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In der gleichen Stunde, in der Rechas Schicksal sich entschied, saß unten im Privatkontor der Hofmarschall Isidor gegenüber. Graf Holm war mit einer riesigen, schweren Mappe erschienen, die er an der Tür des Hauses dem herzoglichen Diener abnahm.
Und er entrollte einen gewaltigen Plan.
Seit sechshundert Jahren regierte das herzogliche Haus über das Land, erst viel befehdet, mit wechselndem Kriegsglück, im dreißigjährigen Kriege aus dem Lande vertrieben, durch den Frieden von Münster wieder eingesetzt, dann wachsend an Macht und Ehre, in den großen Kriegen des letzten Jahrhunderts fest zu Preußen stehend, heute ein heller Edelstein in der Krone des deutschen Reichs.
Diese Geschichte des Fürstenhauses und seines Landes hatte der Hofmarschall in zwanzigjähriger Arbeit geschrieben.
Das Werk war auf zehn Bände berechnet Eine Fülle von Originaldokumenten, die im Faksimile wiedergegeben werden sollten, und eine reiche Anzahl sonstiger Abbildungen unterstützte die Darstellung.
Ein Ehrendenkmal des Herzogtums sollte es werden, dem Hoheit das lebhafteste Interesse beibrachte.
Leider erlaubten es weder die Staatsfinanzen, noch die Mittel der herzoglichen Privatschatulle, das Unternehmen anders als moralisch zu unterstützen.
Um so höher aber würde das Verdienst des Verlegers, um so ruhmvoller die Herausgabe sein.
Zweifellos sei es auch, daß der Verleger, dieses Werkes, das ehrenhalber nur im Lande selbst erscheinen könne, nach jeder Richtung, geschäftlich und persönlich – das »persönlich« betonte der Hofmarschall besonders – an maßgebender Stelle die denkbarste Förderung finden würde.
Der Hofmarschall machte eine erwartungsvolle Pause, ohne daß Isidor sein bisheriges Schweigen unterbrach.
Tausend Gedanken kreuzten sich in seinem Hirn. Zuerst klangen ihm die Worte des Grafen Holm wie eine Verkündung ins Ohr, drängte es ihn, das Glück zu erfassen, ehe es für immer entschwand; dann wieder schienen sie ihm der trügerische Sang der Sirenen, die ihr Opfer umgarnen. Und mißtrauisch blickte er auf die gewaltige vor ihm liegende Mappe, das Manuskript des ersten Bandes, dachte er mit schwerem Herzen an seinen Prokuristen Goldschmidt, für den immer nur sachliche Gründe, die kühle Kalkulation entschieden. Und dann tauchte wieder ein liebreizendes Antlitz in goldblondem Haar vor ihm auf, das Weib, das ihm keine Ruhe, keine frohe Stunde mehr ließ, nach dem jede Fiber seines Leibes, jeder Gedanke schrie ...
Und unterdes hob sich und sank wieder einlullend die geschmeidige Stimme des Hofmarschalls. Er sprach jetzt von den finanziellen Aussichten des Werkes. Ein ungewöhnlicher materieller Erfolg sei sicher. Dafür bürge der Wert der Arbeit. Alle Archive hätten dem Autor offen gestanden, die ganze Fachliteratur sei verwertet Der berühmte Historiker der herzoglichen Universität, der Einblick in das Manuskript erhalten hatte, wäre des Lobes voll.
Sämtliche Bundesfürsten würden zweifellos Prachtexemplare beziehen, deren Preis sich auf je tausend Mark belaufen könne, ebenso alle Spitzen des Herzogtums und des Reichs.
Für die gewöhnliche Ausgabe betrachte er einen Absatz von tausend Exemplaren auf Subskription zum vollen Ladenpreise von dreihundert Mark bei bescheidensten Erwartungen als das Mindeste.
Es fiel Isidor auf, wie gut der Hofmarschall in buchhändlerischen Fragen informiert war und wie sicher er fachtechnische Ausdrücke gebrauchte.
Hierzu komme – der Hofmarschall sprach so flüssig, als habe er seinen Vortrag auswendig gelernt oder schon zwanzigmal gehalten –, daß das herzogliche Haus im Laufe der Jahrhunderte fast mit ganz Europa verschwägert sei, das Werk mithin auch außerhalb Deutschlands auf ein reges Interesse rechnen könne. Er schlage daher außer den hundert auf Japanpapier zu druckenden Prachtexemplaren, von denen er als Autor für seine Privatzwecke fünfzig zu erhalten habe, eine Auflage von zweitausend vor. Die Kalkulation stehe fest und sei hier aufgezeichnet: Die Kosten des Bandes zu je dreißig Bogen mit allen Kunstbeilagen beliefen sich durchschnittlich auf dreihundert Mark pro Bogen, also auf 9 000 Mark, die des ganzen Unternehmens einschließlich Reklamekosten mithin auf 90-120 000 Mark.
Bei einem Absatz von fünfzig Luxusexemplaren zu je tausend Mark und zweitausend zu je dreihundert Mark ergäben sich 650 000 Mark, die nach Abzug der Herstellungskosten, des Buchhändlerrabatts, soweit ein solcher in Frage komme, und aller Spesen, einen Reingewinn von weit über 300 000 Mark in sichere Aussicht stellten.
Nie sei einem Verleger ein so ehrenvolles, chancenreiches Unternehmen, wie dieses »Pantheon«, geboten worden.
Was ihn, den Autor, und seine Ansprüche betreffe, so müsse man berücksichtigen, daß es sich hier um die Arbeit eines ganzen Lebens handle, und daß Dokumente von höchstem Werte geboten würden, die kein anderer der Öffentlichkeit hätte übergeben können; nur das Vertrauen auf seine Gewissenhaftigkeit und Anhänglichkeit an das herzogliche Haus habe seinen hohen Herrn bewogen, ihm völlig freie Hand in der Auswahl zu lassen. Daß auch der Name des Hofmarschalls Graf Erich Holm dem Werke nicht schaden werde, wolle er nur kurz betonen.
Er habe hier einen Vertrag entworfen, der seine bescheidenen Ansprüche formuliere. Die geistige Arbeit von Jahrzehnten sei ja überhaupt nicht abzuschätzen. Die Hauptpunkte lauteten:
Der Verlag verpflichtet sich, den ersten Band sofort, die weiteren in Zwischenräumen von je sechs Monaten herauszugeben. Dem Autor sind zwanzig Prozent des Ladenpreises der Auflage zu zahlen, mithin 120 000 Mark, etwa ein Drittel des Reingewinns; und zwar mit 5 000 Mark vierteljährlich pränumerando bis zur Abtragung der ganzen Summe. Wird eine Zahlung versäumt; so ist der Rest des Honorars sofort fällig.
Wieder nahm die Stimme des Hofmarschalls den weichen, einschläfernden Ton an, der sanft über alle Unebenheiten hinweggleitet. Seine Haltung war die des Edelmanns, der seine Geschäfte vornehm, mit einer Handbewegung erledigt. Die letztere Bestimmung, Fälligkeit des ganzen Honorars bei Nichtzahlung einer Rate, sei bei einem Mann wie Isidor Cohn natürlich überflüssig; wenn es sich nur um seinen geschätzten Freund handelte, würde er sie ohne weiteres streichen, aber sie schlössen doch beide nicht nur für sich, sondern auch für Erben und Rechtsnachfolger ab, und niemand auf der Welt, auch Herr Cohn nicht, könne, wenn ihm etwas passieren sollte, für andere, heute noch Unbekannte, gutsagen.
Flüchtig wies der Hofmarschall noch auf das ihm im Vertrage vorbehaltene Recht hin, die Ausstattung, für die er dem Herzog verantwortlich sei, zu bestimmen.
Endlich fragte er »unter uns Kavalieren«, ob Isidor auch finanziell dem Unternehmen gewachsen sei.
In Isidor regte sich die Sucht, sich aufzuspielen, – jene Sucht, die dem Adel gegenüber sein ganzes Wesen beherrschte. »Wenn Exzellenz eine Auskunft über mich einholen wollen,« antwortete er, – »ich mache jede Wette, Exzellenz werden die Mitteilung erhalten: ›Für jede Summe gut‹, – für jede Summe, verstehen mich Exzellenz? Aber, auf einen Punkt bitte ich meinerseits aufmerksam machen zu dürfen: Exzellenz fixieren wohl die Honorarzahlung, aber nicht die Ablieferung des Manuskripts. Ich meine, gleiche Rechte, gleiche Pflichten.«
Der Hofmarschall zeigte sich leicht verstimmt »Mein Bester,« sagte er abweisend, »ich betrachte diese Stipulation vierteljährlicher Honorarzahlung als ein Entgegenkommen. Sie wissen selbst, daß Autoren meines Ranges von vornehmen Verlegern sonst glatt ausgezahlt werden; das brauche ich dem Chef einer alten, berühmten Firma ja nicht erst auseinanderzusetzen. Ich aber bin bereit, mein Honorar auf sechs Jahre zu verteilen, um das Unternehmen so wenig als möglich zu belasten. – Was nun die Ablieferung des Manuskripts betrifft, so werden Sie es auf Stunde und Minute erhalten; alles ist im Entwurf fertig, und nur die letzte Retouche fehlt. Wenn ich mich trotzdem nicht vertraglich binde, so hat das seinen besonderen Grund. Ihnen gegenüber täte ich es natürlich ohne weiteres, aber Sie wissen, – die ›Erben und Rechtsnachfolger‹! Der Grund ist einfach der: Hoheit beabsichtigen sich bei der definitiven Genehmigung zur Herausgabe die Durchsicht – Höchstselbst oder durch einen Vertrauensmann – vorzubehalten. Das ist bei solchen Publikationen stets üblich. Nun kann ich doch nicht eines Tages zum Herzog gehn und sagen: ›Wollen Hoheit mir mal schleunigst mein Manuskript zurückgeben!‹ Das sehen Sie wohl ohne weiteres ein. Es kann also vorkommen, daß sich die Ablieferung um ein, zwei Tage verzögert. Und nur weil ich gewöhnt bin, übernommene Verpflichtungen auf das Peinlichste zu erfüllen, muß ich mir hierin etwas freie Hand vorbehalten. Mein lieber Cohn, – Sie haben es schließlich doch auch nicht mit einem unbekannten Skribifax zu tun!«
Aber Isidor fühlte sich unbehaglich. Instinktiv witterte er hier einen wunden Punkt, wenn er es auch nicht wagte, dem empfindlichen Aristokraten zu widersprechen. Wie leicht konnte der Graf ein Bedenken persönlich auffassen! Was dann? Der Hofmarschall des Herzogs, der Vormund der Komteß Dora von ihm, Isidor Cohn, brüskiert! Jetzt, wo jede Drehung der Schiffsschraube Trettach der Heimat näher trug! Isidor mußte einen Ausweg finden, um Zeit zu gewinnen, die Sache hinzuziehen ...
»Euer Exzellenz,« sagte er, indem er sich den Schweiß von der Stirn trocknete, »vor allem eins: Ich fühle mich Ihnen für Ihr Vertrauen zu lebhaftem Dank verpflichtet. Aber ich muß mir einen so weittragenden Entschluß denn doch überlegen. Ich habe auch einen alten Prokuristen hier, mit dem ich gewohnt bin alle geschäftlichen Pläne durchzusprechen. Natürlich bin ich der Chef, verstehen Exzellenz mich wohl! Also, – ich verspreche bis ... bis morgen definitive Antwort.«
Eine Wolke zog über das Gesicht des Hofmarschalls, aber er beherrschte sich. »Abgemacht,« antwortete er ruhig, mit dem Anziehen der Handschuhe beschäftigt. »Das Manuskript behalten Sie wohl hier?«
Isidor nickte.
»Bis morgen mittag, nicht wahr?« fuhr die Exzellenz fort. »Ich muß spätestens übermorgen Vortrag über den Stand der Angelegenheit halten. Hoheit zeigen gerade neuerdings ein erstaunliches Interesse an der Sache.«
Und von dem eifrig um ihn bemühten Isidor gefolgt, schritt er dem Ausgang zu.
»Herr Cohn,« sagte am nächsten Morgen der Prokurist Goldschmidt, »schreiben Sie dem Hofmarschall ab, unter allen Umständen! Ich habe denkbar niedrigst kalkuliert: Solch ein Band, wie der hier, mit seinen Beilagen in Vier- und Fünffarbendruck auf teurem Dokumentpapier stellt sich mindestens auf 18 000 Mark; das sind, wenn die folgenden Bände nicht noch stärker werden, 180 000 Mark, mit Honorar also 300 000 Mark Herstellung, ohne die Kosten der Verzinsung, Vertrieb- und Handlungsspesen, die auf mindestens 20 000 Mark kommen. Das ist ein Unternehmen, mit dem die Firma steht und fällt.
»Den Absatz der Luxusexemplare setze ich mit Null an; solche Werke werden den hohen Herrschaften dediziert, aber nicht gekauft. Im Auslande bezieht kein Mensch, außer etwa einigen Bibliotheken, das Werk. Hier bei uns will ich von der gewöhnlichen Ausgabe auf fünfhundert Exemplare Absatz rechnen, und auch das erst, wenn das Werk komplett ist, also nach sechs Jahren. Bei dem Rabatt und den Krediten, die wir dem Reisebuchhandel geben müssen, da wir direkt nichts vertreiben können und dürfen, ergibt das rund 60 000 Mark Ertrag. Die Unterbilanz ist also im günstigsten Falle 260 000 Mark, immer angenommen, daß Sie überhaupt Manuskript erhalten und das Unternehmen durchführen können. Stirbt der Autor, der doch kein Knabe mehr ist, so sitzen wir ganz fest.
»Herr Cohn, es ist meine Pflicht nachdrücklich hervorzuheben: Das Werk wäre der Ruin der Firma Siegfried Cohn! Zu solchem Unheil biete ich nicht die Hand. Es liegt mir fern, mich aufzuspielen oder gar zu drohen; aber in der Stunde, Herr Cohn, in der dieser Vertrag von Ihnen unterschrieben wird, geht der alte Goldschmidt seiner Wege. Dann steuert die Firma, unsere alte, gute, solide Firma in ein Fahrwasser, in dem ich nicht Bescheid weiß. – Guten Morgen!«
Und Isidor kämpfte, einsam an seinem Pulte sitzend, den entscheidenden Kampf seines Lebens. Sein Gewissen rang zwischen Ja und Nein. Sein guter Geist wies ihn mit ernster Hand auf den schmalen Pfad treuer, unbeirrter Arbeit zum Segen des Verlags, den Großvater und Vater gegangen waren. Einen Augenblick schrie seine Seele auf nach dem schlichten Glück selbstloser; Pflichterfüllung, frei von dem gährenden Ehrgeiz, der ihm nur ruhelose Tage und Nächte gebracht, ihm den festen Boden unter den Füßen entzogen. Und dann wieder sah er sie greifbar vor sich, das Weib, nach dem seine Seele lechzte, jede Linie, jede Biegung in unheimlicher Deutlichkeit. Er, stöhnte auf, wie von einem Messer ins Herz getroffen. Sie lachte ihn an, mit ihren blauen, in wechselndem Licht aufleuchtenden Augen, spröde und doch verheißend, die weißen Arme hinter der lodernden Haarflut verschränkt.
