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Mein Vater verstand wie kein einziger der Schuljungens die Schule zu schwänzen. Sein hochgeworfenes Daunenbett bedeckte den Boden mit Federschnee. Und mein gestrenger Großpapa glaubte jedesmal wieder den Bengel auf dem Schulweg. Der aber lag ausgestreckt zwischen den dicken rot- und gelbgestreiften Matratzen mit der roten Katze im Arm. Mein lustiger Vater kann leider selbst nicht mehr seine Lieblingsgeschichte von Tante Jettchen erzählen. So hieß nämlich seine rote Katze. Gerade diese Geschichte pflegte er uns Kindern mit unvergleichlichem Temperament zu berichten. Wir mußten uns im Sturm seiner Worte an den Stuhllehnen festhalten.
Nie war Windstille in seinem Herzen, darum eben umging er der Schule trockene Lektion. Was nicht mit ihm wild aufwachsen wollte, ihm in den Mund geflogen kam oder in seine beiden Ohren, kümmerte ihn wenig. Das ABC lag eines Abends in seiner Muke, sogar aus süßem Teig gebacken. Er konnte auf einmal lesen und schreiben. Muke nannten er und seine zweiundzwanzig Geschwister das Versteck, in das sich jedes der Kinder seine Äpfel und Birnen und Nüsse und Zuckersachen bewahrte. – Rechnen verstand mein Vater in seinen spätesten Jahren noch nicht, – darum wohl rechnete niemand in der Stadt ernstlich mit ihm ab. Darum blieb ihm das System der Uhr bis zu seinem Tode ein Rätsel. Immer gab er der armen Tante Jettchen die Schuld, sie hatte ihn von allem abgehalten. Nur von dummen Streichen nicht, die er mit Vorliebe noch mit uns, seinen Kindern, ausführte. So zählte ihn nie jemand zu den Erwachsenen. Und sein hervorragendes Organisationstalent wirkte wunderkindhaft. Die Zensuren, die mein zwölfjähriger Papa aus der Schule in Hexengäsecke mit nach Hause brachte, gaben jedesmal neuen Anlaß zu Zornesausbrüchen. »Ich steck ihn in die Besserungsanstalt!« Dann sprang die rote Katze dem Großpapa mit grausigen Augen ins Gesicht. Mein Vater entkam unterdessen, trampelte draußen über die jungen Rasen und knabberte an den unreifen Früchten der Obstbäume. Später rief ihn dann seine gute Mutter heimlich wieder ins Haus; legte auf die Backpfeife, die ihm sein Vater verabreicht hatte, ein noch schwereres Honigkuchenherz. Sie hatte immer verschiedene Herzen oder Plätzchen aus Makronenteig, auf einer Schale von Porzellan-Amoretten gehalten, für etwaige Fälle bereit liegen. Er und seine rote Katze schoben dann zufrieden ab, sprangen über die grünen Tierhecken Westfalens. Und schließlich schnitt er den Enten und Gänsen aus Rot- und Weißdornblatt die Schwänze ab und warf, wo er noch ein Fenster geöffnet erblickte, so ein Kuriosum hinein »in die gute Stube«. Aber der Frau Mutter brachte er artig einen selbstgepflückten Strauß aus bunten Strohblumen; zu rühren ihres weichen Napfkuchenherzens Rosine. Ja, es rührte sie mächtig. Der Arthur Aronymus war ihr doch der liebste ihrer dreiundzwanzig Kinder. Wenn er auch mit lehmüberzogenen Schuhen in die teppichbelegte Stube geschossen kam, – »er ist doch der beste von allen!« beruhigte sie den aufgebrachten Großpapa. Schließlich nahm mein Vater sich selbst gerührt ein Honigherz von der Amorettenschale und ein kleines stibitzte er für Tante Jettchen. Die brachte schnurrend die beiden Herzen abgerichtet in Arthurs Muke in der Wand vor seinem Bett. Noch spät schmausten sie beide die süßen Reste vom Tage.
