Paul Langenscheidt
Blondes Gift
Paul Langenscheidt

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Von diesem Tage an war er wie hingezaubert zu ihr, und Abend für Abend holte er sie vom Theater ab. Dann saßen sie, während Mutter Roller längst in der Kammer rechts von der Küche schlief, bei Aufschnitt und Butterbrot in dem kleinen, heimlichen Dachstübchen, und mit seltener Überwindung trank er das lauwarme Flaschenbier hinunter, bis sie nach herzhaftem Gähnen ihn an die Luft setzte.

Aber mochte es noch so spät werden in dem engen Raum, der die beiden jungen Menschen gleichsam gegeneinanderwarf, – nie kam etwas Unrechtes vor. Sie schien an so etwas gar nicht zu denken, und er war ängstlich bemüht, korrekt zu bleiben, um keinen Mißton in das freundliche Idyll, das ihn mit solchem Glück erfüllte, hineinzutragen.

Eines Abends sagte sie ihm beim Abschied kurz:

»Du, morgen kann ich nicht. Morgen ist Generalprobe, und abends haben wir frei. Da ist die Mieze bei mir. Du weißt ja, die nette Kollegin, von der ich dir schon erzählte.«

Er fuhr enttäuscht zurück. »Wirklich eine Kollegin, Loni?« fragte er gepreßt.

Zum erstenmal wurde sie ehrlich böse.

»Ich bin nicht verheiratet mit dir,« sagte sie heftig, »ich bin mein eigener Herr. Wenn du mir nicht glaubst, so laß es gefälligst bleiben.«

Er war bestürzt. Aber die Sehnsucht nach ihr, der Gedanke an den langen, öden Abend ohne sie drängte ihm die neue Frage auf die Lippen:

»Und ich darf nicht dabeisein?«

»Nein«, antwortete Loni hart. »Von dir brauchen die anderen nichts zu wissen. Die verulken mich sonst bloß.«

Er wagte nicht weiter in sie zu dringen. Und er nahm sich im Gefühl seiner Vereinsamung vor, morgen den Großvater zu besuchen, bei dem er sich schon seit Wochen nicht hatte sehen lassen.

Als er am nächsten Abend, tief verstimmt über die Vorwürfe, die er hatte hinnehmen müssen und deren Berechtigung er innerlich anerkannte, das Heim des alten Majors in der Eichhornstraße verließ und sich der Stadt zuwandte, blieb er plötzlich stehen; und wie unter fremdem Willen kehrte er um und schlug den Weg nach der Genthiner Straße ein.

Die Uhr zeigte drei Viertel zehn. Er nahm ein Auto. Wenige Minuten später hielt er vor Lonis Haus und fand es noch offen.

Hastig schlich er sich über den Hof und blickte zu der Dachwohnung hinauf.

Wie ein Schlag traf es ihn, – ihr Fenster war dunkel.

Er hörte nicht, daß die Haustür kreischend abgeschlossen wurde, er dachte an nichts als an Loni. Stimmte das mit der Freundin wirklich? Er zwang sich, daran zu glauben, zu verstehen, daß Loni nicht mit ihm ins Gerede kommen wollte. Vielleicht saßen sie jetzt alle in der Küche zusammen, die nach der anderen Seite, zum zweiten Hof hin lag; oder die Freundin war früh gegangen und Loni schon längst im Bett, froh, endlich einmal eine lange Nacht durchschlafen zu können.

Eine halbe Stunde stand er wohl in seinem hellen Paletot und Hut auf der schmutzigen Hintertreppe. So oft eine Stimme aus einer der Wohnungen sich näherte oder eine Tür schlug, stieg er eilig einige Stufen hinauf oder hinab, als sei er im Begriff das Haus zu verlassen oder käme eben heim. Und dabei zog ihm unaufhörlich ein physischer Schmerz die Brust zusammen; er hatte keinen Zweifel mehr, daß Loni gar nicht zu Hause war, daß sie ihn einfach belogen hatte. Wo mochte sie sein, wo mochte jetzt ihre fröhliche Stimme schallen, die durchsichtigen, graubraunen Augen vor Lebenslust leuchten?

Er lehnte sich erschöpft an das wacklige Geländer; vom langen Stehen ermüdet, gaben die Beine fast unter ihm nach.

Er konnte nicht die Hand vor Augen sehen. Und in seiner von Sehnsucht und Schmerz erfüllten Stimmung, in dieser Situation, in der er sich wie erniedrigt vorkam, wo er jeden Augenblick entdeckt, verkannt, vielleicht brüskiert werden konnte, tat er sich selbst so leid, daß er die Zähne zusammenbeißen mußte, um nicht weich zu werden.

Allmählich stieg die Angst vor einer Überraschung, vor einem Skandal, ja vor einer Verhaftung in ihm so hoch, daß er entschlossen die ganzen fünf Treppen hinaufkletterte. Aber noch wagte er nicht, die Klingel zu ziehen; wenn Loni doch zu Hause war, durch sein Läuten geweckt wurde, wenn sie sah, wie er sie überwachte, war alles aus. Und er verlor den Mut, stieg wieder hinab. Von neuem stand er ratlos, wie zerschlagen, auf der unsauberen, stickigen Treppe.

Endlich setzte er sich, unbekümmert um den Staub, auf eine der ausgetretenen Stufen. Die Minuten krochen; er hörte eine Turmuhr halb schlagen, dann drei Viertel, jetzt elf. Und mit einmal richtete er sich auf, stieg er entschlossen hoch und zog an dem Handgriff von glattem Porzellan.