Wie eine Bleiplatte legte es sich auf sein Haupt. Mochte kommen, was wollte, er mußte sie besitzen, und wäre sie die Königin Semiramis, die ihre Buhlen nach einer einzigen heißen Liebesnacht im grauenden Morgen in den Tod sandte. Tiefaufatmend griff der gequälte Mann zu einem Briefbogen und schrieb mit fliegender Hand:
Exzellenz!
Ew. Exzellenz
beehre ich mich im Anschluß an unsere heutige Unterredung sehr ergebenst mitzuteilen, daß ich mich hiermit rechtsverbindlich verpflichte, am Morgen meiner Hochzeit mit Ihrem Mündel, Komteß Dora Holm, den mir von Ew. Exzellenz vorgelegten Vertrag zu unterzeichnen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
habe ich die Ehre zu sein
Ew. Exzellenz
sehr ergebener
Isidor Cohn.
Er erhielt keine Antwort. Als aber der, Hofmarschall einige Tage später seinen Weg kreuzte, winkte er ihm auf seinen ehrerbietigen Gruß freundschaftlich mit der Hand zu.
Sie saßen schon lange zusammen, in heimlicher, erregter Aussprache, der Hofmarschall, Gräfin Thekla und der Hofprediger. Graf Erich war zunächst zum Hofprediger gegangen; und als diese beiden sich einig waren, kamen sie zur Gräfin. Gräfin Thekla war zuerst wie vor den Kopf geschlagen. Dieser Isidor Cohn! Dieser ängstliche, verlegene Mensch, der förmlich um Entschuldigung flehte, wenn er ihr seine blauen und braunen Scheine aufdrängte, dieser Jude wagte es, seine Augen zu einer Komteß Holm zu erheben. Gräfin Thekla war außer sich, um so empörter, als sie der Herzogin-Mutter sein Lob in allen Tonarten gesungen hatte. Was sollte sie tun? Isidor Cohn abweisen und sich damit selbst desavouieren? Sich, wenn das Gerücht von dem Korbe durchsickerte, den die Komteß diesem Cohn erteilt, den Vorwurf von höchster Stelle zuziehen, daß sie doch wohl nicht den nötigen Takt, die wünschenswerte Reserve gezeigt, daß sie an Vorsicht es habe mangeln lassen? Sie wußte, wie empfindlich man oben war, wie man jeden Eklat im Lande als persönliche Kränkung empfand. Schon einmal hatte man allerlei über Dora gemunkelt, wenn auch ohne jeden Sinn und Verstand, zu jener Zeit, als Trettach nach Afrika ging, und schon damals hatte die Herzogin-Mutter eine ganz, ganz leise Andeutung fallen lassen, bei der Gräfin Thekla das Herz stillstand. Das zweite Mal würde es nicht so glimpflich abgehn. Sie hatte nichts im Leben an Sonnenschein, als die Gunst der hohen Frau, keine andere, Aufgabe, als ihr Wirken im Dienste der Wohltätigkeit unter dem Schutze der Herzogin-Mutter. Fiel sie bei dieser in Ungnade, so war sie fertig, wie ein Spahn, der vom Floß absplittert und hilflos im Strome treibt. Sie wußte, die Herzogin-Mutter wünschte diesen Mann festzuhalten, und beide hatten bereits stark mit seinen Beiträgen gerechnet. Gerade auf heute Abend war eine Sitzung des herzoglichen Hilfsvereins angesetzt, zu der Isidor auf Veranlassung der Gräfin hin eingeladen war. Wer konnte wissen, ob er nicht wieder wie beim Hofmarschall seine Hilfe von persönlichen Bedingungen abhängig machte? Wohin sie sah, nichts als Ärger, Sorge und Aufregung! Und ihre Erbitterung gegen Isidor übertrug sich auf die unschuldige Dora.
Allmählich beruhigte sie sich unter dem Zuspruch der beiden Herren, und noch keine halbe Stunde war vergangen, als sie in ihrem Egoismus sich schon völlig mit dem Gedanken versöhnt hatte und sich selbst für diese Verbindung einzusetzen bereit war. Die drei beschlossen, vor allem erst einmal Dora selbst zu sondieren. Sie wurde hineingerufen.
In ihrem schlichten, dunkelblauen Hauskleid machte sie einen doppelt lieblichen Eindruck. Sie sah den Ernst des Vormunds, die feierliche Miene des Seelsorgers, den roten Kopf der Tante, und ein unbestimmtes Angstgefühl beschlich sie.
»Meine liebe Dora,« begann der Hofmarschall im knappen Ton, der seine eigene Unsicherheit verbergen sollte, »ich habe dir als Vormund eine Mitteilung zu machen, die dich wohl ebenso wie uns überraschen wird. Es hat ein Mann um deine Hand angehalten, – eine Werbung, die ihre schwere Bedenken hat, jedoch auch Vorteile bietet, die immerhin nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sind.
»Wir müssen ruhig deine ganze Lage erwägen: Wir Holms sind arm. Was ich hinterlasse – eine Lebensversicherung –, genügt gerade als angenehmer Zuschuß für Alex, der anscheinend Junggeselle bleiben will. Daß die Tante ihren Hausstand nur mit Hilfe der ihr in Anerkennung ihres humanitären Wirkens bewilligten Subvention aufrecht hält, weißt du selbst. Laß uns nun beide die Augen schließen – ich bin über die Sechzig, und die Tante nur zwei Jahre jünger – so stehst du allein in der Welt. Dann kannst du als Kinderfräulein oder Klapperschlange dein Brot verdienen. Es ist bitter hart, das aussprechen zu müssen, aber es ist notwendig. Und nun kommt unvermutet dieser Antrag, der dir eine behagliche, fast glänzende Existenz sichert. Es ist kein Mitglied unseres Standes; aber wie aussichtslos es für dich ist, auf einen solchen Bewerber zu warten, das wirst du dir selbst schon gesagt haben. Wer nichts hat, kann keine arme Frau nehmen; und reiche Freier sehen darauf, daß Geld zu Geld kommt. Das klingt ebenso nüchtern und schroff, wie es leider wahr ist. Ich möchte dich also bitten nicht aufzufahren, sondern ruhig zu überlegen, wenn ich dir den Namen nenne. Es ist Herr Isidor Cohn.«
Dora prallte zurück, bis in die Lippen blaß, aber sie antwortete nichts.
»Herr Cohn,« fuhr der Hofmarschall fort, »ist nun bereits besonderer Aufmerksamkeit gewürdigt worden, Seine Hoheit unser gnädigster Herzog und Herr hat ihn für die Herausgabe meines Werkes in Aussicht zu nehmen geruht.« Für gewöhnlich nannte der Hofmarschall im engen Kreise seinen Souverän: »Der junge Mann«, aber er konnte es auch anders. »Höchste Gnade und Wohlwollen ist ihm also sicher, und das würde auch auf die Stellung seiner Gattin in der Gesellschaft zurückwirken. Daß Prinz Lothar sich abfällig über ihn geäußert hat, will ich dir nicht verhehlen. Das aber kann Herrn Cohn nur zur Ehre gereichen und ihm Vorteil bringen; denn man pflegt höchsten Orts, wenn Prinz Lothar eine Meinung vertritt, mit Vorliebe stets der gegenteiligen Ansicht Geltung zu verschaffen.«
Dora saß still, als höre sie ferne Worte, deren Sinn sie nicht verstand.
Sie sah ihren stolzen, prächtigen Vater vor sich, der so ganz anders gewesen, als der Onkel, der lachend gelebt und freudig in den Tod gegangen war; sie sah die sanfte, liebliche Mutter, die ihre Lebenskraft aus dem sonnigen Wesen ihres Gatten getrunken, nach seinem Tode ohne Klage erloschen war, wie eine zarte Blume, der die Hand des Gärtners fehlt. Sie sah sich selbst als schüchternen jungen Backfisch im düsteren Trauerkleide, wie die Tante sie holte und aus dem verödeten Elternhaus hinweg in die Residenz führte, wo niemand sie kannte, niemand sie liebte. Die Tante war nicht schlecht, aber das innerste Wesen des Kindes, die Sehnsucht der Jugend war ihr fremd geblieben; nüchtern und klug, war sie im Zwange des Hoflebens, in der Sorge um ihre Existenz glatt und geschmeidig geworden. Sie sah, wie wandelbar die Stimmung am Hof war, wie das Gift der Verleumdung fast immer tötlich wirkte, wie heute einer am Boden lag, verfehmt und bespieen, dem gestern noch die Gnadensonne warm gelächelt. Und so hatte sie gelernt, die Form der Sache voranzustellen, eine Lüge, die Schlimmes verschönigte, Faules verdeckte, der ehrlichen, aber schonungslosen Wahrheit vorzuziehen; sie wußte, daß es immer eine Torheit ist, gegen den Strom zu schwimmen, und daß man klugerweise mit den Wölfen heult, wenn höchsten Orts das Geheul der Wölfe beliebt wird; so hatte sie notgedrungen darauf verzichtet, aufrecht durch das Leben zu gehen, sich gewöhnt, instinktiv die Stimmung des Tages zu wittern, mit ängstlichen Augen an den Lippen der entscheidenden Instanzen zu hängen, immer bereit, blitzschnell die Meinung zu wechseln und sich dem Urteil des Höheren bedingungslos unterzuordnen. Und Dora dachte an alle die langen Jahre im Schatten ihres neuen Heims, erfüllt von Berechnung und Eigennutz, von Neid und Kabalen unter dem Mantel der Religiosität, dem Banner der Menschenliebe. In diesem Hause war »dem unbekannten Gotte« ein Altar errichtet, dem gelben, gleißenden Golde, das nie seinen Weg über diese Schwelle gefunden. Es war nicht Schuld der Tante allein, es war der Geist der ganzen Wohltätigkeits-Organisation. Nur zu oft hatten Gräfin Thekla, der Hofprediger und andere vor den Ohren des Kindes erbittert beraten, wie dem Betrug und Diebstahl ein Riegel vorgeschoben werden konnte; schon in jungen Jahren hörte sie, wie Unsummen in den Händen von Frauen zerrannen, die ihrer Stellung halber nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten; wie der Ertrag von Wohltätigkeitsfesten in sinnlosem Luxus, in höfischen Ehrungen vergeudet wurde; wie man offen von den Provisionen sprach, die mittellosen Komiteemitgliedern mit klingenden Namen von Handwerkern gezahlt wurden, die dann mit Riesenforderungen sich schadlos hielten; wie man mit scheelen Augen auf die gebauschten Pompadours blickte, in denen die armen kleinen Komtessen und Baronessen, die in den Bazaren die Stände übernommen, die Hälfte der Einnahmen unter Kuchen und Früchten forttrugen, wie man sie zähneknirschend gehen ließ, um keinen Eklat heraufzubeschwören. Und über all dieser Fäulnis schwebte mit weißen Schwingen der Engel der Barmherzigkeit, klang inbrünstig die weiche, salbungsvolle Stimme des Hofpredigers, wenn er die opferfreudige Hingebung seiner »teuren Kinder« rühmte, der jungen Aristokratinnen, die halbnackt, mit werbenden Augen und koketten Gesten die Herren an ihre Stände heranlockten, an ihren Gläsern nippten, ihnen die Zigaretten anbrannten und die gekauften Rosen küßten, um wie die Dirnen das Geld aus den Taschen zu locken. Selbstsucht und Eitelkeit, Heuchelei und Geldgier, – das waren die Götter, zu denen alles betete. Und Jahre hindurch wurde ihr immer wieder das erste Gesetz eingeprägt, das Verheißung hatte: Du bist jung, du bist schön, du bist arm. Jugend und Schönheit vergeht, nur die Armut besteht. Nutze die flüchtigen Jahre, in denen dein taufrischer Reiz die Männerherzen betört, sichre dir für das Alter ein Leben voll Freude und Glanz! Zeig' ihren spähenden Blicken die schlanken Arme, die knospende Brust, doch werde zu Eis, wenn ihnen der Duft deines Leibes die Sinne verwirrt! Lache und locke sie an, mit wissenden, Wonne verheißenden Augen, aber zerfließe in Tränen, wenn eine Hand dich berührt, ein Wort dich entweiht! Öffne, wie Danae einst, deinen Schoß nur dem Gatten, der ihn zum Lohne mit rieselndem Golde füllt! Sieh um dich her, – sie alle treiben es so, alle die Genossinnen, die um ihres Namens willen nicht betteln dürfen, wenn sie hungrig sind, die sterben, wenn sie nur ihrem Herzen folgen ...
Das alles ging nicht spurlos an Dora vorbei, konnte es nicht. Ein Kind ist das Geschöpf seiner Umgebung. Aber ganz überließ sie sich doch nicht diesen Einflüssen; denn seit ihrer Jugend Tagen trug sie ein scheues, tief verborgenes Glück mit sich herum, die innige, zähe Liebe zu ihm, Hans Joachim von Trettach.
