alte Taglöhnerin auf Mårbacka, die das Unkraut jätete. Im Winter schlief sie meist in der Küchenkammer, aber sie dachte wohl, hier sei es schon voll genug durch die Haushälterin und fünf Dienstmädchen. Deshalb zog sie lieber, sobald es Sommer wurde, hinunter in den Stall und schlief da.
Hier hatte sie ein prächtiges, gutes Bett gefunden, nämlich einen abgedankten eisernen Schlitten, der viele Winter hindurch Roheisen von den Hütten im Bergwerksdistrikt geholt und nach dem Werk auf Kymsberg gefahren hatte.
Da schlief das alte Weib ruhig und gut mehrere Wochen lang; eines Nachts jedoch fuhr sie jäh vom Schlaf auf, denn der Schlitten unter ihr bewegte sich. Sie setzte sich auf und sah sich um. Aber sie lag ja nicht in der Scheune, die jetzt auf Mårbacka steht, sondern in der alten, noch aus der Zeit der Pastoren stammenden, und diese wurde nur durch ein paar enge Luken erhellt. Draußen war helle Sommernacht, aber das arme Weib lag in fast vollkommener Dunkelheit und konnte nichts unterscheiden.
Sie glaubte, sie habe nur geträumt, und legte sich wieder nieder. Ringsum war alles ruhig, und es dauerte nicht lange, da war sie auch schon wieder eingeschlafen.
Aber war es nicht sonderbar? Kaum hatte der Schlaf sich eingestellt, als sie auch schon wieder aufwachte, denn der Schlitten hatte sich abermals bewegt. Diesmal war es indes nicht nur ein kurzer Ruck, sondern der Schlitten bewegte sich auf dem Boden hin. Zwar glitt er ganz sachte und vorsichtig vorwärts, aber Leben war in ihn gekommen, darüber konnte kein Zweifel herrschen.
Das Weib richtete sich auf und hielt sich mit beiden Händen am Schlittenrand fest. Die Haare standen ihr zu Berge, ihre Zähne schlugen gegeneinander.
»Barmherziger Gott!« jammerte sie. »Barmherziger Gott, der Schlitten fährt davon!«
Wie konnte das nur zusammenhängen? Möglicherweise konnte so ein alter Schlitten, der Winter um Winter mit Roheisen beladen zwischen Kymsberg und dem Bergwerksdistrikt hin und her gefahren war, nun bei Nacht keine Ruhe finden, sondern mußte sich ab und zu etwas bewegen.
Doch nun fuhr der Schlitten schneller. Er holperte auf den unebenen Steinplatten dahin und sprang mit einem Satz über Heu- und Strohhaufen weg, wie wenn er über Schluchten und steile Hügel hinfahren müßte.
»Barmherziger Gott!« jammerte das alte Weib. »Barmherziger Gott!«
Aber es half nichts, wenn sie auch noch so flehentlich den Namen Gottes anrief, der Schlitten wurde deshalb nicht ruhiger, er fuhr unentwegt durch die ganze lange Scheune hin, es stand ihm nichts im Wege, denn es war ja Sommer und fast kein Heu in der Scheune.
Schließlich stieß der Schlitten gegen eine Wand, und da hielt er jählings an.
Hier würde er nun doch wohl stehen bleiben! Aber nein, das tat er nicht! Nachdem er sich ein paar Augenblicke verschnauft hatte, zog er sich wieder in die Ecke zurück, wo er vorher gestanden hatte.
Die Frau sagte später, wenn sie nicht gerade in diesem Augenblick herausgebracht hätte, was mit dem Schlitten los war, dann hätte sie sicherlich den Verstand verloren.
Denn es seien nicht die alten Reisen im Bergwerksdistrikt gewesen, die in dem Roheisenschlitten spukten, nein, ganz gewiß habe irgend jemand ihn mit etwas geschmiert.
Irgendeine alte Hexe auf dem Hofe oder in der Umgegend – einen Namen wolle sie weder nennen noch vermuten – habe gedacht, sie könne ihre Reise auf den Blocksberg besser und bequemer in diesem Schlitten als auf einem Besenstiel oder auf einer Stubentür machen.
Die verdammte Hexe habe wohl nicht gewußt, daß sie, die Taglöhnerin, nachts in dem Schlitten schlafe. Ja, wie alles hätte kommen können, das auszudenken sei ihr in der Eile nicht möglich gewesen, aber sicherlich habe der Schlitten hinaus ins Freie und davonfahren wollen. Und da hätte er dann sie, die Taglöhnerin, auf den Blocksberg mitgenommen anstatt der richtigen Hexe.
Barmherziger Gott, wenn nun die Scheunenwand nicht im Wege gestanden hätte, dann wäre sie schon weit über die Dorfwiesen weg nach der Kirche zu unterwegs gewesen!
Der Schlitten zog sich immer weiter zurück; aber nun begriff die gute Alte, daß er nur zu einem neuen Satz ausholte, um sich doch einen Weg ins Freie zu schaffen. Wenn er nur auf irgendeine Weise hinauskommen konnte, dann sollte es über Baumwipfel und Bergkuppen hurtig hinweggehen. Hoch droben in der Luft würde sie ohne die geringste Angst über spiegelblanke Seen hinfliegen und die Kirchtürme wie eine Dohle umkreisen. Sie würde über Groß-Kil und den Grab-Bezirk hinfahren, aber wo sie schließlich landen würde, daran wollte sie gar nicht denken.
Barmherziger Gott, jetzt stürmte der Schlitten abermals vorwärts! Jawohl, dieser Schlitten würde schließlich fliegen, wenn er nur hinaus ins Freie gelangte. Und jetzt fuhr er in wilder Fahrt gegen die Wand, einem solchen Ansturm konnte diese sicher nicht standhalten. Die Alte legte sich weit zurück, damit sie nicht in der Mitte durchgerissen würde, wenn der Schlitten durch die Bretterwand fuhr.
Nun kam ein furchtbarer Stoß und Krach; aber siehe, die Wand widerstand wahrhaftig noch einmal! Wenn jetzt doch wenigstens der Schlitten merken würde, daß er nicht hinauskommen konnte, und stillhalten wollte!
Aber man glaube das ja nicht! Jetzt fuhr er wieder rückwärts. Ja, ja, dieser Schlitten, in dem sie lag, der war schon mit einer richtigen Salbe eingeschmiert. Und wenn er es jetzt zum drittenmal versuchte, dann würde es ihm sicherlich gelingen.
Was sollte sie nur anfangen, wenn sie mitten unter das Hexenpack und das ganze Heer der Finsternis hineinkam?
Gar oft hatte sie von dergleichen reden hören, aber sie hatte nie daran glauben wollen. Es gibt vieles, an das man nicht glauben will, bis man selbst zu sehen bekommt, daß es wahr ist.
Barmherziger Gott, führe uns nicht in Versuchung! Sie hatte doch ihr ganzes Leben lang in Armut und Mißachtung verbracht, ohne je zu klagen. Aber sollten ihr jetzt Macht und Gold angeboten werden, würde sie da wohl widerstehen können? Ach, möchte ihr doch nur die Kraft verliehen werden, die Versuchung zu überwinden und ihr Seelenheil zu bewahren!
Jawohl, jetzt machte der Schlitten zum drittenmal einen Satz; er fuhr vorwärts, daß dem armen Weibe Hören und Sehen verging. Sie schloß die Augen, damit ihr nicht schwindlig wurde. O, sie wußte recht wohl, im nächsten Augenblick würde sie nun im Freien sein und ebenso hoch droben wie die Lerchen und Schwalben über die Erde hinfliegen!
Jetzt kam ein furchtbarer Krach, und ein schreckliches Getöse erhob sich. Nun war jedenfalls die Wand durchgebrochen.
Aber Gott sei Lob und Dank! Die gute Bretterwand hatte widerstanden. Nur der Schlitten, der war entzwei gegangen. Und in demselben Augenblick mußte er die Reiselust verloren haben, denn jetzt blieb er bombenfest liegen, so daß das alte Weib herauskrabbeln konnte, um sich auf einem Strohhaufen von der Reise auszuruhen.
Als die Alte am nächsten Morgen all dies erzählte und es schließlich auch Großmutters Ohren erreichte, kam der alten Dame die ganze Geschichte höchst merkwürdig vor. Allerdings glaubte sie fest an übernatürliche Vorkommnisse, aber irgendeinen Sinn mußten diese doch haben. Daß man mitten im hellen Sommer auf den Blocksberg fahren könne und überdies in einem Schlitten, davon hatte sie doch noch nie etwas gehört. Die Großmutter ging also hinunter nach der Scheune und betrachtete den Schlitten, und da fand sie, daß zwei lange Stricke an ihn angebunden waren.
Da besann sie sich nicht lange, sondern rief den Stalljungen und zwei seiner Kameraden herbei, ging tüchtig ins Verhör mit ihnen und las ihnen ordentlich die Leviten.
*
Das war auch eine von Leutnant Lagerlöfs Spitzbubengeschichten. O, er wußte noch viele, viele; aber wenn er diese und weiter die von Mamsell Broström erzählt hatte, pflegte Frau Lagerlöf immer zu sagen, jetzt sei es für diesen Abend genug, die Kinder sollten gute Nacht sagen und zu Bett gehen.
Morgens um halb sieben Uhr zündete das Kindermädchen auf Mårbacka in der Kinderstube ein lustiges Feuer im Ofen an, und um sieben Uhr mußten die Kinder aus den Betten heraus und sich ankleiden.
Wenn sie dann ungefähr um halb acht Uhr fertig und die Betten in aller Eile gemacht waren, wurde aus der Küche ein Servierbrett hereingebracht, auf dem sich die Teller voll Morgensuppe mit Sahnerosen darauf und dazu große Butterbrote aus Hartbrot befanden. Das war die erste Mahlzeit des Tages.
Bis acht saßen die Kinder dann an einem großen schwarzen Tisch, der am Fenster stand, und gingen ihre Aufgaben durch. Sie blieben da noch immer im Kinderzimmer, das auch als Schulstube dienen mußte, weil kein andrer Raum zu diesem Zweck zur Verfügung stand.
Sobald es acht Uhr schlug, klappten die Kinder ihre Bücher zu, die Überkleider wurden angezogen und es ging hinaus in den dämmerigen Wintermorgen. Wie das Wetter war, danach wurde gar nicht gefragt. Sie eilten nur hinaus, um nachzusehen, ob das Eis auf dem Teich zum Schlittschuhlaufen tauge oder ob das Schlittenfahren in der Allee nicht noch besser gehe. Wenn sich keine andre Zerstreuung darbot, gingen sie in den Stall hinunter, um nach den Kaninchen zu sehen und mit dem Schäferhund herumzutollen.
Kurz vor neun Uhr gab es ein Frühstück, das aus Eiern oder Pfannkuchen oder aus gebackenen Heringen mit gedämpften Kartoffeln oder aus Blutpudding mit Speck oder Tunke bestand. Beim Frühstück setzte man sich nicht um den Tisch. Man ging hin, holte sich der Reihe nach sein Essen, ließ sich dann an kleinen Tischchen nieder und aß, was man auf dem Teller hatte.
Um neun Uhr mußte das Frühstück beendet sein und dann begann der Unterricht. Dazu ging man wieder hinauf in die Kinderstube, und nun wurde an dem großen schwarzen Tisch gelesen, geschrieben und gerechnet bis mittags zwölf Uhr. Die kleinen Mädchen lernten nicht mehr bei Herrn Tyberg, sondern hatten nun eine Erzieherin, Ida Melanoz, die älteste Tochter des Schullehrers, die seinen guten Kopf und sein Lehrtalent geerbt hatte.
Um zwölf Uhr aß man zu Mittag an dem großen runden Tisch im »Saal«. Eines der kleinen Mädchen sprach das Tischgebet vor dem Essen, ein anderes das zum Schluß der Mahlzeit. Wenn diese zu Ende war, küßten die Kinder Vater und Mutter die Hand und sagten gesegnete Mahlzeit. Bei Tische ging es nie schweigsam zu, denn Leutnant Lagerlöf ließ die Unterhaltung durchaus nicht ins Stocken geraten. Es war merkwürdig, wie er immer wieder einen neuen Gesprächsstoff fand. Und wenn er auch auf seinem Morgenspaziergang nichts anderes erlebt hatte als vielleicht eine Begegnung mit einem alten Weibe, so konnte er daraus doch eine ganz große Geschichte machen.
Von zwei bis drei Uhr sollten die Kinder wieder im Freien sein, aber oft kamen sie schon vor zwei Uhr atemlos dahergelaufen, um mit ihren Aufgaben fertig zu werden, ehe der Nachmittagsunterricht begann.
Von zwei bis vier Uhr saßen sie am Schultisch, und nach vier Uhr lernten sie gleich die Aufgaben für den nächsten Tag.
Aber länger als bis fünf Uhr durften sie mit dem Lernen nicht fortfahren. Im Saal war geheizt, und auf dem aufgeschlagenen Spieltisch waren Butter und Brot und Gläser zum Trinken hergerichtet. Diese Stunde war für die Kinder ein besonderes Vergnügen! Sie saßen oder lagen vor dem Ofen, in dem das Feuer knisterte und loderte, und aßen ihr Butterbrot. Dabei plauderten sie eifrig und heckten allerlei Pläne aus. Dies war eigentlich die einzige Zeit am Tage, die ihnen ganz allein gehörte.
