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Jetzt sah ich Leipzig von einer ganz andern Seite an, und dabei gewannen wir beide sehr, Leipzig und ich. Zu meinem Erstaunen wurde es Tag, ich hatte immer vergessen, daß meine Gardinen an dem grauen Kummerscheine des Tages schuld gewesen, zu meinem noch größern Erstaunen wurden die Bäume grün, und die Vögel kamen wieder. Es waren dieselben kleinen schwatzhaften Vögel, die sonst auf dem großen Kastanienbaume vor dem Fenster meines Mädchens weit, weit draußen in Schlesien gesessen und gesungen hatten. Die waren gar nicht älter geworden, und wußten noch all' jene alten Geschichten, und schwatzten noch eben so fleißig wie damals. Wenn ich sie fragte, ob man mich noch liebe da draußen, weit in Schlesien, wo der Kastanienbaum steht, da zwitscherten sie immer noch wie sonst. 263 »Tschitscheri«, das heißt »freilich«. Die guten Dinger; ich wußt' es zwar besser, aber wie gern glaubte ich ihnen nicht.
So wie mittelmäßige Christen alle Jahre einmal zum Abendmahl gehen, so bin ich auch alle Jahre einmal andächtig, wenn der Frühling kommt. Und wenn uns der Herrgott das ganze Jahr vergessen hat mit großen und, was noch schmerzhafter ist: mit kleinen Freuden, eines Morgens, wenn Ihr den Kopf aus dem Fenster steckt, da hat er sein großes, allgütiges und glücklicherweise auch allmächtiges Herz geöffnet. Es wehen die weichen lyrischen Lüfte, und das sind die schönsten Blicke aus den Augen alter Liebe, ringsumher sproßt Grün und Knospe des Grüns, das wollüstige Auge übersieht den ungemessenen Reichthum nicht, wie die junge Liebe jenen Blumenwald von Küssen nicht zählen kann, wenn Euch das blöde, frische Mädchen zum ersten Mal geküßt. Ach, es wurde ja auch in Leipzig Frühling, und nun war Alles, Alles gut, und die Nikolaistraße war vergessen. –
An jenem Morgen, wo der Frühling über Nacht nach Leipzig gekommen war, saß ich im Reichelschen Garten am Fenster, am offnen Fenster, und ich nahm mir vor, von nun an Leipzig zu lieben. Man ist ja schon glücklich, wenn man nur lieben will. Wenn wir lange Zeit mit einem gewöhnlichen, 264 gleichgültigen Weibe zusammenwohnen, das nicht schön und nicht interessant, auf deren Gesichte es alle Tage Werkeltag ist, so gewinnen wir am Ende auch dieses arbeitsame Gesicht lieb. Die Liebe hat ihre Anciennität, wie das Avancement beim Militair. Ich habe eine Zeitlang, als ich nichts Besseres zu thun wußte, Schellers Lexikon geliebt, weil ich Jahre lang darin aufgeschlagen hatte. Der Frühling sagte: du bist lange genug in Leipzig für die Liebe, und ich nickte mit dem Kopfe, und er streckte seine grünen Arme in mein Fenster, um mir die Hand zu drücken und die Augen zu stärken.
An jenem Tage war's, als die ersten Mädchen in weißen Kleidern über die Brücke unter meinen Fenstern gingen; ich sah's mit Freuden ein, daß ich sie verläumdet hatte, und daß sie alle schön seien. Sie haben schöne Taillen, eine weiße, europäisch süße Haut, volle Haare und große Augen. Sogar die Bankiers, welche vorüberkamen, hatten die Ueberschuhe ausgezogen, und knöpften die Fracks auf, und stellten sich wenigstens, als ob noch empfindendes Leben unter der Kasimirweste sei. Der russische Konsul wohnte zwar trotz des Frühlings noch immer da drüben in dem großen Hause, von wo er mit einem mäßigen Fernglase auf meinen Schreibtisch sehen, und mich an einem russischen Morgen mit einer guten Kugelbüchse todt schießen konnte, wenn ich eben 265 wieder über Polen schreiben wollte. Aber ich wußte daß der Frühling morgen und übermorgen die Bäume so breit gemacht haben würde, daß ich Rußland nicht mehr sähe, ich hoffte, der Frühling werde auch die Russen mit Liebe überwinden, und die Lindenauer Allee, die Straße nach Frankreich, blieb mir immer noch offen; der Frühling liebte sie, und verbarg sie mir nicht.