»Und noch eins mußt du bedenken, Dora,« hörte sie die Tante in ungewohnt schmeichelnder Süße sagen, »daß auch Ihre Hoheit die Herzogin-Mutter die besten Absichten mit ihm hat. Er soll Höchstderselben heut sogar vorgestellt werden. Nur ein edler Mensch hat solche offene Hand für fremdes Leid wie er; das ist auch oben die Ansicht, und bei dem großen Einfluß der Herzogin-Mutter fällt ihre Gunst noch schwerer ins Gewicht, als die des regierenden Herrn. Ich kann dir, wenn du dich entscheidest die Werbung anzunehmen, die Gunst der hohen Frau in sichere Aussicht stellen. Und das muß, nebenbei bemerkt, auch deiner Tante zugute kommen, die treuen Herzens so lange Jahre Mutterstelle an dir vertreten, so viele Opfer für dich gebracht hat, und der das Leben zu erleichtern dir gewiß doch Freude macht.«
Noch immer starrte Dora regungslos vor sich hin. Sie sah ihn vor sich, dem ihr ganzes Herz gehörte, und deutlich hörte sie seine tiefe, sympathische Stimme: »Liebe Dora! Liebe, süße Dora!«
Sie waren beide noch Kinder, er ein Kadett von vierzehn, sie neun Jahre, als Alex Holm ihn zum erstenmal über die Ferien in ihr Elternhaus mitbrachte. Als beide dann in die Residenz gekommen waren, schmiegte sie sich in ihrem verwaisten Herzen, in ihrem Bedürfnis nach Liebe an ihn an, wie ein Kätzchen sich an einen guten Freund heranschmeichelt. Er hatte es gelitten, selbst einsam und trüb, zur Verschlossenheit neigend, unter dem Druck der häuslichen Verhältnisse. Und aus dem gegenseitigen Mitleid, der Sehnsucht nach Verständnis und Teilnahme war langsam zwischen ihnen die Liebe erwachsen, nicht die, die wie ein Wettersturm über uns hereinbricht, den Willen lähmt, die Sinne verwirrt, – nein, die Liebe, die langsam erstarkt, wie die Tanne ihre Wurzeln um den Felsblock klammert und selbst im Todessturz nicht von ihm läßt. Sie waren eins, für immer, ohne es sich zu sagen, ohne es klar zu empfinden, äußerlich wie Geschwister, innerlich so verschmolzen, daß keine Regung, kein Gedanke des einen dem andern fremd blieb, daß sie sich nur anzublicken brauchten, um zu wissen, was des anderen Seele erfüllte. Kein Stammeln, kein Rasen, kein Kuß, nur fern voneinander die wehe Sehnsucht, als ob ein Stück unseres Herzens uns fehlt, nur beieinander das Gefühl gesättigten, wunschlosen Glücks. Und dann kam der Tag, wo er vor ihr stand, um ihr zu sagen, daß der Dampfer auf ihn warte, der ihn als Schutztruppenoffizier nach Afrika bringen sollte. In dieser Stunde, in der einen Sekunde, in der sie das Unglaubliche erfaßte, wurde sie Weib. Sie waren allein, die Tante bei Hofe, das Mädchen auf dem Markt. In ihrer Verzweiflung warf Dora all die Scheu von sich, all das Keusche, das ihre Liebe bisher verhüllt, wie leichte Wolken ihren Schleier über den goldenen Mond breiten. Wie eine Irre klammerte sie sich an ihn, warf sie sich auf ihn, schrie sie auf, daß sie ihn nicht lassen könne, nicht lassen wolle. Er hatte innerlich schon überwunden, er glaubte sich fest; aber angesichts dieses brennenden Schmerzes, dieser ungeahnten Leidenschaft fühlte er, wie seine Kraft nachgab. Noch immer hielt sie ihn wie mit Schrauben fest, stieß sie sinnlos zwischen den zusammengebissenen Zähnen Worte hervor, die er nicht verstand. Dann plötzlich begriff er sie: In die Fremde wollte sie mit ihm gehen, selig in Jammer und Not; hungern an seiner Seite, frieren, kein Hemd auf dem Leibe, in sturm- und regendurchpeitschter Dachkammer, aber bei ihm, für ihn! Und immer wirrer wurden ihre Worte: Sie wisse nicht, wie und warum, aber sie wisse, daß das Weib des Mannes Sonne ist. Sie sei jung, sie sei rein. Er möge mit ihr tun, was er wolle, was sein Herz sich wünsche, und wenn es ihr Tod sei, – nur bleiben solle er, nicht von ihr gehn, sie, die ihn liebe, nicht elend machen ... Und mit flackernden Augen, mit fliegenden Händen riß sie ihr Kleid auf. Schimmernd blühte ihm ihre Brust entgegen.
Er wich zurück, weiß wie der Kalk an der Wand. Er liebte, begehrte sie, aber er war ein Edelmann. Keinen Augenblick dachte er daran, sich ihre Herzensangst zunutze zu machen. Doch als sie vor ihm stand, mit den großen, blauen Augen ihn verzweifelt ansah, die Hände in die aufgerissene Taille vergraben, als er zum erstenmal erkannte, welchen Schatz von Liebe er in der Heimat zurückließ, da schlang er doch mit feuchten Augen die Arme um sie, küßte sie wie ein Rasender auf die roten Lippen, auf das goldig flutende Haar, die weiße Brust ... Müde, mit geschlossenen Augen, wie nach einem Krampfanfall, lag sie in seinen Armen; und zwischen den Küssen, die sie überrieselten, hörte sie ihn leise flüstern: »Liebe Dora! Liebe, süße Dora!« Sie fühlte, wie er sie auf ein Sofa bettete, still bei ihr stand, – und plötzlich, als sie die Augen aufschlug, war sie allein. Und von dieser Stunde an, mehr als zwei Jahre, hatte sie kein Lebenszeichen von ihm erhalten, keine Zeile, keinen einzigen Gruß.
»Als berufener Diener des Herrn, meine teure Dora,« hörte sie den Hofprediger schmeichelnd sprechen, »möchte ich auch noch eins hervorheben. Es ist selbstverständlich, daß der Gatte einer Komteß Holm nur Christ sein kann. In mehrfachen Unterredungen habe ich nun zu meiner großen Freude bemerkt, daß der Gedanke an die Heilswahrheiten des Christentums, an die Lichtgestalt unseres Heilands und Erlösers in diesem Mann bereits Wurzel gefaßt hat.« Der Prediger log, zum höheren Ruhme seiner Kirche, wenn auch mit der innerlichen Entschuldigung, daß er nur sicher zu erwartenden Ereignissen vorgriff. »Auch diese Hoffnung wird, mein liebes Kind, an höchster Stelle geteilt. In deiner Hand liegt es also, ein Menschenkind dem wahren Glauben, unserer reinen, geheiligten Lehre zuzuführen. Natürlich bin ich weit entfernt ...«¦
Die Worte klangen in ihr Ohr, ohne ihr zum Bewußtsein zu kommen. Hans Joachim kam zurück, – in wenig Wochen. In der Zeit, die seit dem Abschied vergangen, hatte sich ihr das Geheimnis des Lebens, das Mysterium der Geschlechter enthüllt; in manchen Konferenzen bei der Tante, die das Schicksal der gefallenen Mädchen betrafen, hatte sie Dinge gehört, die sonst den jungen Mädchen verborgen bleiben.
Sie war sich jetzt darüber klar, was sie getan; sie hatte ihren Leib vor ihm enthüllt, war vor ihm zur Dirne geworden. Und er hatte sie verschmäht, wie man ein Weib auf der Straße zurückweist. Sie wußte, er konnte sie nicht heimführen, selbst wenn er sie noch liebte; aber sie wußte nicht, ob er sie nicht verachtete, mit Recht verachtete, ob er dort unten nicht ein anderer geworden, der mit zynischem Lächeln des Mädchens gedachte, das sich für eine Stunde des Abschieds ihm angeboten. Und sie zitterte vor dem Wiedersehn, wie der Verurteilte vor dem Henker. Er würde sie wiederfinden, wie er sie verlassen, als arme Komteß von der Tante Gnaden, die noch kein Mann zur Ehe begehrt; er würde froh sein, sich selbst nicht gebunden zu haben, frei wählen zu können unter den jungen, reichen Mädchenblüten im Lande, er der tapfere, stolze, vom Zauber des fernen Afrika umwobene Mann. Und er würde jedes Zusammensein vermeiden, ihr mit verletzender Kälte begegnen, aus Angst, daß sie in einem neuen Anfall sich und ihn zugleich kompromittieren könnte.
»Auch das ist zu erwägen,« vernahm sie wie aus weiter Ferne die Stimme des Oheims, »ob wir den Mann zu einer Namensänderung bewegen und später vielleicht adeln lassen.«
Wenn Hans Joachim kam und sie als Braut wiederfand? Wenn er sah, daß sie auf ihn verzichtet, daß ein anderer sie, die er kalt verschmäht, begehrt hatte, daß eine Schranke zwischen ihnen errichtet war für alle Zeit? Vielleicht, daß er, dann in einsamen Stunden doch ihrer gedachte, daß doch die heiße Sehnsucht, die bittere Reue in ihm emporquoll, wenn seine Seele vergebens nach ihr schrie! War das nicht die einzige Antwort auf seinen Abschied, die Rache, die doppelt süß ist, wenn sie verschmähter Liebe entspringt?
»Da wir nun einmal unter uns sind,« klang plötzlich die scharfgewordene, ungeduldige Stimme der Tante, »– denn ich darf Sie, mein lieber, verehrter Herr Hofprediger doch wohl zu uns rechnen –, so kann ich dir auch eins nicht verschweigen, Dora. Ich meine Hans Joachim. Harmlose Jugendfreundschaft, wirst du sagen. Aber war das wirklich alles? Selbstverständlich, daß nichts passiert ist, – das wäre ja auch noch schöner, nach all den Vorbildern, die du im Leben gehabt! War es jedoch nötig, daß du nach seinem Abschiedsbesuch, der mich leider nicht antraf, wie eine Verrückte tobtest? Nötig, daß du wochenlang mit rotgeheulten Augen vor aller Welt herumliefst, durch dein exaltiertes Benehmen jeder Medisance Tür und Tor öffnetest, bis zu den höchsten Herrschaften hinauf? Wo du genau doch wußtest, wie trostlos die Verhältnisse lagen? – Nun, was man sich eingebrockt hat, das muß man eben ausessen. Und wenn seitdem die Freier aus unseren Kreisen fern geblieben sind, wenn jetzt dieser Herr Cohn wirklich der erste ist, der sich an dich heranwagt, so beweist mir das, wie wenig man dir diese Episode vergessen hat. Da heißt es eben seine Ansprüche herabschrauben, sich hübsch klein machen und froh sein, wenn sich noch einer findet, der keine Ahnung von diesen kompromittierenden Vorgängen hat. Ich brauche wohl nicht deutlicher zu werden, mein Kind?«
Dora blickte auf. Noch immer saß sie mit gefalteten Händen auf ihrem Stuhl. Sie sah die zürnenden Blicke der drei auf sich gerichtet. Und plötzlich tauchte der kümmerliche, unschöne, demütige Bewerber vor ihr auf, dessen übertrieben sorgfältiger Anzug seine Rasse hervorhob, wie flimmernder Schmuck ein häßliches Weib nur noch abstoßender macht. War das die Rache, die sie soeben geplant? Verkauft an den Juden, sie, die einen Hans Joachim geliebt? Aus seinen großen, ernsten, ehrlichen Augen würde die Verachtung sie peitschen, mit höhnendem Blick würde er über sie hinwegsehn ...
»Hast du nun lange genug überlegt, Dora?« fragte die Tante wieder mit zornbebender Stimme.
Dora erhob sich. »Ich brauche nicht zu überlegen,« sagte sie fest, den Kopf trotzig zurückwerfend. »Ich danke euch für eure gute Absicht, aber meine Antwort ist: Nein!«
Und ruhigen Schrittes verließ sie das Zimmer.
Die beiden Herren waren in ihrer großen Enttäuschung aufgesprungen; nur Gräfin Thekla blieb gelassen sitzen. Und mit einem bösen Lächeln um die Mundwinkel sagte sie kalt:
»Qui vivra, verra! Der sicherste Weg zum Ja führt über das erste Nein!«
Protokoll.
Sitzung des Kuratoriums
des Viktor-Krankenhauses.
Sonnabend, den 20. Februar, nachmittags 6 Uhr, im herzoglichen Schloß.
Ihre Hoheit die Herzogin-Mutter hatte die Gnade, der Sitzung beizuwohnen. Anwesend ferner die Damen: Frau Staatsminister Dr. Merk, Exzellenz, Vorsitzende; Frau Gräfin von Schell, Frau Geheimrat Starck, Frau Gräfin Holm, Frau Oberin von Berg; die Herren Konsul Hüter, Prof. Linde, Justizrat Dr. Müller-Senden, Kommerzienrat Reichel, Stabsarzt Dr. von Sander, Herr Cohn. Tagesordnung:
1. Bericht des Schriftführers: Herr Kommerzienrat Reichel.
2. Bericht über das Viktor-Krankenhaus: Frau Gräfin von Schell.
3. Ärztlicher Bericht: Herr Stabsarzt Dr. von Sander.
4. Anträge.
Eröffnung der Sitzung um 6 Uhr 15 Minuten.
Zu Punkt 1 der Tagesordnung: Das Präsidium des Viktor-Krankenhauses hat dem Kuratorium die Zuwahl des Herrn Verlagsbuchhändlers Cohn vorgeschlagen, die einstimmig genehmigt worden ist. Herr Cohn dankt und nimmt die Wahl an. Die Vorsitzende Exzellenz Frau Staatsminister Dr. Merk heißt außerhalb der Tagesordnung Herrn Cohn willkommen und gibt im Namen des Kuratoriums der Genugtuung Ausdruck, künftig für das Gedeihen des Viktor-Krankenhauses auf seine Mitarbeit rechnen zu dürfen.
Punkt 2 der Tagesordnung: Frau Gräfin von Schell teilt mit, daß das im November des Vorjahres an den Magistrat der Residenz eingereichte Gesuch, einen Zuschuß in Höhe von zehntausend Mark für ein halbes Freibett zu dem bereits gesammelten Kapital in gleicher Höhe zu bewilligen, mangels vorhandener Mittel abgelehnt worden ist. So dringend nötig die Einrichtung eines weiteren Bettes daher sei, müsse von der Einrichtung eines solchen bis auf weiteres leider abgesehen werden. Herr Verlagsbuchhändler Cohn erklärt, daß er bereit ist, diese zehntausend Mark zu zahlen; für diese großherzige Stiftung wird Herrn Cohn in feierlicher Weise der Dank des Kuratoriums ausgesprochen.
Zu Punkt 4 der Tagesordnung werden keine Anträge eingebracht. Die Frau Vorsitzende schließt die Sitzung um 7 Uhr 50 Minuten.
Frau Minister Dr. Merk,
Vorsitzende des Kuratoriums.
Reichel, Kommerzienrat,
Schriftführer des Kuratoriums.
Es war ein schwerer Entschluß für Isidor gewesen, die zehntausend Mark zu opfern. Aber er fühlte die Augen der Gräfin Thekla wie Blei auf sich lasten und sah, wie die Herzogin-Mutter ihn durch ihr Lorgnon nachdenklich musterte. Das ernste, sorgenvolle Gesicht seines Prokuristen Goldschmidt tauchte vor ihm auf. Und dennoch fühlte er, es gab kein Überlegen für ihn, er hatte sich in dem Augenblick, als er von Gräfin Thekla der Herzogin-Mutter vorgestellt wurde und sich mit Herzklopfen als Mittelpunkt aller Blicke sah, den neuen Mächten mit Haut und Haar verschrieben.