Eine Schelle klang, schüchtern, als sei sie über seine Keckheit entsetzt. Alles still . . . Er wartete fünf Minuten, in steigender Besorgnis, Frau Roller sei ebenfalls über Nacht abwesend, und er könne das Haus nicht mehr vor dem Morgen verlassen. Wieder läutete er mit nervöser Hand.

Jetzt hörte er drinnen eine Stimme schelten; eine Tür knarrte, und schlürfende Schritte kamen näher.

Ein Stein fiel ihm vom Herzen.

»Wer ist denn da in aller Nacht?« fragte Frau Roller grollend mit der lauten Stimme der Schwerhörigen durch den Spalt; es dröhnte im ganzen Treppenhaus.

»Frau Roller,« antwortete er gedämpft, in Furcht, die Nachbarn zu alarmieren, »ist Fräulein Loni da?«

Sie hatte ihn wohl gar nicht verstanden. »Was fällt Ihnen denn ein,« wetterte sie, »in nachtschlafender Zeit, wo ich schon zwei geschlagene Stunden im Bette liege? Scheren Sie sich zum Teufel!«

Und die Tür schnappte ins Schloß.

Wieder packte Rolf die sinnlose Angst. Mit fiebernder Hand klopfte er an die Tür, daß ihm die Knöchel weh taten, rücksichtslos, ohne Aufhören. Endlich hörte er die schlürfenden Schritte zurückkommen.

»Wenn Sie nicht machen, daß Sie fortkommen, Sie Lümmel Sie, dann hol' ich die Polizei, verstehen Sie mich! Das sind ja ganz neue Moden.«

»Frau Roller, verehrte Frau Roller«, stieß er atemlos hervor. Seine Knie zitterten unter ihm. »Ich bin es, ich, Rolf von Roem . . . Ist Loni hier?«

Einen Augenblick Schweigen. Dann sagte die Frau in weit milderem Ton: »Warten Sie mal!«

Und endlich öffnete sich die Tür.

Frau Roller, eine starke, untersetzte Frau von etwa fünfundfünfzig Jahren, deren gewaltige Brust das schlecht geschlossene Hemd fast zersprengte, einen schiefsitzenden, kurzen Unterrock über dem mächtigen Leib, die bloßen Füße in niedergetretenen Pantoffeln, ließ das Licht einer kleinen Küchenlampe mißtrauisch auf Rolf fallen.

»Nanu wird's Tag!« sagte sie kopfschüttelnd. »Der Herr von Roem! Was wollen Sie denn bloß noch hier? Die Loni ist doch kein Flittchen.«

In diesem Moment hörten sie draußen auf der stillen Straße ein Auto tuten. Wie auf Verabredung schwiegen sie beide, minutenlang. Dann klangen flinke Schritte ganz unten auf der Treppe. Frau Roller horchte.

»Da ist sie ja«, sagte sie, sichtlich froh, aus aller Verlegenheit heraus zu sein.

Rolf drückte der Alten hastig ein Geldstück in die Hand. »Legen Sie ein gutes Wort für mich ein«, bat er flüsternd. Er sah mit klopfendem Herzen der nächsten Minute entgegen.

Und schon kam Loni die Treppe herauf, ganz in Weiß, wunderhübsch, mit blanken Augen und zerzaustem Haar.

Sie blieb hart vor Rolf stehen. Ihr Gesicht war blaß geworden. »Nun, – und?« fragte sie kurz, mit zornsprühendem Blick.

Rolf schämte sich entsetzlich. Er rang nach Worten. »Loni . . .«, stieß er endlich hervor.

»Nein, mein Lieber,« unterbrach sie ihn schroff, »so etwas wollen wir gar nicht erst einführen. Also bitte, etwas plötzlich, – nach Hause! Da ist der Schlüssel, den schickst du mir morgen. Adieu!«

Mit hochgeworfenem Kopf schritt sie an dem völlig Verdutzten vorbei und schlug die Tür ihres Stübchens hinter sich zu.

Mutter Roller kratzte sich bestürzt mit dem fetten Zeigefinger den grauen Kopf, von dem sich ein dürftiges Zöpfchen wie ein Rattenschwanz trübselig hinabschlängelte. »Da geht sie hin und singt nicht mehr«, sagte sie bedauernd, durch Rolfs Spende völlig für ihn eingenommen. »Na lassen Sie nur, junger Herr, was nicht sauert, das süßt auch nicht. Tragen Sie ein Stück Zucker acht Tage auf bloßer Haut und geben Sie es ihr zu essen, dann haben Sie wieder gut Wetter. Wissen Sie was, – ich bring' Sie 'runter, da sparen Sie morgen den Boten; viel hab' ich zwar nicht auf dem Leibe, aber an mir alten Frau wird sich wohl keiner mehr aufregen.«

Als sie wieder oben war, trat sie bei Loni ein. Die saß halb ausgezogen auf ihrem Bett, flocht sich das Haar und blickte die Pflegemutter mit spöttischer Miene an.

»Weißt du was, Kleine,« bemerkte Frau Roller trocken, »entweder bist du wahnsinnig dumm oder verflixt helle. Der kleine Roem, wenn du den richtig nimmst, der läßt sich ordentlich melken, das sag' ich dir. Der spickt sogar die alte Roller.« Und vergnügt ließ sie das Geldstück im Schein der Lampe blitzen.

Loni blickte überrascht auf sie hin. Dann fuhr sie ruhig in ihrer Beschäftigung fort. Und ironisch antwortete sie:

»Keine Angst, Mutter, – der gute Rolf, der ist mir bombensicher!«

*

Schon am nächsten Morgen war er in aller Frühe bei Loni, um ihre Verzeihung zu erbetteln, aber erst nach langem Flehen wurde er wieder in Gnaden aufgenommen. Niemals kam einer von beiden auf diesen Abend zurück, an den Rolf nur mit klopfendem Herzen denken konnte, und den auch Loni für gut fand, totzuschweigen.

