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Über die Veränderung des Theaters im Shakespear

Man hält sich an so verschiedenen Orten und auf so verschiedene Art über die Freiheiten auf, die sich dieser große, und ich sage es nicht aus Mode-Enthusiasmus, sondern mit der kältesten Überzeugung, größeste aller neuern dramatischen Dichter in Ansehung der Einheiten der Zeit und des Orts genommen. Man vergißt, daß er mit nichten der einzige gewesen, der es getan; daß schon die Alten, und wohl niemand mehr als Aristophanes, denen es doch wegen des Chors weit schwerer ward, Das Chor bei den Alten konnte nicht abgeschafft werden, es schmeichelte zu sehr der Eigenliebe eines republikanischen Volks, sich bei allen großen oder merkwürdigen Handlungen als Teilnehmer, oft als Richter zu sehen. Zugleich war es ein trefflicher politischer Kunstgriff der Dichter, die Eindrücke, die ihr Stück auf das Volk machen sollte, vorher zu bestimmen, und die Menge, die doch immer geführt sein will, und muß, durch das Beispiel ihrer Zeitverwandten zum Interesse zu nötigen. die Szene verändert, daß unter den Neuern, selbst unter den Franzosen, Voltaire und andere, sich bei den trefflichsten Stellen ihrer Dramen dazu gezwungen gesehen. Man vergißt, daß auch Shakespear die Veränderung der Szene immer nur als Ausnahme von der Regel angebracht, immer nur höheren Vorteilen aufgeopfert, und je größer die dadurch erhaltenen Vorteile waren, desto mehr Freiheit in dem Stück dem Dichter zu gestatten, man in dem Augenblicke der Begeisterung gar kein Bedenken trug. Das entschuldigt aber gar nicht junge Dichter, die aus bloßem Kützel einem großen Mann in seinen Sonderbarkeiten nachzuahmen, ohne sich mit seinen Bewegungsgründen rechtfertigen zu können, ad libitum von einem Ort zum andern herumschweifen, und uns glauben machen wollen, Shakespears Schönheiten bestünden bloß in seiner Unregelmäßigkeit. Wie gesagt – und zum letztenmal sei es gesagt, über eine Materie, über die ich mich mit niemandem in Zank einlassen will: – Das Interesse ist der große Hauptzweck des Dichters, dem alle übrigen untergeordnet sein müssen – fodert dieses – fodert die Ausmalung gewisser Charaktere, ohne welche das Interesse nicht erhalten werden kann, unausbleiblich und unumgänglich Veränderung der Zeit und des Orts, so kann und muß ihm Zeit und Ort aufgeopfert werden, und niemand, als ein kalter Zuschauer, der bloß um der Dekoration willen kommt, kann und wird darüber murren. Fodert dieses es aber nicht, welcher echte Dichter wird seinen Schauspielern und Zuschauern mit Veränderung der Szenen beschwerlich fallen, da die Einheit der Szene ihm so offenbare Vorteile zur Täuschung an die Hand bietet. Der große Wert einer dramatischen Ausarbeitung besteht also immer in Erregung des Interesse, Ausmalung großer und wahrer Charaktere und Leidenschaften, und Anlegung solcher Situationen, die bei aller ihrer Neuheit nie unwahrscheinlich noch gezwungen ausfallen. Ein solches Theatergemälde kann und muß sich, wie jedes Meisterstück eines Genies, sei es in welcher Kunst es wolle, über alle Ungerechtigkeiten der Zeit hinaus erhalten, behauche es mit Neid oder Meistersucht, so oft und viel es beliebig, wer da wolle.

