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Die ältesten Mitteilungen über das nördliche Deutschland verdanken wir einem Griechen, Pytheas aus Massilia, der um das Jahr 320 v. Chr. auf seinen Handelsreisen bis in die Gegenden der Niederelbe vorgedrungen ist. Sein Reisebericht, der als Ganzes leider verloren ging, ist wenigstens in Auszügen auf uns gekommen. Später haben Caesar, Strabo und der ältere Plinius uns Berichte über die Verhältnisse Germaniens in mehr oder minder zuverlässiger Form hinterlassen.
Erst am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, in den Jahren 98 und 99, ist die Hauptquelle verfaßt, auf der fast unsere ganze Kenntnis des deutschen Altertums beruht, die » Germania« des Tacitus. Mit ihr ist wirklich der Versuch gemacht, eine umfassende volkskundliche Schilderung zu geben, und hier haben wir zugleich eine in den Hauptsachen zuverlässige Quelle vor uns, denn wenn Tacitus auch nicht selber als Augenzeuge seine Nachrichten niederschrieb, so hat er sich doch meist auf gute Gewährsmänner stützen können.
Als Ergänzung zu dem, was Tacitus uns berichtet, kommt dann vor allem noch die Geographie des Ptolemäus in Frage, die um 150 n. Chr. niedergeschrieben wurde.
Wie nun die älteste Schriftquelle, der Bericht des Pytheas, so führt uns auch das erste geschichtlich klar erkennbare Auftreten der Germanen nach dem Norden Deutschlands. Hier finden wir das zunächst von den Germanen besessene Gebiet, von hier aus beginnt erst um das Jahr 100 v. Chr. die Ausdehnung der Germanen in die Lande südlich des Main, die vorher von den Kelten besiedelt waren. Von hier aus, von der kimbrischen Halbinsel, aus den schleswig-holsteinischen Landen, erfolgt der erste uns bekannte größere Vorstoß nach dem Süden, der Zug der Kimbern, dem die Römer unter Marius in den Schlachten von Aquae Sextiae im Jahre 102 und Vercellae im Jahre 101 v. Chr. ein Ende bereiteten.
Auch für die neben den Kimbern erscheinenden Teutonen hat man früher, eben wegen des gemeinsamen Auftretens, die Ausgangssitze meist im Norden Deutschlands gesucht. In Wirklichkeit handelt es sich bei ihnen aber nicht um einen germanischen, sondern um einen keltischen Stamm, der uns später noch durch einen römischen Inschriftstein bei Miltenberg am Main bezeugt ist, und dessen Name auch auf keltischen Ursprung hinweist.
Anders dagegen verhält es sich mit den ebenfalls neben den Kimbern erscheinenden Ambronen. Deren Sitze sind im Norden Deutschlands zu suchen. Man könnte bei ihrem Namen an die Namen der Insel Amrum oder des oldenburgischen Ammerlandes denken, und wir wissen auch von ihnen, daß sie sich später an der Besiedelung Englands durch die Angeln und Sachsen beteiligt haben.
Die germanischen Kimbern schweben nun für unsere Beurteilung ihres Volkstums und ihrer näheren Stammesbeziehungen nicht etwa in der Luft. Vielmehr fügen sie sich durchaus ein in das, was wir sonst von der stammesmäßigen Gliederung der Germanen wissen. Diese treten uns schon seit der frühesten Zeit, solange wir überhaupt eine Kunde haben, in einer vielfach verzweigten Sonderung der Stämme entgegen. Sie führen nicht einmal einen zusammenfassenden Namen für das eigene Volkstum, denn der Name »Germani« ist nicht deutsch, sondern wahrscheinlich keltisch, und er ist zunächst auch nur für eine Unterabteilung des ganzen Volkes, einen einzelnen Stamm oder eine Gruppe von Stämmen verwandt.