Wenn die letzte Glut im Ofen erloschen war, wurde auf dem runden Tisch vor dem Sofa die Lampe angezündet. Jetzt war Frau Lagerlöf die, die Unterricht gab, und sie lehrte ihre kleinen Mädchen nähen und häkeln und Strümpfe stricken. Sie besaß auch eine Ausgabe von H. C. Andersens Märchen, und wenn die Kinder recht fleißig gewesen waren, dann erzählte oder las sie ihnen zur Belohnung das Märchen vom Reisekameraden oder vom Feuerzeug oder von den wilden Schwänen vor. In dem Buche waren auch viele wunderschöne lustige Bilder, und das Betrachten dieser Bilder war für die Kinder ein fast ebenso großes Vergnügen wie das Zuhören.
Um acht Uhr gab es Abendbrot, und jetzt erst erschien auch Leutnant Lagerlöf. Bis dahin hatte er drunten im Kontor gesessen und in seinen großen Rechenbüchern geschrieben.
Und nun endlich durfte man sich nach diesem so sehr arbeitsreichen und streng eingeteilten Tage gehenlassen. Die Kinder durften ihre Arbeiten weglegen, der Leutnant ließ sich im Schaukelstuhl nieder und erzählte lustige Bubenstreiche, wie die von Mamsell Broström, oder er schilderte die wunderbare Jenny Lind als Norma oder als Regimentstochter und Emilie Högquist als Jungfrau von Orleans.
Oder auch, wenn er selbst nicht zum Plaudern aufgelegt war, ließ er Frau Lagerlöf oder Mamsell Lovisa aus Tegner vorlesen. Viel lieber als Kaiser von Frankreich oder Zar von Rußland wäre er dieser Professor in Lund gewesen, der die Liebe von Fritjof und Ingeborg besungen hatte. Er liebte und verehrte auch Runeberg und hatte es sehr gerne, wenn Fähnrich Stals Erzählungen oder dessen epische Gedichte vorgelesen wurden. Aber er hörte es nicht gerne, wenn jemand sagte, der finnische Skalde sei größer als Tegnér.
Bisweilen, und das war das schönste von allem, setzte er sich auch an das alte Klavier und schlug einige Akkorde an.
»Kommt, Kinder, kommt!« rief er. »Jetzt singen wir Bellman!«
Da ließen sich die kleinen Mädchen nicht zweimal bitten. Sofort waren sie bei ihm, und dann kam mit Lust und Liebe der Dichter Bellman an die Reihe. Immer wurde mit dem alten ›Noak‹ und ›Joakim aus Babylon‹ angefangen. Dann kamen andre von seinen Liedern dran, wie ›Vater Moritz‹ und ›Muter, på Truppen‹, sowie ›Der Tanzmeister Mollberg und seine betrüblichen Erlebnisse in dem Rostocker Keller.‹
Leutnant Lagerlöf saß am Klavier, schlug kräftig die Tasten zur Begleitung und sang halblaut mit, um Takt und Melodie aufrecht zu halten. Und die kleinen Kinder stimmten aus vollem Halse mit ein. Sie sangen, daß es durch das ganze Haus schallte.
Ja, da war Leben und Bewegung! Das war lustig nach dem arbeitsvollen Tage! Sie verstanden zwar nicht viel von dem, was sie sangen, aber die Melodien erwärmten und weckten ihre schlummernden Lebensgeister. Ach, wie schön es klang, wenn › Ulla tanzte in Engageanter Flor und Franser‹, oder wenn Fredman sang:
»Noch weiter als der Süd vom Nord
Liegt mir der nächste Tag noch fort!«
Und hätten sie denn anders als lustig sein können, wenn der beständig unglückselige Mollberg in den Bottich hineinsprang, in dem die Stockfische der Sehankwirtin in der Salzlake lagen, oder wenn die Festtorte bei der großen Bootfahrt dick mit Zucker und Zimt und Anjovis bestreut erschien?
Aber das beste war doch wohl, daß die Kinder nach Herzenslust singen durften, solange sie wollten. Der Leutnant ließ sie gewähren, er unterbrach sie nie und tadelte auch nicht. Niemals unterbrach er sie, um sie daran zu erinnern, daß es so etwas wie Modulation und Zusammenklang gebe. Sie waren auch fest überzeugt, daß sie Bellman richtig sangen, geradeso wie er gesungen werden sollte.
An der Wand über dem Klavier hatte Leutnant Lagerlöf Karl Michael Bellman mit der Laute auf dem Schöße unmittelbar vor sich, und er sah immer wieder zu ihm auf, wie wenn er erwartete, der unvergleichliche Liedersänger müsse ihm ein beifälliges Lächeln zuteil werden lassen.
Aber dann war einmal der Fahnenjunker von Wachenfeldt auf Besuch gekommen. Wie gewöhnlich hatte er sich's in der Ofenecke bequem gemacht, und er plauderte noch immer ganz gemütlich mit Mamsell Lovisa, während sich Leutnant Lagerlöf schon am Klavier niedergelassen hatte, mit seinen Kinderlein rings um sich her, die aus vollem Halse Bellman sangen und der festen Überzeugung waren, sie sängen richtig und gut.
»Ist es nicht merkwürdig, daß keines von den Kindern eine Singstimme hat?« flüsterte Mamsell Lovisa dem Fahnenjunker zu.
»Nun, daß sie keine Singstimme haben, dafür können sie nichts«, antwortete er ebenso leise. »Aber wenn sie wenigstens Gehör hätten!«
»Es ist doch sonderbar, da beide Eltern musikalisch sind! Fällt Ihnen das nicht auch auf, Herr von Wachenfeldt?« bemerkte Mamsell Lovisa seufzend. »Es ist mir unerklärlich, wie Gustav das aushalten kann.«
»Er hört es gar nicht so, wie es in unsern Ohren klingt, denn er liebt seine Kinder über alles in der Welt«, erwiderte der Fahnenjunker.
»Ja, es gibt eine Redewendung, ›mit den Augen der Liebe sehen‹, heißt sie«, meinte Mamsell Lovisa. »Und so kann man vielleicht auch mit den Ohren der Liebe – hören.«
»Das ist ganz gewiß«, stimmte Herr von Wachenfeldt bei, und er wußte, was er damit sagte.
Aber leider hatte eine der kleinen Sängerinnen das Gespräch erhascht und sie erzählte den andern, was sie vernommen hatte; das trug wohl dazu bei, daß die Bellmangesänge allmählich auf Mårbacka verstummten.
Aber noch lange, lange, ja ihr ganzes Leben lang, ist den Kindern von Mårbacka die Liebe zu den Bellmanliedern tief im Herzen lebendig geblieben. Sie lieben diese Lieder nicht nur wegen ihrer Fröhlichkeit, ihrer Wehmut und ihrer einschmeichelnden Schönheit, und auch nicht um ihrer selbst willen, sondern weil der leiseste Ton der Bellmanschen Laute in ihrer Erinnerung die nie versiegende Zärtlichkeit wachruft, die ihre Kindheit so glücklich gemacht hatte.
Im Sommer 1866 war eine ungewöhnlich große Kinderschar auf Mårbacka versammelt.
Da waren zuerst die Söhne des Hauses, Daniel und Johann Lagerlöf, und da waren Theodor und Otto und Hugo Hammargren, ihre Vettern von väterlicher Seite, die mit ihren Eltern die Sommerferien auf Mårbacka verbrachten. Ferner waren da Ernst und Klas Schenson, die Vettern mütterlicherseits, die ebenfalls im Sommer auf Mårbacka wohnten. Aber damit war es noch nicht genug, denn man konnte gut auch Hermann, Bernhard und Edwin Milén dazurechnen, die auf dem Nachbarhofe einquartiert waren, und ebenso gehörte Adolf Noreen mit zu der Gesellschaft, der in Herrestadt drunten bei der Kirche wohnte aber mehrere Male in der Woche nach Mårbacka wanderte, um sich mit den andern Jungen herumzutummeln und zu vergnügen.
Außerdem waren Anna und Selma und Gerda Lagerlöf da; Gerda war allerdings erst drei Jahre alt, sie konnte also unmöglich mitgerechnet werden, aber auch Anna und Selma zählten nicht, wenn eine so große Schar Jungen da war.
In diesem Sommer hatten sie sich einen angenehmeren und gelungeneren Zeitvertreib ausgeklügelt als in den vorhergehenden Jahren. Die ersten Wochen hatten sie wie üblich verbracht; sie hatten Beeren gesammelt, sich auf der Schaukel hoch in die Luft hinaufgeschwungen, hatten auf dem grünen Rasen geschlafen, mit Bogen und Pfeil gespielt, Hüpfsteine übers Wasser hingeschickt und sich an Laufspielen ergötzt; aber eines schönen Tages war ihnen das alles verleidet gewesen. Sie meinten gewiß, es wäre besser, sie griffen zu einer nützlicheren Beschäftigung, anstatt die ganze Zeit mit Nichtstun und leeren Zerstreuungen totzuschlagen.
Ihre Blicke richteten sich auf ein kleines Waldland, das sich, auf der einen Seite vom Wege und dem Straßengraben, auf der andern von dem senkrecht aufsteigenden Äsberge begrenzt, dicht neben der Allee ausbreitete. Im Norden bildete ein Steinmäuerchen und im Süden ein großes Kiesloch die Grenze; demgemäß war der ganze Bereich, der vielleicht sechzehn Tonnen Land umfaßte, sehr abgeschlossen und lag einsam da.
Als die Jungen das Land näher untersuchten, fanden sie eine Menge großer Steinblöcke, und der ganze Bewuchs bestand eigentlich nur aus Wacholdergebüsch, jungem Nadelholz und Farnkräutern. Im Norden floß durch das kleine Ödland ein Bach, der zwar im Sommer austrocknete, an dessen Ufern aber prächtiges Erlengesträuch stand. In den Felsschluchten am Äsberge wuchsen Süßwurzeln, die die Jungen sehr schätzten, ganz am südlichen Ende standen vier Fichtenbäume und mitten auf dem ganzen Gebiet eine hohe Tanne mit breitem Wipfel. Das ganze Grundstück schien vollständig unberührt von jeglicher Kultur und hatte keine anderen Bewohner aufzuweisen, als Eichhörnchen, Spechte und Waldameisen.
Die Jungen dachten nun, dieses vortreffliche Grundstück müßte jetzt in den Genuß des Segens der Zivilisation kommen, und so beschlossen sie, als Ansiedler dahin zu ziehen. Zu allererst wurden die Heimstätten ausgewählt. Der sechzehnjährige Theodor Hammargren, der eigentliche Leiter des ganzen Unternehmens, erhob sofort Anspruch auf einen hohen Felsblock, der wie ein Turm aufragte und eine prächtige Ausschau auf die ganze Kolonie gewährte.
Daniel Lagerlöf, der fünfzehn Jahre alt war und Theodor Hammargren im Alter und Ansehen am nächsten stand, eignete sich die vier hochgewachsenen Fichten und eine schöne Felswand dahinter an. Johann Lagerlöf und Otto Hammargren, die sehr gut Freund miteinander und überdies Schulkameraden waren, taten sich zusammen und beschlossen, von dem nördlichsten Teil mit dem ausgetrockneten Bach und dem Erlengebüsch Besitz zu ergreifen. Ernst Schenson, der erst zwölf Jahre alt war, begnügte sich mit einem klotzigen Steinblock, der in den Augen der andern wenig Freude zu versprechen schien. Sein Bruder, der kleine Klas, wählte sich ebenfalls einen Steinblock; aber er schien sich immerhin noch ein besseres Los erwählt zu haben als sein Bruder, weil dieser Steinblock eine schattenspendende Erle in der Nähe hatte. Hugo Hammargren verlangte für sich die eine große Tanne, die ihm auch von keinem einzigen der andern Jungen mißgönnt wurde. Der zehnjährige Hermann Milén suchte sich eine große, umgestürzte Fichte aus, deren astreicher Stamm langgestreckt auf dem Boden lag, deren Wurzel aber hoch in die Luft aufragte. Seine beiden kleinen Brüder, Bernhard und Edwin, die erst achtjährigen Zwillinge, wären beinahe leer ausgegangen, aber schließlich wurde jedem von ihnen ein Fichtenstumpf zugeteilt.
Adolf Noreen war an dem Tage, da die Plätze verteilt wurden, nicht auf Mårbacka gewesen, und es gab große Aufregung, als er kam und auch seinen Teil von der Beute verlangte, denn jetzt waren ja schon alle guten Plätze besetzt. Glücklicherweise fand Theodor Hammargren einen Ausweg, indem er ihm einen Absatz auf der Felswand selbst anwies, und damit war die Ruhe wieder hergestellt.
Wenn aber Anna oder Selma gehofft hatten, es würden ihnen auch Wohnplätze in der Siedlung zugewiesen, so wurden sie grausam betrogen; sie waren ja nur Mädchen, und unter all den Jungen war sicherlich kein einziger, dem auch nur flüchtig eingefallen wäre, die beiden Mädchen hätten möglicherweise die Absicht, auch mittun zu wollen.