Dieses Räsonnement mit einer Urkunde zu bewähren, so ist im Hamlet die Verweisung des jungen Melancholikers aus Dänemark nach Engelland notwendig, um seinen Charakter und die in demselben liegende Haupthandlung des Stücks durch alle Zwischenfälle durchzuführen, und in ihr volles Licht zu setzen. Ein Pinselstrich wie der, da er in Engelland neugeworbenen Truppen begegnet, die für eine Hand voll Erde ihr Leben in die Schanze schlagen, und an ihrem Beispiel sogleich Gelegenheit nimmt, seine Saumseligkeit, für einen ermordeten Vater sein Leben dran zu setzen, zu verdammen, hält uns für die Aufopferung einiger hundert Meilen in unsrer Ideenfolge vollkommen schadlos. Wer aber in dieser Aufopferung, ohne eine Ursache dazu zu haben, eine Schönheit suchen, das heißt, den Leser mit allem kalten Blut das man ihm gelassen, zum Glauben an seinen Szenenwechsel zwingen wollte, würde ebenso töricht handeln, als der Verkäufer eines schlechten versauerten Landweins, der seinen Kunden, beim ersten Glase, das er an die Lippen setzte, überreden wollte, zu schwören, die Stube drehe sich mit ihm.

 

Anhang

Ich kann nicht umhin, hier das Resultat einiger meiner Empfindungen bei der Vorstellung des tugendhaften Verbrechers Ein französisches Drama. niederzuschreiben, da es zur nähern Bestimmung des Satzes, inwieweit die Wandelbarkeit des Theaters der Täuschung vorteilhaft oder nachteilig sein könne, nicht wenig beitragen kann. Ganz überzeugt von dem Vorzug derjenigen Stücke, in welchen die Einheit des Orts beibehalten worden, wenn sie sonst an Güte den unregelmäßigen gleichkämen, ging ich hin, ich muß aber gestehen, daß ich mit ungemein veränderter Überzeugung zurückgekommen bin. Es hat weder am Schauspieler noch am Dichter gelegen, denn ich abstrahierte von beiden. Das unaussprechlich Interessierende dieser Geschichte, die gut und meisterhaft angelegten Situationen von Anfang, die Ahndung der Cidelise bei ihrer vorhabenden zweiten Verheuratung »es ist als ob mir jemand zuflüsterte: er ist hier, er ist nicht weit von dir« die unvermutete und doch höchst wahrscheinlich gemachte Erscheinung des Galeerensklaven, alles das überfüllte mein Herz mit der angenehmen Wollust der Schmerzen, wie sie Ossian nennt, die sich in Tränen Luft machen mußte. Aber, meine Herren, als ich weiter fortfuhr zuzusehen, ich kann mir's nicht leugnen, da war's, als ob mir jemand zuflüsterte: du bist ein Kind, daß du über solche Ungereimtheiten weinen kannst! Es hinderte nichts, daß ich mir unaufhörlich in die Seele zurückrief: Die Geschichte ist wahr – sie war mir nicht wahrscheinlich, und wie groß war mein Erstaunen – soll ich sagen meine Schadenfreude, als ich dies demütigende Bekenntnis von dem Dichter selbst hörte, der es im letzten Akt Olbanen in den Mund legt: Cette scène est trop vraie pour être vraisemblable. Diese Szene ist zu wahr, um wahrscheinlich zu sein. Wie denn, wenn das nicht Armut der Kunst ist, m. H. was soll es denn sein? Eine Geschichte, die in der Erzählung einen Bösewicht gläubig machen würde, in der Vorstellung unwahrscheinlich machen, soll ich's sagen? im letzten Akt kindisch behandeln. Aus allen diesen interessanten Personen Marionettenspieler machen? Wer kann es aushalten, bei Szenen, die durchaus aneinander hängen sollen und müssen, die Liebhaberin, bloß weil es der Dichter so haben will, in dem nämlichen Augenblick, als er an seinem unsichtbaren Draht den Vater herbeizieht, ihrem Liebhaber das Geständnis, das er niemanden getan, ablocken zu sehen, zu sehn wie der alte Mann mit langsamen Schritten herbeirückt, um aus seinem Munde das