Und dennoch war er mit sich nicht unzufrieden. Er hatte von vornherein den Eindruck gehabt, daß die Anwesenden wenig geschäftskundig waren, und einige Vorschläge, die er, mit schwankender Stimme einsetzend, zu machen wagte, hatten der hohen Frau sichtlich gefallen und widerspruchslos Annahme gefunden. Hierzu kam, daß er im Verkehr mit der Herzogin-Mutter sich keine Fehler hatte zuschulden kommen lassen. Denn wie er seit jenem Wohltätigkeitsfest sich in heißem Bemühen die Titulaturen eingeprägt, so hatte er seit acht Tagen die alte Therese zur Pseudo-Herzogin-Mutter erhoben. Er redete sie nur noch mit »Hoheit« an, bat »untertänigst« um ein Stück Seife, dankte »ehrerbietigst« für jede Handreichung. Wenn die brave, vierschrötige Therese ihm einmal widersprach oder auch nur eine Auskunft haben wollte, und Isidor mit demutsvollem Blick und gekrümmtem Rücken »Hoheit wollen gnädigst verzeihen ...« entgegnete, dann grinste ihn die brave Maid allerdings fassungslos an und murmelte im Hinausgehen, daß »die Verrücktheit noch immer zuerst im Kopf beginnt«. Mit Hilfe dieser Übungen hatte sich Isidor also in der Sitzung des Kuratoriums zu seiner vollen Befriedigung benommen; und als am Schluß sich alles erhob, um sich von der hohen Frau zu verabschieden, reichte sie ihm mit den Worten: »Auf Wiedersehen, mein lieber Herr Cohn« ostentativ die Hand, – eine Auszeichnung, die ungewöhnliches Erstaunen erweckte und Isidor sofort ein halbes Dutzend Feinde verschaffte. Und als Gräfin Thekla überdies noch freudestrahlend von der Herzogin zurückkehrte und mit lauter Stimme berichtete, daß Hoheit im Hinausgehen Herrn Cohn einen »wirklich charmanten Herrn« zu nennen geruht habe, und als sie ihm auf dem Heimwege offen und ermutigend von seinen Heiratsplänen sprach, sah Isidor den Weg zur Höhe vor sich frei. Und in überströmender Freude küßte er im Flur ihres Hauses der widerstrebenden Gräfin immer wieder die langgedienten Glacés, bis sie ihn endlich energisch heimschickte.
»Sehn Sie, mein lieber Herr Cohn,« hatte Gräfin Thekla zu ihm gesagt, »wie sehr mich Ihre Werbung überrascht hat, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Ich war wirklich zuerst recht böse auf Sie. Denn daß für beide Teile eine Heirat in ihrer eigenen Sphäre das Richtigere wäre, das liegt ja wohl auf der Hand. Dora ist noch jung, sie könnte ruhig warten. Und wenn wir schließlich doch nicht schlankweg nein gesagt haben, so waren zwei Gründe hierfür entscheidend: Der materielle, daß Dora an Ihrer Seite von jeder pekuniären Sorge für alle Zukunft befreit sein wird, und der ideelle, daß Ihr Charakter und Ihre Liebe zu Dora ihr das Glück mehr sichern, als Rang und Stand eines Mannes aus unseren Kreisen, dessen Wesen und Art diese Gewähr vielleicht nicht bietet. Manche werden das eine Vernunftehe nennen, – wenigstens von Doras Seite; aber auch das würde mich nicht kränken. Vernunftehen sind Ehen auf festem Grunde, die sehr wohl, wenn Mann und Frau sich aneinander gewöhnen, sich achten und lieben lernen, ihre Zinnen im Laufe der Zeit fröhlich in den heiteren Sonnenschein recken können; Liebesehen bauen zwar rasch bis in den Himmel hinauf, sie brechen aber oft ebenso schnell zusammen. Ob es Ihnen nun gelingt, sich Doras Herz zu gewinnen, das liegt in Ihrer eigenen Hand. Wollen Sie aber zunächst Doras Hand gewinnen, so gestatten Sie mir einen nüchternen, aber guten Rat: Bleiben Sie möglichst fern, vertrauen Sie auf mich! Alle die Bedenken, die bei meiner Nichte gegen Sie sprechen müssen, sind eng mit Ihrer Person, Ihrer Erscheinung, Ihrem Namen verknüpft. Seien Sie mir nicht böse, wenn ich das offen ausspreche, ich meine es gut mit Ihnen. Je weniger Sie in den Vordergrund treten, je eher ist es mir möglich, mit rein sachlichen, überzeugenden Gründen auf meine Nichte einzuwirken, desto sicherer glaube ich Ihnen einen Erfolg versprechen zu können. Hat sie einmal erst ja gesagt, so wird es Ihnen bei Ihrem goldenen Charakter und prächtigen Herzen nicht allzu schwer fallen, sich auch persönlich in das Herz Ihrer Zukünftigen hineinzuschmeicheln. Einverstanden? – Dann lassen Sie mich gefälligst mal los und machen Sie, daß Sie nach Hause kommen!«
Im Heim der Gräfin aber begann ein zäher, schonungsloser Kampf, so unerbittlich, wie ihn Diplomatie, Kirche und Frauenlist vereint nur gegen ein wehrloses Mädchen führen können. Dora wandte sich in ihrer Not an ihren Vetter, den Rittmeister Alex. Der hatte von nichts eine Ahnung, wetterte und fluchte in seiner grenzenlosen Überraschung gegen seinen Vater, die Tante, den Pfaffen und nicht zum wenigsten gegen diesen gottverdammten, unverschämten Lazarus; aber helfen konnte er nicht. Der schmale Trost, Dora im Notfall als Hausdame zu sich zu nehmen, konnte ihr auch wenig nützen; wußte sie doch, wie sehr die Rücksicht auf die Lästerzungen dies verbot.
Eines Abends, als sie sich zu Tisch begab, fand sie als Gäste den Hofmarschall und Isidor vor. Letzterer reichte ihr befangen einen Strauß Maréchal-Niels, die jetzt im Februar ein Vermögen kosten mußten. Noch niemals hatte Dora solche Rosen erhalten. Sie dankte stumm und stellte sie beiseite. Erst war Isidor still, in einem Gefühl, als stände er in einem hohen Dom, wo der Schritt sich von selbst dämpft, die Stimme unbewußt zum Flüsterton herabsinkt. Das Wort des alten Testaments wurde in ihm wach: Zieh deine Schuhe von den Füßen, denn das Land, das du betrittst, ist ein heiliges Land! Allmählich aber wich die Befangenheit von ihm. Er hatte ein Bild von Recha mit, scheinbar zufällig, das er Dora zu zeigen wagte. Sie sah es nachdenklich an; sie begriff nicht, wie dieser Mann eine so liebliche Schwester haben konnte. Und nun nahm der Hofmarschall und die Gräfin das Gespräch in die Hand; jede scheinbar noch so harmlose Frage bot Isidor Gelegenheit, seine persönlichen und materiellen Verhältnisse in das rechte Licht zu setzen. Mit seltenem Geschick ging Isidor auf die ihm zugeworfenen Stichworte ein; endlich prahlte, log er sogar, aber immer in verschleierten Wendungen, ohne sich jemals mit Zahlen festzulegen. Er klagte über seine Einsamkeit, seine Sehnsucht nach einem Heim. Er knüpfte an die Wohltätigkeitsvorstellung an, in der er Dora zum erstenmal gesehn, und entwickelte die Gedanken über Heine, die ihm damals durch den Kopf gegangen waren: Daß wir alle ein Ideal in der Seele tragen, lieb und weh zugleich, und daß aus Heines spottgetränkten Versen ein so wahnsinniger Schmerz nach diesem Ideal hervorschrille, daß er, Isidor, nur mit gekrampftem Herzen seine Lieder lesen könne. Wie einst in Mainz die edlen Frauen den Heinrich Frauenlob zu Grabe getragen, so hätte nicht sein französisches Weib allein, nein Alldeutschlands Frauen den siechenden Dichter pflegen und trösten müssen, der wie keiner vor ihm das bittere Leid des Mannesherzens durchlitten, dem keine junge Liebe Blumen über den Weg gestreut.
War es das hohe Ziel, das ihn begeisterte, war es der Mut der Verzweiflung, oder hatte der Verkehr in hohen Kreisen schon vorteilhaft auf ihn eingewirkt, – Isidor sprach gut. Er redete ohne seine sonst so aufdringliche, abstoßende Unterwürfigkeit; seine Augen sprühten, sein Gesicht war in seiner Häßlichkeit fast schön zu nennen. Und als er in später Stunde mit dem Hofmarschall ging, reichte Dora ihm zögernd die Hand.
Es kam wie es kommen sollte! Sie war kein eiserner Charakter, und steter Tropfen höhlt noch immer den Stein. Gräfin Thekla triumphierte angesichts der Fortschritte, die Isidor sichtlich machte, und die sie sich und ihrer Geschicklichkeit zuschrieb. Und als an einem Sonntagmittag, im Anfang März, ein Telegramm eintraf, wonach Trettach in Hamburg angelangt war, gerade als Isidor wieder mit dem Hofmarschall zu Gaste war, – als Onkel und Tante sich dann nach Tisch »für fünf Minuten« zur Siesta zurückzogen, faßte Isidor Mut.
Schon ehe er den Mund zu öffnen wagte, trat ihm der Schweiß aus allen Poren; ihm war ausgesprochen schlecht. Er erinnerte sich, einmal, oben auf dem Gotthard, als ihn die Bergkrankheit befiel, sich ebenso schwindlig gefühlt zu haben. Das Haar klebte ihm an der Stirn, seine Hände waren kalt. Aber gerade in diesem Zustande traf er den richtigen Ton. Er sprach kurz, bescheiden, abgebrochen. Er sagte ihr, er sehe es selbst als Vermessenheit an, seine Augen zu ihr zu erheben. Aber es sei stärker als er. Er verlange noch keine Liebe von ihr; aber er glaube immerhin ihrer Achtung nicht unwert zu sein. Er würde sich natürlich taufen lassen. Und er wolle sie auf Händen tragen; was Liebe und Anbetung nur ersinnen könne, wolle er ihr bieten, – eine sorgenlose Zukunft, ein glückliches Heim und so weit sie es annehme, sein ganzes treues, ergebenes Herz.
Sie sah beklommen vor sich hin; allmählich, während er immer leidenschaftlicher auf sie einsprach, irrte ihr Blick über das Zimmer und klammerte sich an das Telegramm, das der Onkel hatte liegen lassen. Und noch als sie ihm das Jawort gab, bohrten sich ihre von Tränen verdunkelten Augen fest in das gelbliche, gebrochene Papier, das Hans Joachims baldige Rückkehr meldete.
Isidor war wie von Sinnen, sein Hirn konnte das übermenschliche Glück nicht fassen; er glich einem Manne, dem in der Stunde der tiefsten Not das große Los beschert wird, einem Kinde, das mit erschrockenen Augen vor dem Weihnachtstisch steht und das lang und heiß begehrte, kaum erhoffte Geschenk vor sich aufgebaut sieht. Wie ein begnadigter Verbrecher neben seinem Richter, saß er an Doras Seite, mit vor Erregung zugeschnürter Kehle, immer in Angst, daß alles nur ein Traum sei und das Erwachen mit seiner furchtbaren Enttäuschung folgen müsse. Er wagte sie nicht mit dem kleinen Finger zu berühren, wie er sich nicht getraut hatte ihr den Brautkuß zu geben. Ihr Ernst flößte ihm heimliches Bangen ein, während sein Auge verstohlen über ihre Gestalt glitt, an ihrer Brust, ihren Knieen haftete, während er sie in Gedanken entkleidete, mit Riesenkraft sie an sich riß. Die Vorstellung, daß er in Wirklichkeit einst schauen und erleben sollte, was er in wüsten Träumen Nacht um Nacht vor Augen gesehn, in kochendem Begehren sich ausgemalt, versetzte ihn in Fiebergluten. Und während er sich gelobte, mit seinem ganzen Leben ihr für diesen Tag zu danken, während er halb zaghaft, halb triumphierend auf die vielen Fragen der freudig überraschten Gräfin und des hochbefriedigten Hofmarschalls antwortete, huschten gierige Wünsche durch seinen Geist, Bilder von schrankenloser Sinnlichkeit, von denen er selbst nicht begriff, wie seine Phantasie sie gebären konnte. Und dennoch wagte er, als er beim Abschied in die leeren, verzweifelten Augen seiner Braut sah, wiederum nicht sie zu küssen.
Am nächsten Morgen sandte er ihr unter Rosen ein prachtvolles Kollier. Den Tag darauf erhielt ihr Vormund, der Hofmarschall, ein Dokument, worin Isidor ihr notariell dreihunderttausend Mark in Form einer ersten Hypothek auf sein Haus vermachte, die zu ihren Lebzeiten von beiden Seiten unkündbar war, bei ihrem Tode, falls Kinder aus ihrer Ehe vorhanden waren, auf diese überging, im anderen Falle an den Ehegatten zurückfiel.
Von dieser Hypothek erfuhr der alte Goldschmidt nichts.
Der Hofmarschall, der längst die Absicht gehabt hatte, vor der Veröffentlichung der Verlobung eine gleiche Aufforderung an ihn zu richten, kam, hocherfreut über die Höhe der Summe, schüttelte ihm die Hand und nannte ihn einen »anständigen Kerl«.
Die Karten wurden versandt. Sie flatterten hinaus und schlugen wie eine Bombe ein. Da aber die Herzogin-Mutter, wie unter den Hofnachrichten im Regierungsblatt zu lesen war, am gleichen Tage das junge Brautpaar mit Gräfin Thekla zu sich befohlen, und da es durchsickerte, daß auch der junge Herzog in Begleitung des Hofmarschalls bei seiner Mutter erschienen war und sich einige Minuten mit dem Brautpaar unterhalten hatte, regnete es Glückwünsche und Besuche in das Haus der Gräfin Thekla.
Isidor kam jeden Abend; auf Anregung der Tante duzte sich das Brautpaar, und auch sie und der Hofmarschall boten dem Bräutigam das Du an. Sonst änderte sich nichts. Dora blieb sich immer gleichmäßig, nicht abweisend, wozu sie auch keine Gelegenheit hatte, aber auch nicht eine Linie entgegenkommend, immer wie abwesend mit ihren Gedanken.
Die Tante suchte sie bei Isidor zu entschuldigen: Dora sei noch ein reines Kind; alles was sonst so oft die Seele der Jugend vergifte, das sei ihr fremd geblieben. Ein Kleinod sei ihm beschert, als Kleinod müsse er sie halten.
Der Hofprediger stellte sich bald bei ihm ein und fand williges Gehör. Er ließ sich leicht überzeugen, daß Isidor durch den Schulbesuch schon mit der christlichen Glaubenslehre vertraut sei; und tatsächlich hatte Isidor nach dem Tode des Großvaters häufig dem Religionsunterricht beigewohnt, weil er mit dieser für ihn freien Zwischenstunde bei kaltem oder schlechtem Wetter nichts anzufangen wußte und lieber untätig in der Schule saß, als sich unter die Augen des strengen Vaters wagte.
Trotzdem hielt der Hofprediger einige religiöse Besprechungen für notwendig, die aber sehr rasch auf andere Gebiete, besonders auf das der Wohltätigkeit überglitten.
Und als eines Sonntags nach dem Hauptgottesdienst die Hofkirche sich leerte, blieben Isidor, der Hofmarschall und Graf Alex – alle drei im Frack – in der Kapelle zurück, wo Isidor das Glaubensbekenntnis sprach und die Taufe empfing.