Immer größer wurde der Einfluß, den sie auf ihn ausübte, den auszuüben ihr ein unbeschreibliches Vergnügen zu machen schien. In wenigen Wochen wurde sie der entscheidende Faktor in seinem Leben, jeder ihrer Wünsche Gesetz für ihn. Und allmählich begann sie ihre Ansprüche höherzuschrauben, verlangte sie ausgeführt zu werden. Dann glänzten ihre Augen, und mit einem Freimut, der ihn immer wieder verblüffte, erzählte sie die gewagtesten Geschichten aus ihrer Umgebung, verriet sie, daß ihr durchaus nichts Menschliches mehr unbekannt war.

Und unterdes zerbrach er sich heimlich den Kopf, wovon sie wohl lebte, wie hoch wohl ihre Gage am Mascotte war; aber stets schob er die Frage von neuem wie etwas Lästiges, Gefährliches von sich.

Eines Nachts brachte er sie wieder heim. Es war der 18. April, ihr einundzwanzigster Geburtstag.

Er war am Morgen sehr korrekt mit einem großen Strauß Marschall Niels angetreten und hatte sie abends zum erstenmal in eines der ersten Restaurants Berlins geführt. Sie hatte ungewöhnlich viel getrunken, Rheinwein, Sekt und Liköre, alles durcheinander. Sie wurde bald ungewöhnlich ausgelassen und lachte hellauf über den Pfirsich in ihrem Sektpokal, der wie ein Perpetuum mobile mit seinen Luftperlen im Glase hochstieg, sank und wieder stieg; und schließlich benahm sie sich so übermütig, daß das ganze Restaurant auf sie blickte und einige Herren, anscheinend Offiziere in Zivil, ihr, unbekümmert um Rolf, lächelnd zutranken. Er hatte es mit Erbitterung gesehen, aber sich gewaltsam beherrscht; vier gegen einen, – und noch dazu gegen ihn! Als er aber schließlich eine Karte abfing, die die Herren der Loni durch den Kellner zuzustecken suchten, wurde ihm die Situation doch allzu ungemütlich. Denn Loni kokettierte jetzt absichtlich mit ihrer Umgebung und äugte, das Glas an den Lippen, so deutlich zu den Offizieren hinüber, während sie sich gegen Rolf immer gereizter zeigte und sichtlich Streit mit ihm suchte, daß er die Halbtrunkene so rasch als möglich in einen Wagen packte und mit ihr heimfuhr.

Er hielt es für besser, sie hinaufzubringen; gegen sein Erwarten duldete sie es schweigend, daß er mit in ihr Zimmer kam.

Unsicher bewegte sie sich durch den engen Raum, setzte sie vor dem kleinen Spiegel ihren schwarzen Hut ab und schleuderte ihn rücksichtslos auf das Bett.

Ihm wurde bange; noch immer schien es wie ein Gewitter in der Luft zu liegen.

Eine Weile war es still. Rolf kämpfte schwer mit sich: Sollte er der Gefahr aus dem Wege gehen oder abwarten, ob ihre Weinlaune nicht wieder zum Guten umschlug?

»Hast du noch eine Zigarette?« fragte sie plötzlich.

Er sprang auf, reichte ihr das silberne Etui und gab ihr Feuer. »Loni,« sagte er dann, mit raschem Entschluß, und doch selbst vor seiner Kühnheit entsetzt, »darf ich dir etwas sagen?«

Er hatte so viel von diesem Tage erhofft.

»Nein«, wehrte sie ab. »Mach', daß du nach Hause kommst. Mit mir ist heute schlecht Kirschen essen.«

»Nur ein Wort«, bat er mit heiserer Stimme. »Loni,« fuhr er dann hastig fort, »ich – ich weiß alles, was gegen mich spricht, mein Äußeres, mein ganzes Auftreten . . . aber das eine möcht' ich dir so gerne sagen: Ich hab' dich viel, viel lieber als irgendein anderer auf Gottes Welt!«

»Woher weißt du denn das so genau?« fragte sie, noch immer unfreundlich, mit einer tiefen Falte auf der Stirn. »Mich willst du liebhaben, und anderen schenkst du Geld?«

Er hörte kaum auf den Vorwurf. Er sah nur sie, wie sie da vor ihm saß, den Oberkörper zurückgelehnt, die kleinen Füße lässig vorgestreckt. »Liebe, süße, einzige Loni«, bat er mit schwankender Stimme, sich an ihren Sessel klammernd. »Laß mich nur einmal, ein einziges Mal dein duftendes Haar küssen, dein blondes Märchenhaar . . .«

Stumm, mit müden, vom Wein verschleierten Augen sah sie ihn an, wie er so demütig, mit bebenden Lippen vor ihr stand.

»Wo hast du bloß das Geld her?« fragte sie mit einemmal.

»Wenn du dein Haar aufmachen wolltest, Loni,« flehte er von neuem, »tief hinab, wie flüssiges Gold . . .«

»Wo hast du das viele Geld her?« wiederholte sie eigensinnig.

