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Sohm hatte bestimmt erwartet, Wera noch am Abend bei Röteleins zu treffen, nachdem er nachmittags vergeblich an ihrer Wohnung angeklingelt hatte. So lebhaft ihn der Gedanke an ihr wunderliches Lebewohl beschäftigte, fand er doch keine Zeit, ihm lange nachzuhängen. Es gab noch vielerlei zu ordnen, die Pläne zu studieren, Fachwerke nachzuschlagen, Mitzunehmendes zu bestimmen. Er hatte sich nach einem neuen Verfahren Apparate bestellt, um atmosphärische Luft an den Stellen, wo er ihre Beschaffenheit untersuchen wollte, aufzufangen, ohne daß die unmittelbare Nähe des Beobachters auch nur die geringste Verunreinigung verursachen konnte. Die Einsaugung der Luft in die Glasflasche und der momentane Abschluß konnten dabei aus einigen Metern Entfernung bewirkt werden. Diese Apparate wurden ihm nachmittags gebracht.
Anfänglich wollte er die Kiste unbeachtet stehen lassen. Dann fiel es ihm ein, daß sein Aufenthalt in den Alpen, der sich möglicherweise länger ausdehnen konnte, die beste Gelegenheit gebe, die Apparate zu erproben, und daß er so den Zufall, der ihn ins Gebirge führte, für seine gegenwärtige Untersuchung fruchtbar machen könne. Er freute sich, die neue Einrichtung Wera zu zeigen, der er erst eine flüchtige Andeutung darüber gegeben hatte. Also beschloß er, diese Kiste seinem Gepäck beizufügen.
Es war schon spät geworden, als er, eben im Begriff sich zu Röteleins zu begeben, ein Telegramm erhielt:
»Ängstige dich nicht um mich. Hatte keine Ruhe, mußte ins Freie. Ich bleibe einige Tage im Gebirge, möglichst einsam. Nachricht erhältst du nach Schmalbrück, Hotel Leberecht. Auf Wiedersehen. Wera.«
Das Telegramm war unterwegs von Wera aufgegeben. Er hoffte nun, um so eher wieder mit ihr zusammenzutreffen. Die Einsamkeit würde sie beruhigen.
Am nächsten Morgen gegen neun Uhr traf Sohm in St. Florentin ein. Martin und ein Vertreter der Direktion erwarteten ihn am Bahnhof. Der Ingenieur, der sofort nach seiner Rückkehr am Abend vorher in den Tunnel gerufen worden war, hatte dort bis spät in die Nacht zu tun gehabt. Jetzt berichtete er noch in der Bahnhofshalle in seiner kurzen, sachlichen Weise über den neuesten Befund. Danach war man bei der letzten Sprengung auf eine warme Quelle geraten, die aber so schwach war, daß sie keine weitere Beachtung erforderte. Er erwartete, daß man auf noch mehr Wasser stoßen werde; es seien aber alle Vorbereitungen getroffen, auch eine stärkere Quelle sofort zu fassen, so daß er die Arbeit vorläufig weiter fortsetzen lasse.
Sohm wurde nachdenklich.
»Könnten wir nicht sogleich hingehen?« fragte er.
»Wenn Sie nicht zu ermüdet sind, Herr Professor.«
Sie standen vor der Gepäckausgabe. Sohm warf einen Blick auf die Koffer, um sich von der Ankunft seines Gepäcks zu überzeugen. Da fiel ihm ein Koffer auf, den er kannte. Ein deutliches W. L. und der Ortsname Weidburg auf dem Deckel ließ keinen Zweifel aufkommen, daß er Wera gehörte. Er stutzte.
»Eine Frage, entschuldigen Sie,« sagte er zu Martin. »Sie kennen ja meine Braut, Fräulein Lentius. Sie wollte zu Freunden in der Nähe; nun sehe ich aber dort noch ihren Koffer. Wissen Sie vielleicht, ob sie noch hier ist?«
»Ihr Fräulein Braut,« erwiderte Martin, indem er fühlte, daß ihm das Blut in das Gesicht stieg, »ist gestern abend hier angekommen. Ich hatte die Ehre, sie zu sprechen. Sie ist zu Fuß fortgegangen und wird wohl ihr Gepäck noch holen lassen. Da ich sofort in den Tunnel gerufen wurde, konnte ich ihr leider nicht weiter behilflich sein und vermag keine Auskunft zu geben.«
»Ich erwarte Nachricht in Hotel Leberecht in Schmalbrück.«
»Da wünschen Sie natürlich zunächst nach Schmalbrück?«
»Ich hätte freilich gern gewußt – jedoch die Arbeit geht vor, selbstverständlich. Nur – eine Kleinigkeit zu frühstücken müssen Sie mir erlauben.«
»Wir haben für alles gesorgt, Herr Professor. Der Bahnhofswirt ist schon angewiesen. Während Sie sich restaurieren, werde ich bei Leberecht telephonisch anfragen, ob Fräulein Lentius dort ist, oder Nachricht für Sie.«
»Das ist sehr gut, ich danke Ihnen herzlich. So sparen wir Zeit.«
Als Martin nach einer Viertelstunde zurückkam, hatte er zu berichten, daß bei Leberecht keine Nachricht für Sohm eingetroffen sei und daß man von Fräulein Lentius nichts wisse. Es wurde bestimmt, daß Sohm in St. Florentin Quartier nehme, weil der Tunnel jetzt von hier am schnellsten auf der Maschine zu erreichen war. Auch Martin wohnte deshalb nicht mehr in Schmalbrück, wo ihm die Tischgesellschaft ohnehin verleidet war.