Soweit wir sehen, schließt sich die älteste Stammeseinteilung der Germanen an eine Götter- beziehungsweise Ursprungssage an, über die uns Tacitus und Plinius gemeinsam berichten. Danach wurde von der Urmutter Erde, der Terra, ein Sohn Tuisco, das ist gleich Zwitter, geboren. Tuiscos Sohn Mannus, das ist gleich Mensch, hatte drei Söhne Ingo, Hermino und Istuo, und auf diese drei Stammesväter führten die Stammesverbände der Ingväonen, Herminonen und Istväonen ihren Ursprung zurück. So berichtet die Göttersage, zu der es eine ganz gleiche nordische Sage gibt, und die sich schon dadurch als urgermanisch erweist.
Tatsächlich handelt es sich bei jenen drei Gruppen um alte Kultverbände. Von den Ingväonen wird wenigstens ein Teil, und zwar der auf der kimbrischen Halbinsel, in Schleswig-Holstein sitzende durch den Kult der Nerthus zusammengehalten, einer Frühlingsgottheit, die mit Fria, das ist gleich Geliebte, viele gleichartige Züge hat, wenn sie nicht überhaupt mit ihr wesensgleich ist. Nerthus erscheint als Gemahlin des Himmelsgottes Ing.
In späterer karolingischer Zeit finden wir bei den Sachsen als Hauptgott den Donnergott Donar, der sich von dem alten Himmelsgott abgezweigt hat. Das ist zu einer Zeit, in der sich die Sachsen längst von ihren ehemals rechtselbischen, holsteinischen Sitzen auf das linke Ufer der Niederelbe vorgeschoben und sich hier mit den Chauken vereinigt hatten, und nachdem sie ferner auch die Langobarden, Angrivarier und Cherusker in die neuentstandene großsächsische Stammesgemeinschaft aufgenommen hatten.
Der Hauptgott der zweiten Gruppe, der Herminonen, ist der Himmelsgott Thius. Er hat sich später zum Kriegsgott gewandelt und ist als solcher unter dem jüngeren Namen Ziu bekannt.
Bei den Istväonen endlich erscheint als Hauptgottheit Wodan, der dem nordischen Odin entspricht. Er ist ursprünglich der Windgott, hat sich aber früh zum Totengott entwickelt. Seine Verehrung ist von den istväonischen Franken dann auch in die übrigen germanischen Gebiete getragen. Wie er sich in Oberdeutschland die Alamannen gewann, so ist er auch in Niederdeutschland zu den Sachsen und darüber hinaus sogar zu den Skandinaviern gedrungen. Er hat sich so ein Verehrungsgebiet errungen, wie es keine andere germanische Gottheit von gleich großem Umfange je besessen hat, und sein Name ist denn auch bis auf den heutigen Tag in der Volkssage lebendig geblieben.
Nach alledem haben sich also die alten kultischen Verhältnisse, die, soweit wir sehen, die Grundlage für die erste Gliederung des Germanentums bildeten, mit der Zeit verschoben. An ihre Stelle ist eine schärfer ausgeprägte Stammesgliederung getreten, und so stehen im 6. nachchristlichen Jahrhundert in Niederdeutschland die Sachsen als in sich geschlossener und gefestigter Stamm den Franken gegenüber.
Der Versuch, aus den Namen der hier genannten Stämme noch weitere Schlüsse auf ihre Frühgeschichte ziehen zu wollen, ist bis jetzt nicht gelungen. Der Name der Sachsen wird meist mit dem »Sax«, einem einseitigen, mit breitem Rücken versehenen Messer, in Zusammenhang gebracht. Das ist aber ganz unsicher. Wahrscheinlich haben wir es bei dem Sachsen-Namen mit einer uralten Bezeichnung zu tun, deren Deutung wohl überhaupt nicht mehr gelingen wird. Ebenso unsicher in der Deutung sind die Namen der Friesen, Angeln, Chauken und Cherusker, wie übrigens auch die der benachbarten Franken und Katten.
Das Frankentum hat dann unter der Führung Karls des Großen in langen Kämpfen die Oberherrschaft über das Sachsentum gewonnen. Eine dauernde Vermischung beider Stammesarten, die ein völliges Aufgehen der einen in die andere bedingt hätte, ist aber nicht eingetreten. Beide haben die besonderen Merkmale ihres Volkstumes auch nach ihrer politischen Vereinigung weiter lebendig erhalten. Sächsische Volkskunde und fränkische Volkskunde bieten daher bis auf den heutigen Tag jede für sich ein besonderes Bild.
