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Strückerjans hatte gesehen.
Er hatte gesehen, was er nicht sehen wollte und doch sehen mußte ... in jener Nacht, als Knechte und Mägde feierten und die Osterfeuer den dunkeln Hof umstanden wie Lichtgestalten in blanken Harnischen und züngelnden Schwertern, und dieses Sehen hatte ihm eine Maske von Stramin über die Augen gezogen.
Er sah alles umwölkt, gleichsam durch einen gelben Schleier rieselnden Wüstensandes, dafür aber um so drohender und schreckhafter. Er hatte Tage, die er nicht mehr durchleben mochte, und Nächte, die er verwünschte. Strückerjans war aus dem Gleichgewicht gedrückt, aus Senkel und Richte.
Häufig brannte seine Tranfunsel bis in den grauen Morgen hinein.
In ihrem mageren Schein las er die Handpostille, betete er, hatte er Gesichte, die ihn beunruhigten. Sie hingen sich an ihn gleich scheußlichen Wesen. In seiner Herzensnot nahm er ein Bündlein geweihten Palms und ließ es über der ausgehungerten Flamme verbrennen. Den rußigen Qualm sog er ein. So glaubte er, die Gesichte zu bannen. Aber immer kamen sie wieder, und je öfter sie sich einstellten, um so lebhafter quälten und bedrängten sie ihn. Sie wanderten herauf in der wiegenden Gangart von ziehenden Kamelen, unaufhaltsam, immer die nämlichen, mit dem eigenartigen, wildfremden Kopfputz von blauen Wollfransen, roten Korallen und bleichen Kauris. Sie muteten an wie apokalyptische Tiere. Und alles war steinige Öde um ihn, blattloses Pflanzenleben, dazwischen Blumen mit todschwarzen Kelchen. O, diese Gesichte!
Er sah seine Herrin, wie er sie immer gesehen hatte, wenn sie in ihrer landesüblichen Tracht die Kirche besuchte: im Beiderwandrock, das seidene Fürtuch umgeschlagen, das schmale Gebetbuch mit dem goldgepreßten Kreuz zwischen den weißen Händen.
Sie erschien ihm wie früher.
Nur ihre Blicke gefielen ihm nicht.
Sie erinnerte ihn an das grausame Hinwelken eines schwülen Sommerabends, und er wurde unwillig und stammelte mit gefalteten Händen: »Es ist nicht wohlgetan, dem Feuer Brennholz in die Finger zu geben, es sei denn, es geschähe in Ehren,« und je länger er auf die Gutsherrin stierte, um so mehr entkleidete er sie ihres früheren Aussehens.
Fürtuch und Beiderwandrock fielen von ihr ab. Alle Schlichtheit zermürbte, die Reinheit ihres Menschentums nahm für ihn einen bedrohlichen Glanz an.
Er sah in ihr die Abwegige, die Trunkene, schlimmer als die Frauen des judäischen Königs, angetan mit verbuhltem Gold und dünnen Geweben ... und was sie tat, tat sie nach seinem Ermessen mit sündigem Herzen und unreinen Händen. Unter solchen Händen mußte das ganze Anwesen verunkrauten: Hof und Herd, Garten und Wieswuchs und alles, was unter dem Pflug lag, und er stammelte wieder: »Ich will jedes Einzelne verstören und will herausnehmen allen fröhlichen Gesang, die Stimme des Bräutigams und der Braut, das Pochen der Mühle und das Licht der Lampe,« und dennoch liebte und verehrte er sie, wie die Flamme das Holz liebt, der Hund seinen Herrn, die ausgedorrte Scholle den stetigen und befruchtenden Sommerregen.
Er lebte in Zwiespältigkeit.
»Madam,« stöhnte er in sich hinein, »ich hab' die Not im Turnister. Die ist unverschämter als 'ne hungrige Ratte, denn sie frißt Euch und mir und dem Knollenkamp das Honnör aus dem Leibe. Keine Bonität mehr. Der Erbe tut es allein nicht. Bei so was geht dito desgleichen das Regententum flöten; denn geschrieben steht: Alle, die sie ehreten, verschmähen sie jetzt, weil sie ihre Blöße gesehen. Und niemand ist da, der sie tröstet. Madam, da kann keiner nicht helfen. Da muß schon ein Höherer kommen, ein Gesalbter des Herrn oder die Jungfrau Maria. Um dessentwegen laßt uns denn singen: In Gottes Namen pilgern wir ...« und als die jungen Ähren der Roggenfelder bereits wie zartgraues Katzenfell schimmerten, bat er um drei Tage Urlaub, rüstete sich und wallfahrtete bei noch diesiger Morgenfrühe mit festen Transchuhen, in die er der größeren Bußfertigkeit wegen trockene Erbsen verstaut hatte, und mit heiliger Rosenkranzstimme über Grieth und Appeldorn dem nahegelegenen Marienbaum zu.
Hier betete und büßte er zum Steinerbarmen um Erleuchtung und Einsehen.
»Herr, sei ihr gnädig!«
Und kräftiger: »Mutter der Gnaden, erbarme dich ihrer!«
Aber der wundertätige Bildstock schien für seine Seelenmarter kein richtiges Verständnis zu haben.