Sie müssen es sich freilich gefallen lassen, ein wenig gerüttelt zu werden,« sagte Martin entschuldigend zu Sohm.
»Kommen Sie, kommen Sie, meine Herren!«
An der Brücke über die Festinaschlucht stieg man aus. Sohm betrachtete aufmerksam die Gegend. Vor sich, jenseits der Schlucht, hatte er den steilen Abfall des Langbergs, der die hinter ihm liegenden Schneeberge verdeckte, talabwärts blickte man nach St. Florentin hinab und auf einen Zipfel des schönen Sees.
»Darf ich fragen,« sagte er zu Martin, »warum Sie nicht gleich hinter dem Ort die Festina übersetzt haben und am Langberg selbst hinaufgegangen sind? Sie hätten da dabei diesen kostbaren Viadukt sparen können. Oder hatten Sie dann nicht Raum genug, um die Höhe zu gewinnen?«
»Wir hätten es gern getan, die Steigung wäre auch herauszubringen gewesen. Aber auf diesem kahlen Abhang des Langbergs ist es nicht geheuer. Wir wären nicht bloß der Lawinengefahr und Steinschlägen ausgesetzt, die ganze Unterlage ist so unsicher, daß uns die Mauer- und Schutzarbeiten mehr gekostet hätten als der Viadukt. Wir mußten hier auf diesem Ufer entlang gehen und zwar bis in den Wald hinein.«
»Und das ein ganzes Stück, wie ich sehe.«
»Nur bis hinter die Schiefklippe, so heißt der Felsen dort drüben.«
»Ah, das sieht seltsam aus. Das ist Kalk, offenbar. Sie trauten ihm wohl nicht? Geht die Schicht tiefer hinein?«
»Nein. Wir haben natürlich aufs genaueste untersucht. Es ist nur ein stehen gebliebener Rest von ein paar tausend Kubikmeter. Er liegt aber so gefährlich auf geneigtem Gneise und ist so stark unterwaschen, daß die Klippe eines schönen Tages herabkommen wird. Durch die fortgesetzten Sprengungen im Steinbruch ist sie merklich erschüttert worden. Jetzt brauchen wir glücklicherweise den Steinbruch nicht mehr. Vor ein paar Wochen habe ich die Seilbahn abbrechen und den Weg vollständig sperren lassen. Wären wir weiter unten über das Tal gegangen, wie ja zuerst geplant war, so wäre der Tunneleingang gerade unter die Schiefklippe gekommen, so daß sie uns vorkommendenfalls darauf gestürzt wäre.«
»Aber sie kann Ihnen auch so noch den Fluß abdämmen.«
»Das ist nicht zu befürchten. Das Gestein ist so brüchig, daß es bei einem etwaigen Abgleiten sich in Trümmern über den ganzen Abhang zerstreuen muß und nicht sehr viel bis in das Flußbett gelangen würde. Aber natürlich haben wir auch dort Vorsorge getroffen, daß der Abfluß auf jeden Fall gesichert ist.«
Man überschritt die Brücke und fuhr auf einer Draisine in den Tunnel bis an die Arbeitsstelle. Der Wasserzufluß hatte zugenommen, doch war das Wasser durchaus klar und die Menge in keiner Weise bedenklich.
