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Das purpurne Strahlengewirbel, das hinter der sinkenden Sonne herzog, war von den Wäldern gewischt und nur mehr ein violetter Anhauch über denen. Dann sank auch der zwischen die Wipfel und sammetschwarz stieg die Nacht mit ihrem Dunkel auf die Waldkämme. Ganz oben lugte aber noch ein Streiflein Abendrot hinter düsteren Wipfelzacken hervor.
Nur im schwachen Widerschein dieses letzten Rots sah Robert die Züge der Geliebten neben sich. Ihre Augen waren nach tränenfeucht, obschon er längst geendet hatte.
Auf die Nachricht vom Unglück der Heimat war sie gekommen. Das Bild der Verwüstung, das ihr unten aus der Bachschlucht entgegengestarrt hatte, war durch die Worte des Gefährten wieder grauenhaft eindringlich geworden und jetzt 147 griff noch die heiße Angst nach dem Herzen der Jungfrau, daß auch der Geliebte aufs höchste bedroht gewesen. Nach dessen Händen tastend, brachte sie mühsam hervor:
»Und wie bist du gerettet worden?«
»Die Muhme Beate fand mich bewußtlos am Hange, wohin ich mich geflüchtet hatte. Das Todesorakel der Frau war wieder laut geworden und da Gerüchte von drohender Gefahr auch zu ihr drangen, so wollte sie warnen. Als der erste Schwall vorüberbrauste, schleppte sie mich besorgt höher hinauf, trotzdem auch an der Stelle, wo ich zusammengebrochen war, keine Lebensgefahr für mich bestanden hätte.
Und darauf das furchtbare Erwachen!
Was das tapfere Weib dann an Hilfe und Zuspruch geleistet hat, das ist fast übermenschlich zu nennen und kann neben dem Eingreifen des Großvaters bestehen, der trotz Krankheit in all dem Graus aufrecht stand und die Verwirrten lenkte.«
»Wo hat man deinen armen Vater gefunden?«
»Im Maxwald ist er von der Flut angetrieben worden – fast unkenntlich . . .«
»Gibt es noch mehr Tote?« 148
»Man hatte vergessen, den tauben Kaulfuß zu warnen und so hat es ihn mit seinem Stübchen fortgerissen. Er ist noch nicht aufgefunden.«
Wieder schwiegen die Beiden; dann drängte es den jungen Mann, sein Innerstes zu enthüllen.
»Gutmachen möchte ich, soweit dies möglich ist, und der Sühnearbeit an deiner Seite mein Leben weihen, so du willst.«
Sie ließ sich an seine Brust sinken und ihr inniger Kuß war Gelöbnis und Liebkosung zugleich. Aber auch die Entrücktheit der Beiden konnte vor der Machtwirkung des furchtbaren Geschehnisses nicht dauern und nur zu bald kehrten ihre Gedanken in den Kreis jenes Schreckens zurück.
Das Mädchen tat zuerst die Frage:
»So willst du die Armen entschädigen?«
»Auch; ja selbst der Großvater, den wahrlich kein Verschulden trifft, fühlt sich verpflichtet, mit seinem Vermögen für eine Wiedergutmachung zu sorgen. Aber das ist nur ein Teil der Sühne. Das ganze Werk des Vaters heischt eine solche. Immer sind ihm die Menschen nur Zahlen seiner Berechnungen gewesen; ihr Wohl und Wehe blieb ihm fremd und wie er hart gegen sich selbst war, so neigte er sich auch den Wünschen der Arbeiter nicht und weigerte ihnen jedes Verständnis. 149 Durch dies kalte Spiel mit ihrem Geschick aber versündigte er sich bewußt oder unbewußt an der Menschheitswürde der Leute. Wohl stimme ich deinem Bruder zu, daß dem Vater eine außergewöhnliche Begabung zur Führung und Zielsetzung eignete; ich bewundere die Ruhe und Sicherheit, mit der er nach diesem Ziele ging und es durch unermüdliche Arbeit fast immer erreichte; aber ich kann der Willkür nicht froh werden, mit der er Menschen hin und her schob, als seien sie nur Figuren am Schachbrett.