Er blieb stumm wie ein Spiegelkarpfen; auch gab er kein Zeichen.
»Kann vorkommen,« tröstete sich der Alte und schurfelte seine gelben Stockzähne gegeneinander. »Wenn der kleine Beamte nicht mittut, muß man sich an den höheren wenden; genau so wie in der Amtskanzelei. Macht's der Aktuarius nicht, wird der Friedensrichter schon helfen,« und er rumpelte selbigen Tages noch weiter, über Xanten und Weeze fort, der fromm dahinschleichenden Niers zu.
Abends kam er in Kevelaer an.
Sein Schatten lief vor ihm her, als wenn er sich auf langen Stelzen bewegte.
Dem schwarzen Basaltpflaster entströmte noch eine unerträgliche Hitze. Die in den Straßen aufgepflanzten Maien raschelten mit ihren verschrumpfelten Blättchen.
Im ›Medaillenstab‹ angekommen, sank er matt auf den Strohsack, umgaukelt von den Hoffnungsstrahlen glänzender Unendlichkeit.
Ein ›Gegrüßt seist du, Maria‹ auf den trockenen Lippen, versank er in einen traumlosen Zustand.
Anderen Morgens war er beizeiten vor der Gnadenkapelle.
Sie glitzerte unter einer brutheißen Sonne.
Nur ein unscheinbares Bildchen lächelte ihm hier entgegen, ein vergilbtes Ding in einem kostbaren Rahmen, von Weihrauch umdampft, von schweren Wachskerzen umstanden, von silbernen Schellen umklingelt.
Tausende kamen, Tausende zogen vorüber, von diesseits des Rheines, von jenseits des Rheines, weit aus dem Trierschen her, von den Niederlanden, aus Belgien, wo die Menschen stielköpfig sind, Menschen, die nur nach Kevelaer wallen, um in der Gnadenkapelle für den Untergang des niederträchtigen preußischen Königshauses zu bitten. »Herr, erhöre uns! Christe, erbarme dich unser!« Immer neue zogen auf, immer neue gingen unter in dem Stauen und Drängen, dem Fahnengeflatter und den heiseren Klängen langsam dahin schreitender Musikkapellen. Dazwischen aber auch heiße Gebete, inbrünstiges Stammeln, Klagen ergreifenden Schmerzes, echten christkatholischen Glaubens, Rufe nach Heil und Erbarmen, Worte, wie von Engelszungen geredet, die da sprachen und sagten: »Hier ist geheiligte Erde! Hier ist Gott wirklich und wahrhaft allgegenwärtig! Kommet nur alle! Wer da lahm ist, er wird das Gehen wieder gewinnen. Wessen Sehstern wund und tot ist, ihm wird aufs neue Glanz und Leben gegeben. Wer da Schaden litt an seiner Seele, die Gottesgebärerin spreitet ihr Tüchlein und nimmt mit ihm den Schaden hinweg. Kommet nur alle, kommet nur alle!«
O diese Weihe!
Nur ein unscheinbares Bildchen, ein vergilbtes Ding, von Weihrauch umdampft, von Kerzen umstanden, von Schellen umklingelt – und doch diese Seufzer, diese Geschehnisse, diese Zeichen und Wunder!
»Kevelaer, Kevelaer! höher denn Lourdes, begnadeter denn Marienbaum!«
Immer lauter und inbrünstiger.
»O du gebenedeite Jungfrau Maria!«
»Bitte für uns!«
»O du Arche des Bundes!«
»Du elfenbeinerner Turm!«
»Bitte für uns!«
Immer dringlicher, immer tiefer und zupackender.
»O du Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt!«
»Erbarme dich unser, o Herr!«
Die Stimmen versagten, die Knie zermarterten sich auf den harten Steinen.
Kerzen wurden geopfert, wächserne Arme und Beine, blutende Herzen.
»Kevelaer, Kevelaer! höher denn Lourdes, begnadeter denn Marienbaum!«
O diese Seufzer, diese Geschehnisse, diese Zeichen und Wunder! Sie krochen am Boden, sie erhoben sich zu Gott, sie wurden zu himmlischen Fahnen, zu Blutzeugen, zu Engeln des ewigen Schöpfers. Alles groß und erhaben, herrlich, unendlich! Eine Andacht ohnegleichen, ein Beten wie im Paradiese! wären nur nicht diese häßlichen Stimmen dazwischen gewesen, diese belgisch- wallonischen Stimmen, diese stielköpfigen Menschen, schmutzig wie ihre Popottes, stinkig wie ihre Seelen! Dieses impertinente Beten, dieses frömmelnde Heucheln!
» Miroir de justice!«
» Priez pour nous!«
» Cause de notre joie!«
» Refuge des pêcheurs!«
Und heimlich dazwischen, niederträchtig, verbissen: » A bas la Prusse!«
Und wieder und wieder: » Agneau de Dieu, qui effacez les péchés du monde!«
» Ayez pitié de nous, Seigneur!«
» Ainsi soit-il!«
Ihr Führer, ein Priester, fähig, Steine zu wälzen, lächelte hämisch, entnahm seinem Nasenbergwerk irgendein Etwas, rollte es zwischen den Händen und knippste das so gedrehte Geschoß verächtlich auf die armseligen Preußen.