Dasselbe nun, was hier soeben von den Sachsen in ihrem Verhältnis zu den Franken gesagt wurde, gilt in fast noch höherem Maße von den Friesen, die – in ihren Sitzen fast ganz an die Marschniederungen gebunden – seit dem 5. Jahrhundert den Küstenstrich von der Mündung der Schelde bis zur Mündung der Weser innehaben, und deren abgesprengter nördlicher Teil der Nord- oder Strandfriesen seine Sitze an der Westküste von Schleswig zwischen Husum und Tondern, ferner in Eiderstedt, Nordstrand und Pelworm, sowie auf den Inseln Sylt, Föhr und Amrum, auf den Halligen und auf Helgoland innehat.
Die Friesen sind auch nach der Gründung des karolingischen Reiches, obwohl sie sich diesem unterwerfen mußten, in einer unabhängigeren Stellung als die übrigen deutschen Stämme geblieben. Innerlich haben sie sich dem seit der Karolingerzeit ausgebildeten Deutschtum lange Zeit überhaupt nicht eingegliedert. Sie haben die Selbständigkeit ihres Volkstums ebenso wie ihre Sprache vielfach bis auf den heutigen Tag bewahrt, und wenn sie auch im Laufe des vergangenen Jahrhunderts sich dem deutschen Nationalitätsbewußtsein angeschlossen haben, so bilden sie im volkskundlichen Sinne doch auch heute noch eine Einheit für sich. In die niederdeutsche Volkskunde können sie daher, wie in der Einleitung schon kurz angedeutet wurde, nicht ohne weiteres einbezogen werden.
Steht so das Sachsentum im Norden und im Westen dem Friesentum und dem Frankentum in alten fest umrissenen Grenzen gegenüber, so ist dagegen dem niederdeutschen Volkstum ein weites Neuland gewonnen in den Ländern östlich der Elbe, die – ehemals von den Ostgermanen besetzt – in den Jahrhunderten des frühen Mittelalters von dem Wendentum beherrscht waren, und deren Wiedergewinnung für das Deutschtum sich im vollen Lichte geschichtlicher Überlieferung vor unseren Augen abspielt.
Der Lauf, den die Slavengrenze zur Zeit Karls des Großen einnahm, läßt sich mit ziemlicher Genauigkeit angeben. Er wird bezeichnet durch die Grenzbefestigung, die Karl ums Jahr 805 zur Ausführung brachte, und deren Zug sich von Naumburg über Merseburg nach Chesla nordöstlich Gifhorn, von da über Bardowik zur Elbe bei Lauenburg, dann längs der Delvenau über Plön an der Sventine entlang nach der Kieler Bucht hinzog.
Diese Grenze ist in den nächsten drei Jahrhunderten annähernd dieselbe geblieben. Dann aber beginnt im 12. Jahrhundert die deutsche Kolonisation des wendischen Ostens. Schon damals sind das östliche Holstein und die benachbarten Gebiete Mecklenburgs kolonisiert. Das 13. Jahrhundert führte dann den Strom niedersächsischer und niederfränkischer Kolonisten in die Mark Brandenburg, und ganz besonders entfaltete in dieser Zeit der deutsche Orden seine Tätigkeit, die mit der Eroberung und Kolonisierung Ostpreußens endete.
Aus diesen geschichtlichen Voraussetzungen ergibt sich ohne weiteres, daß die niederdeutschen Gebiete rechts der Elbe auf anderen Stammesgrundlagen ruhen, als es bei den altsächsischen Teilen links der Elbe der Fall ist. Das ostelbische Volkstum zeigt stammeskundlich eine starke Mischung, vor allem ist bei der Bevölkerung mit einem erheblichen wendischen Einschlag zu rechnen. Der Volkscharakter ist dadurch in vieler Hinsicht bedingt, und auch manche Besonderheiten der äußeren Kultur und der volkstümlichen Sitte finden dadurch ihre Erklärung. Im ganzen kann man aber doch sagen, daß auch in dem sächsisch besiedelten Teile der Kolonisationslande der Einfluß der Siedler so stark gewesen ist, daß das neu entstandene Volkstum sich in seiner niederdeutschen Färbung deutlich von den im Süden angrenzenden ostmitteldeutschen Nachbarlanden abhebt.