Dort drüben hatte Bertrand, sein letzter Freund, den Rückzug geleitet, dort an jener Mühle bei Lindenau hatte Napoleon Leipzig und Teutschland zum letzten Male gesehen, denn er wandte sein Gesicht nicht eher wieder gen Osten, als bis er die erste Nacht in den Tuilerien geschlafen hatte. Die Baiern schlug er bei Hanau zur Seite mit verschloßnem Mantel und Augenliede. –
Das war Alles so lange her, und doch kam heute wieder der Frühling von Frankreich herüber aus der Lindenauer Chaussée hereingelaufen. –
Zudringlich und liebenswürdig fällt der Frühling auf Leipzig. Die Bäume strecken ihre Hände bis an die innersten Thore der City hinein, ganz Leipzig wird von Grün und Schönheit belagert, die Promenade umfängt die ganze innere Stadt mit Spaziergangarmen, ich wußte nicht, wie viel Knöpfe ich aufmachen sollte, um den schönen Leipziger Frühling einzulassen, zum ersten Mal wollte ich Mittags nicht in mein 266 getreues Hôtel de Bavière hinein, was mich so lange geschützt hatte vor Unglück und Verzweiflung durch die frischen Fremden und Teutschlands ersten Wirth.
Das Hotel mit wechselnden Fremden ist ein erfrischendes Bad in trägen Städten, welche nur mit Waaren, nicht aber mit Thaten handeln, welche in der Weltgeschichte blos zusehen.
Engländer waren alle Tage, Amerikaner alle Wochen, Franzosen alle vierzehn Tage bei Tische. In Hamburg haben die Kaufleute aus England ihre Wohnung, in Leipzig ihr Absteigequartier auf dem Kontinente. Die Freiheit des Engländers ist so kompakt und wahrhaft wie sein Rindfleisch; je mehr man Engländer sieht, desto mehr Respekt bekommt man davor. Auch die Kaufleute lieben sie nicht blos darum, weil sie reich macht, auch die Kaufleute sind nicht bloß independent weil sie Geld haben, sondern weil sie frei sind. Je unerwarteter mir das kam, da ich bloß teutsche Kaufleute kennen gelernt hatte, desto mehr imponirte mir's.
Der Mann ist ein Mann; das weiß ein englischer Krämer besser, als ein teutscher Millionair. Unser Hutabnehmen und unsre Kratzfüße versteht er nicht, aber er versteht die teutschen Zeitungen besser als die Teutschen. Es giebt in Teutschland viel mehr Schulen als selbst in England, aber die Engländer, 267 selbst die Franzosen lernen besser lesen als wir. Die Engländer im Hôtel de Bavière verbrauchten mehr Zeitungen an einem Tage, als die ganze übrige teutsche Tischgesellschaft in der ganzen Woche; sie lernen fast Alles aus den Journalen, und lesen alle Tage ein Buch. Die Times enthalten alle Tage so viel Worte als ein ganzes teutsches Buch. Wenn der Engländer aus Teutschland fortreis't, so kennt er unsre Verhältnisse besser als die Meisten von uns: und er hat immer das neueste Wissen, wie sich's für einen Kaufmann schickt. Wir kennen den dreißigjährigen Krieg vortrefflich, und hungern und dürsten dabei, er kennt den laufenden portugiesischen vortrefflich, und läßt sich seinen Portwein schmecken; er ist zum Theil darum so praktisch, weil er immer weiß, was gestern geschehen ist, während wir immer die Helden von vorgestern bleiben, Europa's Historiker, welche zu beschreiben, aber nicht zu genießen verstehen.
Der Engländer hat nie ausstudirt, wie der Teutsche; er geht fortwährend in die Schule; die englischen Kinder, das heißt die Nordamerikaner, besuchen oft mit 40 Jahren noch eine Knabenschule, wenn sie merken, daß ihnen diese oder jene Kenntniß fehlt, welche da gelehrt wird.
Die Engländer haben noch eine Aristokratie, sie ist aber selbst für den Tory nur noch eine 268 Staatseinrichtung, keine gesellige mehr. Im geselligen Leben gilt nur der Mann, nicht das, was er heißt, unsere Titel versteht er nicht, unser Adel ist ihm lächerlich. Wenn er von unsern kleinen Polizeimassregeln hört, so ist er anfänglich dumm und findet in der Irre gehend, keinen Standpunkt der Beurtheilung, gelingt es, ihm das Verhältniß klar zu machen, so lacht er, und verachtet uns.