Er blickte sie verständnislos an. »Ich bin im Februar doch mündig geworden«, antwortete er zögernd. Dann aber blitzte es in ihm auf; mit einem Schlage sah er seinen Weg vor sich. Ja, er hatte Geld, viel Geld, er hielt den Zauberstab in seinen Händen, der dem Weibe das Herz betört und die Glieder löst! Seine schönen, dunklen Augen flammten auf. Hart vor ihr stehend, schrie er ihr triumphierend in das Gesicht: »Mein Muttererbe . . .« Und jauchzend, fast kreischend, als könne seine Stimme das Glück nicht erschöpfen, als berausche ihn selbst der Klang seiner Worte, setzte er Silbe um Silbe hinzu:

»Hundertzwanzigtausend Mark.«

Er hatte gehofft, sie würde mit einem Ruf der Freude hochfahren. Aber sie regte sich nicht; nur ihr Gesicht wurde fahl, ihre Augen unnatürlich starr, als sie ganz leise die Summe wiederholte:

»Hundertzwanzigtausend Mark, und ihn dazu!«

Den Schwächling . . .

Ihn, der alles tun, alles opfern würde für sie . . .

In ihrem vom Wein noch halb benommenen Hirn kreuzten sich wirr die Gedanken. Wie hinter einem grauen Schleier sah sie die Tage und Nächte, wo die karge Gage ihr zwischen den Fingern zerronnen war, die Pflegemutter murrend umherschlich, die Miete fehlte, der Hunger drohte. Und jetzt bot ihr dieser Mensch da vor ihr die Möglichkeit, für lange Zeit, vielleicht für immer solchem Schicksal zu entgehn . . .

»Du hast mich wirklich lieb?« fragte sie zögernd, mit sich kämpfend.

Er kniete vor ihr hin, er barg den Kopf in ihrem Schoß. »Ich sterbe, wenn du mich von dir jagst«, antwortete er dumpf. Sie fühlte, wie ein Zittern ihm über den Rücken lief.

Und wieder sann sie, minutenlang. Ganz still war es in der kleinen Stube mit ihren dichten Fenstervorhängen, dem aufgedeckten Bett und der faden, parfümierten Luft. Sie sah auf den jungen Mann ihr zu Füßen hinab, dessen glühende Hände sie bis auf die Haut spürte, – auf ihn, den sie als einen Bettler der Liebe gutherzig aufgenommen und erquickt hatte, und der jetzt, jäh in den Nabob verwandelt, sie zur Sklavin begehrte.

Hundertzwanzigtausend Mark . . .

Langsam hob sie die Arme, löste sie ihr Haar. Träge und schwer rollten die goldigen Wogen herab.

Wie ein Tier schrie er auf, riß er sich hoch, warf er sich über sie.

Aber mit heftigem Ruck wies sie ihn zurück. Etwas Böses, Tückisches, Grausames, das lange in ihr geschlummert, das heute der Wein geweckt, stieg in ihr empor. Zwingend reckte sich der Gedanke in ihr auf, noch einmal, endgültig ihre Macht über ihn zu erproben, ehe sie sich entschied.

Nein, sie wollte nicht seine Sklavin sein, – herrschen wollte sie wie bisher, über ihn und über sein Geld.

»Warte,« sagte sie, und ihre Zähne blitzten zwischen den Lippen, »erst sollst du wissen, wer ich bin. Ich will dir die Wahrheit sagen.«

Er sah sie in fiebernder Ungeduld an. »Ich will nichts wissen, nichts hören«, erwiderte er ungestüm. »Nur dich will ich, dich allein!«

Aber dennoch wich er vor ihrem eisigen Blick zurück. Gewaltsam beherrschte er sich, umfaßte er die Lehne ihres Sessels, daß die Knöchel seiner Hände weiß hervortraten. Seine Augen hingen verzückt an ihr.

Sie saß jetzt leicht vorgebeugt ihm gegenüber, die Arme auf die Knie gestützt; ihr offenes Haar umrahmte Gesicht und Brust.

»Es war einmal ein Prinz Dummerjan,« hörte er sie schneidend sagen, »der kannte die Herzen der Frauen nicht. Der war so weltfremd, daß er blind an ihre Unschuld glaubte. Und so von sich selbst eingenommen war er, daß er sich zutraute, dieselbe Unschuld, die allen Männern widerstanden haben sollte, mit seinem Gold im Sturme zu erobern. Und war doch gar nicht schön, nicht stark und kühn, der Dummerjan . . . Kennst du den Prinzen?«

Er saß völlig überrumpelt vor ihr, in dem niederschmetternden Gefühl ihres Hohnes. Was hatte er ihr getan? Wie konnte sie seiner spotten, weil er an sie, an ihre Reinheit glaubte? Es war doch undenkbar, daß sie die Wahrheit sprach, daß sie sich selbst vor ihm herabwürdigte, statt sich ihm einfach zu versagen. Nein, nein, – so schamlos war kein Weib! Sie wollte nur eins, konnte nur eins wollen, – ihn auf die Probe stellen, sehn, ob er ihrer Liebe würdig war.

Ein Leuchten ging über sein schmales Gesicht. »Loni,« sagte er schlicht, mit strahlenden Augen, »ich glaube an dich, an dich und an das Glück.«

»Ich will, daß du Bescheid weißt«, antwortete sie heftig, mit der Hartnäckigkeit der vom Weine Erregten. »Ich bin heut einundzwanzig . . . Endlos lange ist es her, daß ich unschuldig war, – was man so unschuldig nennt. Wie die hungrigen Hunde waren sie hinter mir her, kaum, daß ich ein wenig Fleisch ansetzte. Lumpige dreißig Mark den Monat, und draußen lachte die Sonne, rauschte das Leben . . . Dutzende waren's: Männer, Knaben, Greise, – der H2O auch, und dann der Georges . . . Georges Mandi . . .«

»Mandi«, setzte sie noch einmal stockend, tonloser hinzu. Und plötzlich hatte sich ihr ganzes Aussehen geändert. Blitzartig tauchte jener Abend vor Rolf auf, als er als Knabe der sicheren Züchtigung entgegenging und sie ihn laut zu schreien bat. Wieder lag über den graubraunen, wie Topase schimmernden Augen ein Schleier, groß und starr waren die Pupillen, als habe sie Gift genommen; und wieder schob sich langsam der Unterkiefer vor, beherrschte er das ganze totenblasse Antlitz. Ihr Rausch war mit einem Schlage verschwunden, wie graues Elend schien es über sie gekommen zu sein.