O Gott, o Gott! wären nur nicht diese belgischen Flegel gewesen, diese belgischen Weiber: Kevelaer, Kevelaer! höher denn Lourdes, begnadeter denn Marienbaum!
Sie entweihten die Stätte, sie beirrten die Menschheit. Ihre gebeteten Lügen beschmutzten die Straßen, besudelten die Kirchen, verzerrten das Bild des Deutschen im Ausland, und die Einheimischen selber fanden noch den traurigen Mut, diese herausfordernden Fremdlinge willkommen zu heißen und über den blauen Kappes zu preisen.
Strückerjans konnte sein eigenes Wort nicht finden, nicht zur begnadeten Jungfrau, nicht zu seiner Andacht gelangen. Die Straminmaske bedrückte ihn, gab ihm nur Bilder ohne Wesen und Inhalt. Hin und her gedrängt, schwamm er durch einen Sumpf von zusammengetriebenen Leibern. Seine ausgebleichten, nach innen gekehrten Augen sahen nur eine Wirrnis von bunten Gruppen, von flirrenden Knäueln, von wirbelnden und sich drehenden Punkten. Ihm flossen die Kerzendochte zusammen, die zuckenden Flämmchen, die wächsernen Bilder, die Fahnen und Medaillenstäbe. Er sah alles und gar nichts. Sein Fuß kam nicht weiter. Die trockenen Erbsen stachen und bohrten. Dazu das Glockengeläut: spitze und magere Glocken, fette und heisere, sonore und lärmende, Glocken von allen Kirchen und Kapellen herunter.
Kevelaer, Kevelaer! höher denn Lourdes, begnadeter denn Marienbaum!
Allein das vermochte ihm gar nichts zu bieten.
Es war ihm nicht möglich, seine schmalen Lippen auf den Mund der wundertätigen Mutter zu legen, ihr seine Bitten, sein Elend in die huldvollen Arme zu betten.
Die betäubenden Glockenrufe schlugen ihn nieder.
Sein Appell an die höhere Instanz hatte gleichfalls stumpfe Zähne bekommen.
Der Friedensrichter konnte ihm auch nicht mehr helfen.
So zog er denn ab von der Stätte der Wunder und Barmherzigkeiten, den ›Turnister‹ noch voller Sorgen und Nöten.
Wegemüde torkelte er über die verstaubten und durstigen Straßen.
Erst spät in der Nacht erreichte er die heimischen Penaten.
»Marienbaum und Kevelaer – faul und belämmert,« sagte er am anderen Morgen, einem friedfertigen und warmsonnigen Sonntag. »Vielleicht geht's auch mit's einfache Beten; denn die kleinen Propheten sind manchmal die besten. Was man im eigenen Lande besitzt, selbst wenn's ärmlich bestellt ist, soll man draußen nicht suchen,« und er begab sich gleich nach dem Hochamt zu den Stationen, die die Kirche von Grieth in weitem Ringe umstanden.
Hier kniete er nieder, küßte die Erde und flehte mit heiliger Inbrunst: »Der Heiland schwitzete Blut, warum soll ich nicht schwitzen vor Angst und Bedrängnis? Aber es ist nicht um meinetwegen, daß ich hier knie, sondern um dessentwegen, daß meine tiefe Not aus dem Turnister heraus muß. Herr, der Feind hat seine Hand an ihr Kleinod gelegt, denn sie mußte zusehen, daß die Heiden an ihr Heiligtum gingen.«
Die zweite Station.
»Herr, der Feind pranget sehr. Das Haus steht verfallen, und die Acker sind wüste.«
Die dritte Station.
»Siehe an, wie sie es treibet im Tal und nachts in der Finsternis. Sie läuft umher wie eine Kamelstute in der Brunft und wie ein Wild in der Wüste.«
Die vierte.
»Herr, es ist nicht um meinetwegen, daß ich hier knie ...«
Viel Volk hatte sich inzwischen um ihn gesammelt und schmunzelte.
»Nein, es ist nicht um meinetwegen, daß ich hier knie ...«
Da eine unwillige Stimme: »Strückerjans, was betreibt Ihr für dämliche Sachen?«
»Dämliche Sachen, Mynheer?!«
Der Alte fuhr betäubt aus Andacht und Bußfertigkeit.
Steif reckte sich sein hagerer Körper.
»Melkende Kühe und betende Menschen soll man nicht stören, Herr Rennings.«
»Kommt abseits,« gebot der Kapitän, »daß die umstehenden Lackel nicht auf schmierige Dinge verfallen.«
Willig ließ er sich führen.
