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Und Isidor atmete auf. Zeit gewonnen, alles gewonnen.
Mit Dora war inzwischen eine Veränderung vorgegangen, die Isidor unbedingt hätte bemerken müssen, wenn nicht der Kampf um seine Existenz ihn ganz in Anspruch genommen hätte. Sie wurde immer unruhiger, immer nervöser. Sie war viel aus, fast täglich ging sie zur Tante, die sich die plötzliche Liebe ihrer Nichte nicht erklären konnte. Sie begann die bisherige Einfachheit in ihrer Kleidung aufzugeben; jetzt erst trug sie die wundervollen Kostüme ihrer Ausstattung, den Schmuck, den ihr Isidor geschenkt. Daheim hielt sie es nicht lange auf einem Platze aus. War abends Besuch da, so lachte sie viel, manchmal so lange, so ganz ohne Grund, daß die Gäste erstaunt auf sie blickten. Aber da Dora doppelt schön aussah, wenn sie lachte, mit ihrem perlenden, girrenden Lachen, waren sie es wohl zufrieden. Blieb sie einmal mit ihrem Gatten allein, so saß sie, die gefalteten Hände auf dem Tisch, unter den elektrischen Birnen, die goldige Funken aus ihrem Haar lockten, und sang mit leiser Stimme Liedchen vor sich hin, während ihre Augen, schwarz getönt, in weiter, weiter Ferne etwas Unbekanntes suchten.
Schließlich fiel auch ihrem Manne die Veränderung auf, die mit ihr vorging. Aber Isidor, war so erschlafft von allem Widrigen, das der Tag jetzt mit sich brachte, er wälzte so viele Zahlen in seinem Kopf, die ihn wie Fledermäuse umschwirrten, war so totmüde von den schrecklichen Nächten, in denen er unter dem Alp seiner seltsamen Ehe erst spät die Augen schloß und jäh wieder auffuhr, wenn die graue Sorge ihm den Hals zuschnürte, daß er nicht die Kraft besaß, den Gründen für Doras verändertes Wesen nachzuspüren. Und im stillen hegte er die scheue Hoffnung, daß dieser Wechsel sie ihm näherbrachte, daß endlich, endlich das Weib in ihr erwachte.
Und er täuschte sich nicht.
In Dora war das Weib erwacht. Aber das Weib, das sich mit Leib und Seele von der Seite des Gatten zu dem Manne hinwegträumte, dem alle ihre Herzgedanken gehörten.
Eines Tages, als sie die Tante besuchte, sagte diese ihr beim Abschied, daß sie den ganzen nächsten Tag durch den Besuch eines Krankenhauses in Anspruch genommen sei. Dora strauchelte, als sie die Treppe hinabstieg. Wie im Traume ging sie heim, irrte sie durch das ganze Haus, ringend mit sich und ihrem Schicksal, zerrissen von Scham und Begehren. Plötzlich sah sie sich in ihrem Schlafzimmer, stand sie genau auf der Stelle, wo Isidor sie damals gepackt hatte. Ihre kleinen Fäuste ballten sich, ihr Atem stockte. Eine lange Minute noch verharrte sie regungslos, dann wandte sie sich entschlossen und ging mit schnellen Schritten durch die Zimmerflucht, zu ihrem Schreibtisch. Und hier schrieb Dora Cohn den Brief, mit dem fast jede irrende Frau die Schwelle zwischen Gut und Böse überschreitet, den Brief, der immer wieder beweist, daß Leidenschaft tausendmal stärker ist als Erziehung und Sitte.
Sie schrieb ihm, sie müsse ihn sprechen. Zu viel Unausgeglichenes läge zwischen ihnen. Einmal, ein einziges Mal. Die Tante sei morgen nicht daheim. Sie, Dora, würde um drei Uhr dort sein und das Mädchen unter einem Vorwande entfernen. Sie erwarte ihn um halb vier. Sie kenne ihn als Kavalier, er würde einer Dame keinen Wunsch abschlagen, selbst wenn nichts mehr für. sie in seinem Herzen spräche.
Und sie adressierte mit fliegender Hand an den Oberleutnant Freiherrn von Trettach.
Dann bestellte sie sich das Auto und fuhr aus. An einer Ecke ließ sie halten. Schwer fiel der, Brief in den hohlen Kasten hinein ...
Er kam pünktlich. Sie hatte gelauscht, dicht hinter der Tür, lange, bange Minuten. Dann hörte sie einen Schritt, ohne Sporen- und Säbelklirren, der zögernd vor der Tür haltmachte. Sie spähte durch die kleine, runde Scheibe. Es war Hans Joachim, in grauem Zivil. Leise öffnete sie die Tür, ohne sich sehen zu lassen. Mit stummem Gruß ging er an ihr vorbei; dann folgte er ihr bis in das Zimmer, in dem sie als Mädchen gewohnt hatte und das unverändert geblieben war, – dasselbe, in dem er vor zwei Jahren Abschied von ihr genommen. Er stand am Fenster, von der warmen Oktobersonne hell beschienen, die sein scharfgeschnittenes Profil wie eine Silhouette hervorhob.
Sie blieb an der Zimmertür stehn, die sie hinter sich geschlossen hatte.