Die Jungen vergnügten sich königlich da draußen in ihrem Neuland. Theodor Hammargren schaffte Moos auf seinen Turm und stellte sich einen bequemen Sitzplatz her, auch baute er sich eine steinerne Treppe davor, so daß er leicht hinauf und herunter kommen konnte. Daniel Lagerlöf rodete den Boden zwischen den Fichten und der Bergwand und stellte sich einen kleinen Empfangsraum her, der auf der einen Seite mit moosbedeckten Steinbänken ausgestattet war. Das war die hübscheste von allen Anlagen. Johann und Otto bauten in ihrem Erlengebüsch eine halbrunde Rasenbank. Auch diese Anlage wurde als eine wohlgelungene Wohnstätte gelobt. Ernst Schenson stellte ein breites Mooslager her mit einem Steinblock als Rückwand. Sein kleiner Bruder Klas aber war ein Faulenzer, der sich unter seinem Wacholderbusch auf dem Erdboden ausstreckte und sich nicht im geringsten um das Herschleppen von Steinen und Moos zu einer Ruhebank kümmerte. Hugo Hammargren hatte sich von Leutnant Lagerlöfs Schreiner ein paar Bretter erbettelt. Er nagelte sie in dem Tannenwipfel fest und bekam dadurch einen herrlichen Sitzplatz. Adolf Noreen machte sich auf seiner Felsenplatte ein Mooslager und befand sich da droben, wenn er glücklich hinaufgeklettert war, ganz ausgezeichnet. Hermann Milén hatte sich eine Grotte unter der Wurzel seines umgestürzten Baumes gegraben, ja selbst die kleinen Zwillinge hatten ihre Baumstümpfe mit Moos bekleidet.
Aber Anna und Selma hatten nichts zu bauen und herzurichten! Sie wanderten einsam und verlassen auf dem Hofe umher und wußten nicht, was sie zu ihrer Unterhaltung ausfindig machen könnten.
Den Jungen gefiel es mit jedem Tage besser draußen, je mehr sich ihre Kolonie entwickelte. Schon nach kurzem machte sich auch das Bedürfnis nach einer geordneten Verwaltung und Rechtsprechung geltend; und so wurde Theodor Hammargren als Vorstand und Richter gewählt. Daniel Lagerlöf wurde Münzmeister und mußte Papiergeld ausgeben. Johann wurde Landrat und Otto Hammargren Vogt. Und als sie ordentlich Geld für Handel und Wandel hatten, fingen sie an, Steine und Kies und Moos und Felsstücke und Erde zu verkaufen. Einige machten dabei gute Geschäfte und wurden reiche Leute; Hugo Hammargren und Hermann Milén aber waren Verschwender und ließen sich überdies auf fremdem Boden verschiedene Übergriffe an Süßwurzeln zuschulden kommen, so daß sie von dem Vogt in das Arresthaus abgeführt werden mußten, nämlich in die alte Schmiede, die am Wegrand überaus bequem gelegen war.
Aber Anna und Selma gingen noch immer einsam auf dem Hofe umher. Und Anna Lagerlöf sagte, wenn die Jungen sie wieder einmal bitten würden, ihnen einen Ball zu stricken, dann werde sie nein sagen, und ebensowenig würde sie ihnen je wieder beim Kochen von Sirupbonbons helfen.
Selma Lagerlöf aber, die damals erst sieben Jahre alt war, wußte gar nicht, was sie sich ausdenken sollte, um die Jungen recht zu ärgern, aber jedenfalls würde sie ihnen nicht erlauben, in ihrem Wägelchen Kies zu fahren.
Das Leben in der Kolonie wurde mit jedem Tag spannender und die Jungen versicherten, sie seien noch niemals so vergnügt gewesen. Zu bestimmten Stunden versammelten sie sich und hielten Sitzungen, wo über die Angelegenheiten des Staates beraten wurde. Und hier wurden dann Beschlüsse gefaßt über die Anlage von neuen Wegen und den Bau einer großen steinernen Brücke über den Straßengraben, der die Kolonie von der äußeren Welt abschloß.
Die Arbeit wurde folgendermaßen verteilt: alle Jungen, die über zwölf Jahre alt waren, mußten Steinhauer und Erdarbeiter werden, die Kleinen aber sollten Kies herbeifahren. Aber siehe da, Hermann Milén und Hugo Hammargren wollten bei dieser Arbeit nicht mithelfen, und dadurch entstanden ernsthafte Schwierigkeiten. Hugo und Hermann waren entschieden die Unglückskinder und Störenfriede in dem neuen Staat, weil sie sich nicht um Gesetze und Vorschriften kümmerten. Sie fürchteten sich nicht einmal vor der Schmiede, so daß man gar nicht wußte, welche Maßnahmen man gegen sie ergreifen sollte.
Anna und Selma aber waren drüben auf dem Hofe und versuchten, sich zu unterhalten, so gut es eben ging. Sie schossen mit den von den Jungen zurückgelassenen Bogen und Pfeilen und spielten mit ihren Reifen. Und sie sagten, wenn im Winter alle Jungen in der Schule seien, da sei es auf Mårbacka ebenso schön wie im Sommer. Anna sagte auch feierlich, keiner von den Jungen dürfe je wieder ihre große Puppe sehen, die sie von ihren Tanten geschenkt bekommen hatte. Die Puppe war mindestens eine Elle hoch, besaß Strümpfe und Schuhe, ein Schnürleibchen, eine Krinoline, auch ein eigenes Bett mit Federkissen und Bettüchern sowie einen eigenen Kleiderschrank, überhaupt alles, was man sich nur denken konnte.
Aber draußen in der Kolonie entwickelte sich das Leben in immer reicherem Maße. Und eines schönen Tages wurde in der Sitzung vorgeschlagen, nun ein Gasthaus zu eröffnen.
Der Vorschlag wurde angenommen, und der Münzmeister Daniel Lagerlöf zum Wirt ernannt, weil er die geräumigste Wohnung hatte.
Aber der neuernannte Wirt mußte es recht beschwerlich gefunden haben, die Vorräte an selbstgebrauter Limonade, an Waldhimbeeren, unreifen Äpfeln und Süßwurzeln, die die Kolonisten verlangten, herbeizuschaffen. Und da erinnerte er sich plötzlich daran, daß er ein paar Schwestern hatte.
Rasch ging er auf den Hof, sie zu suchen. Er fand die beiden am Teich, wo sie eben die Boote ihrer Brüder auf dem Wasser schwimmen ließen und eifrig miteinander ausmachten, niemals wieder mit einem der Jungen zu spielen. Nein nein, nicht einmal mehr den Kopf nach der Seite drehen, wo die Jungen waren, wollten sie!
»Kommt, Mädchen, ihr dürft mit in die Ansiedlung und in meinem Gasthaus Kellnerinnen werden!« rief ihr Bruder.
Und Anna und Selma, was taten sie? Sie ließen die Boote segeln, wohin sie wollten. Kein Wort sagten sie davon, daß sie bisher vergessen und ganz sich selbst überlassen worden waren. Sie gingen auf der Stelle mit in die Kolonie zu den Jungen und waren hocherfreut und glückselig.
An einem schönen Herbstabend wanderte Back-Kajsa, die nicht mehr Kindermädchen auf Mårbacka war, sondern sich ihren Unterhalt mit Weben verdiente, durch den Wald.
Sie wollte in die kleine Kate hoch oben im Walde, wo sie geboren war, um einen Auftrag des Leutnants Lagerlöf auszurichten, und da sie immer noch sehr gut Freund mit der kleinen Selma Lagerlöf war, hatte sie diese auf den Spaziergang mitgenommen.
Die beiden hatten keine Eile. Sie schmausten Heidelbeeren, die am Wegrand standen, bewunderten die großen Fliegenschwämme und sammelten in ihren Schürzen schönes Moos, das sie mit nach Hause nehmen wollten, um es als prächtige Einlage zwischen den Fenstern und Vorfenstern des Kinderzimmers zu verwenden. Back-Kajsa freute sich, wieder einmal im Walde zu sein, wo sie jeden Rasenhügel und jeden Stein kannte.
Als sie endlich an der Dornhecke angekommen waren, die sich rund um die Lichtung zog, auf der die Kate stand, und sich eben anschickten, über das Gatter zu klettern, sagte Back-Kajsa:
»Selma, vergiß ja nicht, daß du nicht von Krieg sprechen darfst, wenn mein Vater in der Nähe ist!«
Das kleine Mädchen war höchst verwundert. Back-Kajsas Vater war Soldat gewesen, das wußte sie wohl, und auch daß er in der Schlacht von Leipzig gegen Napoleon mitgekämpft hatte; daß man aber darüber nicht mit ihm sprechen dürfe, konnte sie doch nicht verstehen.
»Warum soll ich denn nicht vom Krieg sprechen?« fragte sie.
»Das darf man niemals mit denen tun, die einen richtigen Krieg mitgemacht haben«, klärte Back-Kajsa sie auf.
Das kleine Mädchen wurde immer erstaunter. Sie dachte an Fritjof und an Hjalmar und an Hektor und an alle möglichen alten Götter und Helden, von denen sie in ihren Geschichtenbüchern gelesen hatte und die ihr im Kopfe herumschwirrten.
Mittlerweile waren sie in dem Stübchen der Kate angelangt, wo Back-Kajsas Vater im Herdwinkel saß und sich den Rücken wärmte. Er war ein Mann aus der alten Zeit, das merkte man schon an seinen Hosen, die nur bis zum Knie reichten, und er trug auch keine Stiefel, sondern Schuhe. Er war ein großer, magerer Mann mit einem grobgeschnittenen, einfältigen Gesicht. Er hatte einen ungewöhnlich schmutzigen Schafspelz an; eigentlich sah er aber nicht anders aus als alle andern alten Bauern.
So lange das kleine Mädchen in der Stube war, wandte es keinen Blick von diesem Alten, der nicht duldete, daß man in seiner Gegenwart vom Kriege sprach. Für die Kleine selbst waren Kriegsgeschichten das Schönste, was sie hören und lesen konnte. Und nun war ihr verboten, Back-Kajsas Vater danach zu fragen, was er alles erlebt hatte; das war doch zu schade.
Das kleine Mädchen wagte weder zu fragen noch zu antworten, während sie da in der Kate saß. Denn sie wußte, wenn sie ihren Mund auftat, würde sie sich doch versprechen und etwas vom Kriege sagen, und dann würde sie der alte Soldat vielleicht totschlagen.
Als sie so den Alten eine Zeitlang angestarrt hatte, kam er ihr ganz gruselig vor. Es war doch ganz unbegreiflich, daß man nicht vom Krieg mit ihm sprechen durfte. Dahinter mußte etwas Unheimliches stecken. Jawohl, der Alte war ein gefährlicher Mensch, das fühlte sie ganz deutlich. Ach, wenn sie doch nur erst wieder draußen wäre! Sie war auf dem Sprung, zur Türe hinauszulaufen.
Es wurde immer schlimmer, und als Back-Kajsa endlich fertig war und die beiden sich verabschiedeten, da war das kleine Mädchen fast außer sich vor Furcht vor dem alten Manne.
Wäre er wie andre alte Soldaten gewesen und hätte er den Krieg als das Herrlichste auf der Welt erklärt und so recht damit geprahlt, wie viele Hunderte von Menschen er erschlagen und wie viele Dörfer und Städte er niedergebrannt hatte, ja, dann hätte das kleine Mädchen nicht die allergeringste Angst vor ihm gehabt.
Da waren gar viele: Lars aus London und Sven aus Paris und Magnus aus Wien und Johann aus Prag und Per aus Berlin und Ole aus Maggebysäter und der Stallknecht und der Stalljunge.
Und Lars aus London und Sven aus Paris und Magnus aus Wien und Johann aus Prag und Per aus Berlin waren gar keine Ausländer, sondern Taglöhner in Mårbacka. Das verhielt sich nämlich so: Leutnant Lagerlöf hatte sich den Spaß gemacht, seine Katen nach den Hauptstädten Europas zu benennen.
Lars aus London und Magnus aus Wien hatten den ganzen Tag draußen auf den Feldern gepflügt. Sven aus Paris hatte das Vieh gefüttert und daneben auf dem Kartoffelacker geholfen. Johann von Prag hatte Kartoffeln ausgebuddelt, aber Per von Berlin hatte gar nichts getan. Er hatte Rückenweh gehabt und deshalb nicht arbeiten können, und er war nur nach dem Herrenhofe gegangen, um sich ein wenig zu zerstreuen. Der Stallknecht hatte mit den Pferden zu tun gehabt, und außerdem hatte er Holz gespalten. Der Stalljunge war mit auf dem Kartoffelacker gewesen. Ole aus Maggebysäter hatte überhaupt nicht auf dem Hofe gearbeitet; er war nur gekommen, ein Viertel Roggen zu kaufen.
Es war Herbst und Regenwetter; aber jetzt zwischen halb fünf und fünf war Vesperpause, und so waren alle miteinander samt ihren lehmigen Stiefeln, ihren feuchten Kleidern und ihrer schlechten Laune in der Gesindestube versammelt.