In einer verschwiegenen Ecke des Kirchplatzes herrschte Rennings ihn an: »Blexem, dieser Unfug am hellichten Sonntag! Ihr seid wohl verrückt von der Takelage bis zum Kielschwein herunter?!«
»Mynheer, diese Sprache! wo ich mich hier in schwülster Verfassung befinde und die Not aus meinem Turnister heraus muß.«
»Mynheer, mein Animus ist trocken, und trockene Radspeichen beginnen zu pfeifen. Ich habe schon nach Marienbaum und Kevelaer gemacht, hin und retour, mit schmalem Knappsack und harten Erbsen in den Schuhen, aberst nichts hat geholfen.«
»Was nicht geholfen?«
»Beten und Singen, Litaneien und Pilgern.«
»Hat's denn das nötig gehabt?«
»Aber natürlich! von wegen dem Knollenkamp und von wegen der Katen. Immerst steht mir die Madam vor Augen. Bei Tages- und Nachtzeit. Ihr sollt sehen, Mynheer ... wie lange noch: und das Haus steht verfallen, und die Äcker sind wüste. Propertät säubert Seelen und Dielen, Malpropertät macht sie zu schänden. Die drei, sonst die herrlichsten Menschen ... jetzt muß ich denken, daß sie an ihr Heiligtum wollen.«
»Maul gehalten, oder ich bestelle die Teerbox, und Ihr sollt kielgeholt werden.«
Der Alte brannte los wie eine Pulverrakete.
»Mynheer, ich benenne mir Strückerjans, bin eingeborener Bürger im hiesigen Kirchspiel, und wer meinen Namen verhohnepiepelt ...«
»Mir völlig egal und Wurscht wider Wurscht. Ihr sollt nicht Falsches unter die Leute verzapfen.«
»Tu' ich auch nicht, hab' ich niemals betrieben.«
»Mensch, ich hab' doch zwei leibhaftige Ohren« – und der untersetzte Rheinbär hämmerte sich eine steile Stirnfalte zwischen die Brauen – »und hier meine Hand – ich lege sie unbesehen ins Feuer: für die vom Knollenkamp und für die von den Katen ins Feuer, und wenn einer dagegen anoperiert, wenn einer es wagen sollte, nur mit der Wimper zu zucken ...«
Zwei derbe, harte, braunrote Fäuste hoben sich drohend.
»Wenn Ihr denn meint ...«
»Aber sehr, und Maul halten sollt Ihr.«
»Tu' ich, Mynheer, und ich wollte mich auch nur mit unserem lieben Herrgott benehmen.«
»Schön! und weiter kein Wort mehr.«
»Soll denn seine Richtigkeit haben, und wenn nichts anders passiert, mein Turnister sich nicht voller belastet, wird der Vater im Himmel auch nicht weiter inkommodiert. Ich bedanke mich vielmals. Ihr habt mir in Bekehrung genommen.«
Erhobenen Hauptes stakelte er über den Friedhof, durch den warmen Sonnenschein, feldeinwärts, auf die langgestreckte Scheune zu, in der seine Schafe blökten und ihren Meister erwarteten.
Rennings sah ihm noch lange nach, schüttelte den Kopf und schliff sich mit Mittel- und Zeigefinger rund um die Bartfräse.
»Unsinn, verfluchter!« sagte er nachdenklich auf dem Heimweg, »aber mit Jan-Ohme hab' ich doch ein Wörtchen zu sprechen.«
»Sriii!« machten die Schwalben, die in zierlichen Wenden und Kehren den Kirchturm umsegelten.
Es war Mitte Juni geworden.
Die Felder standen in Blust. Mit silbernem Engelshaar rieselte es von dem blauseidenen Himmel herunter. Bunte Sommervögel pendelten über blühenden Klee, über die schwefelgelben Weiten der Rapsäcker. In den Gärten rauschte eine selige Musik, schmückten sich die Rabatten, dufteten die Zentifolien, steckten die Feuerbohnen ihre glühenden Köhlchen auf, und als der seltsame Vogel mit der verwunschenen Stimme sich in goldenen Wellenlinien an den Vorgehölzen vorbeiwiegte und dabei sein jubelndes ›Vogel Bülow, Vogel Bülow‹ ertönen ließ, war das niederrheinische Land so recht dazu angetan, die Herzen weit und die Augen strahlend zu machen. Diese Orgelmusik zwischen den Rispen und Halmen, diese sonoren Gesänge von den sommerblauen Wäldern herüber! Tage der Wonne, Nächte voller Sehnsucht und Planetenfeuer! wäre nur nicht das heimliche Tuscheln und Raunen gewesen. Ohne weiteres Zutun des Alten hatten seine inbrünstigen Bitten und Klagen lange Beine bekommen, genau so wie die Schatten ums Abendwerden. Vom Friedhof in Grieth aus schlichen sie unauffällig ihres heimlichen Weges. Nichts Genaues, nichts Bestimmtes! aber die beinigen Schatten hatten doch ihre infamen Angewohnheiten, wenn sie auch nicht wagten, die Schwaterskat zu behelligen.
Hier waren andere Bedrängnisse und Heimsuchungen.
Ewert saß in Hochporten, weit in der Eifel; Klaas-Welm in Gennep. Nachrichten liefen so gut wie gar nicht ein. Die Verbindung mit der Heimat hatten sie vor der Hand mehr oder weniger aufgegeben ... von Arnt und Jüllecke war überhaupt nicht zu reden.
Die Ärmste saß zwischen Tränen und Trauer.
Nichts behagte ihr mehr, nichts schmeckte ihr mehr, nichts war imstande, ihr ein freundliches Rosenkränzlein zu bieten. Einzig und allein im Gespräch mit dem lieben Gott fand sie etlichermaßen Linderung und Zuspruch in ihren trüben Gedanken.
Am zweiten Sonntag Trinitatis war sie im Hochamt.
Bewegt kehrte sie heim.