Zuerst mochte mein Vater die rote Katze nicht ausstehen, konnte Tante Jettchen nicht leiden. Manchen Puff und Fußtritt hat sie von ihm erdulden müssen. Und wie oft hat er sie erschreckt mit seinem Korkenrevolver. Aber eines Tages, überwältigt von ihrem Katzeninstinkt, schloß er Freundschaft mit ihr, dem aufgeweckten Tiere. Zur Schlafenszeit kam Tante Jettchen einfach vom Hof in sein Schlafzimmer gesprungen; erst mußte sie die drei älteren Brüder, die mit meinem Vater den Raum teilten, kräftig schnarchen hören. Denn sie hatte sich die schleichende Gangart abgewöhnt; meinen Vater ärgerten ihre unhörbaren Schritte und er machte ihr täglich vor, wie man aufzutreten hat. Nach dem Mittagbrot weckte er regelrecht seinen eben erst eingeschlummerten Vater unter der tausendjährigen Buche. Die Brüder fielen dann über ihren rücksichtslosen Bruder her, verwichsten ihn tüchtig. Die hatten noch an ihm auszusetzen, als wir, seine Kinder, schon erwachsen waren. Auch sprach er ihnen zu überwältigend, ja wie mit vielen Zungen, wie ein ganzer Chor. Seine Mama hörte ihn schon als kleinen Taugenichts vom Anfang des Dorfes kommen. Dort stand das Schulhaus. Darum wußte sie es immer ganz genau, ob er die Schule geschwänzt oder besucht hatte. Doch Tante Jettchen pflegte wohl am allerbesten unterrichtet zu sein. Denn sie brachte ihren Freund bis an das große Schultor und wartete auf ihn hinter einem Petroleumfaß eines Spezereiladens. Dort kaufte sich, für den Rückweg, der Arthur Gummibonbons. Sie sah ihm so gerne zu, wie er sie in langen Fäden aus dem Mund zu ziehen und wieder zurückzuschnellen verstand, und schmeichelte ihr rotes Fell an sein kariertes Hosenbein. Mein kleiner Papa wußte dann, daß sie nach Katzenart vor Vergnügen lachte. Aber der Großvater, der hielt ihn gerade unaufhörlich ernst im Auge. Die Namen der anderen Geschwister pflegte er doch zu verwechseln oder gar die kleinsten seiner Söhne und Töchter aus dem großen Garten zu vertreiben, bis sie schüchtern vor dem Zaun riefen: »Wir sind doch deine Kinder.« – Wie schön könnte ich in Paderborn leben ... malte sich mein kleiner Papa aus. Dort würde er sogar regelmäßig das Gymnasium besuchen. Ebenso irrtümlich hinausgeworfen zu werden wie die Jüngsten und die heulenden Zwillinge, wünschte er sich, guten Gewissens mit den fremden Händlern zu entkommen, die ab und zu die Dörfer Westfalens mit ihren Waren bereisten, den Töchtern Bijouterien anboten, Seidenstoffe und kleine gestickte Pantöffelchen und Sammetschleifen mit schimmernden Agraffen, Haarnetze, Kettchen, Armbänder und Enveloppes. Mit den Zigeunern, die vor kurzem ihr Zelt auf der kleinen Anhöhe zwischen Ruinenmauern des mittelalterlichen Gerichtshofs aufgeschlagen hatten, wäre Arthur wie die armen eingemauerten Hexen gern eines Tages verschwunden gewesen. Seiner erschrockenen Mama standen die braunen Samtaugen voll Wasser, als ihr wilder Liebling ihr das berichtete. Sie machte dem Großvater Vorwürfe ob seiner ungerechten Erziehung. Jeden Abend beleckte Tante Jettchen das von Tränen überschwemmte Gesicht meines armen Papas. Er begann sie immer mehr zu schätzen. Die große Muke war bald ausgeleert: Unhörbar galt es zwar die Präsente zu verzehren, und wenn der Kandis knirschte zwischen den breiten Jungenszähnen, blickte die rote Katze meinen Vater ermahnend an. Des öfteren revanchierte sich die sanfte Trösterin mit einer fetten ausgewachsenen Maus, die sie ihrem treuen Freund, meinem Vater, ins Bett servierte. Das waren dann die einzigen Male noch, die mein Vater der Schule widmete. Dem Herrn Lehrer die blutige Beute heimlich in die Manteltasche zu stecken, machte ihm heillosen Spaß.
Tante Jettchen! So nannten alle im Haus meiner Großeltern die rote Katze, der gestrenge Herr Großvater selbst pflegte das gute Tier: Tante Jettchen!! zu rufen; im Grunde rührte ihn ja ihre Anhänglichkeit an seinen Taugenichts. Die ganzen dreiundzwanzig Geschwister nannten die rote Katze: Tante Jettchen; die Mägde im Haus, die Knechte auf dem großen Gut, die Melkerinnen im Stall; die Kühe und die gescheckten Ochsen, der Esel, die Pfauen im Garten, der pausbäckige nackte Engel im Springbrunnen, die Lämmer auf den Wiesen und ihr Hirt; aber auch der Spitz, vor dem hatte Tante Jettchen großen Respekt. Die sämtlichen Schulkinder erkundigten sich nach Tante Jettchens Wohlergehen, überhaupt alle Einwohner in Hexengäsecke liebten sie. Sie trug aber auch eine Vornehmheit zur Schau in ihrer Umgangsart und in ihren Gebärden! Überhaupt, sie umgab sich mit einem Embonpoint wie der weibliche Senior einer altbewährten Familie. Warum sie gerade für den zügellosen Wildfang diese Vorliebe empfand? Mit menschlichem Verstand konnte das die ganze Familie außer der Mutter nicht begreifen. Ja, das liebenswerte Tier gewöhnte sich täglich enger an den kleinen Arthur und mochte ihn stündlich lieber und lieber. Sie vergab ihm miauend, wenn er sie an ihrem geringelten Schwanz wie einen Kreisel um sie selbst drehte. Wehe, wenn einer seiner Brüder sein Tante Jettchen beleidigte! Er merkte das stets, sie bekam dann Migräne – legte sich auf einen der Äste vor den Fenstern, aus denen Arthurs Schwestern so gerne in den Sonnenuntergang schauten. Namentlich die Dora und das Lenchen waren so mitleidig, Elise vergrub sich tief in ihren Romanbüchern, und Fanny, die älteste, übte sich auf ihrem Spinett. Wenn sie sang: »In einem kühlen Grunde, da geht ein Mühlenrad ...«, und mein unartiger Papa ahnte das nur, kletterte er auf eine der Arabesken des alten Gutshauses und knatterte der Mühle Räderwerk nach. Und Tante Jettchen miaute dazu so wehmütig im Takt; namentlich wenn ein Freier am Spinettforte stand und eben erst die kleinen Händchen der Fanny zu kosen begann. Zähren vor Wut auf den Bengel schimmerten noch stundenlang in ihren langen seidigen Wimpern.