Wenn sich so auf stammesmäßigen und geschichtlichen Grundlagen ein eigenes niederdeutsches Volkstum entwickelt hat, das durch ganz bestimmte eigenartige Merkmale ausgezeichnet ist und sich von dem niederfränkischen und friesischen, dem mitteldeutschen und oberdeutschen Volkstum in vieler Hinsicht deutlich unterscheidet, so muß man noch hinzufügen, daß diese Unterschiede bis ins 19. Jahrhundert hinein eher zu- als abgenommen haben.
Die weitere Ausbildung dieser Verschiedenheiten beruht zunächst darauf, daß wir in Niederdeutschland die Träger des ältesten Germanentums zu suchen haben. Dasselbe ist in den sächsischen Kernlanden und in Holstein fast unvermischt. In den ostelbischen Kolonisationsgebieten ist zwar in der Bevölkerung der wendische Einschlag, aber doch so, daß die Deutschen die Herrschenden und im wesentlichen die Gebenden waren, die Wenden dagegen die Empfangenden.
In Oberdeutschland haben wir eine erheblich stärkere Rassen- und Kulturmischung. Schon in der Frühzeit haben wir mit der starken Beeinflussung durch die Hinterlassenheit keltischer Rasse und keltischer Kultur zu rechnen. Dazu kommen dann die Kulturübertragungen durch den jahrhundertlangen starken Einfluß der anders gearteten und vielfach überlegenen römischen Kultur. Dieser Einfluß erfolgte im südlichen und westlichen Deutschland unmittelbar und im direkten Verkehr. Niederdeutschland ist ihm, trotz gelegentlicher Handelsbeziehungen, unmittelbar überhaupt nicht zugänglich gewesen. Seine Einwirkungen sind erst spät durch oberdeutsche Vermittlung und auch dann nur teilweise nach dem Norden übertragen.
Während des ganzen Mittelalters hat dann Oberdeutschland in dauernden engen Beziehungen zu dem Süden und zur Mittelmeer-Kultur gestanden. Niederdeutschland hat daran viel weniger Anteil genommen. In bezug auf die äußere Kultur ist ihm dieser Anteil unmittelbar so gut wie gar nicht zugeführt, mittelbar nur in den hervorstechenden Erscheinungen des öffentlichen Lebens, wie z. B. im Kirchen- und Festungsbau. In bezug auf die geistige Kultur zeigt sich gegenüber den oberdeutschen Verhältnissen ebenfalls ein erheblicher Abstand, soweit es sich um die volkstümliche Verarbeitung südlicher Kulturelemente handelt.
Einen besonders tief greifenden Unterschied hat dann die Reformation gebracht. In Niederdeutschland ist sie bekanntlich fast gänzlich durchgeführt, und mit ihr ist hier dem römischen Einfluß in den wichtigsten Fragen ein Ende bereitet. In Oberdeutschland dagegen ist die Reformation entweder überhaupt nicht durchgedrungen, oder sie ist nachträglich zum großen Teil wieder rückgängig gemacht. Dadurch ist in bezug auf kirchlichen Glauben und Brauch ein sehr starker Unterschied herbeigeführt. Das ganze große Gebiet des Heiligenkultus mit den verschiedenartigen Formen ihrer volkstümlichen Verehrung scheidet aus den Lebensgewohnheiten des niederdeutschen Volkstums fast völlig aus.
Man muß alle diese auf den Wandlungen der Vergangenheit beruhenden Rücksichten sich klar machen, um das richtige Augenmaß für die Unterschiede von den anderen deutschen Volkstumsgruppen zu gewinnen. Um so deutlicher wird sich dann das Bild des niederdeutschen Menschen selber vor dem also gewonnenen Hintergunde für unser Auge abheben. Sowohl nach der Seite der körperlichen Erscheinung wie auch in Rücksicht auf die geistige Veranlagung läßt sich dieses Bild mit einigermaßen sicheren Strichen umreißen.