So überraschend, so erschreckend war jetzt ihr Anblick, daß Rolf ihr zynisches Geständnis völlig vergaß, daß er entsetzt aufsprang und sich zu ihr hinabbeugte.

»Mandi?« fragte er verwirrt, nur um den lähmenden Bann zu brechen.

Sie sah ihn hilflos an. Sie wollte antworten, sie konnte es nicht. Ihre Lippen zuckten wie in verhaltenem Schmerz.

Sein Blick flog zu dem Bilde über dem Bett. Und ohne zu fragen wußte er, wer der elegante, bartlose Gent war.

»Sag's mir, Loni«, bat er angstvoll. »Wer ist dieser Mandi? Wo ist er? Hier, in Berlin?«

»Nein«, antwortete sie leise. Ihre Stirn war von leichtem Schweiß bedeckt. »Jetzt nicht.«

»Und er kommt wieder?« fragte Rolf beklommen.

»Er kommt wieder«, flüsterte sie, zusammenschauernd. »Und ich muß ihn hegen und pflegen. Dann ist er gut zu mir und küßt mich und . . .« – ihre Schultern zuckten – »dann schlägt er mich . . .«

»Er schlägt dich?« wiederholte Rolf, zurücktaumelnd.

Sie sah ihn mit wehrlosen Augen an. Vergessen war ihr Haß gegen ihn, das unwiderstehliche, grausame Begehren, ihn tief zu demütigen, bis in den Staub hinein. Ein blasses, zagendes junges Weib saß ihm jetzt gegenüber, das Grauen im Blick. »Er hat mich lieb,« sagte sie, immer mit derselben gebrochenen Stimme, wie ein Kind, das im Dunkeln vor Gespenstern zittert, »er ist auch nicht immer so – so schrecklich, Gott bewahre! Er kann mich verrückt machen, wenn er will. Dann streicht er mit seinen schmalen Händen über mich hin, ganz lind, wie ein Arzt, der eine Wunde berührt. Und lachen und scherzen und küssen kann er . . . Aber sobald ich ihm einmal nicht den Willen tue, dann wird er wie Eis, und seine schwarzen Augen werden böse und graben sich in mich hinein, als ob ein Bohrer mir im Knochen knirscht. Und plötzlich kriecht es heran, und die Glieder schmelzen mir wie Wachs, und die Luft bleibt mir weg . . . Er kommt . . .« Ihre blassen Lippen verzogen sich, als durchlebe sie in diesem Augenblick die Stunden wieder, von denen sie wie unter hypnotischem Zwange berichtete. »So stark ist er,« setzte sie heiser hinzu, »tausendmal stärker als ich.«

Rolf war's, als wirble das ganze Zimmer um ihn herum. »Und diesen Hund hast du geliebt?« stammelte er mit letzter Kraftanstrengung.

»Ich lieb' ihn noch«, antwortete sie scheu. »Ich muß ihn ja lieben. Ich hab' doch so große Angst vor ihm.«

Eine lange Pause entstand, – Minuten, in denen Rolf die letzte Hoffnung begrub. Und während ihm das Bild der unter Schlägen sich windenden, wimmernden Loni vor Augen stand, hörte er wieder ihre klanglose Stimme:

»Herr im Himmel, wird er mich quälen, wird er mich lieben! Drei Jahre in einsamer Zelle, drei Jahre ohne ein Weib!«

»In einsamer Zelle?« fragte er. »Loni, um Gottes Barmherzigkeit willen, – wo ist der Mann?«

»In England«, antwortete sie müde. »Im Zuchthaus.«

Ihm stockte der Herzschlag. Mandi, – jetzt wußte er, wer das war . . . Georges Mandi, der Meisterdieb, den sie den König der Hochstapler nannten . . .! Er warf sich vor Loni nieder. »Gib ihn auf,« bat er, »mache dich frei von ihm, bleibe bei mir. Und wenn er wiederkommt, dann fliehn wir in die weite, weite Welt, wo keiner uns findet. Was soll dir das Leben an der Seite eines Schurken, eines Verbrechers, der dich mißhandelt? Glück und Glanz, alles, was dein Herz begehrt, will ich dir geben. Nur gut sollst du zu mir sein.« Und er schlug die Hände vor das Gesicht und weinte wie ein Kind.

Sie antwortete ihm nicht. »Einmal,« sagte sie leise vor sich hin, »einmal hat er mich an den Bettpfosten gebunden, mit meinem Haar, vom Abend bis zum Morgen. Schreien durfte ich nicht, sonst wäre er toll geworden. Nie hat er mich so liebgehabt, so wahnsinnig lieb, als nach dieser Nacht. Immer wieder träum' ich davon.«

Sie richtete sich langsam auf. Jetzt erst sah sie ihn weinen. Und sie beugte sich zu ihm und blickte ihm stumm in die Augen.

Er fühlte es, sie war gut zu ihm. Und in diesem Gefühl vergaß er alles, warf er sich vor sie hin und umkrampfte ihre Knie, starrte er mit verzückten Augen zu ihr empor. Und immer wieder flüsterten seine Lippen:

»Ich liebe dich! Ich liebe dich!«

Sie blickte lange auf ihn hinab. Im Geiste sah sie einen hohen Mann mit hartem, bezwingendem Blick, in seinen Händen die Peitsche.