Sie wartete auf ein Wort von ihm. Aber er schwieg hartnäckig.
»Hans Joachim,« sagte sie endlich leise, »sei lieb zu mir!«
Er antwortete nicht. Stumm, mit finsteren Augen, trank er ihr Bild, das die Jahre nur noch verschönt hatten.
»Ich hab' ihn nehmen müssen,« fuhr sie zagend fort, »ich hatte ja nur die Wahl, mich ihm zu verkaufen oder mich einst bei fremden Menschen um's tägliche Brot zu verdingen. Und der, den ich im Herzen trug, nach dem meine Seele schrie, der war ja wie tot, der wollte nichts von mir wissen. Ich weiß, es war feige, und mich schauderte vor dem Mann, aber mir bangte noch mehr vor der Zukunft. Alle haben sie mich gequält, der Onkel, die Tante, alle, alle ... Die mußten doch wissen, daß es mich reuen würde, und dennoch trieben sie mich in diese Ehe hinein, ließen sie mich nicht zur Besinnung kommen, machten mich wirr und krank mit ihren Sorgen, mit ihrer Forderung, mich dankbar zu zeigen für die Wohltaten, die sie der Waise erwiesen. Und je näher der Tag kam, wo ich ihn nehmen sollte, desto mehr tat es mir leid ...« Ihre Stimme brach.
Er schwieg noch immer, mit zusammen«! gepreßten Lippen.
»Immer mehr leid,« setzte sie mit leisem Schluchzen hinzu.
»Und warum machtest du dich nicht frei?« Messerscharf klangen die Worte.
Sie zuckte hilflos die Achseln. »Was dann?« erwiderte sie. »Allein in der Welt, abhängig, Freiwild ... und ich hatte so lange gewartet.«
»Auf wen?«
Sie fuhr sich mit beiden Händen über das sprühende Haar »Ich kann's dir nicht sagen,« antwortete sie tonlos.
Er sah einen Augenblick in ihr Gesicht, dem der Schmerz etwas Kindliches, Rührendes gab. Dann wandte er sich und blickte auf den im Farbenrausch des Herbstes leuchtenden Park hinüber.
»Auf mich, Dora?« fragte er.
Sie schwieg. Er kehrte sich zu ihr um.
»Auf mich?« fragte er noch einmal.
Sie brach in wildes Weinen aus.
Er trat einen Schritt auf sie zu, seine Hände ballten sich. »Es gab eine Zeit, damals,« sagte er, »da hätte ich alles hingeworfen, Portepee, Karriere, meine Zukunft, alles für ein kleines, liebes Ding mit blauen Augen und goldigem Haar, mit roten Lippen und ... damals, als ich auf dich verzichtete, weil ich bettelarm war. Es wäre ein Verbrechen an dir gewesen, anders zu handeln, – wenn es auch Böses gibt, das sittlicher ist als das Gute. Es wäre eine Torheit gewesen; und doch ist eine Torheit zu zweien, die sich lieb haben, oft das Schönste, Köstlichste, Reinste im Leben ...«
Er sprach langsam, grübelnd, wie zu sich selbst. Sie lauschte auf jedes Wort, regungslos, mit großen, starren Augen.
»Heute, – du lieber Gott,« fuhr er ebenso fort, »Jahre hindurch dasselbe Bild vor Augen, bei Tag und Nacht, wie Gift im Leibe, wie verhext, – und dann die Heimkehr, alles, alles aus ...« Seine Stimme schwankte einen Augenblick. »Und sie in den Armen des andern, die Lust seiner Nächte.«
Tiefschwarz wurden ihre Augen. Sie wußte jetzt was ihn quälte, sie kannte den Heiltrunk, den sie mit gutem Gewissen ihm reichen konnte.
»Hätt' ich dich damals an mich gerissen,«« sagte er mit zusammengezogenen Brauen, »wer weiß, wie's gekommen wäre ... Sorge und Not, vielleicht die Kugel ... Aber ich wäre gestorben, ein glücklicher Mensch, mit frohem Herzen, mit dankbarem Kuß für dich ... Ich hatte dich Mädel zu lieb dazu, kleine Dora.«
Sie schüttelte den Kopf. »Die echte Liebe, Hans Joachim, die wägt nicht, die wagt. Die echte Liebe gleicht der Welle, die jauchzend am Felsblock emporbrandet, der sie zerbricht.«
Er reckte sich hoch. »Du wägtest nicht, als du den Mann nahmst, du wagtest das Unglaubliche, warfst dich mitten hinein in den Schmutz. War das die echte Liebe?«
Sie schwieg. Dann sagte sie bitter: »Schonung kennst du nicht, Hans Joachim.«
Er brach aus. Seine Hände flogen. »Ich habe dich geschont,« knirschte er, »in jener Abschiedsstunde, als du das Kleid vom Leib dir rissest, um mir zu schenken, was du an diesen Cohn verschachert hast. Da habe ich Narr dich geschont, – heut tut's mir leid!«
Sie trat auf ihn zu und schmiegte sich schüchtern an ihn. »Es tut dir leid, Hans Joachim?« sagte sie innig. »Es tut dir leid, weil du mich doch noch liebst.«
Er machte sich frei. Seine grauen Augen glühten, sein sonst so blasses Gesicht flammte. So mußte er drüben ausgesehen haben, wenn der Tod um ihn mähte. »Wie hat nur dieser Schuft seine Brautnacht überlebt?« knirschte er. »Warum hast du nicht deine krampfenden Hände um seinen keuchenden Hals geschnürt, in der Minute, als seine geifernden Lippen sich in dein reines Fleisch gruben?«
Sie wagte noch nicht, ihm die Wahrheit zu sagen; sie fürchtete, er würde ihr nicht glauben, ihr ins Gesicht lachen.