In den durchschnittlichen Eigentümlichkeiten der äußeren Leibeseigenschaften hat sich die körperliche Erscheinung der Germanen, so wie die römischen Schriftsteller sie schildern, in Niederdeutschland am reinsten bewahrt. Nach jenen Schilderungen bilden eine hohe Gestalt, helle Hautfarbe, blonde Haare und blaue Augen die besonderen Merkmale der germanischen, wie Tacitus sagt, »eigenartigen, reinen und nur sich selbst gleichen Rasse«. Diese besonderen Erkennungszeichen hat der niederdeutsche Volksschlag bis heute vielfach erhalten. Als weitere bezeichnende Eigenschaften könnte man noch die langen schmalen Schädel mit den hohen Stirnen anführen, die besonders in den niedersächsischen Küstengegenden auffallend oft begegnen, und die mit den Schädelformen germanischer Grabfunde durchaus übereinstimmen.
Wenden wir uns der Betrachtung des Volkscharakters zu, so ist zunächst festzustellen, daß eine vergleichende Schilderung der geistigen Stammesart für kleinere landschaftliche Gebiete meist sehr schwierig und in ihren Ergebnissen oft auch sehr fragwürdig ist, da die Maßstäbe, die dabei angelegt werden, oft durch die eigene Veranlagung des Beobachters bestimmt sind. Daher wird dieser Versuch im kleineren Rahmen nicht mit Unrecht meist ganz unterlassen. In größeren Verhältnissen, wie z. B. hier, wo es sich um die Besprechung einer ganzen großen deutschen Volkstumsgruppe handelt, darf aber ein solches Unternehmen vergleichender stammespsychologischer Schilderung mit mehr Aussicht auf Erfolg begonnen werden.
Eine derartige Schilderung, die mit großer Kenntnis des Volkstums, mit eindringendem Scharfblick, mit warmherziger Heimatliebe und doch mit kühl abwägendem Gerechtigkeitssinne durchgeführt, und die daher, wie mir scheint, zu einer geradezu klassischen Vollendung ausgereift ist, besitzen wir von Ernst Moritz Arndt in seinem 1843 erschienenen Buche »Versuch einer vergleichenden Völkergeschichte«.
Arndt schildert zuerst die freien, tapferen, standhaften Friesen mit ihren starken, tüchtigen Gestalten, den kühnen stolzen Gesichtern, den breiten offenen Stirnen mit den schön gewölbten dunkeln Brauen und den zornig rollenden dunkelblauen Augen, mit der festen Haltung in Tritt, Gang und Art, mit ihrer Geschlossenheit in sich und ihrer Abgeschlossenheit gegen alles Fremde. Dann zu den Sachsen sich wendend fährt er fort: »Der Sachse von Quedlinburg, Aschersleben, Magdeburg und Soltwedel bis zu den Friesen und zum Rhein herab, der Enkel der Ostfalen, Engern und Westfalen: langbeinig, langarmig, blauaugig und schönaugig, vorherrschende Blondheit. Hier auch große Ruhigkeit und Sachtmütigkeit, aber mehr Mitteilsamkeit und Freundlichkeit als bei den Friesen, sonst Festigkeit, Hartnäckigkeit, stille Tapferkeit, ruhiges Halten an altem Gesetz und alter Sitte, scherzhafte und freundliche Ironie und Gespaßhaftigkeit des Lebens. Man sagt: weniger Poetisches und weniger hohen fliegenden Geist als bei den allemannischen, thüringischen, gotischen Stämmen ...«
»Ich spreche bei den Sachsen von größerer Freundlichkeit und Mitteilsamkeit als bei den Friesen. Der Friese, außer seiner geborenen Anlage, bewohnt ein sehr eigentümliches Land, er ist zu gleicher Zeit Fischer und Schiffer, was ihm den trotzigen Ausdruck als auch Ausdruck des nassen Elements noch mehren muß. Der Sachse wohnt unendlich weiter zerstreut, auch durch mannigfaltigere Formen des Klimas und der Bedürfnisse und Geschäfte des Lebens nach verschiedeneren Seiten hingezogen; er ist darum biegsamer, mitteilsamer, weicher und freundlicher. Gutmütigkeit und Langmütigkeit und stille Tapferkeit – das ist so recht sein Charakter. Daß er leicht in eine gewisse Trägheit und Faulheit, in eine unbeholfene und widerliche Schlotterigkeit ausartet, versteht sich von selbst; denn so fest steht der Sachse nicht, so entschlossen nimmt und hält er sich nicht zusammen als sein Nachbar, der Friese.«
Arndt verbreitet sich dann noch über die »freundliche und scherzhafte Ironie des Lebens und die Gespaßigkeit als eine Eigentümlichkeit des sächsischen Stammes«. Er sagt mit Recht, die Anlage dazu sei bei den Niedersachsen allgemein, und er glaubt auch feststellen zu sollen, daß »die ganze niedersächsische Sprache, bei Dünkerken anzufangen und in Kiel oder Stralsund aufzuhören, einen eigenen hervorstechenden Zug des langsamen Spaßes und der fortspielenden Ironie habe«.