Und wie in gemeinsamem Leid küßte sie ihn, mit schneeweißen Lippen.

*

Vier Wochen später hatten sie in Lichterfelde ein neues, gemeinsames Heim gefunden.

Und das war so gekommen.

Zufällig las Loni eines Tages von der Machnower Schleuse und dem Friedrich-Leopold-Kanal, und sie bekam Lust, auf diesem Wege nach Potsdam zu fahren.

Als sie aber vor dem Bahnhof von Lichterfelde-Ost angesichts der vom zarten Grün der Bäume überwölbten Straßen auf die Machnower Bahn warteten, sagte sie kurz entschlossen:

»Erst will ich mir Lichterfelde ansehn.«

Er war, wie immer, mit allem einverstanden; es tat ihm ja so wohl, sich allen ihren Launen zu fügen. Und so oft er in fieberndem Drange blindlings jeden ihrer Wünsche erfüllte, war er innerlich stolz auf seine Energie, wie ein Hammer, von fremder Faust hinabgeschmettert, sich seiner Kräfte rühmt.

Mit entzückten Augen ging Loni durch die Maienpracht, an den träumenden Villen entlang, vor denen sich Vergißmeinnicht-Beete breiteten, an deren Balkons Klematis, Glyzinen und Kletterrosen sich schüchtern entfalteten. Und das Großstadtkind, das noch die Staubluft des Asphalts zu atmen, das Rasseln und Klirren des Berliner Straßenlebens zu hören glaubte, das den düstern Hof der Genthiner Straße, den melancholischen Ausblick auf die Dächer und Brandmauern der Nebenhäuser vor Augen sah, war von dem lautlosen Frieden des Villenorts, von Wald und Wiese, Sonne und Licht wie berauscht. Sie konnte kein Ende finden; immer wieder bog sie in neue, stille Straßen ein, blieb sie überrascht vor diesem, jenem Heim stehn, bewunderte sie die Durchblicke der weiten, parkartigen Gärten. Und plötzlich fiel ihr ein Schweizer Puppenhäuschen, tief in Grün gebettet, auf, von dem kaum mehr als ein schmaler Saum des Daches aus Busch und Baum hervorlugte. Ein Schildchen war am Torweg angeheftet; das Häuschen war zu vermieten.

Da wandte sie sich zu ihrem Gefährten um und packte ihn am Arm. »Rolf,« sagte sie mit vor Erregung stockender Stimme, »hier will ich wohnen, – hier will ich lieb zu dir sein!«

*

Lieb wollte sie zu ihm sein!

Wie ein Märchenland tat es sich vor seinen Augen auf.

Denn noch immer hatte sie sich ihm versagt. Nur unlustig und für Augenblicke war sie ihm anfangs entgegengekommen, in plötzlicher Laune, wenn es ihr wohltat, mit ihm zu spielen, ihn zu quälen und dann seine glückstrahlenden Augen zu sehen, wenn sie ihm endlich karge Gunst gewährte. Dann aber hatte sich das Widerstreben, das sie in jener Nacht nach ihrem Geburtstage gegen ihn empfunden, nur noch gesteigert; sie fand seine beständige Gier nach ihrem Haar immer lächerlicher, überließ es ihm mit wachsender Ungeduld, klagte darüber, daß er es verwirre und breche. Und schließlich wurde sie jedesmal so unwillig, wenn er seine Bitte zu erneuern wagte, daß er sich notgedrungen beschied.

»Was hast du nur davon, mein Haar zu ruinieren?« sagte sie einmal unwirsch zu ihm. »Das Haar der Frau ist zum Bewundern da, nicht zum Zerzausen. Denk' mal, wenn alle Welt mir in die Frisur fahren wollte.«

Schon der Gedanke an diese Möglichkeit fiel ihm auf die Nerven. »Alle Welt!« antwortete er schüchtern. »Alle Welt liebt dich auch nicht und küßt dich nicht, so wunderschön das ist.«

»So, – tut das alle Welt nicht?« erwiderte sie schneidend. »Ich kenne gerade genug, die rasend in mich verliebt waren. Aber kein einziger war so verrückt wie du.« Sie sah über ihn hinweg, mit den großen, erstarrten Augen, in denen Mandis Bild stand.

Hundertmal hatte sich Rolf geschworen, nie mehr von diesem Manne, diesem Totengräber seiner Liebe zu sprechen. Und konnte es doch nicht lassen.

»Er auch nicht?« fragte er stockend.

Er nannte keinen Namen, aber sie beide wußten, von wem die Rede war.

»Er?« antwortete sie, mit einem Ruck weit, weit fort, in die Vergangenheit verloren. »Er liebte nur eins an mir, federleichte, wie Wellenschaum rieselnde Spitzen. Für Tausende hat er mir Wäsche geschenkt. Das kann ich doch noch verstehn, das hat mir selbst Freude gemacht . . . Und nicht ein Stück hab' ich mehr.«

Rolf blickte sie fragend an.

»Versetzt, – verfallen«, setzte sie kurz hinzu.

Rieselnde Spitzen? Rolf verstand das nicht. Ihm erschien dieser Mandi mit einmal albern. Was brauchte der das Weib seiner Liebe mit künstlichem Flitterstaat, den jedes Mädchen sich mit Geld verschaffen konnte, auszuputzen, wo die Natur ihr als der Einzigen der Schönheit Diadem aufs Haupt gedrückt? Und solchen Torheiten trauerte Loni nach, während sie ihn mit unwirschen Worten abwehrte!

Immer unbegreiflicher erschien sie ihm.