»Ich schloß die Augen, Hans Joachim,« log sie, und ihr Blick strahlte in heimlicher Freude, »ich dachte an einen anderen ...«
»Hieß der Levy oder Manasse?« fragte er erbittert zurück, unter dem wütenden Schmerz ihres Geständnisses.
Sie ging aufrecht, stolz und frei auf ihn zu. »Küß' mich, Hans Joachim,« jubelte sie, »einmal noch küsse mich!«
Er blickte ihr stier in die Augen, dann riß er sie zu sich hoch. »Es ist eine Dummheit, ich weiß, es kommt immer heraus; und dann schreit der Bursche. Aber auch ich hab' geschrieen, tausend Meilen fern von dir, geschrieen in Liebe und Jammer.« Er preßte sie an sich, daß ihr der Atem verging; seine Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander. Der ernste, beherrschte Mann war wie verwandelt, in seinen Augen stand das Blut. »Ich hasse den Hund,« brach er aus, »diesen verfluchten Hund, der Nacht für Nacht deinen Leib küßt, dich Nacht um Nacht besudelt, wie eine Dirne dich schänden darf ...«
Sie sank vor ihm in die Kniee. »Hörst du denn nicht, Hans Joachim?« flüsterte sie mit leuchtenden Augen. »Ich habe ja auf dich gewartet, gewartet mit Seele und Leib.«
»Dora!« schrie er auf, »Dora, liebe, kleine Dora!«
Jauchzend schlang sie die Arme um ihn. »Er schläft nicht bei mir,« jubelte sie, »er küßt nicht meinen Leib, er schändet mich nicht, der Jude ... Ich habe auf dich gewartet, – küss' mich Hans Joachim, küss' mich heiß, du mein Glück, mein Alles in der Welt!«
Und wieder, wie vor Jahren, griff sie mit beiden Händen in ihr Kleid und riß es mit fliegenden Händen weit auf. Er stieß einen Schrei aus, ein Röcheln, das nichts Menschliches mehr an sich hatte. Und er hob sie mit seinen Armen zu sich empor und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.
Sie lag stumm an seinem Herzen; ihre blutleeren Lippen zuckten, die schlanken Arme hingen leblos herab. Ihr Haupt war nach rückwärts geglitten, das Haar löste sich und flutete in goldigen Wogen über seine Schulter. Langsam schlug eine Kirchturmuhr die vierte Stunde. Sonst kein Laut. Und plötzlich straffte sie sich mit weit geöffneten, unnatürlich großen Augen, umklammerte sie mit aller Kraft den Hals des Mannes, der ihrer Liebe Erfüllung war.
Ein leiser Hauch zitterte durch den Raum, ein, einziges Wort:
»Komm!«
Das Weib hatte es gesprochen.
Als Dora heimkehrte, fand sie Isidor zu Hause. Er hatte beabsichtigt, bis abends in seinem Bureau zu arbeiten, aber eine unüberwindliche innere Unruhe trieb ihn heim. Hier hatte er schon eine Stunde auf sie gewartet, eine Stunde, in der; die Ungeduld, sie zu sehen, die Ungewißheit, wo sie war, ihn fast zur Raserei brachte. Er musterte sie heimlich vom Kopf bis zu den Füßen. Ihr Haar saß anders als sonst, leicht zerzaust, das Haar einer Frau, das nicht vor dem gewohnten Spiegel aufgesteckt ist; ihre Augen schwammen unter leichtgeröteten Lidern in tiefgesättigtem Blau, ihre Lippen, die sonst so herb verschlossen waren, schimmerten rot wie Blut, spannten sich wie die Haut einer reifen Granate und ließen die weißen Zähne hindurchblitzen. Eine wohlige Müdigkeit gab ihren Bewegungen etwas ungewohnt Weiches, Frauenhaftes. Sie hatte kaum das Abendessen berührt; jetzt saß sie ihm gegenüber, in ihren Sessel geschmiegt, unter dem elektrischen Licht, das über ihr wirres Haar gleitend einen züngelnden Strahlenkranz um sie wob. Ihr Blick schien etwas Fernes und dennoch greifbar Deutliches zu sehn, eine Kette von Märchenbildern, die sich in stetem Wechsel in ihren Augen widerspiegelten.
Immer wieder glitt sein Blick von der Zeitung an ihr entlang, vom Kopf bis zu den Füßen. Und plötzlich ging es ihm wie ein kalter Wassersturz über den Rücken.
Zwei Haken ihres Kragens standen offen.