Der ehrwürdige Dechant, Herr Johannes van Holten, hatte so schön und erhebend von einer lauteren Ehe gesprochen, von ihrer Beziehung zwischen Erde und Himmelreich, von ihrem Einfluß auf ein gottwohlgefälliges Sterben. Dabei hatte er den streitbaren und tapferen Doktor Konrad Martin, Bischof von Paderborn, den gewaltigsten Recken und Dogmatiker der neueren Zeit, aufgeboten und durch seine Zunge geredet. Hei! wie wehten da die sauberen theologischen Fähnlein, wie blitzten da die feingeschliffenen Thesen und Antithesen, und wie überzeugungstreu zitterten die Worte durch die hohe Basilika, die da lauteten: »Die Verbindung Christi mit seiner Kirche ist eine ewige, unauflösliche und wohltuende Fessel. Unauflöslich soll auch die sein, die die Ehegatten miteinander vereinigt. Zusammenhalten sollen sie in geselliger Liebe und unverbrüchlicher Treue ... gemeinsam ringen und kämpfen ... gemeinsam leiden und dulden ... gemeinsam die Sakramente empfangen ... für einander leben und schaffen und, wenn's sein muß, für einander auch sterben. Trennung der Ehe widerspricht ihrem Begriffe. Die wahre Liebe kennt kein Ermatten. Mann und Weib welche Blüten, Förderer und Träger von edlen Früchten, Erhalter der Völker und Staaten! Nur wandelbare Fleischeslust verkehrt alles ins Böse. Gehet hin, ihr Jünglinge und Jungfrauen, ihr Männer und Frauen, und folgt den Geboten! Nur mit dem Ringlein am Finger findet ihr dereinst das himmlische Jerusalem.«
Nein, dieser streitbare und weise Doktor Konrad Martin aus Paderborn! Dieser wackere Bischof! Wie wehten seine Fähnlein, wie glänzten seine scharfgeschliffenen Lanzenspitzen! Wie verstand er es, mit dogmatischen Schlüsselbüchsen und Orgelkartaunen zu spielen! Welch preziösen Psalter sang er der christkatholischen Ehe, und wie sprach und predigte er durch den Mund des beredten Herrn Johannes van Holten!
Jüllecke zerfloß dabei in Tränen und Wehmut.
Das alles hätte sie an ihren Getreuen erleben können, und nun mußte sie sehen ...
Auch Jan-Ohme war für sie ein Buch mit sieben Siegeln geworden.
All das durchlittene Elend stellte sich vor ihr auf, kam ins Wanken und krachte über sie her mit der Wucht von Ziegelsteinen und Felsblöcken.
Aber nur Ruhe, nur Ruhe! und um diese zu zwingen und sich gefügig zu machen, tat sie das, was sie immer betrieb, um ihr Leid weniger traurig und empfindlich zu gestalten: sie nahm Nadel und Seide und begann eifrig zu sticken.
Schon seit undenklichen Jahren hatte Jüllecke verschiedene Paramentenstücke in Arbeit, um sie ihrem Seelenbräutigam und der Wisseler Kirche zu stiften. Zuerst eine Dalmatika – und damit die flehentliche Bitte verbunden: »Herr, lasse mich leben, bis ich diese kirchliche Sache vollendet habe. Dann magst du deine Dienerin rufen und sie geleiten in den ewigen Frieden,« und dann stickte sie los, bis sie das Kunstwerk halbwegs vollendet. Hierauf aber legte sie das unfertige Gebilde wohlweislich beiseite und begann damit, eine Kasel zu illuminieren, wiederum mit der dringlichen Bitte: »Herr, lasse mich leben, bis ich diese kirchliche Sache vollendet habe. Dann magst du deine Dienerin rufen und sie geleiten in den ewigen Frieden.« O dieses Jüllecke! denn siehe: kaum, daß auch hier die Vollendung nicht fern war, wanderte die Kasel in eine trauliche Ecke, wurde eine Stola unter Nadel und Seide genommen und dabei wieder gläubig gebetet: »Herr, lasse mich leben, bis ich diese kirchliche Sache vollendet habe. Dann magst du deine Dienerin rufen und sie geleiten in den ewigen Frieden,« und so fort und so fort, bis zur heutigen Stunde, wo drei Dalmatiken, sechs Stolen und vier Kaseln ihrer endgültigen Auferstehung entgegen sahen ... eine niederrheinische Penelope, von der griechischen nur dadurch verschieden, daß diese dabei an ihren Odysseus dachte, jene an ihr teures Leben, Penelope nur ihre lästigen Freier, Jüllecke aber in frommer und gehobener Seelenruhe ihren Herrn und Erlöser beschummelte ... und so saß sie auch an diesem sonnigen Sonntag am Fenster und stichelte emsig, erstens, um ihr irdisches Dasein zu längern, zweitens, um ihr bitteres Leid zu erwürgen, als Phöns met de Fleut erschien, plötzlich, wie ein Hecht zwischen Binsen, und ins Zimmer hereinstierte ... verworren, verweht, mit dem Gesicht eines Unheilverkünders, eines Anachoreten aus der Thebais, eines Büßers und Dulders, eines Mannes, der in Sack und Asche daherkam.