Und noch etwas Seltsames war geschehn.

Als er sie am Abend nach ihrem Geburtstag vom Theater abholte, stand er noch ganz unter dem Eindruck ihrer weichen Stimmung, glaubte er, daß das Eis endgültig zwischen ihnen gebrochen war.

Aber er fand sie ohne jede Spur von Erregung oder Rührung, herrischer und verschlossener als je. Und als sie im Auto dahinfuhren, sagte sie plötzlich zu ihm:

»Du, was ich dir gestern da alles aufgebunden habe, das hast du doch nicht für ernst genommen?«

Er sah sie ganz verblüfft an. »Ja, aber –«, stotterte er.

»Also doch!« antwortete sie mit der Miene einer tiefbeleidigten Königin. »Und das nennst du Liebe?«

»Du hast so ernst, so schrecklich ernst ausgesehn, Loni«, sagte er mit ungewöhnlicher Festigkeit. »Ich mußte es glauben.«

»So?« erwiderte sie, immer mehr gereizt. »Als ob ich nicht sofort gemerkt hätte, daß du mich nur betrunken machen wolltest, um mich dann auszuhorchen! Und du bist richtig darauf 'reingefallen. Daß ich beim Theater etwas gelernt habe, daß ich eine Künstlerin bin,« – sie sprach das Wort mit einer Art Inbrunst aus – »das hast du wohl dabei vergessen? So hirnverbrannt bin ich nun doch nicht, daß ich dir solche Geschichten erzähle, selbst wenn sie wahr wären. Nein, mein Lieber, – wenn Harmlosigkeit weh täte, du würdest vor Schmerzen brüllen.«

Ihre Stimme klang echt, in voller Empörung. Und dennoch fühlte er, daß sie ihn belog.

»Das mit dem H2O und dem . . . dem anderen war Scherz?« fragte er ungläubig.

Sie fuhr förmlich hoch. »So wahr ich hier sitze,« beteuerte sie, »ich bin noch wie vor zehn Jahren, genau so unschuldig. Mich hat keiner 'rumbekommen. Du scheinst ja eine nette Meinung von mir zu haben.«

Er wollte sich rechtfertigen, sie schnitt ihm das Wort ab.

»Wenn du mir nicht glaubst,« sagte sie energisch, »dann tu mir den Gefallen und empfiehl dich. Es gibt noch andre Leute in Berlin!«

Sie drückte auf den Ball. Das Auto hielt. »So, mein Lieber,« setzte sie schroff hinzu, »Glück auf den Weg, und laß es dir gut gehn!«

Er bekam einen furchtbaren Schreck. Und er schämte sich wie ein Pudel vor dem Chauffeur da vorn im offenen Auto, der jedes Wort gehört haben mußte.

»Loni,« suchte er sie leise zu beschwichtigen, »um Gottes willen, sei doch nicht so empfindlich.«

»Das bin ich nie,« antwortete sie heftig, »aber wenn ich mal meinen Spaß mit dir habe und dir dummes Zeug vorschwatze und Theater spiele, nur um zu sehn, ob du mich wirklich liebst, so sehr, daß du alles verzeihen könntest, – wenn ich dann sehe, daß du auf jeden Blödsinn, auch auf den größten Quatsch, so mir nichts, dir nichts einschnappst, – nein, mein Bester, dazu habe ich doch zu viel Achtung vor mir. Natürlich, das bestreit' ich nicht, daß mir die Männer nachlaufen wie die Hündchen, ich weiß nicht, woher. Neulich erst hat mir ein alter patenter Herr mitten auf der Straße eine Etage und tausend Mark monatlich geboten. Ich habe ihn glatt ausgelacht. Wenn ich solche Geschichten machen wollte, dann führe ich jetzt im eigenen Auto und nicht mit dir in 'ner Mietkutsche. Grafen und Fürsten, sag' ich dir . . .«

Die Leute blieben am Rande des Bürgersteigs stehn.

»Chauffeur,« sagte Rolf verzweifelt, »fahren Sie los!«

Sie widersprach nicht. Sie lehnte sich stumm, möglichst weit von ihm abgerückt, in ihre Ecke.

Wie Winterfrost wehte es in der milden Aprilnacht von ihr zu ihm hinüber, in herzbeklemmender Zwietracht.

Und er grübelte. Er sah sich wieder mit ihr durch den Zaun klettern, auf das Feld, in das Gestrüpp, fühlte, wie die zehnjährige Loni ihn wie toll küßte . . . Aber was wollte das sagen? Kindertorheiten! Darum konnte doch wahr sein, was sie behauptete. Und schließlich hatte er sich im Grunde ja gestern bereits dasselbe gesagt, was sie ihm eben vorgehalten, hatte er sich mit ihrer Beichte abgefunden, auch wenn sie Wahrheit gewesen wäre. Und Loni mußte das empfunden haben. Warum riß sie schon längst Begrabenes wieder an das Licht? Welches Interesse hatte sie daran, wo er ihr die Vergangenheit gar nicht vorwarf, sie auch in Sünden so liebhatte, daß er alles für sie tun, alles für sie opfern wollte.

Wozu also der Zank? Und wenn sie solchen Wert auf seine Meinung legte, – weshalb ihr nicht die Freude machen? Warum in einem Streite um des Kaisers Bart sein Glück gefährden, seine Hoffnungen vernichten?

»Sei gut, Loni«, bat er.

Sie regte sich nicht, verdrossen, mit der ihm schon gewohnten tiefen Falte auf der Stirn. Gerade weil sie am besten wußte, wie recht er tat, an ihren Worten zu zweifeln, verzieh sie ihm diesen Zweifel nicht. Eine Wut stieg in ihr auf, daß sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte. Aber er war doch wieder so bequem, so fügsam, so willenlos, er hatte eine so offene Hand, in der unerschöpflich das Gold blinkte, daß sie davor zurückschreckte, den Streit auf die Spitze zu treiben.