Und Isidor Cohn wußte, mit dem untrüglichen Instinkt des Betrogenen, daß ihm sein Weib die Treue gebrochen.
Er las ruhig weiter, denselben Abschnitt einmal, zweimal, wieder von vorn, er faßte den Sinn nicht. Seine Lippen bewegten sich unmerklich, stumm, immer von neuem in dem verzweifelten Schrei: »Allmächtiger Gott! Allmächtiger Gott!« Die Zigarre glitt ihm aus den abgestorbenen Fingern; er hob sie mühsam, ohne sich seines Tuns bewußt zu sein, vom Teppich auf und warf sie in den Aschbecher. Ihm schien, als schöben sich die Wände des Zimmers auf ihn zu, als senke sich die Decke herab, um ihn zu erdrücken. Wieder hatte er den eklen metallischen Geschmack auf seiner Zunge.
Sie saß regungslos neben ihm und sang leise vor sich hin.
Noch immer waren ihm die Lippen wie zugefroren. Er stand schwerfällig auf, taumelte durch das Zimmer und warf sich auf eine Chaiselongue, dieselbe, auf der er jene erste Nacht in Wut und Scham verbracht hatte. Ihm hämmerte der Kopf, es war ihm zum Brechen übel. Der plötzliche Schreck hatte ihn völlig niedergeworfen.
Trettach! Hans Joachim von Trettach! – Er schwankte keine Sekunde. Der hatte heute keck, mit vollen Zügen den köstlichen Trunk geschlürft, nach dem der betrogene Gatte seit Monaten mit trockenen, heißen Lippen schmachtete. Isidor fieberte in dem Drange, aufzuspringen, ihn zu stellen, niederzuschlagen, mitten unter seinen adligen Kumpanen, denen er in dieser Minute wohl von seinen Wonnen erzählte, ein Bild von Doras Reizen malte. Und ein tödlicher Haß gegen sie erfüllte sein Herz. Dort drüben in seinem Schrank lag die Waffe, die er auf seinen Reisen immer bei sich trug. Sollte er sie niederschießen, ohne eine einzige Frage, von rückwärts? Er verwarf den Gedanken, er wußte, er war nicht fähig dazu. Nein, er wollte warten, auf der Lauer liegen, wochen-, monatelang, alles gehen lassen, über nichts sich wundern, bis er sie faßte, sie und ihn, bis er den überzeugenden Beweis ihrer Schuld in Händen hatte, um den verhaßten Gegner unmöglich zu machen, mit Schimpf und Schande kassieren zu lassen. Dann war er Doras Gebieter, ihr Herr, sie seine Sklavin, deren Schicksal in seiner Hand lag, die er rücksichtslos unter seinen Willen zwingen konnte. Und in allem Weh zog ein leises Gefühl der Befriedigung, der Hoffnung, sie endlich ganz zu besitzen, durch sein Herz.
»Einmal noch beben, eh' es vorbei, einmal noch leben, lieben im Mai ...« klang es sehnsüchtig von ihren Lippen zu ihm hinüber.
Er erhob sich, zündete sich eine neue Zigarre an und griff gelassen wieder nach der Zeitung.
Aber der kalte Schweiß stand ihm in großen Perlen auf der Stirn.
Zu derselben Zeit saß Trettach in ungewohnter Gesellschaft. Es sollte zu Ehren des sechzigsten Geburtstages der Herzogin-Mutter eine Vorstellung mit anschließendem Bazar in der Ressource veranstaltet, historische Szenen aus der, Geschichte des Landes aufgeführt werden, zu denen der Chefredakteur Dr. Bergen den verbindenden Text geschrieben. Eine ganze Anzahl von Offizieren der Leibhusaren hatten sich bereit erklärt, als Statisten mitzuwirken, da die Massenszenen der Handlung es erforderlich machten, auch die weiblichen Mitglieder des Hoftheaters hinzuzuziehen und man sich einige vergnügte Proben versprach.
Während vorn an der Bühne ernsthafte Debatten gepflogen wurden, tuschelten die Leutnants hinten mit den kleinen Schauspielerinnen zweiten und dritten Ranges und forderten sie auf, nach der »Chose« zurückzubleiben und sich gemütlich von den Strapazen der Sitzung zu erholen, – eine Einladung, die bei den innigen Beziehungen zwischen Schwert und Leier in der Residenz ohne viel Umstände angenommen wurde.
Hans Joachim hatte schon, ehe er Doras Brief empfing, seine Unterstützung zugesagt. Man rechnete für das kolonialpatriotische Schlußbild auf seine Hilfe. So wenig ihm auch nach allem dem, was er heute erlebt hatte, der Sinn danach stand, jetzt unter Menschen zu sein, hielt er es doch für klug sich sehn zu lassen, um jedem späteren Verdacht dadurch zu begegnen.
Er eilte nach Hause und legte Uniform an. Als er in der Ressource eintraf, war die Probe bereits zu Ende; die Mitwirkenden, soweit sie nicht an der Verabredung beteiligt waren, hatten sich schon verabschiedet und die Zurückgebliebenen sich in einem kleinen, für solche intimen »Herrenabende mit Damen« bestimmten Nebensaal zusammengefunden.