»Christus ...!«
Nadel und Faden hielten in ihrer Tätigkeit inne.
»Phöns, einen so zu erschrecken!«
Der Ankömmling lüftete in dumpfer Beklemmung seinen schäbigen Sonntagszylinder und stülpte ihn wieder über den entwaldeten Schädel.
»Was wollt Ihr? Heraus mit der Sprache!«
»O Jüllecke, Jüllecke! diese Tränenkomödie, diese Arche des Kreuzes, diese Bundeslade der Trauer und Schmerzen!«
»Um tausend Gotteswillen, was habt Ihr? oder seid Ihr nicht richtig im Kasten?«
»Jüllecke, ich will gar nichts behaupten, aber Menschen im Unterrock bringen schwere Molesten und trinken einem das Blut aus dem armen Kadaver, bloß, daß sie die Männer nicht lebendigen Leibes, sondern nur moralistisch verzehren.«
»Das ist Musik durch den Trichter.«
»Schon möglich. Indessen: erst Ewert, dann Klaas-Welm, und nu heißt es ja wohl ... aber nur hörenderweise ...«
Jüllecke glaubte sich einer Ohnmacht nahe.
»Alles Stunk und Verleumdung,« stöhnte sie auf, »und Ihr solltet Euch schämen ...«
»Weiß ich, Jüllecke. Hab' ich ja immer gesagt, und ich bin auch bloß hier, um Euch zu vermelden, daß ich mich auf Posten befinde, daß ich voller Bravour herumpatrulliere, um denjenigen ausfindig zu machen, der wissentlich und an hellichtem Tage die Tränenkomödie, diese Bundeslade der Trauer und Schmerzen veranstaltet. Jüllecke, bei die Festivitäten mit die Ziehharmonika und so bin ich immer fidel mittenmang, aber bei so was, wo die Reputation in Betracht kommt, stecke ich andere Kulören auf. Da kann ich unangenehm werden, aber das wie ein Bulle. Äußerste Eile geboten, denn: as de Schlächter op de Dähl kömmt, es geen Tid mehr, öm et Ferke te meste. Verstanden?«
Er schlug sich auf das fadenscheinige Vorhemd, daß es knallte.
»Jüllecke, ich,« und bevor sich die Ärmste noch von ihrem jähen Schrecken zu erholen vermochte, hatte sich Phöns bereits in den zunächst gelegenen Korngassen verloren, spurlos, nicht mehr zu sehen, und nur sein Zylinder schwamm noch auf den leise dahinwogenden Ähren, gleich einer schwarzen venetianischen Gondel, die sich friedlich mit dem plätschernden Wasser vorwärts bewegte.
Sie sah diese Gondel dahingleiten, untertauchen, verschwinden – die Gondel des Todes.
»Erst Ewert, dann Klaas-Welm, und nu sagen die Leute: Hej fällt von de Gavel in de Greep. Herr Jeses, was soll aus meinen drei Königen werden! Aber ich weiß, was ich tue, und wenn ich darüber verrückt werden sollte.«
Sie rang die Hände, schluchzte tief auf, um dann in die barmherzigen Arme einer stumpfen Ergebung zu stolpern.
Mit erkünstelter Sorgfalt legte sie ihre Stickerei zusammen, barg die halbfertige Stola, machte sich im Haushalt zu schaffen, richtete das Mittagessen mit äußerster Dienstbeflissenheit, genau so wie an den übrigen Tagen, aber stets mit dem Gedanken beschäftigt: »Ich weiß, was ich tue.«
Zuerst glaubte sie, in Jan-Ohme das Heil und den wahren Jakob gefunden zu haben, geeignet, des furchtbaren Rätsels Lösung zu bringen.
Allein diese Eingebung verwarf sie nach kurzem Besinnen.
Nein, dieser Mann hatte ihr nichts mehr zu sagen, war hinterhältig und im lautersten Sinne des Wortes unzuverlässig geworden ... woher sonst sein Schweigen, seine dämliche Ruhe, sein unqualifizierbares Benehmen?
Trotz seiner großen Worte und seiner opulenten Komplettigkeit, hatte sich dieser Wichtigtuer in gar nichts verkrümelt.
Also fort mit Jan-Ohme.
Mit ihm hatte sie nichts mehr zu schaffen.
Ebensogut hätte sie die Feldsteine ansprechen können, sich mit ihr ins Einvernehmen zu setzen.
Also warum noch?
Sie mußte sich schon an die richtigen Adressen wenden, und das waren Anna Donsbrügge und der Knollenkamp selber.
Ein Drittes gab es nicht mehr.
Und das Wichtigste, was auch schon Phöns met de Fleut aufgestellt hatte: Eile war nötig.
Gleich nach dem Mittagessen traf sie ihre Vorkehrungen, machte sich fertig, aber mit allen Umständlichkeiten. Wie an den höchsten Feiertagen warf sie sich ihr Bestes über. Kurz, sie bekleidete sich, als hätte sie der hochwürdige Bischof in partibus infidelium zu einer Audienz berufen. Hierzu kamen: Pompadour, filierte Halbhandschuhe, goldene Heftel und schließlich, der wohlmeinenden Sonne wegen, ein rotbaumwollener Regenschirm mit Messingzwinge und Krücke. In ihrer Seele brannte der Rechtskoder, der malleus maleficarum, in ihren Blicken die Losung: Strick, Stein, Gras und Grein, die Satzung der Wissenden des heimlichen Femgerichtes.