Sie zündeten sich ein Feuer aus dürrem Holze im Herd an und setzten sich ringsherum. Lars aus London, der die größte Kate hatte und von allen Arbeitern der tüchtigste war, nahm auf dem Hackblock gerade vor dem Feuer Platz, und Magnus von Wien, ein fast ebenso guter Arbeiter wie Lars von London, setzte sich neben ihn auf den dreibeinigen Schusterschemel. Sven von Paris, der vermeinte, so gut zu sein wie jeder andere, obgleich er auf dem Hofe nur das Vieh besorgte, setzte sich sogar auf die Herdplatte mit dem Rücken gegen das Feuer und fragte nicht danach, ob er er den andern die Wärme wegnahm. Johann von Prag saß auf dem andern Schusterdreifuß, und Ole aus Berlin hatte sich auf dem Sägebock ein wenig hinter den übrigen niedergelassen. Der Stallknecht saß auf dem Bettrand und baumelte mit den Beinen, der Junge hatte sich auf die Hobelbank verstiegen, und Ole von Maggebysäter thronte neben der Tür auf einem Faß mit roter Farbe und hatte die Füße auf seinen Sack mit Roggen gestellt, den er soeben gekauft hatte.
Lars von London und Magnus von Wien und Johann von Prag machten ihren Proviantbeutel auf, und jeder holte seine Scheibe Roggenbrot mit einem Butterklecks in der Mitte heraus. Dann zog jeder sein Messer hervor, das an einem Lederriemen unter dem Schurzfell hing; sie strichen es an der Hose ab und schmierten dann die Butter über das Brot, schnitten sich Bissen für Bissen herunter und kauten und schmausten in aller Behaglichkeit.
Der Stalljunge wurde in die Küche geschickt, um für sich und den Knecht die Vesper zu holen. Er kam mit zwei halben Roggenlaiben, zwei Butterklecksen und zwei Scheiben Käse zurück. Aber Per von Berlin, der heute nicht auf dem Hofe tätig gewesen war, hatte keinen Brotbeutel bei sich und ebensowenig Ole von Maggebysäter, der ja nur gekommen war, um Roggen zu kaufen. Die beiden saßen müßig da und schauten den andern beim Essen zu.
Das Feuer flackerte und knisterte und verbreitete eine behagliche Wärme, in der die feuchten Kleider trockneten und der Lehm von den groben Stiefeln abfiel.
Nach beendeter Mahlzeit zogen Lars von London, Magnus von Wien und Sven von Paris und Johann von Prag und der Knecht und der Stalljunge kleine Tabakrollen aus der Hosentasche. Diesmal brauchte der Alte von Berlin nicht hintanzustehen. Wie die andern zog auch er eine Rolle heraus. Aber der Alte von Maggebysäter hatte nicht einmal ein Röllchen Tabak in der Tasche.
Wieder holten sie ihre Messer hervor, schnitten ein Stück Tabak ab, legten es auf ihr Schurzfell und zerhackten es in kleine Stückchen. Dann zogen sie ihre kurzen Nasenwärmer hervor, die auch im Schurzfell steckten, und stopften den Tabak hinein.
Lars von London hob einen Span vom Boden auf und entzündete ihn an der Herdglut. Damit steckte er seine Pfeife an und ließ den Span an Magnus von Wien weitergehen, Magnus von Wien gab ihn Sven von Paris, Sven von Paris überließ ihn Johann von Prag, und Johann von Prag reichte ihn Per von Berlin, der hinter ihm auf dem Sägebock saß. Per von Berlin reckte und streckte sich, damit der Stallknecht zu dem Feuer gelangen konnte, der Stallknecht steckte seine Pfeife an und hielt den Span brennend in der Hand, bis der Junge durch die Stube gelaufen kam und ihn holte. Ole von Maggebysäter brauchte natürlich kein Feuer, da er ja weder Pfeife noch Tabak hatte.
Die andern waren nun warm und satt, und die Welt bekam für sie wieder ein anderes Aussehen.
Ole von Maggebysäter war in den Siebzigern und von Gicht gekrümmt. Seine Finger standen wie Haken heraus, und der Kopf neigte sich auf die eine Schulter herunter. Sein Rücken war gebeugt, und er sah fast nichts mehr, ein Bein war kürzer als das andre, und seine Körperkräfte waren so schwach geworden wie sein Verstand. Er war sehr häßlich und hatte nicht einen Zahn mehr im Munde; im letzten halben Jahr hatte er sich sicherlich weder gewaschen noch gekämmt, und sein Kinnbart hing voller Spelzen und Strohhalme.
Er besaß eine kleine Kate weit droben im Walde, aber er war nie ein brauchbarer Arbeiter gewesen und hatte die Armut nicht von seiner Hütte fernzuhalten vermocht. Dabei war er von jeher ein mürrischer, verdrossener Kauz gewesen und hatte auch nie einen Freund gehabt.
Während der Tabakrauch der andern die Luft erfüllte, sagte er gleichsam zu sich selbst:
»Ich hab's mein Leben lang schwer und schlecht gehabt, aber nun hab' ich gehört, es gebe ein Land, das Amerika heißt, und dorthin will ich jetzt ziehen.«
Die andern saßen in angenehme Gedanken versunken da und gaben dem Alten gar keine Antwort.
Aber Ole von Maggebysäter fuhr fort:
»Ja, seht, mit Amerika ist es nämlich so: man braucht nur mit einem Stock an einen Felsen zu schlagen, und sofort fließt Branntwein heraus. Das will ich sehen, eh' ich sterbe.«
Die andern sagten noch immer nichts. Sie saßen still da, schauten vor sich hin und lächelten.
Aber Ole von Maggebysäter gab sich noch nicht zufrieden.
»Mich soll keiner dazu bringen, hier weiter in Armut und Elend zu leben, wenn ich weiß, daß es ein Land gibt, wo die Berge voll Branntwein sind.«
Die andern sagten immer noch nichts, aber sie verloren keine Silbe von dem, was Ole von Maggebysäter sagte.
»Und das Laub dortzulande besteht aus reinem Golde«, fuhr der armselige alte Mann fort. »Da braucht niemand Taglöhner auf einem Herrenhofe zu sein. Man geht einfach in den Wald und holt sich einen Arm voll Laub, dann kann man sich kaufen, was einem gefällt, und das werd' ich mir nicht entgehen lassen, so alt ich auch bin.«
In der Gesindestube war es jetzt angenehm warm, und allen war es höchst behaglich zumute. Sie glaubten das Land vor Augen zu sehen, wo man Branntwein aus den Bergen zapfen und Gold von den Bäumen pflücken kann.
Doch nun erklang die Vesperglocke, und die Ruhepause war zu Ende.
Sie mußten wieder hinaus in Wind und Wetter. Lars von London ging zu seinem Pflug und Magnus von Wien schloß sich ihm an. Sven von Paris und Johann von Prag und der Stalljunge mußten Kartoffeln ausbuddeln. Per von Berlin begab sich heim in seine Hütte und der Stallknecht ans Holzspalten. Ole von Maggebysäter wanderte den Wald hinauf mit seinem Roggensack auf dem Rücken.
Aber keiner von allen sah mehr so mißmutig aus wie vor einer halben Stunde; im Gegenteil, ihre Augen glänzten.
Denn alle dachten, wie gut es sei zu wissen – jawohl, ob es auch noch so weit entfernt lag und man niemals hinkommen würde, so sei es doch gut zu wissen, daß es ein Land gab, wo Branntweinberge standen und goldene Wälder wuchsen.
Östlich von Mårbacka erhebt sich ein bewaldeter Berg, und wiederum östlich von diesem liegt ein kleiner See, der Gårdsjö heißt. In diesem See lebt ein Fisch, den man Slom nennt. Er ist etwa zwei Zoll lang, blauweiß und ganz, ganz dünn, ja fast durchsichtig.
Aber so klein er auch ist, eßbar ist er doch, und zu der Zeit, da Leutnant Lagerlöf auf Mårbacka saß und alles viel besser war als heutzutage, wurde der Fisch in ungeheuren Mengen gefangen. Seine Laichzeit fiel ins Frühjahr, sobald das Eis sich löste. Und dann konnte man ihn mit Eimern und Kübeln herausschöpfen. Es fiel niemand ein, sich die Mühe zu machen, ihn mit Netzen zu fischen.
Er wurde auch nur zur Laichzeit gefangen und in den Handel gebracht. Deshalb war es auch ein richtiges Frühlingszeichen, wenn einer der Gårdsjöfischer mit den ersten Slomen in die Küche von Mårbacka kam. Und der Mann wußte auch, welche willkommene Ware er brachte. Er drückte schnell die Klinke an der Küchentür nieder, denn Schlösser mit Schlüsseln gab es in früheren Zeiten nicht, und trat selbstbewußt, fast herausfordernd ein. Er blieb auch weder wie sonst an der Tür stehen, noch sagte er guten Tag, auch wartete er nicht, bis ihn jemand nach seinem Begehren fragte. Nein, mit langen Schritten trat er an den Küchentisch und legte ein kleines, in ein blaugewürfeltes Baumwolltuch gewickeltes Bündel darauf.
Wenn dies getan war, zog er sich an die Tür zurück, blieb dort mit stolz erhobenem Kopfe stehen und wartete der Dinge, die da kommen sollten.
Wenn außer der Haushälterin und dem Dienstmädchen sonst niemand in der Küche war, konnte er eine gute Weile dort stehen; denn sich ungeduldig oder neugierig zu zeigen, hätten sich diese beiden nicht zuschulden kommen lassen wollen. Aber wenn es sich zufällig traf, daß des Leutnants kleine Töchter in der Nähe waren, dann stürzten diese sich auf das Bündel, rissen es auf und sahen nach, was darin war. Sie entdeckten dann auf dem Boden des Bündels einen kleinen Porzellanteller mit blauen Landschaften auf dem Rand, den sie von Jahr zu Jahr wieder erkannten. Auf dem Teller lag ein Häufchen Slome, höchstens zwanzig bis fünfzig Fischchen, mehr waren es sicher nicht.
Der Slom ist zwar ein wohlschmeckender kleiner Fisch, wenn er richtig zubereitet ist, aber es gilt doch nicht für so ganz vornehm, ihn zu essen. Auf den andern Herrenhöfen in der Gegend hielt man das Slomessen für Armeleutekost, aber in Mårbacka war man anderer Ansicht. Leutnant Lagerlöf war ein großer Freund von Fischen, und er hätte am liebsten das ganze Jahr hindurch nichts als Fische gegessen. Aber wenn im Februar die Laichzeit der Aalraupen vorüber war, mußte er sich mit anderem begnügen, mit Klippfisch, getrocknetem Hecht, gesalzenen Muränen, ganz zu schweigen von gesalzenen Heringen. Und so wartete er von Tag zu Tag eifrig auf die Ankunft des Sloms.
Die kleinen Mädchen hatten also gelernt, den Slom in Ehren zu halten, und sie waren hocherfreut, wenn sie sahen, was auf dem Teller lag. Sie riefen die Haushälterin und riefen das Dienstmädchen. Diese mußten rasch herbeikommen und selber sehen. Jetzt war ja der Slom da! Lasse war mit Slomen gekommen! War das nicht herrlich? War das nicht eine wichtige Neuigkeit?
Und so gab es eine große und allgemeine Freude in der Küche. Die Haushälterin ging sofort in die Speisekammer und brachte dem Fischer ein Butterbrot, damit er auch merken sollte, wie willkommen er war. Und als sie ihm das Butterbrot reichte, ließ sie sich so weit herab, ihn zu fragen, ob Aussicht auf einen guten Fischfang sei. Und der Fischer stand stolz und selbstbewußt da, denn das war der Tag seiner Herrlichkeit und Glorie, und in seinem Übermut wagte er sogar einen Scherz mit der Haushälterin von Mårbacka zu machen. Er behauptete, es gäbe so viele Slome, daß der Herr Leutnant sie mit all seinen Reichtümern nicht aufkaufen könnte.
Inzwischen aber hatte sich Mamsell Lovisa Lagerlöf gefragt, was denn das Geplauder draußen wohl bedeuten mochte? Rasch machte sie ihre Tür auf und trat in die Küche hinaus.
Aber kaum hatte sie den Fischer und den Teller mit den Slomen erblickt, als sie ausrief: »Ach, mein Gott, fängt nun das Elend wieder an?«
Das war eine große Enttäuschung für die Kinder. Tante Lovisa teilte offenbar die allgemeine Freude nicht. Immerhin entbehrte Tante Lovisa doch nicht des Gefühls für die Wichtigkeit der Sache, denn sie flüsterte der Haushälterin noch etwas zu, worauf diese freundlich nickte und lächelte.
Daraufhin wurde den Kindern und den Dienstboten untersagt, den Herrn Leutnant wissen zu lassen, daß Slome angekommen seien. Er sollte zum Abendbrot damit überrascht werden.