Je öfter ich mit Engländern aß, desto weniger liebte ich die Nation, sie wurde mir immer respektabler, aber immer weniger liebenswürdig. Ihre Humanität ist hart und rauh wie die Hand ihrer Matrosen. In ihrer vortrefflichen, soliden Freiheit ist kein Glanz, keine Schönheit, keine Liebe. Ihr Exempel ist unumstößlich richtig, das französische ist lückenhaft, aber reizend. Sie haben einen robusten Knochenbau der Freiheit, aber ohne eine poetische Leidenschaft, die Franzosen sind voll Blut, und machen ihre dummen Streiche. Selbst die Freiheit ohne dumme Streiche ist langweilig.
Der Stolz des Engländers ist unnahbar, ohne Beschönigung wie der spanische Absolutismus. I am an Englishman heißt eben so viel, als Yo el Rey; Beides steht über dem Streite. Der Franzose kämpft mit einem teutschen Lump um die Richtigkeit seines französischen Nationalstolzes, der Franzose unsrer Tage, nicht der alte Geck, ein Sohn des großen 269 Ludwig. Die französische Humanität ist weich und geschmeidig.
Das sind Skizzen von der Wirthstafel im Hôtel de Bavière, sonst nichts.
Ich habe die Franzosen immer nur übermüthig, die Engländer aber stets hochmüthig gefunden, und beim Uebermuth kann man liebenswürdig sein, beim Hochmuth aber nicht, und die Liebenswürdigkeit ist auch eine Aufgabe der Kultur. Die englische Freiheit ist egoistisch, illiberal, sie gewährt kein Opfer, sie ist ohne Lebensart. Auf diese Weise wird die Freiheit so gut eine Last wie die Sclaverei. Die englische Freiheit hat nur einen Kopf, aber kein Herz, und darum keine Poesie.
Hie und da fand sich auch ein Holländer bei unsrer Tafel ein, und so uninteresssant mir der Begriff Holland immer gewesen ist, so interessant waren mir in jetziger Zeit die holländischen Individuen.
Als die Holländer plötzlich mit ihrer unanständigen Sprache, die nicht anders klingt, als wenn ein Wagen durch ein kothiges, aufgelös'tes Steinpflaster fährt, auf dem europäischen Theater zu agiren anfingen, und zwar mit Leidenschaft zu agiren anfingen, da fiel ich anfänglich in ein unauslöschlich Gelächter. Ich hielt nämlich ihre Leidenschaft für eine kaufmännische Spekulation. Als ich aber sah, daß die Sache wirklich durch ihr Fett gedrungen und die 270 kleinen Venen angegriffen hatte, da fiel ich aus einer Verwunderung in die andere.
Die Holländer waren jetzt wirklich voll Rachsucht und Zorn, und zwar so sehr, daß sie sich diese Rachsucht und diesen Zorn selbst Geld kosten ließen. Das ist das Aeußerste. Das Blut was sie opferten und opfern wollten, hat mich nicht irr gemacht; ich halte jedes Volk, was irgend etwas ernstlich will, für tapfer, also auch die Holländer; ich glaube nicht, daß Industrie und Handel die Tapferkeit beeinträchtigt. Wer gewohnt ist, mit Ernst und allen Sinnen nach Etwas zu streben, verfolgt das auch mit dem Schwert in der Hand. Der Ritter gab für Ehre und Liebe das Leben, der Kaufmann giebt's für Geld, es hat jeder also einen Mittelpunkt. Nur der Indifferentismus ist feig.
Aber die Begeistrung halte ich beim Holländer für einen Irrthum, denn saure Elemente erzeugen sie nicht, und es wird nach einigen Jahren ein tragikomischer Anblick sein, wenn die älter gewordnen Holländer ihre Begeisterung desavouiren werden, wenn sie das schöne Gold reuen wird, das ihr Heldenthum kostet.
Es hat in neuer Zeit Niemand so scharf und treffend über Holland geschrieben als Wienbarg, und ich glaube ihm mehr als mir, da ich die Holländer nur an der Wirthstafel gesehen habe. Er läßt nichts 271 an ihnen als Geld, und hält sie eigentlich nur für eine Waare mit Menschenverstand. Um so mehr verwunderte ich mich, als mir in kurzem Zwischenraume mehrere holländische Individuen gegenüber saßen, von denen zwei mitunter Blut und Leidenschaft hatten.