»Wollen Sie mir die große Auszeichnung erweisen und bei meiner Taufe Zeuge sein?« hatte Isidor den Grafen Alex wenige Tage vorher gefragt.
Es war ein heller Frühlingsmorgen, voll lachenden Sonnenscheins. Er traf den Rittmeister, als er ihn aufsuchen wollte, auf der Straße, im Reitanzug, seinen Bulldog hinter sich.
Der Graf sah ihn schon verärgert ankommen; denn er legte gerade keinen hohen Wert darauf, sich öffentlich mit Herrn Cohn zu zeigen. Ehe er aber auf Isidors Bitte antworten konnte, erklang eine rauhe Stimme hinter ihnen:
»Verzeihung, Herr Graf, der Hund hat keinen Maulkorb.« Der Rittmeister drehte sich um, ein Hundefänger stand vor ihm.
»Seh' ich!« antwortete Graf Alex schroff. Er glich in diesem Moment auffallend seinem Bulldog.
»Dann muß ich ihn aber fangen!«
»Fangen Sie'n!« schnaubte der Graf.
Der Hundefänger näherte sich mit der Schlinge dem Hund, der sofort sein mächtiges Gebiß unter der gespaltenen Nase zeigte und sich im Sprung gegen seinen Gegner vorwärts warf.
»Aber der Hund beißt ja!« rief der Mann, bestürzt zurückfahrend.
»Soll er auch!« schnauzte der Graf und wandte ihm ohne weiteres den Rücken. Der Mann stand unschlüssig hinter ihm, warf einen letzten wägenden Blick auf den ihn grimmig anstierenden Hund und drückte sich stumm fort.
»Und was wünschen Sie?« fuhr der riesige Offizier den mit offenem Munde dastehenden Isidor gereizt an.
Dieser war einfach sprachlos. Wie ein Gigant erschien ihm der Graf, wie ein Übermensch, dessen imponierender Wille vor nichts zurückwich, selbst nicht vor dem Schilde des städtischen; Beamten.
»Verzeihung – eine große Bitte, Herr Graf,« stotterte er. »Wollen Sie nicht gütigst – große Auszeichnung – bei meiner Taufe – Zeuge sein?«
»Warum nicht,« knurrte Graf Alex verbissen. »Ob ich einen alten Hengst legen lasse oder Sie taufe, ist für mich schnuppe. Der Gaul wird seine Manieren doch nicht los, und Sie sind in vier, Wochen wieder der kleine Cohn. Aber eins sage; ich Ihnen gleich, – nicht in Uniform!« Und als er Isidors enttäuschtes Gesicht sah, fuhr er fort: »Nein, mein Lieber! Ich habe keine Vorurteile, fragen Sie die Judenmädels hier in der Stadt. Aber des Königs Rock ist antisemitisch, ich trage keinen verschnittenen Koller!«
Es war ein eigenes Gefühl für Isidor, als er; mit gedämpfter Stimme begann: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer, Himmels und der Erden ... Und an Jesum Christum, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, der empfangen ist vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria ...«, während die bittere Selbstverspottung seines Lieblingsdichters ihm vorschwebte: »Ich bin Jude, ich bin Christ. Ich bin eine Tragödie und Komödie in einer Person.« Das ehrwürdige Antlitz seines Großvaters tauchte vor ihm auf, die ernsten Züge seines Vaters. Er sah sich wieder unter dem Ladentisch, während der Großvater die Leiter auf und ab huschte, sah im väterlichen Hause die hellen Sabbatlichter auf dem weißgedeckten Tisch brennen. Zum erstenmal stieg ein Gefühl für die Kraft, die Größe des Glaubens in ihm auf, in dem sein Geschlecht gelebt hatte und gestorben war, des starren, mächtigen Glaubens, der in seiner kristallenen Unerbittlichkeit wie ein Fels die Jahrtausende überdauert hatte. Und er gedachte der väterlichen Mahnung, die er hundertmal gehört hatte, vom Talmi aller fremden Bekenntnisse, vom reinen Golde des Judentums. Wie ein Deserteur kam er sich vor, wie ein elender Feigling. Und doch sprachen seine Lippen mechanisch weiter: »Ich glaube an den heiligen Geist, eine heilige, allgemeine, christliche Kirche ...«, während der alte jüdische Bannfluch gegen den Abtrünnigen in seinen Ohren gellte: »Verflucht seist du bei Tag und bei Nacht, verflucht, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst, verflucht, wenn du gehst, verflucht, wenn du kommst. Möge dir Gott nie vergeben! Möge sein Zorn und Haß gegen dich auflodern, dich jeder Fluch und jede Verdammnis treffen, die prophezeit sind in den heiligen Büchern!« ...
Wie ein Trunkener verließ Isidor nach Beendigung der kurzen Feier die Hofkirche.
Recha gratulierte von England aus zur Verlobung. Auch sie hatte die Nachricht zuerst nicht fassen können. Einen Augenblick gab es ihr einen Stich ins Herz, so frei ihre Seele auch von Neid war. Wurden denn die Söhne und die Töchter des deutschen Adels mit zweierlei Maß gemessen? Durfte die hochgeborene Komteß ungestraft tun, was dem Freiherrn versagt war, des Mannes jüdisches Blut mit aristokratischem sich mischen, aber nicht das der Jüdin? Durfte eine Gräfin zur Frau Cohn werden, aber nicht eine Recha Cohn zur Freifrau? Stieß der Adel seine Töchter zum Judentum hinab, wie der Baum die toten Blätter abwirft, aber duldete er nicht das fremde Reis auf eigenem Stamm? Sie war zu unerfahren, um für alle diese Fragen, die in ihr emporstiegen, eine Antwort zu finden, aber der heiße Schmerz ihres gebrochenen Lebens stieg neu in ihr empor. Und unter bitteren Tränen beendete sie den herzlichen Brief, in dem sie dem Bruder Gottes Segen wünschte und die hochgeborene Schwägerin um ihre Liebe bat.
Die Tage kamen und gingen. Isidor entschloß sich, den ersten Stock seines Hauses zu Geschäftszwecken hinzuzunehmen, und kaufte eine Villa in den Parkanlagen der Residenz, die ein Gesandter aufgab, weil seine Regierung ihm ein eigenes Hotel erbaut hatte.
Ein Märchenheim entstand, würdig der Fee, die es als Herrscherin aufzunehmen hatte, ein Schmuckkästchen, in Gärten geschmiegt, an dessen Ende sich Palmen- und Treibhaus erhoben.
Dora sollte die Villa erst fix und fertig als junge Frau sehn. Tante Thekla schwamm in Freuden; mit vollen Händen, wenn auch nur für ihre Nichte, das Geld auszugeben, all der Sehnsucht genügen zu dürfen, die eine ihr Lebelang in ihren Mitteln beschränkte Frau nach Pracht und Glanz im Herzen trägt, erschien ihr als höchstes Glück.
Isidor besorgte mit ihr zusammen auf seine Kosten die Ausstattung der Braut. Gräfin Thekla war innerlich über ihn erstaunt. Die köstlichen Spitzen, die schimmernde Seide, die er für Dora wählte, kosteten Tausende; die feine Batistwäsche, die kaum den Körper verhüllte, die man durch einen Ring ziehen konnte, erschien ihr unpassend, wenn sie an ihre eigene handfeste, aber tugendhafte Wäsche dachte. Sie wagte jedoch angesichts seiner brennenden Augen, der leichtzitternden Hände, mit denen er in den weißen und farbenleuchtenden Schätzen wühlte und mit heiserer Stimme immer Neues, Ungeahntes heischte, keinen Widerspruch zu erheben.
Trettach war angelangt. In seiner schmucken Tropenuniform, mit den Schwertorden geschmückt, meldete er sich beim Herzog, machte er die notwendigen Besuche. Als er bei der Gräfin Thekla vorfuhr, war diese nicht zu Haus. Dora ließ sich verleugnen; sie schämte sich selbst ihrer Feigheit, aber sie konnte nicht anders. Als sie seine Karte in der Hand hielt, fühlte sie ihre Kniee nachgeben. Verstohlen lugte sie durch das Fenster hinab, sah sie ihn im Wagen sitzen, braun gebrannt, hagerer als vor zwei Jahren, aufrecht und stolz, aber mit einem fremden, leidenden Zug im Gesicht. Sie fuhr entsetzt zurück, als seine grauen, ernsten Augen ihr Fenster streiften.
An diesem Abend war sie geradezu eisig zu ihrem Bräutigam.
Mit Isidor war allmählich eine Veränderung vorgegangen. Schon beim Herzog hatte ihn einmal ein verwunderter Blick der Hoheit gestreift, als er allzu unbefangen Rede und Antwort stand. Es fehlte ihm jetzt nicht mehr der Atem, wenn ein Mitglied der Gesellschaft ihn ansprach und er antworten mußte. Je mehr er in diesen Kreisen verkehrte und heimisch wurde, desto deutlicher erkannte er mit heimlichem Frohlocken, daß auch sie nur Menschen mit menschlichen Schwächen waren, und daß die Glocken um so leiser läuten, je höher sie hängen. Er sah, daß gerade dort oben das Geld, je häufiger es fehlte, je schmerzlicher sein Mangel unter goldgestickten Uniformen und prunkenden Ordensbändern verhüllt wurde, eine entscheidende Rolle spielte, die alles andere ausglich, ihn jenen ebenbürtig machte. Daß dies nur scheinbar der Fall war, daß man mit knirschenden Zähnen dem Golde seinen Einfluß neben Geburt und Namen, Wappen und Stand einräumte, daß jeder Schritt, den er hier vorwärts tat, mit Spott und Neid seiner Umgebung erkauft wurde, das sagte sich Isidor Cohn nicht, weil er es nicht empfand. Und je häufiger er zu bemerken glaubte, daß ihm sein Wohlstand alle Türen öffnete, desto maßloser begann er seine Mittel zu übertreiben, in absichtlicher Gleichgültigkeit die Scheine um sich zu werfen und in protzigen Reden mit Millionen wie mit Pfennigen zu jonglieren. Immer, sicherer begann er sich zu fühlen, immer öfter führte er in seinen Unterhaltungen und in Vereinssitzungen das große Wort, und bald artete diese Sicherheit in ein Selbstbewußtsein aus, das ihm trotz seiner Taufe als jüdische Frechheit und Arroganz ausgelegt wurde.
Auch bei der Gräfin Thekla begann er sich als Herr zu fühlen; oft flogen ihr die Hände, wenn er in Dingen, von denen er nichts verstand und in denen er sich lächerliche Blößen gab, trotz ihres erregten Widerspruches seinen Willen durchsetzte und deutlich durchblicken ließ, daß der, der zahlt, nach seinem Geschmack zu kaufen berechtigt ist. Bald verriet er auch sonst völlig neue, überraschende Anschauungen, trat kaum verhüllt der Hohn des Besitzenden über die Vermögenslosen zutage. Was, – Bildung, Kunst, Wissenschaft? Alle die Maler, Schriftsteller, Gelehrten, alles nur. Lumpen, die Isidor in die Tasche steckte, die er mit seinem Gelde sich als Lakaien hielt! Was? Ideale, – Wohltäter der Menschheit, Pioniere der Kultur? Narren, die am Hungertuche nagen, denen die Augen feucht werden, wenn sie vor fremden Türen um Brot betteln! Hilf dir selbst, so hilft dir Gott, habe Geld und gib es aus, – das sind die wahren Wohltäter, die besten Pioniere, die Fürsten der Welt ... Nicht, daß Isidor das mit dürren Worten aussprach, aber aus jedem Satz, aus jeder Miene klang es im Laufe der Zeit immer deutlicher heraus. Und immer mehr gewann es den Anschein, als ob Isidor Cohn dem Hause Holm eine Ehre erwiesen, als er um seine. Braut freite. Nur an Dora wagte er sich nicht heran; ein einziger Blick aus ihren kühlen Augen genügte, ihm den Mund zu schließen, wie die Bestie sich unter der Peitsche des Bändigers duckt. Und wenn der Hofmarschall solchen Szenen beiwohnte oder Gräfin Thekla ihm ihr Leid klagte, lächelte er nur fein, mit einem leisen, überlegenen, bösen Lächeln.
Mächtig und schwer erklangen an einem sonnenüberfluteten Maientage die Glocken der Hofkirche. Gräfin Dora und Isidor knieten vor dem Altar, und feierlich durchtönten die Worte des Hofpredigers den hohen Raum: »Der Herr segne euch und behüte euch. Er lasse sein Angesicht leuchten über euch und sei euch gnädig. Er erhebe sein Angesicht auf euch und gebe euch seinen Frieden. Amen!«
Die ganze Hofgesellschaft war geladen; das Schiff der Hofkirche, eines berühmten Renaissancebaus aus dem sechzehnten Jahrhundert, blitzte von Uniformen und ordenbesetzten Fracks, von schweren seidenen Frauengewändern mit lang nachschleifenden Hofschleppen und lichten Mädchentoiletten. Und weiter hinten drängte sich bis weit vor die Kirchenpforte die Einwohnerschaft der Residenz, die die Neugierde, das ungewöhnliche Paar zu sehen, in Scharen herbeigelockt hatte.
Recha war der Hochzeit ihres Bruders ferngeblieben. Sie hatte ihm zuliebe kommen wollen, trotz ihrer inneren Angst, den Geliebten wiedersehn zu müssen. Aber je näher der Tag heranrückte, desto elender fühlte sie sich, und als sie wenige Tage vor der Feier wegen Krankheit abtelegraphierte, war dieser Grund kein Vorwand. So kam es, daß nicht ein einziger Verwandter Isidors an seinem Ehrentage teilnahm.
Ehe er zum Standesamt fuhr, gratulierte ihm sein Personal, und der Prokurist Goldschmidt überreichte ihm in aller Namen eine von einem ersten Künstler der Residenz nach vorhandenen Photographien meisterhaft ausgeführte Marmorbüste seines Vaters. Isidor dankte in schwungvollen Tiraden, wie sie ihm jetzt bereits geläufig waren, obgleich ihn die unverkennbar jüdischen Züge der Büste unangenehm berührten. Er ordnete ihre Aufstellung in seinem Privatkontor an und setzte einen größeren Betrag für ein Fest aus, das das gesamte Personal aus Anlaß seiner Hochzeit feiern sollte.
Der Hofmarschall, der dem Brautpaar bei der Ziviltrauung als Zeuge diente, wohnte dieser Geschäftsfeier bei; dann zogen sich beide Herren einen Augenblick in Isidors Privatkontor zurück. Der Vertrag lag auf dem Tisch. Isidor unterzeichnete, nach ihm der Hofmarschall. Keiner von beiden sprach ein Wort, stumm drückten sie sich die Hände.