Als Trettach, hierhin gewiesen, eintrat, schallte ihm ein wilder Lärm, ein Hurra herzlicher Begrüßung entgegen. Er hielt sich sonst von solchen Veranstaltungen fern; um so freudiger sah man heute sein Erscheinen. Das lange, schmale Zimmer mit dem dunklen, mit Zinnkrügen und Schüsseln besetzten Paneel und den weißgetünchten, in die Decke übergehenden Wänden bot ein festliches Bild. Das elektrische Licht flimmerte über das Damasttischtuch, brach sich in dem Silber der Tafelaufsätze und Bestecke, leuchtete satt durch die gefüllten Gläser. In die Farbenfreude der bunten, silberverschnürten Attilas brachte die lichte Kleidung der Damen eine wohltuende Ruhe. Schon war das Essen zu Ende serviert, hier und da knackten blanke Mäusezähnchen noch Mandeln, sonst hatte bereits die Zigarette ihre Herrschaft angetreten.
Hans Joachim setzte sich an das Ende des Tisches zwischen zwei ältere Kameraden.
Es war die Rede von einem Infanterie-Offizier des Korps, der sich einem Weibe zuliebe ruiniert und erschossen hatte. Auf seinem Schreibtisch lag ein Zettel mit den Worten: »Weinreisenden spielen, vier Treppen hoch wohnen, Lagerbier saufen, – nicht zu machen!« Die einen nahmen für, die andern gegen ihn Partei.
Inzwischen schwirrten die Einzelgespräche um den Tisch herum.
»Sind Sie ein richtiger Prinz, Durchlaucht, einer, der einmal Herzog wird?« fragte eine kleine Naive ihren Nachbarn, einen jungen, zierlichen Offizier mit schmalem, faltigen Gesicht und Monokel im Auge, der die Uniform der preußischen Leibgardehusaren trug. Er war als Verwandter des Herzogs zu Besuch eingetroffen, langweilte sich scheußlich in der kleinen Residenz und dankte Gott, daß heute einigermaßen Leben in die Bude gekommen war.
»Nein, Mäuschen,« antwortete er ruhig, »leider nur Seitenlinie.«
»Aha!« sagte die Kleine mit etwas dummem Gesicht. Eine Weile zögerte sie noch, dann fragte sie offen weiter: »Was ist denn das eigentlich, Seitenlinie?«
Er stieß den Rauch aus der Zigarette. »Weißt du, Schatz, was Dalles ist?«
»Und ob!« erwiderte sie mit Überzeugung.
»Na also,« erwiderte der Prinz befriedigt, »Seitenlinie ist Dalleslinie ...«
Hans Joachim saß stumm inmitten des Lärms. Er wünschte sich weit weg. Seine Seele war erfüllt von Bildern, die in wilder Jagd vor seinem inneren Auge vorbeizogen; in allem Glück der Stunde, die er durchlebt, nagte der Schmerz an ihm, wenn er der Jahre drüben im Urwald gedachte, der Qualen, die er sich umsonst auferlegt.
Und während um ihn herum die Lebenslust sprühte, der Übermut der Jugend bunte Blasen trieb, suchte Hans Joachim sich Rechenschaft über sich und seine Lage zu geben.
Von drüben klang eine lachende Stimme herüber: »Paul Heyse erzählt's! In Neapel beten die Mädel: Maria Gebenedeite, die du empfangen hast, ohne zu sündigen, lasse mich sündigen, ohne zu empfangen.«
»Das beten sie auch hier,« rief ein anderer.
»Aber es hilft nicht immer,« setzte die schwarzäugige Liebhaberin nachdenklich hinzu.
»Trinke, Herzchen, trinke,« mahnte der Prinz die Naive. »Wir sind hier nicht im alten Rom, wo das Weib zum Tode verurteilt wurde, dessen Atem nach Wein duftete.«
»Dann hätt' ich mich damals in Chartreuse beschwippst,« entgegnete sie schlagfertig, »was »man übrigens auch heute noch kann.«
Der Prinz lächelte und bestellte. »Wann empfängst du für gewöhnlich, Madonna?« fragte er dann phlegmatisch.
Die Kleine zwinkerte ihn listig an. Ihr rotes Zünglein leckte den Chartreuse von ihren Lippen. »Nie,« antwortete sie mit tragischer Handbewegung. »Sie denken wohl, Durchlaucht, daß man Sie hier bei uns nicht kennt? Hoho, wir von den Brettern haben überall Beziehungen.«
»Dann kannst du ja auch welche mit mir anknüpfen.«
»Und was ich da für Geschichten gehört habe!« fuhr die Kleine entrüstet fort, – »ich bin empört, Durchlaucht!«
»Um so besser,« antwortete der Prinz ruhig. »Das waren alle Weiber, ehe sie sich mir ergaben.«
Die niedliche Naive blickte ihn bewundernd und seufzte tief auf.
Längst hatte der Wein seine Schuldigkeit getan. Die Offiziere saßen verquer, den Arm über der Stuhllehne ihrer Nachbarinnen. An allen Ecken und Enden huschte verhaltenes Kichern auf, ließ Augen glänzen, trieb das Blut in Wangen, und Stirn.