Mit aufgespanntem Parapluie, die lauretanische Litanei auf den Lippen, pilgerte sie los, durch den lachenden Sommertag, durch die Welt voller Lerchenwirbel.
Klingelnd schritt sie durch die blühenden Wiesen, durch unermeßliche Triften, an der großen Wehle vorüber, wo sich die harten Rohrstengel gegeneinander wetzten und die großäugigen Libellen gleich blauen Nadeln in der Luft standen, bis dorthin, wo der Weg nach dem benachbarten Grieth abzweigte.
Hier hielt sie plötzlich an und sichtete scharf in die Ferne.
Vom Binnendeich her kam ihr ein blankes, munteres Schäschen entgegen.
In der engen Schere trabte ein Schwerblüter, isabellfarbig, mit kastanienbraunen Flecken getigert.
»Na nu,« sagte sie sich, »das sollte ich kennen. Aber nichts merken lassen, ja nichts merken lassen. Musmaßlich wird der vom Baumannshof sichtbar. Na, denn aber auch!«
Energisch klappte sie den Baumwollenen zu, wandte das Gesicht ab und wollte vorüber.
»Halt, Jüllecke, halt!« rief es vom Schäschen herunter. »Wohin des Weges?«
»Gehorsamst zu melden: nicht zu Ihnen, Herr Baumann.«
Sie war rot übergossen.
»Prrr!«
Gaul und Wagen standen wie angegossen.
»Ich bitte, nicht weiter.«
Fixbeinig schnirkelte es sich vom Hochsitz herunter.
»Na, so was?« und sie funkte ihn an: »Herr Baumann, denn Jan-Ohme sage ich überhaupt nicht mehr im Leben zu Ihnen, wie soll ich das nehmen? Ihr ganzes Verhalten ...«
Die Messingzwinge bohrte sie in den harten Lehmboden des ausgefahrenen Weges, legte die Hände über die Krücke und sah entsetzt in das Pontakgesicht ihres früheren Seladons.
Es gnitterte und zuckte in ihr.
Jedes Fäserchen ihres Herzens stand auf Krakeel.
Sie zürnte.
Ihre jungfräulichen Zierden, die, wären sie mütterlich- fraulich gewesen, gewißlich dazu beigetragen hätten, ein halbes Dutzend Kinder zu prächtigen Posaunenengeln herauszupäppeln, kamen in eine nicht gelinde Erregung.
»Herr Baumann, wofür halten Sie mich? Ihre Fremdtuerei, Ihre offenkundige Mißachtung meiner werten Person gegenüber, sprechen mit Worten tiefster Erniedrigung.«
»Aber Jüllecke, ich bin rein wie benommen.«
»Können Sie auch, müssen Sie auch, denn Sie sollten sich schämen wie der verlorene Sohn bei die Knollen und Schweinstreber. Denn wo haben Sie nur immer gestochen, wo Ihre Tage verbracht und wo sich in der Grafschaft herumamüsiert? während wir uns als arme Lazarusleute benahmen, nicht wußten, ob es Tag oder Nacht war, und von keinem nicht die geringste Besänftigung hatten. Meine beiden sind fort, kommen nicht wieder, und der dritte ist nahe daran, denselbigen Saltus zu machen, wahrend die vom Knollenkamp bloß die Finger 'rausstreckt, um sie als Peijatze dran zappeln zu lassen. Das sind unmenschliche Stücke, Herr Baumann, das ist gegen Gottes Gesetz und Gottes Bestimmung, und Sie haben sich nicht mal bemüßigt befunden ... Nein, Herr Baumann, für solche Freunde muß ich mir gehorsamst bedanken. Wer so was betreibt, und zwar in solchen Zeitläuften, der geht mit 'nem Hund schlafen und steht mit Flöhen wieder auf. Der mag sich für Kokeleien interessieren, aber nicht für blutende Herzen. Und unsere Herzen, die bluten. Adjüs denn, Herr Baumann.«
Sie machte Anstalten weiterzugehen.