Schließlich wendet sich Arndt den ostelbischen Gebieten zu, und er sagt von ihnen: »Die sächsischen Kolonielande, die wiedereroberten altdeutschen Lande, deren die sächsische Zunge sich nach und nach bemächtigt hat, sind in Deutschland: ein Stück des östlichen Holsteins, Mecklenburg, Pommern, die Marken Brandenburg, ein Teil der Lausitz, Preußen. In diese Lande kamen der Sachse und auch viele Friesen, Holländer und Franken vom Niederrhein als Verdeutscher oder, wenn man will, als Wiederbeleber des Deutschartigen ...«
»Es lebt in den genannten, im zehnten, elften Jahrhundert noch wendischen Landen jetzt der sächsische Charakter, eine gewisse Langsamkeit, Harmlosigkeit, Gutmütigkeit und Treuherzigkeit. Es möchte jedoch hin und wieder scheinen, daß die deutsche Fröhlichkeit oft sehr in slavische Lustigkeit und Leichtfertigkeit überschlage und mehr Sinnlichkeit und sinnliche Genußsucht mit sich führe, namentlich in den Küstenlanden Mecklenburg und Pommern; aber eine gewisse Munterkeit und Lustigkeit, die dort merklich vorherrscht, die man aber mit sehr ähnlichem Gepräge auch in Preußen und in Schweden und Norwegen findet, wird wohl mehr dem Seeleben und seiner rüstigen Beweglichkeit verdankt als der slavisch-wendischen Wurzel, deren leichtsinnige Sprossen indessen nicht geleugnet werden dürfen. Darin auch sind die Mecklenburger, Pommern und Preußen ganz echte Germanen, daß sie die See und den Seeverkehr lieben und suchen, was kein Pole oder Russe jemals freiwillig tun wird. Sie sind wie die Holsteiner, die jedoch, mit Ausnahme der Dietmarsen, mehr Sanftes und Weiches haben, ein starkes, rüstiges und kriegerisches Geschlecht, die Pommern vor allem seit dem Großen Kurfürsten und Friedrich dem Großen durch ihren fröhlichen Kriegsmut glänzend berühmt. Die weiter vom Meer südlich Wohnenden, z. B. die in den brandenburgischen Marken, haben mehr etwas Ernstes und Geschlossenes.«
Diese in der Hauptsache durchaus zutreffende Schilderung, die Ernst Moritz Arndt, der unvergeßliche Patriot und Volksfreund, hier von den verschiedenen Schattierungen des niederdeutschen Volkscharakters gegeben hat, ist heute gar zu sehr in Vergessenheit geraten. Ich habe sie deshalb gern im Auszuge wiedergegeben, zumal da in der Darstellung der geistigen und seelischen Stimmungen des Volkstums doch immer eine der höchsten Aufgaben volkskundlicher Arbeit erblickt werden muß.