Und Hans Joachim sann und grübelte. Wir alle fassen die entscheidenden Entschlüsse unseres Lebens unmerklich für andere, scheinbar mit Nichtigem beschäftigt, während das Leben uns umbraust. Er wußte, daß er heute einen Tag erlebt hatte, der seines Lebens Markstein werden mußte. Er war bis heut ein Ehrenmann gewesen, und er prüfte sich ehrlich, ob er es noch sei. Ein Sturm war über ihn hinweggegangen, der alles mit sich gerissen, was lange Jahre sein Halt gewesen. Sein Wille hatte vor zwei geliebten blauen Augen versagt, – der Wille, der in dem langen verzweifelten Kampf unter Palmen, bei den sehnsüchtigen Klängen der melancholischen Negerlieder abgebröckelt und morsch geworden. Und, er gestand sich offen: Mochte ihm diese Stunde zum Unheil werden, sie war die Stunde vollsten, reinsten Glücks gewesen, den Preis eines ganzen Lebens wert: Er dachte ohne Bedauern, ohne Reue an sie zurück. Und doch hatten sie beide, Mann und Weib, die Ehe gebrochen, jeder Moral ins Gesicht geschlagen.
Der Offizier neben ihm wandte sich an einen der Herren. »Hast du den Witz mit Versen gehört?« fragte er ihn. Und er erzählte, wie Versen, ein bekannter Sportsmann, der als Ulan in einer benachbarten Garnison stand, einen Infanteriemajor kürzlich beim Pferdehandel übers Ohr gehauen hatte. »Nicht schlecht, was?« schloß er endlich seine langatmige Geschichte.
»Ich habe kein Wort verstanden,« antwortete sein Vis-à-vis. Die kleine Lilly drüben hat einen Taillenknopf auf, das hypnotisiert mich,«
Immer mehr steigerte sich die Stimmung. Schon brannten die Blicke der Offiziere auf den lichten Kleidern neben und vor ihnen, als spähten sie unter den durchsichtigen Stoffen nach starrer Seide, nach duftigem Batist und zierlichen Bändern, winzigen Schleifchen, und rieselnden Spitzen. Schon saßen die hübschen Mädchen ringsum zurückgeworfen, regungslos, mit gesenkten Wimpern, anscheinend taub, aber schweratmend, wenn über sie hinweg bald wie ein gaukelnder Schmetterling, bald wie ein scharf geschlagener Ball die kecken, unverhüllten Scherze flogen, leise geflüsterte, kosende Worte sich in ihr Ohr, flimmernde Blicke in ihr Mieder hineinstahlen, wie verwegene Patrouillen weit vor der Front den Gegner beunruhigen.
Moral? sann Hans Joachim. Was war Moral? Eine brüchige Wehr, von den Schwachen aufgerichtet gegen die Riesenkraft menschlicher Leidenschaft ... Gesetze, wechselnd von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Grenze zu Grenze ... Aber unveränderlich über Welt und Raum, über Jahrhunderte und Jahrtausende lebt und triumphiert die Liebe, ohne die das Menschenherz leer ist wie eine tönerne Schelle. Zwei Jahre hatte er sich vor der Moral gebeugt, hatte verzichtet in Schmerz und Reue ... Nein! Der Mensch trägt seine Moral in sich, in dem, was er bereit ist, zu verantworten und, wenn es sein muß, zu sühnen.
Wem hatte er Unrecht getan? Den Muckern, die den Frevel verzeihen, solange er sich geschickt hinter ehrbarer Miene verbirgt, die nicht die Tat an sich verurteilen, nur die entdeckte Tat? Nein! – Ihr, Dora, dem Weibe, das ihm in seligen Wonnen das Paradies der Liebe erschlossen, ihm jauchzend ihres Lebens schimmerndes Kleinod geschenkt? Nein! Auch ihr war dieser Tag ein Tag der Weihe, stolz, rein, heilig und hoch! – Dem Gatten? Er stutzte, dann schüttelte er unmerklich den Kopf. Dem Gatten, – nein! Auch ihm nicht Hatte er ihm das Herz seines Weibes gestohlen, hatte er ihm geraubt, was jener besessen? Nie hatte der Mensch sie je geküßt, in gegenseitiger Hingabe, im Gottesdienst der Liebe, in dem die Menschen vergehn und die Menschen entstehn. Und mit grimmigem Zorn dachte er an die Moral seiner Kreise, die widerstandslos das junge, blühende Weib an den dürftigen Juden verkuppeln ließ, ohne daß eine Hand sich erhob. Das war die Unmoral, dieser im Beisein deutschen Adels von Priesterhand besiegelte Bund, wo Glockenklang das Klirren des Goldes übertönte, mit dem sich der Mann das Weib erkauft, mit dem er sie alle bestochen hatte, die dort mit kalten Augen dem Opfer vor dem Altar beiwohnten ... Nein, er hatte die Ehe, die nie bestanden, nicht gebrochen, er hatte die Ehe vollzogen mit dem Weib, das er liebte, das ihn liebte, – vollzogen im Namen der Gerechtigkeit, kraft ihrer Liebe.