Unter den Gästen, die die Hofkirche füllten, saß dicht hinter dem Brautpaar auf rotsamtenem, mit der Krone geschmückten Sessel Prinz Lothar als Vertreter des herzoglichen Hauses.
Er war es gewöhnt, mit solchen Repräsentationen beauftragt zu werden, von denen man annehmen konnte, daß sie ihm besonders lästig fielen. Es war das die Rache des regierenden Herrn für so manche boshafte Äußerung des Prinzen, wie sie kein anderer hätte wagen dürfen, und die dem Herzog natürlich schleunigst hinterbracht wurde.
Schon verschiedene Male war Prinz Lothar plötzlich tagelang in stiller Zurückgezogenheit verblieben, einmal volle zwei Wochen, während derer der Herzog einen Zug Leibhusaren in das Palais gelegt hatte. Aber niemand pflegte über diese vorsintflutlichen Arreststrafen mit so gutem Humor zu spotten, wie Prinz Lothar selbst.
Die Vertretung bei Isidors Hochzeit war dem Prinzen aber denn doch als das Unerhörteste erschienen, was ihm auf seinem fürstlichen Dornenwege je zugemutet worden war.
Schon bei jenem Frühschoppen hatte er den semitischen Gast auf den ersten Blick gehaßt, und so beschloß er, unbekümmert um eine neue Arreststrafe, sich durch einen Toast zu rächen, dessen Schlußsatz er in langer Überlegung geschliffen hatte. Diese Pointe söhnte ihn nicht nur mit dem lästigen offiziellen Auftrag aus, sondern veranlaßte ihn auch, sich freiwillig zum Hochzeitsdiner nach der Trauung anzusagen.
Isidor fiel in seinem tadellos sitzenden Frack, fast dem einzigen ohne Ordensschmuck in der Trauversammlung, wegen seiner guten Haltung auf. Er hatte sich, mit dem christlichen Ritus nicht vertraut, von dem Hofprediger geradezu einexerzieren lassen und fühlte sich daher völlig sicher. Es tat ihm wohl, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gerichtet zu sehen, den hohen Vertreter der herzoglichen Herrschaften zugegen zu wissen. Er war vollkommen glücklich, er sah sich am Ziel aller seiner Wünsche. Sein »Ja« klang hell und siegesgewiß durch das hohe Kreuzgewölbe der Kirche; das der Braut hörte nur der Geistliche am Altar.
Sie sah unbeschreiblich schön aus. Ihr Goldhaar kontrastierte wunderbar mit dem matten Elfenbeinweiß des Brautkleides, dessen spitzenüberrieselte Schleppe die Bewunderung der anwesenden Frauenwelt bildete. Sie hatte, als sie auf rotem Läufer den langen Gang zum Altar hinabschritt, nur eins gesehen, zwei graue, tiefernste Augen über rotem, silbergestickten Kragen. Und diese Augen brannten ihr während der ganzen Feier in den Rücken. Wie eine Schlafwandlerin erhob sie sich nach dem Segen, schritt sie durch alle diese Menschenscharen, die sie neugierig, mitleidig, höhnisch anstarrten, fuhr sie an ihres Gatten Seite zum Diner in das Hotel.
Als sie im Vorraum des Festsaals mit ihrem Gatten stand und die Glückwünsche der Gesellschaft entgegennahm, trat auch Hans Joachim von Trettach auf sie zu. Stumm sahen sich beide eine Sekunde in die Augen, ehe er seinen Glückwunsch abstattete. In diesem Augenblick erschien eine Ordonnanz in der Tür, wies den Portier zurück, trat in das Vestibül und blieb einige Schritte seitwärts von dem Offizier stramm stehen. Trettach sah hoch; die Ordonnanz überreichte ihm ein Telegramm.
Hans Joachim trat zur Seite und öffnete es. Keine Muskel zuckte in seinem Gesicht. Ruhig wandte er sich an das Brautpaar. »Ich bitte angelegentlich um Entschuldigung,« sagte er zu Isidor, »wenn ich das ... das schöne Fest verlassen muß. Ich werde soeben nach Schloß Trettach abberufen, – heut früh um sechs ist Graf Bolden, mein Großvater, unerwartet verschieden.«
Dora hatte einen rasenden Drang, aufzuschreien wie ein zu Tode verwundetes Tier. Hans Joachim Erbe von Millionen, Hans Joachim frei!
Isidor kondolierte mit überschwenglichen Worten. Eine glühende Freude durchrieselte ihn. Um Stunden hatte es sich gehandelt. Wer weiß, wenn das Telegramm heut vormittag schon eingelaufen wäre, ob Dora sich nicht besonnen hätte. Jetzt war sie sein, keine Menschenmacht, keine Schätze der Welt konnten sie ihm mehr entreißen!
Der Saal bot ein glänzendes Bild. Mehr als hundert Personen saßen an der mit weißen Rosen und Myrten übersäten Tafel. Fast keine Absage war erfolgt; die Nachricht, daß Prinz Lothar sich auch für das Diner angesagt, hatte als Richtschnur für die ganze Hofgesellschaft gedient, und, die zahlreichen Offiziere des Leibhusaren-Regiments nahmen gern die Gelegenheit wahr, sich einmal kostenlos zu amüsieren, zu flirten und zu tanzen.
Am oberen Ende der Tafel saß das Brautpaar, zu Doras Rechten der Prinz, an den sich der Hofmarschall anreihte. Neben dem Bräutigam saß Gräfin Thekla mit dem Hofprediger als Tischherrn.
Erst nach dem glänzenden, leicht humoristisch gehaltenen Brauttoast des Geistlichen und dem Rundgang des Brautpaares hob sich die Stimmung. Allmählich begann es am unteren Ende der Hufeisentafel recht lebhaft zu werden, und bald entwickelte sich eine Fröhlichkeit, die das Brautpaar ganz zu vergessen schien. Gläser klangen, Scherzworte flogen hinüber und herüber, helles Lachen schallte durch den Saal, hier und da tauschte man bereits die Plätze. Der Damentoast des Hofmarschalls wurde mit übertriebenem Beifall aufgenommen. Es schien, als ob die Gäste die ganze Hochzeit nicht recht ernst nahmen, als klinge ein falscher Ton in der Harmonie des Festes, wie ihn im Hause des Emporkömmlings selbst nicht der größte Aufwand, der glänzendste Luxus zu ersticken vermag, – ein Klang wie von zersprungenem Glase, von unechtem Metall. Schon knallten vorzeitig die Bonbons, und manche junge Dame setzte sich keck die papierne Mütze auf, in der Hoffnung, daß sie ihr gut stand, als plötzlich zu aller Überraschung der Prinz an sein Glas schlug und sich erhob.
Sofort trat Totenstille ein.
Und Prinz Lothar nahm das Wort.
»Meine Herrschaften!« sagte er, »unser verehrter Hofprediger hat in seiner Trauungsrede und hier in dem Brauttoast den heute geschlossenen Bund in allgemeinen Zügen – hm – erschöpfend gewürdigt.«
Er sagte »erschöpfend«, aber es klang recht malitiös, genau wie »bis zur Erschöpfung«.
»Ich möchte Sie bitten, nun auch gewissermaßen auf den Spezialfall der heutigen Feier eingehen zu dürfen.«
»Der Herr Bräutigam ist Verleger, die junge Braut durch ihren Ehebund mit ihm also in Verlegenheit geraten.«
Diskretes Lachen. Der Redner reckte sich auf.
»Ich möchte überhaupt,« fuhr er fort, »die junge Frau mit einem neu erscheinenden Buche vergleichen. Wie ›eng gebunden‹ ist des Weibes Glück, sagt ja schon Iphigenie. Allerdings ist unserem Buche beim Binden der Titel abhanden gekommen ...«
Ein Auflachen ging durch den Saal.
»Doch wird es trotzdem hoffentlich in weiten Kreisen seine Verehrer finden, so daß es nicht zur Ostermesse zurückkommt, wir also übers Jahr von einer zurückgegangenen Oster-Meß-Alliance nicht zu reden brauchen.«
Eine leise Unruhe entstand.
»Leider verstehe ich zu wenig von den Gepflogenheiten des Verlagsbuchhandels, meine Herrschaften, um meinen Vergleich erfolgreich durchführen zu können. Aber eins habe ich doch aus meiner Knabenzeit behalten, als ich mit Freude die Jugendschriften des Siegfried Cohn'schen Verlages las.«
Das »Siegfried Cohn« sprach der prinzliche Redner, jede Silbe langgezogen, mit vernichtendem Tone aus.
»Ich meine den Aufdruck auf seinen Umschlägen: ›Aufgeschnittene Exemplare werden nicht zurückgenommen.‹ Das ist ein Gesetz, meine Herrschaften, das auch bei uns allgemeine Anwendung verdient, selbst wenn es sich einmal gegen einen Verleger selbst wenden sollte.«
Die Unruhe verstärkte sich. Der Hofmarschall erhob sich, besann sich aber und setzte sich auf halbem Wege wieder hin.
»Nun hat dieser Verleger und bridegroom, dem jedes Aufschneiden so verhaßt ist ...«
Einem Leutnant von der fidelen Ecke entfuhr ein lautes »Au!«, worauf er erschreckt hinter dem breiten Rücken eines Kameraden Schutz suchte und eine möglichst harmlose Miene annahm.
Der Hofmarschall erhob sich jetzt doch und flüsterte: »Hoheit! Ich bitte untertänigst!«
Der Prinz sah dem Erschreckten ruhig in das Gesicht und sagte dann abweisend: »Ich bin gleich fertig.« Und er beeilte sich seinen letzten Pfeil zu verschießen.
»Ein eigenartiger Bund ist es,« sagte er, »der heut geschlossen wurde: Ein Sproß unseres Hochadels tritt als schlichte Hausfrau in das Heim des – hm – des Bürgers. Ich glaube unserer Teilnahme an dieser eigenartigen Verbindung nicht treffender Ausdruck geben zu können, als wenn ich rufe: Graf Isidor und Gräfin Isi-Dora Cohn, – sie leben hoch!«
Ein donnerndes Hoch, das die allgemeine Bestürzung nur um so mehr hervorhob, antwortete als Echo.
Prinz Lothar setzte sich befriedigt. Er hatte sich die Galle freigeredet, als einziger den Mut gehabt, unverblümt und doch in verschleierter Form Protest gegen diese unglaubliche Verbindung einzulegen. Mochte sein gnädigster Herzog und liebwerter Vetter oben wieder aus dem Häuschen geraten, ihn von Fleck weg einsperren, – wenn er sich nur endlich entschloß, das räudige Schaf nicht länger mehr als Lückenbüßer zu mißbrauchen.
Der Hofmarschall, der Hofprediger und der Bräutigam begleiteten den Prinzen schweigend zum Ausgang. Isidor sah wie ein Mensch aus, der eben unerwartet seine Existenz zusammenbrechen sieht. Auf seinen Ehrentag war ein böser Schatten gefallen. War die Anspielung auf die aufgeschnittenen Exemplare nicht eine deutliche Absage an die Aristokratin? In ohnmächtiger Wut ballte er die Fäuste hinter dem Rücken des prinzlichen Rowdys, der ihm, dem Wehrlosen, in seines Lebens schönster Stunde in das Gesicht geschlagen. Und ein tiefer Haß glomm gegen diesen Adel in ihm auf, der immer wieder jeden Fremden von sich abschüttelte, wie die Kuppen des Hochgebirgs sich an denen rächen, die sie mit ihren schweren Tritten verwunden.
Er sah, wie die anwesenden Gäste immer von neuem konsterniert zu der regungslosen Braut hinüberblickten, neben der er jetzt wieder wortlos saß. Und ein banger Zweifel stieg in ihm auf, ob er recht getan, sich aus seiner Sphäre hinauszuwagen, ob es nicht immer noch besser war, im Dorfe der Erste, als in Rom der Zweite oder gar der Letzte zu sein. Scheu glitt sein Auge über sein junges Weib, und wieder vergaß er alles über der glühenden Freude, sie sich errungen zu haben. Wie der Kessel unter geschlossenem Ventil erzittert, so pochte ihm das Herz bei dem Gedanken, sie heut noch in seine Arme schließen zu dürfen.
Die Erregung über den taktlosen Toast des Prinzen war zurückgeebbt; die Tafel wurde aufgehoben, wiegend setzte der Walzer ein: Einmal noch beben, eh' es vorbei, einmal noch leben, lieben im Mai ... Das Brautpaar tanzte die Ehrenrunde. Isidor war kein Tänzer; als er seine Braut freigegeben hatte, drückte er sich im Saal umher. Er kam sich grenzenlos überflüssig vor; eine Viertelstunde saß er mit Sternau und einigen Leutnants in einem Nebenzimmer und trank Sekt, ohne zu merken, daß die Herren sich ein Vergnügen daraus machten, ihm mehr einzupumpen, als ihm zuträglich war. Dann rief ihn der Hofmarschall zu sich. Er saß mit dem Oberst von Gemmen in einer stillen Nische und trank bei der Havanna seine Lieblingsmischung, Sekt mit Burgunder. Auch hier mußte Isidor Bescheid tun. In der schweren Erregung, in die ihn der prinzliche Toast und seine eigene Ungeduld versetzt, stieg ihm der Wein rasch zu Kopf. Er fühlte den Stuhl unter sich schwanken, einen Augenblick sah er die Lichter doppelt, dann wurde ihm wieder wohler. Er versuchte sich Dora zu nähern, gab es aber auf, da sie stets von Verwandten und Freunden umringt war, – wie eine Witwe, schien es ihm, deren Liebstes man soeben begraben hat.
Und wie Kirchhofsstimmung lag es über dem ganzen Fest.
Der Brautkranz wurde ausgetanzt. Die Uhr wies auf eins.
Gräfin Thekla gab ihm einen Wink.
Die Hochzeitsreise sollte, wie üblich, nach der Schweiz über Italien durch Tirol gehn. Sie konnten erst am nächsten Morgen fahren, da nachts keine Züge mehr gingen, die Anschluß an die Frühfernzüge hatten.
Dora stand im Vestibül; sie hatte sich nicht umgekleidet. Die Tante küßte sie, als gelte es einen Abschied fürs Leben, dann stieg das Brautpaar hastig in den Wagen. Ein Ruck, und sie fuhren beide allein in die dunkle Nacht, in das Leben hinein.
Isidor sah alles wie durch einen dichten Schleier. In seinen Schläfen klopfte es wie ein Hammer. Er konnte kein Wort sprechen; als er sich die Handschuhe auszog, rissen sie mitten durch.
Nach wenigen Minuten waren sie vor der Villa angelangt. Er sprang hinaus, schloß nicht ohne Mühe die Tür auf. Dann folgte sie ihm in das Haus, die Stufen hinauf, in ihre neue Heimat
Sie war ihm unheimlich, sie sah wie ein Gespenst aus.