Der Eine sah gar nicht aus wie ein Holländer: er war nicht klein und hatte ein geistreiches, civilisirtes Gesicht; nur um den Mund spielte jener fatale Diskontozug, den man hassen muß, weil er das Geld höher stellt, als die Schönheit. Der Mann war vierzehn Tage lang artig und still gewesen, hatte mit Industrie gegessen, und mit Geduld die Leipziger Zeitung gelesen. Er fing an, mir Achtung einzuflößen. Da kam eines Tags ein schwarzäugiger Franzose mit propagandistischen lebhaften Zügen an den Tisch, und warf aus Brüssel kongrevsche Raketen nach dem Haag, und jetzt entwickelte sich der moderne Holländer, der Bissen stand ihm im Munde still, der Aerger zog wie eine Heuschreckenschaar verheerend über sein Gesicht, die Hände hielten krampfhaft Messer und Gabel, er drängte mit Mühe hier und da einige verstorbene, tödtliche Worte aus der Kehle, er sah aus wie ein Italiener. Als der Franzose von der Schuld sprach, welche Holland fortwährend allein zahlen müsse, da glaubte ich, es rühre ihn der Schlag, so fieberisch zuckte Alles an ihm. Er ließ die 272 Mittelspeise und den Braten im Stich, und ging davon. Das hätte ich nie einem Holländer zugetraut.
Der Zweite war sogar ein fahrender holländischer Enthusiast, der zu seinem Vergnügen reis'te. Es klingt unglaublich, daß ein Holländer zu seinem Vergnügen reis't und Enthusiasmus mit sich herum führt. Aber ich habe diese Seltenheit wirklich gesehen. Der Mann war klein wie alle Holländer und er hatte auch so kurze Beine wie alle Holländer, und ein eben so ausgewischtes, unleserliches Gesicht, auf welchem kein Signalement steht. Die holländischen Gesichter, welche ich gesehen, eigneten sich alle vortrefflich für Spitzbuben, sie waren gar nicht zu beschreiben, denn es stand gar nichts darin. Man sieht ihnen nicht einmal an, wie alt sie sind, viel weniger, ob dumm oder klug. Dieser kleine Mann war zu Leyden geboren, hatte zu Leyden studirt, kam von Leyden, und trug das schmutzig orangegelb und schwarze Heldenband, und war sehr beweglich. Er war ein moderner Holländer, das heißt ein Irrthum. Die Interessen der belgischen Schuld waren ihm in die Phantasie gefahren, dazu war er kein eigentlicher Kaufmann, noch völlig unbekannt mit der übrigen Welt, von Mutterleib aus gutmüthig und verliebt.
Sein Entrée bei Tische war, daß er uns versicherte, die holländische Sprache sei die schönste auf 273 der Welt, und Holland sei das freiste Land. Wegen der ersten Behauptung wurde er ausgelacht; alsbald sprang er auf – er war noch bei der Suppe – und verließ den Tisch. Beim Rindfleisch kam er wieder, und vertheidigte es mit republikanischer Offenheit, daß die Holländer frei, sehr frei, ganz frei seien. Es ließ sich wirklich nichts dagegen einwenden, sogar die Engländer schwiegen, nur König Wilhelm würde sich schlecht dabei erbaut haben. Er war noch weniger geworden, als die früheren Stadhouder.
Der Holländer schnitt herzhaft in's Rindfleisch. Ich sagte ihm, daß Wienbarg erzähle, sie verehrten, wie die Aegyptier, einen Ochsen, der im Haag einen Stock hoch vortrefflich gepflegt, und wie der holländische Gott behandelt werde.
Er stand wieder auf wie Petrus und ging hinaus und weinte sehr. Bei der Mehlspeise kehrte er zurück, und sagte: die holländische Literatur sei die erste in Europa, und über ihre Poesie ginge nichts. Zum Beweise deklamirte er ein Gedicht. Allgemeines Gelächter. Er lacht mit. Ein holländisches Gedicht klingt nämlich, als wenn ein Unglück passirte.
Zum Beweise der vorzüglichen Literatur führte er den Erasmus an, und als ich ihn bat, fortzufahren, so sagte er wieder Erasmus, und fügte hinzu, man verachte auch in Holland die Homöopathie, der Holländer liebe die reelle Wissenschaft.