Langsam wandte sie den Kopf zu ihm.

»Was hab' ich denn davon, mich besser zu machen, als ich bin?« fragte sie, ihn von der Seite beobachtend. »Du heiratest mich ja doch nicht.«

Er haschte beschwichtigend nach ihrer Hand. Er litt zu sehr unter dem harten Klange ihrer Worte, um ihren Sinn zu erfassen.

Sie ließ ihm ihre Hand, aber sie konnte nicht schweigen. »Du,« sagte sie, und der ganze Haß des wurzellosen Mädchens aus dem Volke gegen seine glücklicheren Schwestern machte sich in ihr Luft, »du heiratest mal so eine höhere Tochter, die von Kindheit an mit durchbrochenen Strümpfen und ausgeschnittenem Gänsehals auf den Mann dressiert ist, so 'n Balg, dem schon in der Schule das Hemd auf dem Leibe brennt. Da wirst du erst wissen, was du an mir gehabt hast.«

»Das weiß ich, Loni,« antwortete er eifrig, »das weiß ich schon längst.«

»Und du glaubst mir?« fragte sie, wieder eisig.

»Ich glaube«, antwortete er feierlich.

Von diesem Tage an suchte sie förmlich etwas darin, ihm gegenüber sich mit ihres Magdtums unbefleckter Reine zu brüsten, die ihr zugleich als willkommener Schild gegen sein Liebeswerben diente. Sie spielte die Jungfrau nicht nur, weil sie mit dieser Komödie ihn verhöhnte, sondern vor allem, weil es ihr Freude machte, sich selbst die Lüge als Wahrheit zu suggerieren, die ganze Empfindungsskala des unberührten Mädchens dem werbenden Manne gegenüber durchzukosten, die sie in Wahrheit doch nicht fühlen konnte. Freilich gehörte die blinde Verliebtheit Rolfs dazu, sie ihre Rolle einigermaßen durchführen zu lassen: denn jedem anderen hätte täglich ein unbewachter Augenblick, ein verständnisvolles Lächeln, ein flüchtiges Scherzwort, eine kecke Bewegung das wissende Weib verraten. Und Mutter Roller mußte ebenfalls einen Wink erhalten haben, so hartnäckig pries sie ohne Veranlassung die unerschütterliche Tugend ihrer Pflegetochter, die nach ihren begeisterten Schilderungen siegreich durch zahllose Versuchungen gegangen war, wie einst Kunigunde in ihrer Sündlosigkeit unversehrt über glühende Pflugscharen schritt. Diese erstaunliche Geschichtskenntnis hätte Rolf gewiß noch mehr imponiert, wenn er bei Loni nicht die Hefte eines Kolportageromans, betitelt »Kunigunde, Kaiser Heinrichs Weib, die jungfräuliche Heilige« hätte herumliegen sehen. So herrschte denn jetzt eine Atmosphäre von bürgerlicher Sittsamkeit und Fröhlichkeit in dem Dachgeschoß der Genthiner Straße, das dank Rolfs Freigebigkeit ein immer behaglicheres Aussehen erhielt. Zwar mußte er Loni das Geld für solche Anschaffungen förmlich aufdrängen, doch gerade deshalb, angesichts ihrer Zurückhaltung, gab er um so lieber, während Frau Roller seinen »Zuschuß« zum Haushalt ohne irgendwelche sittlichen Gewissensbisse einzustecken pflegte.

Dann aber sank Lonis Laune wieder von Tag zu Tag. Vergebens bestürmte Rolf sie, ihm den Grund zu sagen: endlich mischte sich Mutter Roller hinein und vertraute ihm heimlich an: Loni habe sich in den Kopf gesetzt, daß sie mit ihren paar Fähnchen ihm keine Ehre mache.

Er fiel aus allen Himmeln. Sie erschien ihm, wie sie war, so wunderschön, daß er nichts von diesem Mangel empfunden, nicht einmal etwas gemerkt hatte, als sie mit solchem Bedauern von Mandis einstigen Geschenken sprach. Und er ärgerte sich, daß er ihr Sorgen bereitet, schalt sich, daß er ihre Wünsche nicht längst erraten hatte.

Am nächsten Tage fuhr er mit ihr in die Stadt und bestellte ihr eine vollständige Ausstattung, vom Promenadenschuh bis zum Theatermantel, Hüte, Spitzenschirme und Handschuhe, vor allem die federleichte, von schmalseidenen Bändchen durchzogene Wäsche, die sie so entbehrt hatte. Er triumphierte heimlich: Was Mandi vermocht, das konnte er ihr doppelt und dreifach bieten. Und trotz des Schecks, mit dem er die Rechnung beglich und dessen hohe vierstellige Zahl ihn im ersten Augenblick zurückprallen ließ, hatte er doch seine helle Freude an dem Jubel, den diese Wunderschöpfungen der Mode bei immer erneuter Musterung in der Genthiner Straße entfesselten, wenngleich Frau Roller es bedenklich fand, daß Loni auch die Schuhe von ihm angenommen hatte; denn »auf geschenkten Schuhen wandert die Liebe fort«.

Erfüllte Wünsche aber wecken neues Begehren, und Kostüme wollen ausgeführt sein.

Und so kam es wie von selbst, daß Rolf, der kleine, schüchterne Mulus, endgültig das Schiff seiner Liebe aus dem stillen Hafen auf die hohe See hinaussteuerte.

*


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