In der Villa brannten alle elektrischen Lampen, standen die Türen weit offen. Er hatte sich eine kurze, tiefempfundene Ansprache ausgedacht: »Hand in Hand, einer des anderen Glück und Stolz ...« Er wagte nichts zu sagen. Die Zunge lag ihm schwer im Munde, mit metallischem Geschmack. Und er begriff nicht, daß er sich wie ein Kind darauf gefreut hatte, ihr all die Pracht zu zeigen, mit der er ihr weit über vernünftige Grenzen hinaus das Heim ausgestattet hatte.
»Willst du die Villa sehen, Dora?« stieß er endlich mühsam hervor.
»Nein, ich danke,« antwortete sie wie geistesabwesend. »Ich bin so müde ... Später!«
Eine quälende Unruhe erfüllte sie. Hätte sie die Türen hinter sich offen gewußt und wäre sie nicht im Brautkleid gewesen, sie wäre zurückgeflohen, fort von dem fremden Mann, dem man sie hilflos überlassen hatte. Ohne daß sie sich ihrer Lage deutlich bewußt war, überstürzten sich ihre Gedanken, wie die Wolken im Sturm dahinjagen; wie im Traum hörte sie noch die eiligen, unter Tränen hervorgestoßenen Worte der Tante, kurz ehe ihr Mann kam, – von Pflichten, die sie erfüllen müsse, von Gehorsam, den sie ihm schuldete ... Sie war nicht prüde. Sie war fähig, im Rausche des Glücks, im wühlenden Schmerz ihrem Empfinden rücksichtslos nachzugeben, wie sie es bei Trettachs Abschied getan. Aber in Isidors Nähe hatten ihre Sinne geschwiegen, war ihr niemals auch nur der Gedanke gekommen, sich ihr künftiges Leben als Mann und Weib auszumalen, in diese Vorstellung sich einzuleben, sich resigniert mit ihr abzufinden. Nie hatte er sie berührt, nie sie an sich gerissen, nie ihr mit heißen Augen von kommenden seligen Stunden ins Ohr geflüstert. Korrekt, im ewigen, unerträglichen Gehrock, die Ellbogen eng angepreßt, hatte er neben ihr gesessen, immer kühl, immer bescheiden, wie geschlechtslos. Und wenn wirklich einmal beim Anblick anderer Ehepaare die Ehe mit allen ihren Vertraulichkeiten vor ihr auftauchte, schloß sie die Augen fest, wie ein Kranker, der sich aufgegeben weiß und doch nicht an den Tod glaubt, wie ein Unglücklicher, der verzweifelt die Sorge von seinem Lager scheucht, gewaltsam an anderes, Fröhliches denkt, nur um zu vergessen, zu schlafen, zu träumen. Und je länger die Brautzeit währte, desto fester klammerte sie sich an die Überzeugung, daß dieser Mensch da, dieser Isidor, sich niemals ändern, niemals es wagen würde, andere Rechte zu fordern, als sie ihm freiwillig zugestand. Sie würden weiter leben, wie bisher; er würde sein Wort einlösen, sie auf Händen tragen, ihr bieten, was Liebe und Anbetung nur ersinnen konnte, – eine sorgenlose Zukunft, ein glückliches Heim ... immer bescheiden, immer beherrscht, wunschlos, wie der Mönch zur Jungfrau Maria emporblickt ... Er sie umschlingen, sie zwingen, Auge in Auge, Mund auf Mund mit ihm seinen Atem zu trinken, seinen Kuß zu dulden? Als Hans Joachim einst ihre Brust geküßt, hatte sie geglaubt in Gluten zu vergehn; der Gedanke aber, daß Isidor seine gesprungenen Lippen auf ihren Mund pressen, seine haarigen Krallenhände über ihren Leib legen könnte, erschien ihr so unmöglich, so unsinnig, so widerlich, daß sie ihn wie ein ekles Tier von sich abschüttelte ... Nein! Mit keinem Hauche dachte der Mann daran, nie hatte ein Blick, ein Händedruck, ein stummes Werben verraten, daß er ihrer begehrte. Sie konnte ruhig sein, ganz ruhig, – sie brauchte sich nicht zu fürchten!
Das Schlafzimmer stand offen. Sie hatte kein Auge für das märchenhafte Bild, das sich über den schmalen Korridor hinweg im Schein der rosa Ampel ihr bot, sie sah die beiden Prunkbetten nicht, die sich in Rotholz mit eingelegten Goldlinien breit und aufdringlich unter dem kostbaren Gobelin spreizten, der Jo in der Umarmung der Wolke zeigte. Sie wiederholte nur leise: »Ich bin so müde, gute Nacht!« schritt in das Zimmer hinein, schloß die Tür, und ließ den Gatten mitten im Korridor starr vor Überraschung stehn.
Er lauschte, – kein Riegel schob sich vor. War es lautlos geschehen, oder dachte sie nicht daran? Oder hatte sie nur ein wenig Komödie gespielt und wartete seiner? Was tun, wenn sie sich eingeschlossen? Auf der Chaiselongue kampieren, damit ihn die Dienstboten morgen früh fanden und die ganze Residenz über ihn lachte? Er hatte nichts für die Nacht bei sich.
Eine grenzenlose Wut stieg in ihm auf. Hatte er dazu alle die Opfer gebracht, sein ganzes Leben umgestaltet, um hier als Narr seiner Frau vor versperrter Tür zu stehen?
Er ging unentschlossen einige Male im Gange auf und ab. Dann lauschte er wieder, zog leise die Stiefel aus und schlich sich an die Tür. Der Schlüssel steckte von außen; er brauchte wohl fünf Minuten, um ihn geräuschlos herauszuziehen.
Er blickte durch das Schlüsselloch.
Sie hatte Kranz und Schleier schon abgelegt, die Taille ausgezogen. Mit ihren hocherhobenen schlanken Armen kämmte sie ihr goldiges Haar, das in schimmernder Flut fast bis zu den Knieen hinabwallte, – die Lorelei, wie er sie in seinen Träumen gesehen hatte. Dann flocht sie es zu losem Zopf, streifte das schwere Kleid herunter und legte Untertaille und Mieder ab.
Weiß und keusch blühte ihm ihre Brust entgegen.
Der Mann, der heimlich wie ein Dieb durch das Schlüsselloch spähte, atmete schwer.
Plötzlich richtete er sich hastig auf, glitt unhörbar über den weichen Teppich in das Eßzimmer hinein und warf die Kleidung ab.
Er hatte sich bei seiner Equipierung zur Hochzeit braunseidene Strümpfe und gleichfarbiges Unterzeug – couleur de puce – als das Neueste und Schickste aufreden lassen. Er wußte nicht, wie wenig er in diesem Augenblick der Erregung mit seiner dürftigen Gestalt, seinem schwarzbehaarten Körper, den blutgefüllten Augen und vorgetriebenem Unterkiefer einem Adonis glich.
Dora hatte sich langsam, automatisch weiter, entkleidet. Sie achtete nicht darauf, merkte es gar nicht, daß ihr die schweren Tränen die Wangen entlang rollten. Wie ein Spuk zog der Tag, der der herrlichste im Leben eines Weibes sein soll, an ihr vorüber. »Graf Isidor und Gräfin Isidora Cohn!« Wie eine Blinde war sie durch ihre Brautzeit dahingegangen, wie eine Schlafwandelnde, immer näher auf den Abgrund zu! Erst der Trinkspruch des Prinzen, dieser Ausbruch glühenden Hasses, hatte ihr mit einem Schlage die Augen geöffnet, ihr klar und unerbittlich gezeigt, was sie verloren und was sie dafür als Frau dieses Mannes eingetauscht. Dieses Mannes, der wie ein geprügelter Hund sich und sein junges Weib hatte beschimpfen lassen, statt dem Prinzen an die Gurgel zu springen, und wenn es sein Tod gewesen wäre. Hans Joachim, dem hätte das niemand zu bieten gewagt, Hans Joachim, der heute am Sarge des Großvaters die Totenwacht hielt, aufrecht, unbewegt, wie er sich heut von ihr verabschiedet hatte! Und immer heißer tropften ihre Tränen auf die weiße Brust ... Ob er wohl dort unter Trauerpalmen, im düstern Licht der flackernden Kandelaber ihr Bild auch vor sich sah, auch ihrer gedachte, die jetzt so ganz verlassen, ganz allein auf Gottes Erde war? Auch daran dachte, wie eng von seinem Glück zu ihrem Leid des Schicksals Fäden sich spannen, wie seines Lebens Aufflug auf ihres Lebens Trümmern begann? Und sie atmete auf unter dem tröstenden Bewußtsein, daß er ihre erste, tiefste Demütigung nicht miterlebt. Sie hatte gesehn, wie Alex Holm auffuhr, leichenblaß, wie ihn der Vater mit Mühe und Not beruhigt, ihn selbst hinausbegleitet hatte, nur damit kein Unglück geschah. Hätte Hans Joachim geschwiegen? Er hatte kein Recht für sie einzutreten; aber sie klammerte sich fest an den Gedanken, daß er sie in der bittern Not nicht preisgegeben hätte. Und wie ein Krampf quoll eine entsetzliche Verachtung gegen Isidor in ihr auf, der Abscheu der Frau, die dem Manne alles verzeiht, alles, nur Feigheit nicht ... In jähem Wechsel sah sie Prinz Lothars Schritt jetzt mit ganz anderen Augen an: Eine Lanze hatte er für sie gebrochen, als einziger von allen den Mann dort draußen gemahnt, daß Freundesaugen auch künftig noch über ihr wachten, die jede Unbill rächen würden, daß sie auch fernerhin als Dora Cohn für jene die Gräfin blieb. Sie fühlte sich nicht mehr allein, nicht mehr verlassen, nicht mehr verleugnet, wie dieser Mensch, dem sie heut angetraut, dieser elende, feige Wicht es getan. Und sie ballte die Hände, sie biß die Zähne in Empörung gegen ihn zusammen, als plötzlich die Tür aufsprang. Sie wandte sich erschreckt um. Sie sah eine Gestalt im Türrahmen stehen, häßlich, bis zum Entsetzen abstoßend; sie erkannte Isidor erst, als er sich ihr näherte. Er schien ihr. etwas sagen zu wollen, aber seine Zähne schlugen wie im Fieberfrost aufeinander, und nur ein dumpfes Stöhnen war zu vernehmen. Und immer näher kam er auf sie zu.
Dann packte er sie.
Sie stieß einen gellenden Schrei aus, der im ganzen Hause widerhallte. Wie eine Verzweifelte wehrte sie sich, rang sie mit ihm. Als er sie auf das Lager zurückstieß, sie mit Fäusten und Leib festhielt, als langsam ihre Kräfte erlahmten, wimmerte sie: »Muß ich mir das bieten lassen?« und immer wieder: »Muß ich mir das bieten lassen?« Dann aber, als sie seine trockenen Lippen auf ihrem Munde spürte, den eklen Weindunst einatmete, das atemraubende Gewicht seines Leibes immer unerträglicher auf sich lasten fühlte, richtete sie sich mit übermenschlicher Gewalt hoch. Und mit der kleinen, weißen, geballten Faust schlug sie ihm mitten in das Gesicht.
Er taumelte zurück. Er sah sie am Boden vor sich liegen, wie sie in fassungslosem Schluchzen bebte. Und Isidor Cohn wandte sich stumm, wischte sich das Blut von der Nase und schlich wie ein geprügelter Hund hinaus.
Er fror. Er zog sich im Eßzimmer wieder an, genau wie er sich vor wenig Stunden zur Trauung angekleidet hatte. Lange ging er ruhelos auf und ab, immer wieder sich die brennende Nase kühlend. Dann warf er sich auf die Chaiselongue, ohne den Schlaf zu finden. Als der neue Tag anbrach, der Zeiger immer weiter vorrückte und noch immer nichts im Schlafzimmer sich regte, klopfte er zaghaft an die Tür, um sich zur Reise anziehen zu können, da das Gepäck schon am Tage vorher zur Bahn geschafft war. Er fand Dora blaß, übernächtigt, fertig angezogen in einem Sessel sitzend.
Er nahm alles, was er zur Reise bereit gelegt hatte, aus dem Schrank, zog sich draußen um und weckte die Dienstboten. Um sieben Uhr fuhren sie fort. Sie hatten beide kein Wort miteinander gesprochen, und ebenso stumm fuhren sie durch die im Maienglanz lachenden Fluren. Spät abends trafen die Hochzeitsreisenden in München ein.
*
Auf den langen, endlosen Fahrten, bald auf der Bahn, bald mit der Post, in den dunklen Nächten, wenn er einsam im Bett lag, schwankend zwischen Sehnsucht und Groll, überlegte Isidor immer wieder, was tun? Denn sie schliefen getrennt. Einmal, in Chamonix, hatte er ohne ihr Wissen telegraphisch ein einziges Zimmer mit zwei Betten bestellt; sie machte an der Schwelle des Raumes kehrt und wartete im Vestibül, bis Isidor ausquartiert war. Denn in ihr lebte nichts als zitternde Angst. Sie sah nicht die Wunder der schönen Welt, die sie durchfuhren, auf die sie sich seit Monaten heimlich gefreut hatte; sie sah nur immer den Mann vor sich, wie er auf Strümpfen heranschlich, die Tür sprengte, sich wie ein reißendes Tier über sie herstürzte, schauderte vor dem Gedanken zurück, noch einmal Gleiches durchleben zu müssen. Und aus der Furcht steigerte sich die Abneigung gegen ihn, aus der Abneigung wuchs wieder die Furcht; immer elender fühlte sie sich, immer verlassener. Mit trübem, von Tränen erstickten Lächeln dachte sie an ihre Mädchenphantasien zurück, an den blonden Recken ihrer Träume, das Urbild germanischer Schönheit und Kraft, in dessen stolzen grauen Augen es weich und zärtlich aufschimmerte, wenn seine durstigen Lippen ihren Leib mit Küssen bedeckten. Von Tag zu Tag wurde sie blasser und schmaler, wenn auch dadurch nur um so lieblicher. Kein Mitleid mit ihrem Gatten regte sich in ihr. Sie haßte ihn nicht; aber es war ihr einfach unmöglich, seine Nähe zu dulden, wie ein Mensch eine Speise eben nicht essen kann, ohne sich krank zu fühlen. Und je länger sie zusammen reisten, je mehr er sich allmählich gehen zu lassen begann, desto entschiedener stieß sein Tun und Wesen sie ab, desto widerlicher war ihr sein protzendes Auftreten gegen Fremde bis zum Hotelportier hinab, empörte sie die mangelnde Würde des Mannes, der im kleinsten Nest mit herausfordernder Schrift in das Fremdenbuch eintrug: »I. Cohn, Verlagsbuchhändler, und Frau, geb. Komteß Holm«, der mit tönender Stimme vor aller Welt von der »Gräfin Tante« und »Onkel Exzellenz« redete, so daß alles ringsum verwundert, ungläubig aufhorchte.