274 Neues Gelächter. Er verachtet uns und ißt mit Leidenschaft Schöpsenbraten.
Ich sagte, Erasmus sei ein Schleicher und Hungerleider, ein Discontogelehrter gewesen, und fragte ihn, ob er wohl wisse, wie lange Erasmus schon todt sei, und ob sich eine Nation nicht schäme, seit dreihundert Jahren nichts erfunden zu haben, nicht einmal einen Schnaps.
»Nicht einmal den Genèver?« sagte er stammelnd.
Nein, sagte ich unerschütterlich. Und Petrus warf mir den ganzen spanischen Erbfolgekrieg in einem Blicke zu, und ging hinaus, und weinte bitterlich.
Mit einem Waterloogesicht kam er wieder, lächelte siegestrunken, machte die Weste zwei Knöpfe weiter auf, und sagte vor sich hin: »Chassé.« –
Neues Gelächter. Er fragte beleidigt, warum wir lachten. Ein französischer Engländer nahm das Wort.
»Ich denke immer bei Chassé an den Byron, als er von Blücher sagte, er sei der Stein gewesen, über welchen Napoleon gefallen. Ich gebe nichts für passive Größe, und die Alternative gestatte ich nicht, bei Vollbringung einer That ein großer Mann, bei Unterlassung ein Schuft zu sein. So war's aber mit Chassé. Wenn er das Aeußerste that, so erfüllte er seine Schuldigkeit; in Ermangelung eines freien, originalen Helden ward er ein Held, so wie ein 275 Soldat des Cortez, der reiten konnte, ein Halbgott war, weil die Mexikaner nicht reiten konnten. Die Verhältnisse machten ihn bedeutend, ein großer Mann macht aber seine Verhältnisse bedeutend. Er mag ein recht braver Soldat sein, man ist aber heut zu Tage sehr wenig, wenn man ein braver Soldat ist. Alles Uebrige ist Sache des Zufalls. Der Thurmknopf einer Dorfkirche glänzt charmant und bleibt unbemerkt, weil Niemand hinsieht – man setze den Knopf auf den Citadellenthurm, man lenke die Blicke von ganz Europa darauf, und er wird gleich absonderlich glänzen, und ist doch nicht anders geworden.«
»Dieser Thurmknopf ist Chassé.«
»»Aber Mynheer – –««
»Wenn man nichts braucht, als Gehorsam, um berühmt zu werden, so ist das ein redend Zeichen, daß im ganzen Lager nichts Großes ist. Dieser holländische Ruhm hat erst gezeigt, wie arm die Leute sind. So lange man das Vermögen eines Mannes nicht kennt, mag er für reich gelten, weiß man erst genau, wie Viel er hat, dann ist es mit dem Glauben schnell zu Ende, denn die Phantasie ist immer der Gläubiger der Wirklichkeit. So ist die Ehe ärmer als die Liebe. Nur die Ungewißheit ist reich, alles sichere Wissen arm, denn es hat ein Ende, jenes aber nicht. Darum ist das reichste Alter bettelarm neben der ärmsten Jugend, denn jenes ist fertig, diese aber nicht.«
276 »Ach,« sagte der Franzos mit den propagandistischen Gesichtszügen und den schwarzen Augen, der dazu gekommen war, – »Chassé ist ein Narr, wie ich noch keinen gesehn. Die Geschichte bringt ihm ein Blatt persönlichen Ruhms auf dem Präsentirteller, er darf nur zugreifen, ein Paar alte langweilige Jahre dafür hingeben und in einem einzigen Momente die Quintessenz eines ganzen Lebens genießen – dazu hatte er nicht den Muth. Wenn er mit Leib und Seele für seine Partei ist, so konnte er ihr wirklich einen großen Dienst erweisen, er konnte sie moralisch auf vier Wochen zu Ansehn bringen – Tausende wurden bestürzt, wenn sich Jemand für eine Sache aufopferte, die man nicht der Aufopferung werth hielt. Ich glaube, das haben die Klügeren auch gewollt, als sie ohne Aufhören von dem Luftsprunge Chassé's sprachen.«
»»Aber Mynheer«« fing immer weinerlicher der Holländer an.