»Wegen des Wassers,« erklärte Martin, »habe ich überhaupt keine Sorge. Es ist ja bei uns nicht wie beim Simplontunnel, wir haben keinen Fall nach dem toten Ende zu, sondern unser Tunnel steigt fortwährend, bis wir durch sind. Deswegen brauchen wir gar keine Pumpen, das Wasser läuft von selbst ab. Die Gefahr liegt nur darin, daß wir einen Schlammeinbruch bekommen. Aber meine anfänglichen Besorgnisse sind auch geringer geworden, da unser Versuchsstollen genügend vorgetrieben ist, um zu zeigen, daß das Gestein weiterhin wieder ganz fest ist.«
Stunden vergingen mit der sorgfältigen Untersuchung aller Einzelheiten in der Beschaffenheit der Gesteine und ihrer Lagerung. Sohm war mit dem Ergebnis sehr zufrieden.
»Soviel sich vom geologischen Standpunkte aus sagen läßt,« faßte er seine Ansicht zusammen, »können Sie unbesorgt weiter arbeiten. Es ist zweifellos, daß eine zerdrückte Stelle, aus der ein Schlammeinbruch erfolgen könnte, nicht über oder vor Ihnen liegen kann. Wenn sie vorhanden ist, liegt sie tiefer, und Sie sind entweder schon darüber hinweg oder sind wenigstens im Begriff, darüber hinwegzukommen. Es kann sich dann nur darum handeln, daß durch eine Spalten von unten her breiige Massen heraufgedrückt würden. Aber wie ich sehe, haben Sie ja für alle Eventualitäten gesorgt.«
»Das freut mich sehr zu hören,« sagte Martin. »Wenn wir nicht in den Brei hineinkommen, sondern der Schlamm nur zu uns hereingepreßt wird, so wird er kein Glück haben. Sie sehen, daß wir jetzt vorsichtshalber sofort die eisernen Rahmen einbauen, bis sie durch Mauerwerk ersetzt werden können. Außerdem können wir durch dieses Tor im Notfalle jederzeit die Arbeitsstelle absperren. Gegen die Rahmen kann der ganze Langberg drücken, sie würden nicht nachgeben. Solche einzelne Spalten können uns also nichts tun. Nur in einen ganzen Breikessel hinein können wir nicht bauen, dann müßten wir ausweichen.«
»Nun, in dieser Hinsicht dürfen Sie diesmal der Geologie trauen.«
»Dann, darf ich sagen, können wir uns auf die Technik verlassen.«
Am Nachmittage fand noch eine Besichtigung der später entdeckten sekundären Quelle statt, die zu keiner Besorgnis Anlaß gab. Abends konferierte man in St. Florentin und beschloß, den Bau ohne Aufenthalt fortzusetzen. Am nächsten Morgen wollte Sohm den Ingenieur noch einmal bis zur Arbeitsstelle begleiten, um zu sehen, welche Veränderung etwa infolge der neuen Sprengungen eingetreten wäre.
An diesem Morgen war es, an dem Aspira mit einer neuen, stärkeren Quelle in den Tunnel gedrungen war und, geängstet von dem Vorhaben der Berggeister, das Schlimmste fürchtete, falls Sohm mit den Ingenieuren im Tunnel erscheinen sollte. Sie hatte ja die Absicht, hinaus ins Freie zu schweben und bei ihrem Vater in den Höhen des Äthers Trost und Rat zu holen. Aber ihr Menschenherz hing noch zu sehr an Menschenwerk und Menschenschicksal, als daß sie sich entschließen konnte den Tunnel eher zu verlassen, bis sie den nächsten Erfolg der drohenden Pläne beobachtet hatte.
Jetzt vernahm sie vom Tunneleingang her das Rollen der Draisine. Bald war der Wagen an der Arbeitsstelle angelangt, wohin auch Aspira sich wieder zurückgezogen hatte. Martin, Sohm und einige andere Herren stiegen ab und näherten sich der Stelle, wo Arbeiter, nachdem die neue Quelle gefaßt war, durch Einsetzung weiterer Rahmen die Verlängerung des Tunnels sicherten.
In diesem Augenblick fühlte man ein leichtes Zittern des Bodens, dann kam vom Tunneleingang her ein prasselndes und rollendes Geräusch, das alle aufhorchen ließ.
»Ist das Donner?« fragte Sohm.
»Nein, den pflegt man hier kaum zu hören. Es müßte denn direkt vor dem Tunneleingang eingeschlagen haben. Aber es klang eher wie ein Einsturz. Ich werde sofort fragen.«
Er ging ein Stück zurück bis an das Telephon, das zum Tunneleingang führte, Sohm und die andern betrachteten die Arbeitsstätte.