»Jüllecke, prrr! Käuen und Däuen hält den Menschen am Leben,« und Jan-Ohme warf die Leine über die Kruppe des ruhig anhufenden Gaules. »Keine Fisimatenten. Immer dusemang und fortepiano. Nicht der Umstände halber, sondern bloß der näheren Verhältnisse wegen. Sonst karriolen wir immer tiefer in Morastus und Mistus. Erstens, wo ich gestochen und die Tage und Nächte verbrachte?! Jüllecke, habt Ihr schon die Engel im Himmel pfeifen gehört? Natürlich, Ihr habt sie niemals vernommen. Aber ich, denn wer sich Wochen hindurch mit's Podagra in die dicken Zehen beschäftigte, wer sich dann von morgens bis abends auf dem Sofa herumwälzte, in Wolle und Watte verpackt, 'ne Kanne mit heißem Faulbaumblütentee stets in Reichweite, dabei allwege dieses Bohren und Reißen, dieses Sägen und Raspeln in den unteren Potentaten, der hört sie schon pfeifen. Nein, Jüllecke, der kann keine Visiten nicht machen.«
»So ... o ... o ...!« sagte sie, schon etwas versöhnlicher gestimmt, und kaute das ›so‹ so brav in die Länge, als hätte der Fuchs es gemessen. »Ich höre. Aber man weiter.«
»Laßt mich gewähren. Wenn die Sau satt ist, dann stößt sie den Trog um. Jüllecke, ich bin auch bloß ein Mensch und kann als solcher nicht Übernatürliches wirken. Denn zweitens: ich habe mich während der ganzen Zeit in 'ner schweren Überlegung befunden. Was sollte ich machen? Was konnte ich anstellen? Eure drei und die vom Knollenkamp hatten ihre heimliche Abmachung, sozusagen ihre große Verschwörung. Sollte ich mich darin hineinmengelieren? Unmöglich! Ich hätte bloß das Kalb ins Auge geschlagen. Und drittens: was meine Nichte, die Tochter meiner seligen Schwester bedeutet ... Jüllecke, das Weibsbild ist mir ein unlösbares Rebus geworden. Das ist es.«
Er sah steif auf den Boden, verloren, bekümmert und ganz aus allen Nähten und Fugen.
»Wenn es denn so ist ...?«
»So ist es. Kein Spierchen, kein Titelchen fehlt dran. Aber jetzt, wo Rennings vor einigen Tagen vorsprach und mir eine Talgkerze aufsteckte, die man so brannte, da sagte ich mir ohne Besinnung: Du mußt nach den Katen, um mal nach dem Rechten zu kucken. Spitz oder Knopp, aber so geht das nicht weiter.«
Jüllecke erschauerte.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Die alte Liebe kam wieder zum Vorschein wie ein Schneeglöckchen aus halb erfrorener Scholle.
»Ach Gott!« sagte sie leise, »dann hauen wir ja in die nämliche Kerbe, denn wie Ihr nach den Katen, so wollte ich zum Knollenkamp hin, um sie in meiner Person vor ihren Richter zu stellen. Jan-Ohme, könnt Ihr vergeben?«
»Und ob!«
»Und Ihr wißt, was ich denke?«
»Allens.«
»Und Ihr habt die nämliche Ansicht, ich meine, von wegen meiner Verhaltung?«
»Natürlich, bloß alles dusemang und fortepiano.«
»Dann ist wohl das Beste ...?«
»Sonder Komplimente, direkt ans nächste Kontor.«
»Tu' ich,« und Jüllecke hob ihren Baumwollenen und stieß damit ein Loch in die Richtung des weit in der Ebene liegenden Hofes.
»Also – dahin! denn sie ist mir Aufklärung schuldig vor Gott und den Menschen.«
»Ist sie, nicht nur der Umstände halber, sondern der näheren Verhältnisse wegen. Jetzt völlig aufs Ganze, und obgleich ich der Kerl bin, jedem, also auch ihr, in die Parade zu fahren – Jüllecke, ich erinnere nur an die russische Fürstin – so sag' ich mir doch: Damen haben immer den Vortritt ... und da ist meine unmaßgebliche Meinung ...«
»Jan-Ohme, ja,« und sie klingelte herausfordernd mit ihren Ohrgehängen. »Keine Betrachtungen mehr. Alle wollen den Herrn spielen, keiner den Sack tragen. Ich werde schon selber ...«
»Dann bitte, angtree! Mit 'nem regulären Schäschen wollen wir in den Hof triumphieren, denn 'ne Art von Triumphierung müssen wir haben, schon der äußeren Beobachtung wegen, heißt das: bloß Ihr, denn ich für meine Person mache an der Einfahrt retour, um die gefährliche Sache nicht aus der Richte zu bringen. Also, Jüllecke, mein Schäschen gibt sich die Ehre.«
Da lächelte die Wiederversöhnte ihr lieblichstes Lächeln, stieg ein und drückte sich verschämt in eine mollige Ecke.
Der getigerte Schwerblüter zog an.
In gemächlichem Trabe ging es durch die blumige Landschaft.
Und wie alles so still war, da draußen und unter dem ledernen Spriegel!
Keiner wagte die Stille zu brechen, keiner das große Schweigen zu stören, bis Herr Baumann den Kopf zur Seite neigte, sich näher herankuschelte und seufzte: »Ach Jüllecke!«
Seine Erwägungen schienen in entlegene Tage zu schweifen.
»Jan-Ohme, Ihr seht so benaut aus.«
»Ach Jüllecke! wäre ich nicht so'n veritabler Esel gewesen ...«
»Na, was denn?«
»Jüllecke, dann hätten wir immer so durchs Leben fahren können, ich und du, du und ich, immer so weiter und weiter.«
Sie schluchzte.
»Hätten wir können; aber wir können's auch jetzt noch, wenn auch man in puren Gedanken.«
»Wenn auch man in puren Gedanken,« wiederholte er traurig.
»Ach du!« und da legte sie ihm den Arm um den Nacken, drückte sich an ihn und bettete ihm den Kopf sanft an die Schulter.
So kutschierten sie sacht ihres Weges, sie an ihn gelehnt und er in stummer Beschaulichkeit ... Jan- Ohme und Jüllecke Nakatenus ... zwei glückliche Menschen ... Philemon und Baucis.