Als die drei kleinen Mädchen begriffen, um was es sich handelte, waren sie noch viel vergnügter. Denn ihr Vater war ihr bester Freund und Spielkamerad, und sie gönnten ihm alles Gute. Nun wurden sie überaus eifrig und dienstfertig und wollten um keinen Preis aus der Küche gehen. Sie baten inständig, man solle sie die Fische reinigen lassen. O, sie wußten vom letzten Jahre her noch recht gut, wie man das machte. Mit einem Schnitt mußte der Kopf herunter, mit dem nächsten holte man das Eingeweide heraus, und fertig war die Sache. Die Fischchen waren so klein, daß sie weder eine dicke Haut noch spitze Gräten hatten wie andere Fische. Und man brauchte auch die Schwanzflosse nicht abzuschneiden. Wenn man das tat, so bewies man nur, daß man rein nichts von der Behandlung des Sloms verstand.
Wenn die Fische gereinigt waren, nahm die Haushälterin das weitere in die Hand, aber die kleinen Mädchen verwandten kein Auge davon und sahen aufmerksam zu, wie man die Fischchen zubereitete. Man spülte sie in Wasser ab, tauchte sie in Mehl und legte sie in die Bratpfanne. Aber man durfte sie nicht einfach in die Pfanne werfen und sie braten lassen, wie sie gerade lagen. Nein, die Fischchen mußten sorgfältig auf den Boden der Pfanne gelegt werden, dicht nebeneinander. Die Haushälterin nahm geduldig Fisch für Fisch, keiner durfte über den andern zu liegen kommen.
Dann wurden die kleinen Slome so scharf gebacken, daß sie wie ein Kuchen zusammenhielten und die Haushälterin sie wie einen Pfannkuchen mit einem Griff wenden konnte. Wenn sie auch auf der anderen Seite gebacken und hart und fest wie Stöckchen waren, nahm sie ein Hartbrot, dünnes, hart gebackenes, rundes Haferbrot, legte es auf die Fische und drehte die Pfanne um, so daß die Fische auf das Fladenbrot zu liegen kamen. Das tat sie mit keinem andern Fisch, aber sie erzählte den Kindern, so habe es ihre Großmutter immer gemacht. Zu Großmutters Zeit pflegte man auch bei Tisch vor jede Person solch einen Brot- und Slomkuchen zu setzen, denn damals war man mit Tellern nicht so gut versehen wie heutzutage.
Die ganze Zeit über, da die Fische in der Pfanne brieten, waren die Kinder außer sich vor Angst, Leutnant Lagerlöf könnte in die Küche kommen und das Gericht sehen. Ab und zu lief eines von ihnen in den Flur hinaus, öffnete die Saaltür ein wenig, um zu sehen, ob der Vater schön still in seinem Schaukelstuhl saß und die Wermlandzeitung las. Erhob er sich dann zu seinem gewohnten abendlichen Gang, so standen die Herzchen fast still vor Schrecken. Wie, wenn er seinen Weg durch die Küche nähme? Wenn er Lust hätte, der alten Haushälterin ein freundliches Wort zu sagen? Wenn es dann endlich an der Zeit war und der Vater sich zum Abendessen an den runden Tisch im Saale setzte, war es den kleinen Mädchen fast unmöglich, ernsthaft zu bleiben. Wenn sie ihren Vater nur ansahen, mußten sie kichern. Am schlimmsten war es für die Jüngste, die das Tischgebet sprechen mußte. Mitten im Gebet platzte sie mit einem kleinen Gekicher los, wie wenn ein Spatz ein Haferkorn erblickt, und der Leutnant wollte eben fragen, was los sei, als er glücklicherweise neben seinem Gedeck ein kleines mit Slom gefülltes Gefäß entdeckte.
Da strahlte Leutnant Lagerlöf über das ganze Gesicht, »Gott sei Dank, nun haben wir wieder eine richtige Speise im Haus!« rief er, und das war aufrichtig gemeint, denn für ihn zählten weder Ochsen- noch Schweinefleisch zu den richtigen Speisen, sondern nur allein Fische.
Aber die Kinder brachen nach aller schwer erkämpften Ruhe in ein schallendes Gelächter aus; der Vater jedoch drohte ihnen mit dem Finger und schüttelte den Kopf. »Soso, ihr Racker, deshalb seid ihr den ganzen Abend immerfort ein- und ausgelaufen, daß ich meine Zeitung nicht in Ruhe habe lesen können!«
Das gab ein ungewöhnlich heiteres Abendessen. Der Leutnant war ja fast immer gesprächig und guter Laune, aber wenn er sich über etwas freute, war er geradezu unwiderstehlich. Dann kramte er eine solche Menge komischer Geschichten aus, daß sich die Tischgesellschaft vor Lachen bog.
Es waren ja nicht mehr Slome vorhanden, als eine Person allein leicht hätte essen können, aber in seiner Herzensgüte teilte er den Leckerbissen nach allen Seiten aus: Frau Lagerlöf, Mamsell Lovisa, die Gouvernante und auch die drei Töchterchen, alle bekamen ein paar Fischlein. Und alle mußten zugeben, es sei wunderbar, wie gut so ein kleiner Fisch schmecken könne.
»Nun, schmeckt das nicht herrlich, Lovisa?« fragte der Leutnant seine Schwester, die, wie er wohl wußte, Fleisch so gerne aß wie er Fische.
Manchmal mußte sie seiner Behauptung zustimmen, jetzt etwa, wo man noch nicht viel davon hatte essen müssen.
Als aber der Leutnant sein Mundtuch zusammenfaltete und im Begriff war, vom Tisch aufzustehen, sagte er feierlich: »Und nun, Kinder, gebt acht, was ich sage! Selbst der König im Schloß zu Stockholm kann kein besseres Abendessen bekommen, als wir heute gehabt haben. So wollen wir auch daran denken, Gott von Herzen dafür zu danken, und deshalb das Tischgebet nicht vergessen.«
So verlief der erste Tag in der Zeit des Sloms.
Am andern Tag kam der Gårdsjöfischer wieder, und diesmal brachte er ein ganzes Pfund mit. Er wurde natürlich freundlich empfangen und bekam zwölf Schilling für das Pfund, was als gute Bezahlung gelten durfte. Der Leutnant brachte das Geld selber in die Küche. Er redete mit dem Fischer und dankte ihm, weil er die Slome nach Mårbacka gebracht hatte, und ermahnte ihn zu regelmäßiger Lieferung.
»Bring sie nur ja nicht zu Pastors oder zum Hammerherrn!« sagte er.
Die drei kleinen Mädchen richteten auch diesmal ganz ungeheißen die Fische zu, aber sie bekamen auch ihren Lohn für ihre Mühe. Jetzt reichten die Slome für alle beim Abendessen; manchmal blieben sogar welche übrig, die dann der Leutnant zum nächsten Frühstück aß. Die Leute in der Küche bekamen nichts davon, dafür war diese Speise zu selten.
Am nächsten Tage brachte der Fischer so viel Slome, daß ein großer Steintopf nicht alle fassen konnte. Von nun an kamen Slome auf den Herrschaftstisch sowohl zum Frühstück wie zum Nachtessen, und in der Küche bekam der Großknecht auch davon, aber nicht der Stallknecht und der Junge.
In den folgenden Tagen kamen die Leute aus all den kleinen Hütten rings um den Gårdsjö und boten Slom an. Und der Leutnant kaufte allen, die kamen, ab. Alle großen Steintöpfe, die sich in der Speisekammer vorfanden, wurden übervoll. Man mußte die Fische in den großen Kupferkessel tun. Bald reichte auch dieser nicht mehr, und die Fische wurden in einen großen Bottich geschüttet.
Als man aber so ausnehmend viel von diesen Fischen ins Haus bekam, war es nicht mehr so einfach, sie zu reinigen. Die Dienstmädchen kamen nicht mehr an den Webstuhl und nicht ans Spinnrad, sie mußten Slome putzen. Die kleinen Mädchen sah man nie mehr im Schulzimmer sitzen, sie richteten Slome zu, aber jetzt nicht mehr zum Spaß, sondern um den Großen zu helfen. Frau Lagerlöf und Mamsell Lovisa mußten jede Arbeit liegen lassen, die sie unter den Händen hatten, und beim Putzen der Slome helfen. Aber das war schön und vergnüglich. Es war eine kleine Abwechslung, und das war's gerade, was sie sich wünschten.
Die Haushälterin reinigte keine Slome, aber sie stand tagelang am Herd, um sie zu braten. Und nach kurzer Zeit fing sie an, über den Butterverbrauch zu klagen. Vor ein paar Tagen sei das Butterfaß noch voll gewesen, und jetzt sehe man schon den Boden. Das war die erste Abkühlung der allgemeinen Begeisterung.
Am Herrschaftstisch aß man Slom zum Frühstück und zum Abendessen ohne Abwechslung. Beim Mittagessen jedoch blieb man bei den gewöhnlichen Wermländischen Speisen: gesalzenes und gepökeltes Fleisch oder Heringsklöße oder gebratener Schinken oder Wurst – oder was immer es war.
Aber das war nicht nach des Leutnants Sinn. Eines Tages, als ihm Fleisch angeboten wurde, das seit November im Salz gelegen hatte, verlor er die Geduld.
»Ich sehe wahrhaftig nicht ein, weshalb wir hier gesalzenes Fleisch essen sollen, wenn die ganze Speisekammer voll frischer Fische ist«, sagte er. »Aber so machen es die richtigen Haushälterinnen. Die Hausgenossen essen Gesalzenes, und das Frische bleibt auf den Regalen stehen und wartet auf Gäste, bis es verfault.«
Das war ein scharfer Ausfall gegen seine Schwester, aber diese nahm die Sache mit Ruhe auf. Sie liebte ihren Bruder so sehr, daß sie nie böse auf ihn wurde. Ihre Antwort klang ganz sanftmütig, als sie sagte, sie habe noch nie gehört, daß man den Gästen Slom vorsetzen könnte.
»Jaja, du bist zu vornehm zum Slomessen, das weiß ich wohl, Lovisa!« versetzte der Leutnant darauf. »Du hast dich in der großen Welt bewegt und weißt, wie es dort zugeht. Aber ich sehe nicht ein, weshalb wir hier in Mårbacka uns darum kümmern sollen, wie es in Karlstadt oder in Åmål ist.«
Jetzt ging Mamsell Lovisa ein Licht auf, weshalb ihr Bruder so schlechter Laune war.
»Aber du wirst doch nicht auch noch zu Mittag Slom essen wollen!« rief sie aus, wie wenn sie das in ihrem ganzen Leben noch nie getan hätte.
»Gewiß will ich so viel Slom essen, als ich kann«, sagte der Leutnant. »Meinst du, ich würde Tag für Tag so viel kaufen, wenn ich selber nichts davon bekommen soll?«
Am Herrschaftstisch aß man von nun an morgens, mittags und abends Slom. Aber diese Anordnung hatte sich vielleicht der Leutnant nicht so recht überlegt. Der Slom ist gewiß ein schmackhafter Fisch, aber er hat den Fehler, nicht gut zu riechen. Ich meine nicht, wenn er verdorben ist. Er riecht schlecht, sobald er aus dem Wasser kommt, ist er aber gebraten, dann verschwindet der Geruch. Wer den Slom jedoch zubereiten muß, der bekommt diesen Geruch – und er ist einer von der anhänglichen Sorte – in die Nase. Man kann machen, was man will, man bringt ihn überall mit hin. Alles, was man anfaßt, riecht nach Slom. Und dieser Geruch ist daran schuld, daß man den Fisch nur ein paarmal mit wirklichem Appetit essen kann.
Da sich nun aber fast alle im Hause an der Zubereitung der Slome beteiligen mußten, so hatte man es bald satt, morgens, mittags und abends auch noch davon zu essen. Man wurde seiner überdrüssig. Man nahm sich täglich immer kleinere Portionen. Man seufzte, wenn man zu Tisch ging und kein andres Essen bekam als den ewigen Slom.
Aber der Leutnant war nach wie vor hochbefriedigt und fuhr fort, Slom zu kaufen. Der Gårdsjöfischer, der den ersten gebracht hatte, hielt Wort und kam Tag für Tag wieder. Zuweilen sogar mehrmals an einem Tag. Aber er war nicht mehr derselbe wie damals. Ganz leise drückte er jetzt die Türklinke nieder und auf seinen Lippen schwebte ein verlegenes, demütiges Lächeln, wenn er eintrat. Er setzte die Fische, die er brachte, nicht mehr auf den Küchentisch, sondern ließ sie draußen vor der Tür. Er sagte auch guten Tag und nahm die Mütze ab; aber er mußte jedenfalls eine gute halbe Stunde dastehen und warten, ohne scheinbar von jemand bemerkt zu werden.
Denn so vergnüglich es für die Dienstboten und die Kinder gewesen war, den gewohnten Arbeiten zu entgehen und Fische zuzurichten, so war ihnen das jetzt gründlich verleidet, und sie sehnten sich alle nach ihrer richtigen Arbeit zurück. Keines mochte den Fischer auch nur noch ansehen.
»Ist es denn die Möglichkeit! Kommt Lars heute wirklich wieder mit Fischen?« sagte schließlich die Haushälterin in einem Tone, wie wenn der Mann gestohlenes Gut zum Kauf anbieten wollte.
Der Fischer blinzelte ein wenig mit den Augen. Er schämte sich so, daß er keinen Laut über die Lippen brachte.