Aspira zitterte in ohnmächtiger Furcht für die Menschen, für ihr Werk. Sie wußte, was geschehen war – die Schiefklippe war niedergegangen. Der Eingang verschüttet! Lebendig begraben! Rettungslos dem schrecklichsten Tode verfallen alle diese Männer, darunter Martin und er, ach, um dessentwillen sie diese Sorge und Qual auf sich genommen hatte, dem sie sein Glück wiedergeben wollte – – Und was gab sie ihm mit all ihrer klugen Überlegung, mit ihrem Mute der Erkenntnis? Das Verderben! Sie, ja sie trug im Grunde die Schuld an dem Komplott der Elemente! Und sie wußte, was nun geschehen würde. Wohl würden die Menschen an den Eingang eilen, von innen wie von außen würden sie ihre Schaufeln ansetzen um den Durchgang zu erzwingen, aber schneller als ihre Arbeit würde die der Erdwärme sein und der gewaltige Druck der innern Massen. Zermalmen würden sie diese Gesteine, und hereinquellen wird der heiße Schlamm, wird den Tunnel erfüllen und die Menschen ersticken – o Gott!
Und sie konnte nicht helfen? War sie nicht König Migros mächtige Tochter? Konnte sie nicht die Wassermassen zwingen, einen Ausgang zu öffnen? Aber was nutzte dies? Auch die Hilfe wäre dem Menschen todbringend! O daß sie nie in Menschenwerke sich eingemischt hätte!
Kurze Minuten waren es, in denen sich die angstvollen Gedanken in ihr jagten. Da scholl es von der Arbeitsstelle her wie ein dumpfes Dröhnen, und gleich darauf rief die Stimme eines der Ingenieure:
»Hier unten am Boden quillt heißer Schlamm hervor!«
»Wo?«
»Unter dem letzten Rahmen drängt er sich heraus. Es muß sich ein Spalt im Boden gebildet haben. Weiter vor uns ist nichts zu sehen.«
»Die Abdichtungen her! Gleich den nächsten Rahmen! Wir zwingen es!«
Die eiserne Platte senkte sich auf den Boden. Kalte Wasserstrahlen säuberten die Stelle.
Martin kam vom Telephon zurück. Er sprach nichts, er beugte sich nur herab.
»Es schließt luftdicht,« sagte er, als er sich aufrichtete. »Hier kommt nichts mehr durch. Wir können ruhig weiterarbeiten.«
Aspira lauschte erstaunt. War das möglich? Mit welcher Ruhe konnte er das sagen? Und wußte er denn nicht, daß draußen –
»Hing diese Pressung mit dem Geräusch draußen zusammen?« fragte Sohm.
»Ich weiß es nicht,« antwortete Martin. »Draußen ist allerdings etwas passiert.« Alle horchten auf und Martin fuhr fort, so daß es alle vernahmen:
»Durchaus nichts Schlimmes! Die Schiefklippe hat das Zeitliche gesegnet, sie ist den Langberg hinabgestürzt. Aber zum Glück, ohne irgend einen Schaden anzurichten, außer an etwas Wiese und Brombeersträuchern. Niemand ist getroffen worden, die Trümmer sind genau die Bahn gegangen, die wir vorausgesehen haben. Wir wollen nun hinausfahren und zum Rechten sehen,« wandte er sich an Sohm und die Herren, die mit ihm gekommen waren, »hier kann alles ruhig weitergehen. Ich komme nachmittags wieder.«
»Ich gratuliere Ihnen,« sagte Sohm. »Der Tunnel ist gerettet, und das dürfen Sie Ihrer Voraussicht zuschreiben.«
»Das war nur selbstverständliche Arbeit. Glück haben wir aber dabei gehabt, daß der Schlammkessel in der Tiefe liegt und nicht im Niveau. Die Beruhigung danken wir Ihnen.«
Der Wagen entfernte sich.
Aspira zog durch den Tunnel, dem Ausgange zu, an den festen Gewölben entlang. Dumpf vernahm sie im Berge die Stimmen der Geister, das »Kochen, Kochen, Kochen« der Erdwärme und das Schelten der Kalkschicht. »Es gibt nicht nach! Es gibt nicht nach! Wir können nirgends hinein! Sie haben das Loch ausgepanzert!« »Warum ist auch die Schiefklippe so dumm heruntergestürzt!«Sie hörte die Luft durch den Tunnel pfeifen: »Nichts zu machen, nichts zu machen!«
Und sie selbst, mußte sie nicht froh und glücklich sein, daß die Gefahr abgewendet, daß der täppische Plan der Berggeister an der klugen Vorsicht der Menschen gescheitert war? Gewiß, eine entsetzliche Angst, eine quälende Sorge war von ihr genommen. Gewiß, stolz war sie auf den Sieg der Menschenmacht, auf die Erkenntnis, die da weiß, was kommen wird. Sie selbst aber fühlte sich gedemütigt – –
Ihre Hilfe war machtlos gewesen – die Menschen hatten ihrer gar nicht bedurft!