Einmal brachte der Pförtner der kleinen Dorfschule in das Haus meiner Großeltern eine ziemlich große gelbe Briefschaft mit einem Siegel darauf. Man sah ihm den Ernst des Inhalts schon von außen an. Der Großvater las: An den hochwohlgeborenen und geschätzten Mitbürger M. Schüler zu Gäsecke in Westfalen, von wegen der Unterlassung des weiteren Schulbesuches seines viertältesten Sohnes Arthur Aronymus. Der Inhalt erstickte dem erschrockenen Vater im Hals. Aber dann fiel es wie Hagel von den hagestolzen kühlen Lippen auf meinen kleinen Vater. Bei dieser Stelle, wenn er uns erzählte, weinten wir alle aus einem Auge mit ihm. Eigentlich begann nun erst die tragische Epoche seines Lebens. Er konnte sich nicht mehr ausschlafen. Mit Luchsaugen beobachtete sein Vater ihn von wegen des Schulbesuches. Die Magd schüttelte ihn um sechs Uhr schon wach, verscheuchte unbekümmert das Katzentier aus seinem Arme und kontrollierte, ob Arthur sich die beiden Springinsfelde, seine Augen, auch auswasche. Das hatte ihn ja längst sein Tante Jettchen gelehrt, die sich täglich einige Male ihr Fell putzte. Die schnurrte ihm begütigend zu und stahl der Magd seitdem gern den Bückling vom Teller. Aber mein Vater faßte doch plötzlich wieder den Entschluß, Schule Schule sein zu lassen. Es war noch halb dunkel, als er den Brüdern in den Betten an den vier Wänden einen Schabernack spielte mit Trommel und Trompete im wahren Sinne des Wortes. Noch halb im Traum glaubten die sich im Schützenfestzug und pfiffen und johlten so laut und andauernd, daß der Vater in ihren Schlafraum kam in seinem langen Nachthemd und der Zipfelmütze auf dem Kopf. Sein hellblaues Auge blickte auf jeden der erwachten Brüder wie ein kalter Himmel. Nur auf dem schlummernden, unschuldigen Arthur ruhte seine Anerkennung zum erstenmal mit Wohlwollen. Der kroch mit seinem Tante Jettchen, als der Vater das Zimmer verlassen hatte, zwischen seine gepolsterten Wände, die langweilige Schule zu schwänzen. Er habe nicht mehr – »andauernd« – einschlafen können und sich vor Schulbeginn im Schulhof auf den Zwetschkenbaum gesetzt, entschuldigte er sich später bei seinem Vater, der selbst Zeuge vom ohrenzerreißenden Lärm gewesen war. Auch überzeugte ihn die eigene Kontrolle. Auf Samtpantoffeln kam er noch einmal in der Frühe in die Schlafstube geschlichen, wie ehemals das noch zu vornehme Tante Jettchen. Ersichtliche Genugtuung bereitete ihm aber das ausgeschlafene, zerknautschte Kopfkissen auf dem Boden neben dem Bettgestell meines jungen Vaters. Im Begriff, den Raum zu verlassen, gewahrte er jedoch am Türpfosten Arthurs grünen Plüschranzen mit Entsetzen! ... Tante Jettchen aber, die wie eine Wurst zusammengerollt zwischen den Matratzen lugte, die Situation übersah, sprang in hohem Bogen aus dem Bett, erfaßte den herabbaumelnden Ranzen und fort war sie aus dem weitgeöffneten Fenster im Nu! »Wenn er die Schule auch nicht mehr zu schwänzen scheint, die Schulbücher muß er vergessen«, brummte der Großpapa und ging herüber wieder zur Großmama und rühmte der lächelnden, milden Frau die Klugheit Tante Jettchens, Arthurs treuergebener Freundin. Und am Stammtisch in der Dämmerstunde diskutierten die Mitbürger Gäseckes unter dem Vorsitz meines Vaters gestrengem, aber ergriffenem Vater über den Instinkt der roten Katze.