Was Arndt von den Sachsen sagt, klingt fast wie eine Erneuerung dessen, was über anderthalb Jahrtausende vorher Tacitus von den Chauken zwischen Weser und Elbe mit den Worten berichtet hat: »Diesen ungeheuren Landstrich hat der Chauke nicht nur inne, sondern er füllt ihn auch aus: das angesehenste Volk unter den Germanen, welches seine Größe durch Gerechtigkeit zu behaupten vorzieht. Ohne Vergrößerungssucht, ohne Übermut, ruhig und still abgeschlossen, reizen sie kein fremdes Volk zum Kriege und bedrängen auch keins mit Plünderung und Raub. Und das ist gerade der höchste Beweis ihrer Trefflichkeit und Macht, daß sie ihr Übergewicht nicht der Gewalttat verdanken. Doch sind alle schlagfertig, und wenn es not tut, so steht das Heer bereit, Roß und Mann in bedeutender Zahl; und auch im Frieden bleibt ihr Name groß.«
Bezüglich der Pommern verweise ich auf die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geschriebene pommersche Chronik des Thomas Kantzow und ihre etwas spätere Überarbeitung in den sogenannten » Pommerania«. Der unbekannte Verfasser der letzteren schreibt: »Die Pommern seint durchaus große, wohlerwachsene starke Leute, und männlichs Gemüts, doch seint sie traeges Zornes; darumb treiben sie nicht leichtlich Krieg und werden ehe bekrieget, denn das sie es anfahen sollten. Sie seint aber zu Kriege beide zu Wasser und Lande gerüstet und geschickt, und wenn es ihnen vonnöten tut, sich der Feinde zu erwehren, seint sie unerschrocken und hefftig; aber sobalde der erste Grimm uber ist, seint sie wol wieder zu stillen.« Über ihre sonstige Gemütsstimmung sagt Kantzow: »Es ist das Volk mehr gutherzig wan freuntlich, mehr simpel dann klug, nicht sonders wacker oder frolich, sonder etwes ernst und schwermutig. Sunst aber ists ein aufgericht, treue verschwiegen Volk, das die Lugen und Schmeichelwort haßt; pittet sich untereinander gern zu Gaste und gehet wiederum zu Gaste und tut eim nach seiner Art und Vermügen gern gutlich.«
Einer weiteren Ergänzung bedürfen Arndts Ausführungen dann wohl noch insofern, als die im niederdeutschen Volkscharakter stark hervortretende Eigenschaft des Unabhängigkeitsgefühls besonders betont werden muß. Schon im Mittelalter tritt sie deutlich zutage, am meisten wohl darin, daß in Niederdeutschland und vor allem in den altsächsischen Gebieten das Rittertum und die von ihm ausgehende Unterdrückung des Bauernstandes längst nicht in dem Maße Eingang gefunden hat wie in Oberdeutschland. Die Selbstsicherheit und der Drang nach Unabhängigkeit zeigt sich auch bis auf den heutigen Tag in vielen niederdeutschen Gegenden noch in der Art der Siedelung mit ihrem weit verbreiteten Einzelhofsystem, das den Bauern ganz anders als bei dem in Mittel- und Oberdeutschland zumeist vorherrschenden Haufendorf vor allem auf sich selbst stellt, ihn auf die eigene Kraft angewiesen sein läßt, und das daher hier auch das Nachbarschaftsverhältnis nicht zu so starker zusammenschließender und tragender Bedeutung kommen ließ wie in Oberdeutschland. So ist in Niederdeutschland der Einfluß des Familienverbandes, der Sippe, länger und stärker in Kraft geblieben als in Oberdeutschland, wo sie meist zugunsten der nachbarschaftlichen Beziehungen eingeengt ist. Für die Stellung des Einzelnen in Haus und Familie ist das ebenso wie für die Stellung des Gesindes zur Dienstherrschaft von einschneidender Bedeutung gewesen, indem es die in einem Hauswesen Vereinigten auf das Engste zusammenschloß, in ihnen allen aber ein Vertrauen auf die eigene Kraft und eine Selbstsicherheit weckte, die der niederdeutschen Art bis auf diesen Tag mit all ihren guten wie mit all ihren bedenklichen Nebenwirkungen zu eigen geblieben ist.