»Wir haben mehr Fische, als wir überhaupt essen können«, sagte die Haushälterin. »Der Herr Leutnant will jetzt gewiß nicht noch mehr von dem schrecklichen Zeug kaufen, das kann ich mir gar nicht denken.«
Aber sie wußte, daß mit dem Leutnant nicht zu spaßen war, wenn es sich um Slom handelte, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als hineinzugehen und die Ankunft des Fischers zu melden.
Eines Tages war der Leutnant auf dem Felde draußen, als der Alte kam. Da ergriff die Haushälterin die Gelegenheit und schickte ihn mit seinen Fischen wieder fort. Die ganze Küche war hocherfreut, weil sie nun keine Fische zuzurichten brauchte, aber das Unglück wollte, daß der Fischer dem Leutnant in der Allee begegnete. Der Leutnant kaufte ihm sofort einen ganzen Kasten voll ab und schickte ihn damit in die Küche zurück.
So ging es ein paar Wochen lang fort. Alle waren verzweifelt, des Sloms überdrüssig, nur der Leutnant nicht. Bei jeder Mahlzeit pries er die kleinen Slome, die eine so gesunde, kräftige Speise seien. Man solle nur die Fischer in Bohuslän ansehen. Die äßen jeden Tag Fisch und seien die stärksten, gesündesten Burschen im ganzen Land.
Eines Abends machte Mamsell Lovisa einen Versuch, seine Standhaftigkeit auf die Probe zu stellen. Sie ließ die Haushälterin Speckpfannkuchen mit Rahm backen. Diese waren ein Leibgericht des Leutnants, was durchaus verständlich war, denn die Pfannkuchen, wie die alte Haushälterin sie zubereitete, hatten ihresgleichen nicht. Aber diesmal verfehlten sie ihre Wirkung.
»Du willst wohl reichlich Slom für die Knechte übrig behalten, weil du meinst, ich solle mich mit Pfannkuchen begnügen«, sagte der Leutnant und ließ die Schüssel mit den duftenden knusprigen Pfannkuchen an sich vorübergehen.
»Ach nein, das ist nicht meine Absicht«, versetzte Mamsell Lovisa. »Aber die Knechte sind des Sloms allmählich so überdrüssig geworden, daß wir ihnen keinen mehr vorsetzen können.«
Da lachte der Leutnant hell auf, aber die Pfannkuchen rührte er nicht an. Man mußte ihm Slom aus der Küche holen.
Als noch eine Woche vergangen war, wurde das ganze Haus rebellisch. Die Haushälterin ärgerte sich über den Butterverbrauch und die Dienstboten erklärten, es auf einer Stelle, wo man so viel Slom essen müsse, nicht aushalten zu können. Schließlich wagte sich der Leutnant gar nicht mehr in die Küche, denn dort gärte es am heftigsten.
Auch bei Tische war es nicht mehr, wie es hätte sein sollen. Alle Behaglichkeit war dahin. Die Erzieherin rührte das Essen nicht mehr an, und sogar die Kinder, die sonst mit dem Vater durch dick und dünn gingen, ließen halb unterdrückte Einwendungen laut werden.
Jetzt endlich mischte sich Frau Lagerlöf in die Angelegenheit. Sie beriet sich mit Mamsell Lovisa und der Haushälterin, und sie waren einmütig der Ansicht, daß es nun an der Zeit sei, das erprobte, sichere Mittel anzuwenden, das diesem Abenteuer ein Ende bereiten würde.
Als beim nächsten Mittagessen die Slome wieder auf den Tisch kamen, waren sie gekocht statt gebraten.
Nun aber sind gekochte Slome etwas ganz merkwürdig Widerliches. Sie haben eine weißliche Leichenfarbe und eigentlich gar keinen Geschmack. Man braucht sie gar nicht zu kosten, man verliert den Appetit vom bloßen Ansehen.
Als der Leutnant den gekochten Slom erblickte, war er ebensowenig erbaut davon wie alle andern.
»Die Butter ist uns ausgegangen«, sagte Mamsell Lovisa entschuldigend, »und da du ja noch immer zu jeder Mahlzeit Slom haben willst, so wußten wir uns keinen andern Rat, als ihn zu kochen. Und ich für meinen Teil«, fügte sie hinzu, »glaube nicht, daß die Fische auf diese Art schlechter schmecken als sonst.«
Darauf erwiderte der Leutnant kein Wort, und nun hatte Mamsell Lovisa die Oberhand gewonnen, das merkten alle.
Der Leutnant hätte ja in die Vorratskammer gehen und nachsehen können, ob die Butter wirklich zu Ende war; er hätte auch einen neuen Vorrat Butter kaufen können, aber er tat keines von beiden.
Von diesem Mittagessen an kaufte er keinen Slom mehr. Es lohnte sich ja nicht mehr, wie er sagte, da die Frauenzimmer zu faul seien, die Fische so, wie es sich gehöre, zuzubereiten. Und niemand widersprach ihm, obgleich alle überzeugt waren, daß er ebenso froh war wie alle andern, keine Slome mehr essen zu müssen.
1
Es ist nicht ganz leicht zu erklären, wie es kam, daß der siebzehnte August, der Geburtstag des Leutnants Lagerlöf, sich zu einem so großen Festtag gestaltete. Aber man muß eines bedenken: wenn soviel talentvolle Leute in einem Ort wie Ost-Ämtervik beisammen sind, dann müssen sie doch einmal im Jahre zeigen, was sie zustande bringen können.
Wenn man beispielsweise über drei so große Redner verfügt wie den Ingenieur Noreen auf Herrestad und den Reichstagsabgeordneten Nils Andersson in Bävik sowie den Kaufmann Theodor Nilsson in Visteberg, von denen der erste den pathetischen, der zweite den ernsthaften und der dritte den poetischen Stil beherrschte, so wäre es doch eine Sünde und Schande gewesen, hätten sie niemals aus anderen Anlässen als kleinen Festlichkeiten und Gemeindeversammlungen reden können.
Und wenn man einen Dichter hatte, wie den Kantor Melanoz! Jeden Tag hörte er seine Schulkinder stottern und stammeln und durch das Labyrinth der schwedischen Sprache hindurchstolpern. Da mußte er doch wenigstens einmal im Jahre diese mißhandelte Sprache in feierlichen Huldigungsgedichten singen und klingen lassen.
Und wenn das Kirchspiel ein Quartett aufweisen konnte, das aus Sängern bestand, wie Gustav und Jan Asker aus dem alten Musikantengeschlecht und den zwei Brüdern Alfred und Tage Schullström, denen der Laden neben der Kirche gehörte! Sie ernteten wohl Dank, wo sie sich nur immer hören ließen; aber für sie selber war es erhebend und aufmunternd, bei feierlichen Gelegenheiten singen zu können, wo sie anspruchsvolle und kritische Zuhörer hatten.
Und der alte Asker, der bei Bauernhochzeiten zum Tanze aufzuspielen pflegte, wobei sich kein Mensch darum kümmerte, was eigentlich aus der Klarinette herauskam, solange nur Takt und Schwung darin war, ach, er war überglücklich, wenn er am siebzehnten August in Mårbacka für die Jugend aufspielen durfte, die seine Kunst zu schätzen wußte und ihm versicherte, es gebe auf der ganzen Welt keine Musik, nach der sich so ausgezeichnet tanzen ließe wie nach seiner.
Und wenn ein Trompetensextett beisammen war, bestehend aus dem Inspektor von Gårdsjö und Tage Schullström und Sergeant Johann Dalgren sowie einem Kommis und zwei musikalischen Dorfschullehrern, die sich Instrumente und Noten angeschafft und Märsche und Walzer und Ouvertüren und eine große Auswahl von Volksliedern eingeübt hatten, dann wäre es doch wahrlich ein Verbrechen gewesen, hätte es keinen einmaligen, unvergleichlichen Festtag gegeben, an dem sie Ehre und Ruhm für ihre Bestrebungen ernten durften.
Und wenn sich außerdem im Kreise der Verwandten, die im Sommer Gäste auf Mårbacka waren, zwei ausgesprochene Vergnügungskommissare befanden wie der Auditor Oriel Afzelius, der eine Schwester von Frau Lagerlöf zur Frau hatte, und deren Bruder Kristofer Wallroth, so konnte man froh sein, daß es so weit draußen auf dem Lande ein so großartiges Fest gab, bei dem man sich hören lassen konnte.
Und befand sich zudem unter den Gästen eine geborene Primadonna wie Frau Hedda Hedberg, die schöne, fröhliche Stockholmerin, als Sängerin und Schauspielerin ganz fürs Theater geschaffen, obwohl sie einen armen wermländischen Leutnant geheiratet hatte, dann kann man wohl sagen, es sei geradezu eine Verpflichtung gewesen, den siebzehnten August in Mårbacka festlich zu begehen, damit sie und alle die andern zu ihrem Recht kämen.
2
In der ersten Zeit, als Leutnant Lagerlöf auf Mårbacka wohnte, wurde der siebzehnte August nur wie ein gewöhnlicher Geburtstag mit blumengeschmücktem Kaffeetisch und einem Kranz um des Leutnants Tasse gefeiert. Die nächsten Nachbarn kamen, gratulierten und wurden wie üblich zum Kaffee geladen, bekamen dann noch Saft und Punsch und Grog und blieben auch zum Abendbrot, das Punkt neun Uhr stattfand. Sie unterhielten sich mit den gewohnten Plaudereien, und nach dem Abendbrot trug man den Tisch aus dem Saal, um noch ein bißchen zu tanzen.
Aber es mußte sich wohl in der Gegend herumgesprochen haben, daß diese kleinen Geburtstagsfeiern sehr ansprechend und gemütlich seien, daß aber niemals Einladungen dazu ergingen, sondern jedermann willkommen sei, der Lust habe zu kommen. Kurz, jedes Jahr wurden es der Gäste mehr, die sich einfanden.
Die Familien vergrößerten sich ja auch, und sobald die Kinderchen nur trippeln und laufen konnten, wurden sie mit nach Mårbacka genommen, um auch mit dem Leutnant Lagerlöf zu feiern. Und wenn die Nachbarn, die von Anfang an mit dabei gewesen waren, gerade Gäste hatten, so wurden auch diese ganz selbstverständlich mitgebracht.
Alleinstehende junge Herren, die damals oft meilenweit fuhren, um ein bißchen zu tanzen, nahmen die Gewohnheit an, dem Leutnant Lagerlöf am siebzehnten August ihre Aufwartung zu machen, und die entfernt wohnenden Verwandten, die jeden Sommer nach Mårbacka zu Besuch kamen, richteten es auch mit der Zeit so ein, daß sie gerade beim Geburtstag anwesend sein konnten.
Und da am siebzehnten August immer schönes Wetter war, so lange der Leutnant lebte, vertrieben sich die Gäste stundenlang die Zeit mit einem Spaziergang durch den ganzen Hof. Die Wirtschaftsgebäude und Gartenanlagen wurden gründlich besichtigt. Kam viel Jugend zusammen, fing man auch schon vor dem Abendessen zu tanzen an. Fröhlich und behaglich ging es dabei immer zu, aber eigentlich nicht mehr als andernorts auch.
Danach aber ließ sich Leutnant Adolf Hedberg mit seiner schönen jungen Frau aus irgendeinem Grunde in Ost-Ämtervik nieder, und am nächsten Geburtstag des Leutnant Lagerlöf kam, während die Gäste beisammen waren, eine alte Bäuerin in die Küche mit einem Korb voll Eiern, die sie verkaufen wollte. Man wies sie ab, weil man während all der Arbeit für das Essen keine Zeit zum Eierkauf hatte. Die Frau ließ sich aber nicht einschüchtern, sondern ging mit ihrem Korb auf die Veranda, wo der Leutnant mit einer ganzen Anzahl Herren saß. Sie war durchaus nicht schüchtern, sondern rührte ihre Zunge so schnell und behende, daß der Leutnant ihre Eier kaufen mußte, nur um das Weib los zu werden. Aber als sie ihr Geld erhalten und in die Rocktasche versenkt hatte, machte sie noch keine Anstalten zu gehen, sondern nun wollte sie auch noch wissen, wer die Herren alle waren und machte ein wenig gar zu aufdringliche Bemerkungen über deren Äußeres. Schließlich meinte indes doch der junge Leutnant Hedberg, der auch mit dabeisaß, nun sei es genug des Scherzes; er tat seinen wenig gesprächigen Mund auf und sagte:
»Jetzt läßt du es wohl genug sein, Hedda!«
Worauf sich die Bäuerin auf ihn stürzte und ihm eine richtige kleine Ohrfeige verabfolgte, indem sie rief:
»Aber Adolf, wie abscheulich von dir, zu sagen, daß ich es bin!«
Und gewiß war es schade, denn sie war so gut verkleidet und hatte ein so vorzügliches Wermländisch gesprochen, daß niemand auf den Gedanken gekommen wäre, es könnte die reizende Stockholmerin sein.
Aber dieser kleine Scherz machte nun auch die andern Talente mobil, und als der Abend fortschritt, begann Kristofer Wallroth, Erik Böghs Lieder zu singen. Seine Stimme war nicht besonders groß, aber der Vortrag war desto besser, und seine Zuhörer wälzten sich vor Lachen. Und schließlich knüpfte sich der Auditor Afzelius ein seidenes Tüchlein um den Kopf, warf eine Mantille um die Schultern und sang und deklamierte Emiliens Herzklopfen. Das war natürlich die Glanznummer des Abends, denn der Auditor war hinreißend, als er ein liebeskrankes Jungfräulein darstellte.