»Meine Kunst ist mein alles,« versicherte laut die Sentimentale neben dem Oberleutnant; der sie aushielt, und mit dem sie sich schon den ganzen Abend gezankt hatte. »Bei Tag und Nacht, im Wachen und Schlaf verläßt sie mich nicht.«
»Davon müßt' ich doch auch etwas bemerkt haben,« warf der Oberleutnant lakonisch ein.
»Schon in der Wiege hat sie mich geküßt,« beharrte die Sentimentale eigensinnig, ohne auf seinen Einwand zu achten.
»Für so verrückt hätt' ich die Kunst nicht gehalten,« entgegnete er spöttisch. Er wollte sie offenbar reizen.
»Laß deine Roheiten,« zischte sie ihn verletzt an. »Du bist ja total betrunken.«
Er umspannte mit zwei Fingern fest ihr Handgelenk. »Hör' mal,« sagte er herrisch, »ich merke es längst, du suchst heute Streit. Tu' es nicht! Hat die Tünche so lange vorgehalten, so laß sie noch einen Abend sitzen. Ich weiß ja, der Konfektionär aus der Hauptstraße, der zahlt seit dem Ersten deine Miete.«
»Lüge,« schrie sie auf. »Wie kannst du das sagen? Hast du denn gar kein Schamgefühl?«
»Nein,« antwortete er trocken, »das hat jetzt mein Nachfolger.«
»Sie, gab das Leugnen auf. »Also wirklich aus?« fragte sie, mit Tränen in den »Augen.
»Aus!« erwiderte er kurz.
Sie verstummte. Dann sagte sie schmeichelnd, mit einmal völlig verwandelt: »Aber gut bleibst du mir doch, nicht, Schatz? Und weißt du, Ernst, die Pelzboa könntest du mir noch zum Abschied schenken ...«
Graue Schleier lagen über dem kleinen Saal, schwankten, zogen sich auseinander und wieder zusammen in der Glut der flackernden Lichter, in der von Rauch und Parfüm getränkten Luft. Die Mädchen würden unruhig, als fühlten sie von Minute zu Minute ihren Widerstand erschlaffen, in den Augen der Offiziere lag etwas Brutales, das Vae Victis des erbarmungslosen Siegers. Ihre Arme reckten sich von den Stuhllehnen zu den Taillen hinab, klammerten sich fest um die liebliche Beute. Der Fähnrich, Graf Wetter, saß schluckend neben einer kleinen Novize, seiner Herzallerliebsten Bobby, und beichtete ihr mit betrübter Stimme, wie ihn als Knaben einst ein Gänsemädchen hinter den Weiden verführt habe. »Ich war ja noch so jung, so furchtbar jung!« klagte er hartnäckig zwischen zwei Gläsern Sekt.
Hans Joachim hörte nichts von allem. Ruhelos gingen seine Gedanken. War er wirklich ein freier Mann, ein starker Held, der lachend durch die Lande ziehen durfte, in seiner Brust des eignen Schicksals Sterne, unbekümmert um Recht und Sitte? War er nicht Träger eines Namens, dessen Adel verpflichtet, aufgewachsen in einer Sphäre, deren Ehrengesetz ihm Dogma seine mußte? Hatte er seinem hohen Herrn, dessen Rock er trug, nicht geschworen, ihn rein und fleckenlos zu erhalten? Und hatte er nicht dennoch sich heimlich gestohlen, worauf zu verzichten ihm Pflicht und Ehre gebot? Er zog die Brauen zusammen, seine Hand ballte sich. Er mochte jetzt seine Tat betrachten, wie er wollte, – er war zum Diebe geworden. War das Recht des Gatten auch noch so brüchig, – es blieb ein Recht, ein unantastbares Recht. Er hatte den wehrlosen Mann entehrt, tückisch und feig, ihn, sein Weib und sich selbst. Und sie alle, die Kameraden, die um ihn herumsaßen, die über Liebe und Frauen so leichtherzig dachten, deren kecke, zynische Worte wie aus weiter Ferne in sein Ohr klangen, – für diese alle war die Ehe Tabu, das Weib des andern heilig, sie würden ihm nicht mehr die Hand reichen, wenn sie die Wahrheit wüßten.
Aber Geschehenes war nicht ungeschehen zu machen. Nichts blieb ihm übrig, als mit der Waffe in der Hand, in ehrlichem Streite sich das zu erringen, was er sich freventlich bereits genommen hatte. Es ging um ein Weib, einer von ihnen war zu viel auf der Welt. Der Preis lohnte den Einsatz. Und wenn es sein mußte: Er fürchtete den Tod nicht, er hatte ihm zu oft in das Auge gesehn; tausendmal lieber noch ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.
»Ich gehe ins alte Fach,« schmetterte eine vollbusige dramatische Heldin von vierzig Jahren, die sich trotz ihres Alters noch immer in der vollen Gunst ihrer Freunde hielt und die dafür bekannt war, daß sie mit ihrem Spott nicht vor der eigenen Person haltmachte. »Neulich, da hab' ich in Dingsda gastiert. Maria Stuart. Gelacht haben sie, gekreischt, sage ich euch.«
»Aber das ist doch ein wundervoller Erfolg,« warf einer der Offiziere neckend ein.