Wort pour mon père aufzuhaschen, und drauf mit einem bewundernswürdigen le voici zuschnappen zu können. Wo kommt der Vater her? ich sehe ihn, aber ich begreife ihn nicht, sowenig als das ganze Stück. Seine recits höre ich kaum , und was ich davon auffange, kommt mir vor, wie die contes de ma mère oie, die, wenn die starrestumpfe Bewundrung vorhergegangen ist, mich mit Ammengeschwätzigkeit überreden wollen, alles das sei natürlich zugegangen. Ich sehe, daß ich so sagen mag, lauter Folgen ohne Ursachen, Konklusionen ohne Prämissen, die kaum die Einbildungskraft eines Kindes glauben, geschweige die eines Mannes, sich davon rühren lassen kann. Wie also, wenn um gewisse Handlungen und Situationen, ich will nicht sagen glaublich, nur begreiflich zu machen, gewisse andere Handlungen und Situationen vorausgeschickt werden müßten, deren wir auf keine Art und Weise entraten könnten, ohne das ganze Vergnügen der Täuschung (des heiligsten Grundgesetzes aller Poeterei) aufzugeben? Das Theater ist ein Schauspiel der Sinne, nicht des Gedächtnisses, der Einbildungskraft . Wenn diesen notwendigen vorbereitenden Handlungen und Situationen zehnmal lieber Zeit und Ort aufgeopfert, als meine Sinne durch ungereimte Erscheinungen, wie in einem Schattenspiel, mehr befremdet und betäubt als gerührt würden; wenn z. B. in gegenwärtigem Stück die Situation des Vaters, als er auf die Galeere geschleppt werden sollte, die großmütige Aufopferung des Sohnes, die Bestürzung der Seinigen, mir vor die Augen gebracht worden wäre, hieße das mit dem Ei der Leda anfangen? Ich meine nicht. Um wie ein großes würde die Wahrscheinlichkeit, und der Eindruck der Szene beim Hafen dabei gewinnen? Und wenn ich nur begreifen könnte, wie die Braut so eben zurecht nach Marseille gekommen wäre, wenn ich sie bei dem Tode ihres Mannes mit ihrem ganzen Vermögen aufsitzen gesehen, um ihren ersten Geliebten zu suchen, wenn sie dann, laß es sein ein sympathetischer Zug, nach dem Hafen von Marseille gezogen – und ich nun diesen unglücklichen Liebhaber als Galeerensklaven auf sie zukommen – wie würde sinnlicher Betrug von sinnlichem Betrug unterstützt, den hohen Grad der Täuschung den gewaltigen Schlag der Rührung vermehren? Soll ich mir alles dies jetzt in Gedanken vorstellen? Und warum in Gedanken? Weil ich mir keine Verwandlung der Szenen denken, mich nicht in Gedanken von einem Ort zum andern hinversetzen kann, das ich doch im Roman, das ich doch in diesem Schauspiel selbst tun muß, und mit unendlich mehr Mühe, da es mir nicht durch sinnliche Hülfsmittel erleichtert wird. Und was für Köpfe setzt der Dichter voraus bei dieser Zumutung da seine geschraubte und gewundene Erzählung bei dem Zuhörer wahrhaftig kein Bild in der Seele zurücklassen wird. Unendlich phantasiereichere und genievollere Köpfe, als der seinige war, sich das Sinnliche gegenwärtig zu machen, was mit dem Feuer zu vergegenwärtigen, daß wir Zeit und Ort darüber vergäßen, er selbst verzweifelte. Aber die Stücke werden zu lang? Ha, wenn Maß, Ziel und Verhältnis nicht in der Seele des Dichters ist, die drei Einheiten werden es nicht hereinbringen. Hier eben ruhen die Geheimnisse der Kunst, die zu entschleiern keine verwegene Kunstlehrerhand vermögend ist. Der große Schlag der Haupthandlung, zu dem alle übrigen nur untergeordnet wirken, er entsteht in der Seele des Dichters, wie ein Donnerschlag am Himmel; wer will dem Gang und Weg vorzeichnen? Ein unvernehmlichs Krachen in den Wolken mit tausend Wetterleuchten umher hat aber noch nie eingeschlagen .


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