»Ich will nicht sagen,« fuhr das propagandistische Gesicht fort, »daß ich dem Chassé gerathen hätte, mit einer solchen romantischen Fratze zu endigen – ich liebe diesen Aufwand nicht – aber ich meine, er sei ein prosaischer Nußknacker. Quel bruit pour une omelette. Wollte er nichts weiter thun als was er gethan, so mußte er vornweg ganz still sein, nicht renommiren wie ein teutscher Student; jetzt wird er 277 ausgelacht. Fing er doch die Vertheidigung so unvorsichtig an, ließ unsre Truppen ungestört die ersten Parallelen eröffnen, daß Jedermann glaubte, es gehe auf einen Heldenkoup hinaus. Oh - Monsieur Hollandais, cela n'est rien.«
Der Holländer that mir in der Seele leid; es ist ein Zauber um jede Art von Liebe, sei's auch was Unschönes, dem sie gilt. Und der Untergang der Nationalitäten, der letzte Ritter unsrer Tage, ist so poetisch weil er so viel Thränen kostet. Ich wärmte eiligst Hollands protestantisches Heldenthum auf, und das schmeckt wie Schöpsenbraten und Sauerkraut aufgewärmt am Besten, und erzählte von der Schlacht bei Gravelingen und den Wassergeusen, und den heldenmüthigen belagerten Städten, in denen man lieber Pferde- und Rattenfleisch gegessen, als die Spanier geduldet hätte, ich sprang zu Ruyter hinauf, und sagte den Engländern, wie er einst bis in die Themse gedrungen sei und die City gebebt habe vor dem holländischen Namen Ruyter, ich citirte den alten Rembrand und Jan Steen mit ihren derben Bildern, ich sagte, daß nur zwei Millionen Holländer existirten, und daß es aller Ehren werth sei, daß sie sich immer noch gegen das Meer und die übrigen 233 Millionen Europas vertheidigt und selbstständig erhalten hätten, und um ihn ganz glücklich zu machen, stimmte ich leise sein »Oranje boven« an. Da trommelte er 278 mit Händen und Füßen, und war ganz glücklich, und hatte Alles vergessen.
Der Glaube an die Nationalität ist wie der Glaube an Vater und Mutter, dem einzelnen Sohne muß man nicht die Gebrechen der Eltern auferzählen, das schmerzt zu tief. Ich greife oft ganze Völker und Distrikte und Korporationen an, aber da trägt nicht Einer Alles, die Last vertheilt sich unter Viele, und keiner wird niedergebeugt, aber Viele werden aufgeregt. Und das Letztere will ich: wenn das Blut rasch fließt, da entspringen die besten Gedanken, da entstehen die jüngsten und frischesten Thaten.
Man mag sich noch so sehr kosmopolitisiren, man wird ein Heimweh, ein Vaterlandsweh nicht los, und das wird vielleicht immer bleiben, auch wenn die Völker viel mehr in einander aufgegangen sind, es ist der erste Vers des empfundenen Daseins. Wenn ich im Zorne die Teutschen schmähe, und es schmäht ein Fremder mit, da klopft jener Vers an mein Herz, und all' unsre Vorzüge fallen mir plötzlich ein, das Schmähen des Fremden drückt schmerzhaft auf meine Seele, und ich fange an, meinen Vers zu singen, bis das Schwert aus der Scheide springt, und ich dem Fremden damit blut'ge Antwort gebe auf meine eignen Worte.
Wir wissen oft nicht, daß wir lieben, bis wir das schmähen hören, was wir im Herzen tragen.
279 So lernt man an der table d'Hôte im Hôtel de Bavière die stillen Liebeszimmer der Weltgeschichte. Wenn ich in Leipzig zwischen Engländer, Franzosen, Holländer und Amerikaner gerathe, da erfahre ich's erst, daß ich ein Teutscher bin, und ob ich auch nicht immer Freude daran gehabt habe, so lieb' ich doch auch um dieser Erfahrung willen das Hôtel de Bavière, in welchem ich Geographie und Völkergeschichte studire, und zu Mittag esse.
Alle diese Dinge und Gedanken ereigneten sich aber am ersten Frühlingstage in Leipzig, und die Repräsentanten der vier Völker gingen nach geschlossenem Waffenstillstande in den großen Kuchengarten, und tranken Kaffee im Freien und fanden es sehr hübsch, daß die Welt wieder schön würde, und der Franzos und ich waren der Meinung, daß der Frühling doch die beste Erfindung sei.
Der Engländer entschied sich aber für die Dampfmaschinen und der Holländer schüchtern für den Genèver. 280