»So? Fast geohrfeigt hat mich der Kuli, dieser Schmierendirektor. Und die Kritik schlug eine Dankadresse für die Königin Elisabeth vor, die diese Maria hatte hinrichten lassen. Ich habe es satt, Kinder, ich werde komische Alte ...«
»Der letzte Bey von Constantine, den die Franzosen damals verjagten,« hörte man den Prinzen schläfrig auseinandersetzen, »ließ eine seiner Frauen, die ihn belogen hatte, mit zugenähten Lippen lebendig einmauern.«
Ein allgemeines, entsetztes Pfui der Damen.
»Das können wir hier ja mal probeweise einführen,« schlug ein Leutnant vor.
»So viel Mauersteine gibt es bei uns gar nicht,« wandte ein anderer ein.
»Eine Frau darf lügen,« eiferte die bezechte Naive. »Die Lüge ist unser Recht. Eine Frau die nicht lügen kann, ist dumm, – so dumm wie ihr Männer!«
»Cet animal est très-méchant, quand on l'attaque; il se défend,« bemerkte der Prinz lächelnd. »Übrigens,« wandte er sich darin an einen der jungen Leutnants, »hab' ich Sie nicht neulich mit einem netten, heftig erblondeten Mädel gesehen?«
»Ein ganz famoser Käfer, Durchlaucht,« antwortete dieser, »aber verflucht Sattelzwang.«
»Bah,« bemerkte der tiefsinnige Leutnant. »Die Tugend ist eine Frage der Eigenheit, ein Mädel ziert sich nur, wenn es keine reine Wäsche an hat.«
Ein förmlicher Sturm brach los, wütendes Kreischen der Weiber mischte sich mit dem tosenden Beifall der Offiziere; Stühle fielen krachend um, geballte Servietten, Brötchen, Früchte flogen gegen den kecken Redner. Die kleine Naive stand, sich mühsam am Kronleuchter haltend, auf dem Tisch und beteuerte laut, daß sie auch im blütenreinsten Hemde schon einmal tugendhaft gewesen sei.
Und inmitten der Tohuwabohus saß Hans Joachim in schwerem Kampfe.
Er wollte sich Dora gewinnen. Aber durfte er sie bloßstellen? Durfte die Welt überhaupt des Kampfes Siegespreis ahnen? Dora hatte sich ihm vertraut, ihre Ehre war jetzt seine Ehre. Stritt er offen um sie, so waren sie beide geächtet, ihr künftiger Bund unmöglich. Nein, Dora mußte aus dem Spiel bleiben! Deshalb verwarf er auch sofort den Gedanken an eine Scheidung, der flüchtig in ihm auftauchte. Er wußte, daß damit ein Makel auf ihr blieb, daß, wenn er die geschiedene Frau zum Weib nahm, die Welt mit Fingern auf sie weisen würde! Und er hätte kein Recht, die Spötter der Lüge zu zeihen. Ein Vorwand mußte gefunden ein Streit vom Zaun gebrochen werden, bei erster Gelegenheit, vor Zeugen, über Nichtiges, Unanfechtbares, Fernliegendes. Und dann – hallo! Im dämmernden Morgen auf grüner Halde zum Gottesgericht, die glitzernde Waffe in der Faust, – für sie, die ihn jauchzend ihr Alles genannt ...
Und während die Bande der Ordnung sich immer mehr um ihn lockerten, heiße Blicke, kecke Hände ungescheut ihr Spiel trieben, beschloß er zweierlei: Erstens sich nicht mehr mit Dora heimlich zu treffen, sie um Geduld zu bitten, bis die Entscheidung gefallen war; zweitens in voller Ruhe abzuwarten, bis er den Mann aus irgendeinem Grund stellen konnte. Er dachte an ihr Gespräch in der Villa, und er wußte, die Gelegenheit würde nicht auf sich warten lassen.
»Fähnrich,« rief die Durchlaucht diesem zu, »liegen Sie nicht so verlangend an Ihrer Nachbarin Brust. Sie sind doch vermutlich schon entwöhnt?«
Der Fähnrich schnellte auf; mühsam hielt er mit der aufgestemmten Faust das Gleichgewicht. »Durchlaucht,« stammelte er über den Tisch, »die Bobby hat gar keine Brust, die hat nur zwei Flohstiche.«
»Das ist kein Wunder, mein Sohn,« antwortete der Prinz gelassen. »Fähnriche haben immer Flöhe.«
Eine trunkene Stimme sang schmetternd durch den Raum:
Au son du canon d'allarme
La France appelle ses enfants ...«
Eine zweite überbrüllte den Sänger:
»Sie hat ihr Kind zerstückelt,
Hat's in Papier gewickelt ...«
Der Fähnrich fiel schweratmend auf seinen Stuhl zurück. Dann legte er plötzlich den Kopf auf die Arme und weinte bitterlich auf. »Das war mein Papier. Ich will mein Papier wieder haben!« schluchzte er herzzerbrechend.
Hans Joachim erhob sich. Er war mit sich einig: Er oder jener! Dora war sein Weib, nicht das des Juden!
* * *