Während sich das alles abspielte, hatte sich wohl der Kantor Melanoz im stillen geärgert, weil nur diese Stadtleute etwas Lustiges für den Leutnant und seine Gäste darzubieten vermocht hatten. Er fand sich bei seiner Ehre gepackt.
Im nächsten Jahr schoß dann aber auch er den Vogel ab.
Der Leutnant hatte nämlich der Schule zu Östanby eine Anzahl kleiner Gewehre geschenkt, die in Mårbacka angefertigt worden waren. Die Schulkinder sollten damit exerzieren lernen. Er hatte sogar einen alten Sergeanten mit in die Schule geschickt, der den Kindern die ersten Handgriffe beibringen sollte. Das nahm der Kantor zum Anlaß, mit seinen sämtlichen Schulkindern zu dem Geburtstag des Leutnants anmarschiert zu kommen.
An der Spitze wurde eine Fahne getragen, eine Trommel wurde geschlagen, und die Kinder hatten ihre Gewehre geschultert. Als sie durch die Allee gezogen kamen, sah es aus, als komme ein ganzes Kriegsheer anmarschiert. Es waren sehr viele Kinder, der Zug reichte vom Gesindehaus bis unter die Veranda, wo der Kantor, der sie anführte, Halt! kommandierte.
Dann sprach er einige Worte. Er sagte, diese Kinder seien gekommen, Leutnant Lagerlöf zu danken, weil er daran gedacht habe, ihren Körper ebensogut auszubilden wie ihren Geist. Darauf ließ er sie vorführen, wie sie marschieren, rechts um, links um machen und ihr Gewehr schultern konnten.
Das war eine prächtige Überraschung, die der Kantor sich ausgedacht hatte. Der Leutnant war glückselig darüber und seine Gäste unterhielten sich vorzüglich.
Was die alte Haushälterin und Mamsell Lovisa und Frau Lagerlöf dachten, die, während ein großes Abendessen schon im Gange war, noch Kaffee und Gebäck für sechzig Kinder schaffen mußten, kann man sich denken. An jedem siebzehnten August dachten sie mit Entsetzen an diesen Kinderzug und hofften, der Kantor werde nie wieder mit einem so großen Anhang erscheinen.
An jenem Tage, wo der Kantor mit der Schuljugend erschienen war, hatten sich indes auch Ingenieur Noreen und seine Frau überlegt, daß es doch nicht angehe, nur die auswärtigen Besucher für die Unterhaltung an Leutnant Lagerlöfs Geburtstag sorgen zu lassen. Am Abend war herrlicher Mondschein. Da zog der Ingenieur einen schwarzen Sommermantel an und setzte ein federgeschmücktes Barett auf, während seine Frau Emilie sich in ein altmodisches Gewand mit hohen Puffärmeln kleidete. Und nun führten sie auf dem sandbestreuten Platz vor der Veranda ein paar Szenen aus Börjessons Erik XIV. auf.
Dieses Schauspiel im Mondschein war schöner, als man sich denken kann, denn Erik Noreen hatte sich so ganz in die Rolle des Königs Erich eingelebt, daß jedes Wort aus seinem eigenen Herzen zu kommen schien, und seine Frau war süß und schüchtern und ein wenig ängstlich – gerade so wie eine Karin Månstochter sein muß.
Im folgenden Jahre fanden sich zum siebzehnten August mehr Leute denn je auf Mårbacka ein. Ein Wagen, ein Kabriolet, ein Gefährt folgte dem andern. In kurzer Zeit waren siebzig bis achtzig Menschen beisammen. Offenbar hatte sich in der ganzen Gegend die Kunde verbreitet, an diesem Tage könne man in Mårbacka die ergötzlichsten Dinge miterleben, die einem sonst nirgends geboten würden.
Aber diesmal war der Leutnant in großer Verlegenheit, weil den Besuchern nichts Außergewöhnliches geboten wurde. Es ging an diesem Tag zu wie bei jeder anderen Geselligkeit: die Jugend fing früh am Nachmittag an zu tanzen, die Herren unterhielten sich bei einem Glase Grog, die älteren Damen saßen im Salon bei Obst und Konfekt. Niemand langweilte sich, denn Auditor Afzelius und Propst Hammargren einerseits und Frau Hedda Hedberg und Nana Hammargren andrerseits verstanden sich auf die Kunst, eine Gesellschaft zu unterhalten. Aber nichts wies darauf hin, daß irgendeine Aufführung vorbereitet würde. Nicht einmal eine hergebrachte Geburtstagsrede wurde gehalten.
Leutnant Lagerlöf ließ seine Augen nach allen Richtungen umherschweifen. Nirgends waren geheimnisvolle Mienen oder geschäftige Vorbereitungen zu bemerken.
Als es dämmerte, kam auch noch eine große Schar Menschen aus der ganzen Umgebung nach Mårbacka dahergewandert. In hellen Haufen standen sie auf den breiten Wegen vor dem Wohnhaus und warteten. Dem Leutnant taten sie leid, weil sie sich die Mühe gemacht hatten herzukommen; es gab ja nichts zu sehen.
Nach dem Abendessen bemerkte er indes doch eine gewisse Spannung und Erwartung bei der Gesellschaft.
Und siehe, nun wurde ein blumengeschmückter Lehnstuhl herbeigetragen und Leutnant Lagerlöf gebeten, darin Platz zu nehmen. Doch kaum hatte er sich niedergesetzt, als der Sessel auch schon von starken Armen in die Höhe gehoben wurde. Jan Asker stimmte einen Marsch an, die Herren boten den Damen den Arm, und in einem langen Zuge ging es in die Nacht hinaus. Doch man blieb nicht lange im Dunkeln. Die Schritte richteten sich dem Garten zu, und kaum war man beim Wohnhaus um die Ecke gebogen, als man die ganze Umgebung von einer Menge bunter Lampen erhellt sah.
Der Leutnant wurde durch die beleuchteten Gänge bis zu dem kleinen Park getragen. Es war das erste Mal, daß man es in Mårbacka mit einer solchen Beleuchtung versuchte, und Leutnant Lagerlöf war ganz entzückt, wie schön sich der Garten ausnahm. War das hier dasselbe Grundstück, auf dem er mit dem alten Gärtnermeister noch vor wenigen Jahren umhergegangen war, das er vermessen und abgesteckt hatte?
Von allen Seiten ertönten bewundernde Ausrufe. Wie düster und geheimnisvoll stand doch das Buschwerk da! Wie tief und unendlich lang schienen die Wege unter ihrem Laubgewölbe! Wie wundervoll schimmerten die Blumen in der wechselnden Beleuchtung! Und hing nicht das Laubwerk über den Bäumen wie kostbare buntfarbige Draperien?
Der Zug hielt auf einer der Lichtungen im Park.
Der Leutnant wurde mit dem Stuhl niedergesetzt, und seine geblendeten Augen schauten in eine Grotte, die aus Blättern und Blumen zusammengestellt war. Mitten darin stand Flora selbst auf einem Piedestal mit einer Schar kleiner Nymphen um sich her und sang mit herrlicher Stimme dem Schöpfer des Gartens eine Dankeshymne.
»Ach, ich hab' mir's doch gedacht, Hedda!« rief der Leutnant der schönen Blumengöttin zu. »Ich hab' mir's doch gedacht, daß du mich nicht vergessen würdest!«
3
Es ist ungefähr vier Uhr nachmittags am siebzehnten August, und die jüngsten Töchter von Mårbacka, Selma und Gerda, sind eben dabei, sich zum Fest einzukleiden, als das Zimmermädchen zu ihnen in die Bodenkammer kommt, denn ihr eigenes Zimmer hatten sie natürlich den zugereisten Verwandten überlassen müssen.
»Selma und Gerda, ihr müßt herunterkommen und die Gäste empfangen!« ruft sie. »Es ist noch niemand fertig, und die ersten Wagen kommen schon durch die Allee daher.«
Nun beeilen sich aber die beiden kleinen Mädchen, und zugleich erfüllt helle Begeisterung ihr Herz. Jetzt fängt's richtig an! Der siebzehnte August beginnt!
Sie knöpfen ihre Kleidchen zu, stecken die Rosette am Hals fest und eilen hinunter. Kein Erwachsener weit und breit. Nicht einmal ihre ältere Schwester kann ihnen helfen, die Gäste zu empfangen, denn sie ist von der Hauptprobe eines Theaterstücks in Anspruch genommen.
Die Gäste sitzen schon auf der Veranda. Es ist Herr Nilsson von Visteberg mit seiner Frau und drei oder vier Kindern. Sie kommen bei jeder Einladung zu früh, aber nie haben sie es so eilig wie am siebzehnten August. Und darüber wundern sich die kleinen Mädchen auch nicht. Alle Menschen mußten sich ja danach sehnen, an einem solchen Tage nach Mårbacka zu kommen.
Es dauert vielleicht ein bißchen lang, für die Gäste wie für die kleinen Wirtinnen, bis der nächste Wagen vorfährt und die Angehörigen endlich erscheinen. Aber heute am siebzehnten August macht man sich nichts aus solchen Kleinigkeiten.
Die neuen Gäste sind von weit her. Es ist Pastor Alfred Unger von West-Ämtervik mit seiner Familie. Sie kommen zweispännig angefahren und haben zwei Meilen Wegs hinter sich. Der Wagen ist voll von Frauen und Kindern, der Pastor selber sitzt auf dem Bock und kutschiert wie ein richtiger Pferdekenner.
Leutnant Lagerlöf ist endlich fertig und tritt in dem Augenblick auf die Veranda, da Pastor Unger vor dem Hause hält.
»Aber zum Kuckuck!« ruft Leutnant Lagerlöf, »was hast du mit deinen Pferden gemacht, Alfred? Sie gleichen sich ja wie ein Ei dem andern.«
»Schweig doch still und verrate an deinem Geburtstag keine Geheimnisse!« ruft Pastor Unger zurück.
Die Sache war nämlich die: er hatte zwei schöne Wagenpferde, die sich aufs Haar geglichen hätten, wäre das eine nicht mit einem weißen Fleck auf der Stirn gezeichnet gewesen. Nun war der Pastor auf den Einfall gekommen, ein Stückchen weißes Fell zwischen die Riemen zu legen, die sich über der Stirne kreuzen, und nun mußte jedermann glauben, die Pferde glichen sich ganz und gar.
Man hätte diesen Kniff gar nicht vermutet; Pastor Unger war aber selbst stolz auf seinen Einfall, daß er ihn Gott und der Welt zu wissen gab, und deshalb hatte auch der Leutnant schon längst davon gehört.
Übrigens ist vom Pfarrhofe zu West-Ämtervik nicht nur ein Wagen mit Gästen angekommen, sondern gleich hinter ihm auch noch ein Heuwagen voll junger Leute. Es sind Verwandte aus Karlstadt, die gerade zu rechter Zeit eingetroffen waren, um auch noch nach Mårbacka mitgenommen zu werden.
Wagen auf Wagen kommt auf den Hof gefahren. Es kommen die Verwandten von Gårdsjö, die liebsten von allen Gästen. Sie fahren mit einer Reihe von Wagen vor. Erstens sind sie selber schon viele, und dann bringen sie Oriel, Georgina Afzelius und Kristofer Wallroth, die bei ihnen wohnen, mit.
In einem der Wagen aus Gårdsjö sind große merkwürdige weiße Bündel verstaut, die ins Theater hinaufgetragen werden müssen. Selma und Gerda sind entsetzlich neugierig. Sie fragen die kleinen Wallrothschen Töchter, was da wohl drin sei, aber diese haben fest versprechen müssen, nichts zu verraten. Nur so viel können sie sagen, daß sich Onkel Oriel etwas ungeheuer Lustiges ausgedacht habe.
Dann kommt der alte Ingenieur Ivan Warberg aus Angersby in einem Kabriolett angefahren, das ganz voll schöner junger Mädchen ist.
Das gibt einen Jubel auf der Veranda! Ein so eingefleischter Junggeselle wie Ivan Warberg! Was ist denn dem eingefallen?
Übrigens wissen alle recht gut, daß die jungen Mädchen seine Nichten sind, die im Sommer zu Besuch bei ihm weilen, aber man muß doch Ivan in Verlegenheit bringen.
Die kleinen Lagerlöfschen Mädchen wundern sich höchlich, weil man Frau Hedda nirgends sieht. Sie wohnt nicht mehr in Ämtervik, aber man hat doch gehofft, sie würde kommen und etwas Lustiges aufführen. Sie meinen, es sei gar kein richtiger siebzehnter August, wenn sie nicht dabei ist.
Jetzt erscheinen noch die nächsten Nachbarn; Pastor Milén und seine Jungen sind in eine andre Gegend übersiedelt. Dafür kommt heute der große schöne Pastor Lindegren mit seiner kleinen gemütlichen Frau aus dem Pfarrhof hergewandert. Und von dem andern Nachbarhof Där När tauchen nun auch Vater Olav und Mutter Kerstin auf.