Und ohne daß Isidor es ahnte, begegneten sich seine Gedanken mit denen seiner Frau. Auch er dachte beständig an seine Hochzeitsnacht, konnte sich von ihren niederschmetternden Eindrücken nicht erholen. Wie ein Krampf befiel es ihn immer von neuem. Er aß und trank kaum; auch er magerte in den langen Wochen der Reise ab; seine Farbe wurde gallig, um seine Augen lagen dunkle Ringe. Er krümmte sich innerlich unter der lächerlichen Vorstellung seiner blutenden Nase, er hätte sich peitschen mögen, daß er, hart am Ziele, unter ihrer Faust zurückgewichen war. Er haßte das Weib, das ihm den Schimpf angetan, haßte es mit jenem brünstigen Haß, der jeden Augenblick in sehnende Liebe umschlägt, wie die Kompaßnadel ruhelos hin und her zittert. Er sah sie Tag und Nacht vor sich, wie sie mit hocherhobenen, schlanken Armen ihr goldiges Haar kämmte, wie Stück um Stück ihres Brautgewandes fiel, während er gebückt, mit röchelndem Atem durch das Schlüsselloch stierte; er sah sie an ihrem Bett sitzen, die seidenen Strümpfe von den zierlichen Füßen streifen, sah ihre straffe Brust mit der alabasterfarbenen, von feinen Äderchen durchzogenen Haut, und wenn er dann mit feuchter Stirn aufschreckte und die Blicke der Mitreisenden bemerkte, mit denen sie offen sein Weib bewunderten und ihn halb neidisch, halb verwundert streiften, dann hätte er aufbrüllen mögen in Leidenschaft und Qual.
Was hatte er verschuldet, daß gerade er solch schwere Kränkung erdulden mußte? Wo andere Brautleute verstohlen, kichernd wie unartige Kinder, einer nach dem andern lechzend, sich aus dem Hochzeitslärm in ihr junges Heim flüchteten, unter Lachen und Scherzen ins Brautbett huschten?
Dann wieder überlegte er. Waren diese Glücklichen denn wirklich so heiß zu beneiden? Um eine kurze Nacht, um einen Rausch, aus dessen müden, letzten Zuckungen der Fluch sich aufreckt, der nur zu oft den Mann vom Herzen des Weibes reißt? Es steht geschrieben: »Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe ...« Ist, was wir Menschen Liebe nennen, nicht nur des Hasses trügerischer Maientraum? Weckt nicht die lange Brautzeit schon den keimenden Groll im Mann, wenn Tag für Tag ihm seines Lieblings blühende Unschuld im keuschen Sichversagen die Sinne lockt, zu wachsendem Begehren peitscht? Bis endlich dann die Nacht des Herrenrechts, die Nacht der triumphierenden Vergeltung dämmert, in der er schonungslos sie zur Mutterschaft zwingen darf? Ist's nicht gar oft des Hasses blutsverwandter Hohn, mit dem der Gatte, nur zu rasch gesättigt, auf die Bezwungene dann niederblickt, die nichts mehr zu versagen hat, die künftig jede Liebesstunde wie ein Geschenk aus seiner Hand empfängt? Und wenn die Jahre kommen und gehn, wenn er sein Weib vorzeitig dahinschwinden sieht in Sorg' und Müh', in Krankheit und Geburten, verkümmert im öden Einerlei der Alltagspflichten, unter den Nadelstichen des Lebens, als Magd ihres Hauses, – wie mag wohl mancher in fressender Reue, in knirschendem Grimm des Tages gedenken, an dem sein Schwur für ewig ihn an den dürren Stamm band? Kreuzt eine junge Dirne dann seinen Pfad, mit blanken Augen und runder Brust, mit lachenden Lippen und rankem Leib, die ihm noch einmal der goldenen Jugend berauschenden Zaubertrank verheißt, ihm neues, höllisches Feuer in die Adern gießt, verstohlen ihm von Seligkeiten über Seligkeiten raunt, wenn nur die eine, einzigste nicht lebte, – wie manchmal hat da nicht der Stahl in Mannesfaust die welke Brust des Weibes durchbohrt, die er einst mit dankbar scheuen Küssen bedeckt? Wahrlich, nur allzu oft führt Liebe zwei Menschen lächelnd ins Leben hinein, auf die am Ende des Weges mit flammenden Augen der Haß schon harrt!
Und war es umgekehrt nicht ebenso? War nicht auch hier die Liebe oft des Hasses Kindheit, seiner Unschuld Tage? Er sah die Tausende und Abertausende von armen Mädchen vor sich, die im verzweifelten Kampf um den Mann ihm alles versprechen müssen und nichts gewähren dürfen, die eine einzige Minute des Sichvergessens, des Menschseins mit dem Verlust des Liebsten, mit Not und Schande büßen, – die Tausende und Abertausende von Mädchen, die in heimlichem Haß sich vor ihm ducken und demütigen, schmeicheln und girren, lügen und heucheln, bis daß die lechzenden Sinne seinen Widerstand ersticken, er sich dem Weibe am Altar für Lebenszeit verschreibt? Und wächst und wächst nach kurzem Sonnenschein nicht auch der Haß in der verblühenden Frau, die bald vergebens auf ihre Rechte pocht, »bis daß der Tod uns scheidet«, die jedes fremde Weib verbissen schmäht und durch den Staub schleift, in steter Angst, daß sich der Gatte von ihr wenden und eine andere begehren könnte? Die Tag um Tag auf ihres Lebens Trümmern, in Leid und Empörung, in ohnmächtigem Zorn die Stunde beweint, in der er mit angsterfüllten Augen und zitternden Lippen um sie warb, ihr schwor, daß er sie ehren, auf Händen tragen wolle sein Leben lang? Steigt nicht auch hier so manchesmal der fressende Haß so hoch empor, daß sie die Qual nicht mehr ertragend ihm, sich oder beiden den tückischen Tod bereitet ...?
»Noch keiner,« hörte er draußen auf dem Gange des D-Zuges einen stattlichen, weißhaarigen Herrn zu seinem Begleiter sagen, »hat mir so klug geraten wie meine Frau. Sie ist ehrlich und tapfer, edel und rein, sie ist meine Freude, mein Glück. Und wenn der graue Wintertag mit seinem Schneedunst sich über unsere Scholle breitet, – daheim am warmen Herde leuchten ihre Augen noch heute jung und klar aus wirren Krähenfüßen heraus, und ich tausche mit keinem König auf Erden. Mein Weib ist meine Welt, die Arbeit meine Kraft, mein Haus ist meine Burg!«
Und aus dem Leide und Glück der anderen schöpfte Isidor frischen Lebensmut. Besser noch im Groll beginnen, als in ihm enden. Mochte er seine erste Schlacht verloren haben, – er wollte die Scharte wieder auswetzen. Und Dora mußte ihm schließlich auf halbem Wege begegnen, in der Erkenntnis, daß sie ihm bitter Unrecht getan.
Er war ihr ehrlich entgegengetreten, hatte nichts an sich und seinen Verhältnissen verborgen; sie mußte wissen, wem sie sich schenkte, als sie das Ja aussprach. Er hatte sich während der Brautzeit zurückgehalten, weit über Menschenkraft hinaus. Das freilich vergaß er, daß er ihr einst bei seiner Werbung gestanden, wie sehr er ihren Entschluß als Gnade empfand, wie sehr er sich bewußt war, ihre Liebe erst erringen zu müssen. Und auch das sagte er sich nicht, daß er im Laufe der Zeit sich selbst geändert, immer mehr ihr Verlöbnis als Leistung und Gegenleistung, das Jawort seiner Braut als eine Schuld, als ein Akzept betrachtet hatte, das anstandslos am Hochzeitsabend eingelöst werden müßte, daß er wie Shylock jetzt auf seinem Schein bestand, wo er geduldig zu warten gelobt hatte.
Sie war nicht abweisend zu ihm, nie fiel ein böses Wort von ihren Lippen, nie erwähnte sie die schlimme Nacht. Sie bot ihm unbefangen den Morgengruß, wenn sie ihm auf die Minute pünktlich des Morgens im Frühstückszimmer des Hotels entgegentrat, antwortete ohne Unfreundlichkeit auf jede Frage, nahm seine Handreichungen und Aufmerksamkeiten, wie sie die Reise fortwährend bedingte, mit leisem Dank entgegen. Aber je länger die Fahrt dauerte, je weniger sie zu erkennen vermochte, ob er darauf verzichtet habe, sich ihr zu nähern oder ob neue Pläne hinter seiner Stirn gährten, desto unruhiger wurde sie. Lange Nächte lag sie schlaflos, während er zu gleicher Zeit, fern von ihr, knirschend in sein Kopfkissen biß, im Geiste seine Zähne in ihre nackte, weiße, starre Brust grabend, in diese Brust, die ihm durch Tag und Nacht wie eine Zwangsvorstellung, wie eine Fata Morgana vor Augen stand.
Und immer wieder versuchte er unter dem eintönigen Rattern des Zuges in ihre Seele, in ihr Empfinden einzudringen. Er sah sie vor sich als Mädchen aus der Fremde, mit ihren keuschen blauen Augen, die sich so plötzlich, so lasterhaft dunkel färbten. Sie war nicht, was sie scheinen wollte. Mochte ihre Jungfräulichkeit sich aufgebäumt haben gegen das Mysterium der Liebe, – im Grunde ihres Wesens war sie zur Freude geschaffen, würde der Tag kommen, wo sie sich nach dem Manne sehnte. Wer konnte wissen, ob sie sich ihm nicht nur aus Koketterie versagte, die Perle ihres Magdtums lieber in das Meer warf, als unter dem Werte hingab? Ob nicht der Gedanke sie beherrschte, ihm für alle Zeit klarzumachen, daß sie zu ihm hinabgestiegen war? Ein Weib versagt sich nur aus Abscheu, oder wenn es eine andere Liebe im Herzen trägt. Hätte sie Abscheu vor ihm, so hätte sie ihn mit seiner Werbung abgewiesen; und einen anderen ...? Trettach! Zum zweitenmal fühlte er ihren Schlag mitten in sein Gesicht. Mit klopfendem Herzen hatte er sie beide beobachtet, als ihr am Hochzeitstage der Offizier glückwünschend die Hand küßte. Er hatte nichts bemerkt; nur ihre blauen Augen hatten tiefschwarz geflimmert ... Ein häßlicher Gedanke zuckte in ihm auf: Hatte sie sich Trettach geschenkt, versagte sie sich dem Gatten, um ihre Schuld zu verbergen? Wollte sie die Leidenschaft in ihm aufwühlen, bis er besinnungslos sich auf sie warf, nicht fähig mehr, zu unterscheiden und mit ihr zu rechten? Er machte sich Vorwürfe, die beiden nicht öfter zusammengebracht und heimlich beobachtet zu haben. Eine quälende, hilflose Eifersucht stieg in ihm auf: Wenn jener lachend im sicheren Tal die Knospe gepflückt, um die er mühsam, mit keuchender Brust, von Grat zu Grat emporgeklommen war? Die ganze innere Wut, die ihn heimlich gegen diese Aristokraten, diese selbstbewußten, sporenklirrenden Offiziere, diese abgeschlossene, eisige Hofgesellschaft erfüllte, warf sich auf den einen hochgewachsenen, blonden Mann mit den kühlen grauen Augen, die dort unten so oft dem Tode entgegengesehen, den Mann, der heute in Millionen wühlte ... Einen Augenblick dachte er daran, sich ihm so eng als möglich anzuschließen, ihn in sein Haus zu locken, langsam, bedächtig die Falle zu stellen, bis dann im richtigen Augenblick das Fangeisen zusammenschlug. Aber sein Herz zitterte auf bei dem Gedanken, zu wissen, was er jetzt nur fürchtete. Was sollte er dann tun? Sie mit der Peitsche hinausjagen? Einsam, verzweifelt, betrogen in seinem öden Heim zurückbleiben? Sie dem Manne, den sie liebte, in die weitgeöffneten Arme werfen? Und er fühlte ganz genau, er würde das alles nicht tun; er würde das Weib bei sich behalten, trotz ihrer Schuld, trotz ihrer Schande. Er würde beide Augen zudrücken, sich mit dem Brosamen ihrer Gunst zufrieden geben, weil er sie liebte, sie dem anderen nicht gönnte, sich vor ihm fürchtete. Er war kein Held der Waffe, kein Rächer seiner Ehre; er war ein einfacher jüdischer Mann, dessen Vorfahren unter der Knute, im Schraubstock, am Feuerpfahl weinend mit angesehen hatten, wie rohe Landsknechte ihnen die Frauen und Töchter schändeten. Vielleicht, daß unter der Wucht der Schmach, unter dem Schmerz der Täuschung sein Mut sich stählte, seine Hand sich fest und sicher um die Waffe schloß. Was dann? Hinter Eisengittern hätte seine Seele geschrieen nach ihr, an deren Buhlen er zum Mörder geworden ...
Er fuhr auf. Sie saß neben ihm, bildhübsch unter dem kleinen weißen englischen Strohhut, der ihres Haares Farbe hob. Sein Auge glitt heimlich an ihr hinab, bis zur zierlichen Schuhspitze, die unter dem Rock hervorlugte. Und wie ein Maulwurf sich durch die Erde gräbt, krochen seine Gedanken und Wünsche hinauf bis zu dem runden Knie, das sich deutlich unter dem Stoff abzeichnete, immer wilder, verwegener ...
Ein leises Zittern befiel ihn, seine Hände krampften sich in die Polster ... Nein, er konnte es nicht glauben! Sie war aus vornehmem Hause, aufgewachsen unter den Augen der Tante, in einer Umgebung, wo jeder sie kannte, sie beobachtete, wo es unmöglich war, unsichtbar in der Menge unterzutauchen, wenn einmal die Sünde lockte. Er tat ihr unrecht; sie war und blieb seines Lebens Krone, trotz allem, was sie ihm angetan. Die Zähigkeit seiner Rasse regte sich in ihm, ihre Gabe, geduldig mit stetem Tropfen den härtesten Stein zu höhlen, auf Umwegen durch Spalten und Ritzen zu schlüpfen, wo scheinbar ein unübersteigliches Hemmnis Halt gebietet. Hatte er so lange gewartet, so wollte er es noch länger tun. Mit dem, was Dora in ihrer freudlosen Jugend entbehrt, wollte er sich ihr Herz gewinnen. Hatte der Komfort, mit dem er sie auf der Reise umgab, nicht sichtlich bereits seinen Einfluß auf sie ausgeübt? War sie von Tag zu Tag nicht nachgiebiger, weicher geworden, schon unter dem Luxus der fremden Häuser, um wenige Mark für, eine Nacht erkauft? Mußte da nicht der eigene Besitz sie doppelt freuen? Er würde sie daheim mit Schätzen überschütten, mochte kommen, was wollte, und wenn er seiner Liebe Erfüllung auf den Trümmern seines Wohlstandes feierte!
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