Sie sind nicht die einzigen Bauersleute, die dem Leutnant Glück wünschen wollen. Der alte Jan Larsson aus Süd-Ås, der reichste Bauer im ganzen Kirchspiel, kommt mit seiner Tochter. Der Reichstagsabgeordnete aus Bävik erscheint mit seiner Frau, und der Kirchenälteste aus Västmyr mit der seinigen.
Da gar keine Einladungen ergangen sind, ist es sehr anregend für die kleinen Mädchen, neben dem Leutnant auf der Veranda zu stehen und zu sehen, wer alles kommt. Einer, der mit großer Spannung erwartet wird, ist Jan Asker. Wenn er nur nicht irgendwie abgehalten worden ist! Wenn er nur käme!
Die kleinen Mädchen versuchen, die Ankommenden zu zählen, aber das ist unmöglich. Die Leute strömen von allen Seiten herbei – gewiß sind es schon hundert! Die Kinder wünschen das sehr, denn es würde sich doch großartig ausnehmen, könnte man sagen, am siebzehnten August hätten sich hundert Personen auf Mårbacka eingefunden.
Aber dieser Empfang ist ja nur die Einleitung zu dem, was folgt, ebenso das Kaffeetrinken auf dem Rasenplatz, dessen Ende die Kinder kaum erwarten können.
Endlich beginnt das eigentliche Fest. Das Blechmusiksextett stellt sich mit allen den blitzenden Trompeten an der Verandatreppe auf. Die Herren bieten den Damen den Arm, ein Marsch ertönt, und mit der Musik an der Spitze ziehen die Paare durch den Garten in den kleinen Park.
Man versammelt sich um einen Tisch, auf dem ungeheuer viele Gläser stehen, gefüllt mit Bischof oder Punsch, denn Wein wird in Mårbacka nie gegeben, und die Gläser werden den Umstehenden gereicht. Jetzt ist der Augenblick der Geburtstagsrede und der Hochrufe auf den Leutnant gekommen, das versteht jedermann.
Ingenieur Erik Noreen und der Reichstagsabgeordnete Nils Andersson aus Bävik und Herr Nilsson aus Värberg stehen alle drei schon da und haben eine Rede in Bereitschaft. Sie sehen einander an und zaudern und überlegen, denn keiner will seinem Mitbewerber die Rede vom Munde wegnehmen.
»Na, wird's bald!« sagt der Leutnant. Diese feierlichen Ansprachen sind nicht nach seinem Geschmack, und er hätte gerne diesen Teil des Programms schnell überstanden.
Da hört er auf einmal hinter sich eine helle Stimme in wohlklingender Stockholmischer Aussprache, und als er sich umwendet, tritt eine schöne Zigeunerin aus dem Gebüsch und bittet, ihm wahrsagen zu dürfen. Sie nimmt seine linke Hand in ihre Hände und fängt an, die Linien zu deuten.
Leutnant Lagerlöf war im verflossenen Winter sehr krank gewesen und hatte im Sommer eine zweite Reise nach Strömstadt unternehmen müssen, um seine Gesundheit wieder zu erlangen. Aber alle seine Taten und Unternehmungen während dieser Reise liest ihm die Zigeunerin aus der Hand, und was noch mehr ist, sie gibt sie in wohlklingenden Versen wieder.
Es klingt ungemein witzig, ja auch ein bißchen keck und boshaft, die ganze Zuhörerschaft muß hell auflachen, und Leutnant Lagerlöf ist hoch entzückt.
»Du bist doch immer Nummer 1, Hedda!« ruft er.
Aber als Frau Hedda ein Hoch auf den Leutnant ausgebracht und die Hurrarufe selbst geleitet und das Sextett eine Fanfare geblasen hat, wirft sie den drei Rednern einen Blick zu und sagt:
»Ich bitte um Entschuldigung, weil ich Ihnen in den Weg trat und sie störte. Jetzt aber ist die Reihe an den Einheimischen.«
Zugleich hört man Jan Askers Klarinette hinten im Garten, und blanke Helme und Harnische schimmern aus dem Laubwerk.
Nun erfährt man, daß Jan Asker und der Kantor Melanoz drei der unsterblichen Götter, Freja, Odin und Thor, die auch auf dem Wege nach Mårbacka waren, sich aber verirrt hatten, begegnet sind. Sie haben den Weg gewiesen und nun, da die drei strahlenden Gottheiten angelangt sind, können sie ihr Anliegen selber vorbringen.
Aber sie reden nicht. Die drei Götter singen auf die bekannte Melodie Komm lieber Mai und mache ... ein Lied, das alles preist, was zu Leutnant Lagerlöfs Zeit auf Mårbacka gebaut und geschaffen worden ist. Jedes Wort ist Wahrheit, und man kann viele sehen, denen Tränen in den Augen stehen. Der Leutnant selber ist tief gerührt über die Dichtung seines alten Freundes.
»Du bist heute großartig, Melanoz«, sagte er. »Ja ja, Hedda, ich glaube, die Einheimischen werden den Vogel abschießen.«
Auf diese Weise ist das Fest glücklich und feierlich eingeleitet. Die Gäste verteilen sich durch den ganzen Garten, sie statten den Beerensträuchern und den Weichselkirschen Besuch ab und versuchen sogar, ob die Astrachanäpfel, die in Mårbacka so besonders gut gedeihen, schon reif werden.
Doch schon nach kurzem ertönt eine neue Fanfare. Wieder bieten die Herren den Damen den Arm und führen sie durch den Garten ins Haus und die Bodentreppe hinauf.
Auf dem Boden ist ein Zuschauerraum geschaffen vor einem kleinen Theater, das von weißen Stoffwolken verhüllt ist. Dieses Theater ist Frau Lagerlöfs Werk, und es ist so hübsch, wie man sich's nur ausmalen kann.
Nach einer kleinen Wartezeit geht der Vorhang auf, und ein allegorisches Singspiel wird aufgeführt, das Oriel Afzelius noch diesen Vormittag gedichtet hat und das » Der Mönch und die Tänzerin« heißt.
Die Handlung spielt am Tage der Geburt des Leutnant Lagerlöf, am siebzehnten August 1819. An der Wiege des Neugeborenen erscheinen nicht die gewöhnlichen Feen, sondern zwei allegorische Personen, ein Mönch und eine Tänzerin. Die Tänzerin will aus dem Bübchen einen fröhlichen lebenslustigen Kavalier machen, der Mönch dagegen will, daß ein ernster, asketischer Mann werde. Nach einem lebhaften Streit einigen sie sich aber doch: Jeder von ihnen darf die Hälfte der Lebensbahn des kleinen Mårbackakindes beherrschen. Eine Zeitlang soll er als junger Offizier sein Leben fröhlich genießen dürfen, in der späteren Hälfte seines Lebens aber der Welt entsagen und sich auf Mårbacka als Kloster in Enthaltsamkeit und guten Werken üben.
Das ist einzig, ist großartig! Oriel Afzelius als Mönch und Kristofer Wallroth als Tänzerin in Schleier und Flor gehüllt, singen Arien und Duette auf die bekanntesten Opernmelodien, sie gestikulieren und parlamentieren mit feierlichem Pathos und endigen schließlich den Streit mit einem schneidigen Pas de deux.
Nachdem der Vorhang gefallen ist, will der Beifall kein Ende nehmen. Man ruft, man stampft mit den Füßen, man winkt nach allen Seiten. Frau Lagerlöf ist voller Angst, ob der Fußboden da oben diesem Beifallssturm auch gewachsen ist. Leutnant Lagerlöf aber ruft mit lauter Stimme:
»Ei, ei, Melanoz, nun sind es wieder die Ausländer, die die Oberhand haben!«
Die jungen Leute von Mårbacka haben ein kleines Theaterstück eingeübt, um dessentwillen eigentlich das Theater errichtet worden ist. Nun aber, da sie anfangen sollen, haben sie den Mut verloren. Sie haben ja nichts, was sie Onkel Oriels Allegorie an die Seite stellen können.
Anna Lagerlöf zählt erst vierzehn Jahre, und heute soll sie zum erstenmal in einer wirklichen Rolle auftreten. Das Stück heißt: Eine Zigarre, und sie muß die junge Frau spielen.
Aber es gibt keine Niederlage, und das ist Anna Lagerlöfs Verdienst. Wo in aller Welt hat das kleine Ding diese Unbefangenheit und diese Begabung her? Sie spielt so niedlich und sicher, daß die Zuschauer nicht aus dem Staunen herauskommen.
»Dies kleine Mädchen wird noch eine rechte Herzensbrecherin werden«, sagen die einen.
»Aber die kleine Person ist ja geradezu eine Schönheit!« ertönt es von der andern Seite. »Und wie gut sie spielt!«
Das Beifallklatschen und das Hervorrufen will kein Ende nehmen.
»Siehst du wohl, Leutnant!« ruft Kantor Melanoz. »Die Einheimischen stehen doch nicht zurück!«
Schließlich begibt man sich wieder die Bodentreppe hinab, und nun fängt das Tanzen und Plaudern, das Punschtrinken und Geschichtenerzählen an, wozu man bis jetzt gar keine Zeit gefunden hat.
Das Abendessen kommt gegen Mitternacht auf den Tisch, und dann werden wieder die bunten Lampen angezündet. Das darf nicht fehlen. Das wiederholt sich in jedem Jahr.
In diesem Jahr hat man die Beleuchtung zur Abwechslung auf den Rasenplatz vor dem Hause verlegt.
Ach, wie schön das ist! Mamsell Lovisas Blumen leuchten in dem vielfarbigen Licht, die Traueresche ist ganz von Licht durchstrahlt, und die dunklen Büsche sind wie mit Feuerblumen bedeckt.
Alles kommt herbeigeströmt, um die Illumination zu sehen. Man steht wie geblendet. Woher kommt doch all diese Pracht? Man fühlt sich wie in einem Märchenland.
Nun stimmt auch das Quartett sein Lied an, und die Melodien tragen noch bei, die Stimmung zu erhöhen.
Da ereignet sich etwas Sonderbares. Es ist, als käme ein sanfter, lauer Wind geweht. Man weiß eigentlich nicht so recht, was das ist; aber alle diese Menschen, die während eines fast zehnjährigen Zusammenlebens miteinander geplaudert, getanzt, gespielt, Theaterstücke gesehen, Gesänge und Reden angehört haben, sind nun gleichsam hinreichend vorbereitet. Wenn sie die Schönheit der Nacht und des Gesanges genießen, durchströmt sie ein süßer Taumel, eine holde Verzückung. Wie schön ist doch das Leben! Wie kostbar sind diese Augenblicke! Jeder Atemzug ist ein Genuß!
Alles, was die Sänger sagen, jedes Wort, jeder Ton findet Widerhall. Und noch mehr! Man fühlt, daß alle diese Empfindungen gemeinsam sind. Alles findet sich vereint in einem einzigen großen Glücksgefühl.
Frau Hedda Hedberg hat eine Eingebung. Sie stellt sich auf die oberste Stufe der Veranda und singt das Wermlandslied.
Alle, alle singen mit. Dadurch finden sie Ausdruck für ihre Gefühle. »Ach Wermland, du schönes, du herrliches Land!«
Man meint geradezu zu hören, wie Büsche und Bäume mitsingen. Man glaubt, die Wichtelmännchen von Mårbacka dort unter den großen Ahornbäumen auf diese schöne Melodie einen Reigen tanzen zu sehen.
Man drückt einander die Hände, man sieht Tränen in aller Augen glänzen, aber man verwundert sich nicht darüber. Man fühlt sich ja so unbeschreiblich glücklich, jetzt leben zu dürfen; man kann sich der Tränen nicht enthalten.
Als der Gesang verstummt, tritt der Ingenieur Noreen auf den Platz, den Frau Hedda soeben eingenommen hatte. Auch er will die Stimmung dieser Stunde deuten.
»Heute ist der siebzehnte August«, beginnt er. »Was wir jetzt fühlen, ist nicht der Gesang und nicht das Theaterspiel, nicht der Tanz und nicht das Menschengewimmel, sondern das stille, feierliche Glück, das in unsere Herzen eingedrungen ist, die Liebe und Gegenliebe, die diese Nacht durchströmt.
Das ist es, wonach wir uns sehnten, als wir unsre Schritte hierher lenkten. Das ist es, was wir auch nächstes Jahr wieder hier suchen werden.
Woher kommt es nur, lieber Bruder Erik Gustav, daß wir Jahr um Jahr hierherkommen müssen, um uns ausgesöhnt zu fühlen mit unserem Schicksal, daß wir stolz sind auf unser Vaterland, glücklich über uns selbst und alle, die bei uns sind? Du bist kein großer, bedeutender Mann. Du hast keine großartigen Taten vollbracht. Aber in dir wohnt das große Wohlwollen, das offene Herz. Wir wissen, wenn du es vermöchtest, würdest du uns und die ganze Welt umfassen in einer einzigen großen Umarmung.
Deshalb gelingt es dir, uns jedes Jahr einige Stunden Seligkeit zu schenken, ein kleines Paradies, ein wenig von dem, was wir hier in Ost-Ämtervik in unserer Sprache den siebzehnten August nennen.«