Und sage doch selbst, ob die Heranziehung der fremden Arbeiter den Heimatgenossen zum Segen gereicht hat.«
»Nein; und auch der Fabriksbetrieb nicht, der sein Werk ist.«
»Du fühlst wie ich.«
»Ja, und mein eigener Beruf sagt mir, daß auch in der Erziehung zu viel vom Fabriksbetrieb ist und es nicht wunder nehmen darf, wenn deren Ergebnis der Fabriksware ähnelt.«
»So ist es. Und wie der vornehmste Gegenstand der Gesetzgebung nicht der Mensch selbst, sondern sein Besitz scheint, so sollen die Bahnen der Erziehung vornehmlich zum Erwerb hinleiten und für ihn befähigen. Die Gesamtwohlfahrt 150 aber bleibt allzuoft dem Getriebe des Marktes nachgesetzt.«
»Und doch ist es ein erhabenes Tun, die Seelen der Jugend zu bilden; nur starre Vorschriften, die jede Erziehung zur Selbständigkeit unmöglich machen, ertöten die Freude an ihm.«
»Ich sah es kommen, daß die Arbeit an der hergebrachten Lernschule dich nicht befriedigen konnte und habe deshalb auf jene vorbildlichen Landerziehungsheime hingewiesen, in denen dem Kinde die geistige Arbeit erträglich gemacht wird. Ich mußte selbst dem Moloch Examen genug opfern und vermag die Schäden des altgewohnten Schulbetriebes zu würdigen. Dein Empfinden ist also auch hier das meine.«
Das Mädchen nickte ihm zu und sagte:
»Wie gern würde ich die Kräfte der Jugend im Sinne jener neuen Ideen entbinden und steigern helfen!«
»Das sollst du auch.«
»Wie kann ich das?«
Der junge Mann zog sie näher an sich und sagte:
»Das hängt mit meinem Plan zusammen. Hör' nur! 151
Du weißt, daß eine innere Nötigung mich trieb, auch medizinische Vorlesungen zu besuchen. Ich hoffte dabei, einst gegen jene Schäden kämpfen zu können, die mit dem Industriebetrieb nun einmal verbunden sind. Es ist dir auch bekannt, daß mein Vater gegen ein Ergreifen des ärztlichen Berufes war. Dieses Hindernis besteht nicht mehr. Es kann mir nicht schwer fallen, meinen Doktor zu machen und zur Ausübung der Heilkunst zugelassen zu werden.«
»Was sagt deine Familie dazu?«
»Mit der Mutter war ich längst im reinen; nur der Großvater wollte nicht zustimmen – der Firma wegen natürlich. Er denkt aber zu rechtlich, als daß er starr entgegenarbeiten würde.
Ich schlug ihm vor, das Haus Schürer möge unter seiner Aufsicht bestehen bleiben. Dein Bruder solle die Geschäfte leiten und nur den Rat des alten Herrn einzuholen haben. So ist er es vorläufig zufrieden, wenn er auch noch eine spätere Sinnesänderung erhoffen mag.«
»Und meinem Bruder schenkst du solch Vertrauen?«
»Er wird es rechtfertigen; entspricht diese Stellung doch gewiß seinen Neigungen. Und sind wir beide erst verbunden, so kann er als 152 Teilhaber einst noch enger an das Gedeihen der Firma gekettet werden.«
»Du Guter!«
»Da sind wir auch schon bei meinem Vorhaben. Angesichts der Unglücksstätte soll ein Sühnebau erstehen. In einem Flügel des Hauses will ich als Arzt Schäden des Leibes heilen, während es dir anheimfallen soll, in den übrigen Räumen Gemüt und Geist der Jugend zu bilden. In solcher Gemeinschaft wollen wir unser Scherflein dazu beitragen, daß Leib und Seele der Leute gesunden und erstarken. Wäre es uns dann beschieden, die lieben Heimatsgenossen dem wahren Lebensglücke auch nur ein Schrittlein näher führen zu können, so gäbe dies schon reichen Lohn und einen bescheidenen Anfang der Sühne.«
»Willst du es mit mir wagen?«
»Ob ich will!«
Ergriffen schwiegen beide. Immer hoheitsvoller blickten die Berge auf sie herab und immer näher zog die Nacht. Der Ernst der Stunde ließ sie dies Bild der Erhebung noch inniger als sonst empfinden und wie sie Hand in Hand geschlossen nebeneinander saßen, war es nur hin und wieder ein Händedruck, der die Übereinstimmung ihrer Gedanken bekundete. 153
Dann nötigte der innere Drang den Mann wieder zum Sprechen:
»Wir müssen uns vorbereiten. Der Besuch deutscher Erziehungsheime wird dir die Einsicht bringen, was von der dortigen Arbeitsweise für unsre Leute taugt. Nur das werden wir ja der Jugend schenken dürfen, was uns selbst das Gewisseste ist und diesen Gipfel der Klarheit heißt es erklimmen.
Ich selbst habe dem Leonhard eine Arbeit abzunehmen, die er nicht leisten kann. Es geht da um nichts Geringeres, als den Leuten Teilnahme für ihre Arbeit einzuflößen, die sie nun einmal tun müssen. Ich glaube fest, daß es eine ungeheure Erleichterung für die hart Schaffenden sein wird, wenn sie erst einmal wissen, wofür sie arbeiten sollen, wenn die lähmende Langeweile von ihrer Arbeit schwindet. Sonst wird der Arbeitgeber ihnen immer, selbst wenn er ein Muster von Edelmut und Rücksicht wäre, als der verhaßte Fronmeister gelten. Mit der Hinführung zur Wertarbeit denke ich dabei anzufangen, was freilich dem Massenbetrieb hier ein Ende machen wird. Stolz sollen die Leute auf ihre Arbeit werden, wenn sie die tiefere Absicht ihrer Handfertigkeit begreifen lernen, wenn sich ihnen deren gemütvoller 154 oder phantasievoll-geistiger Inhalt erschließt. Kann ich sie auch nicht bis zum Glück hinführen, so will ich doch versuchen, sie zufriedener zu machen, und so gedenke ich persönlich die Schäden zu heilen, die Eigennutz und mangelndes Verständnis hier in diesem gottgesegneten Gebirgswinkel geschaffen haben.«
Er sprang auf, weil er sich warm geredet hatte und die Gefährtin blickte bewundernd zu ihm empor. Wie er im beginnenden Dunkel neben ihr stand, schien er über sich hinausgewachsen zu sein und es durchschauerte die Beseligte, wenn sie des kommenden Lebens an der Seite dieses Mannes gedachte. Leis lehnte sie ihre Stirn an seine Hand, und der junge Mann fühlte die stumme Bitte, die in dieser Handlung lag. Sanft zog er das Mädchen zu sich empor und hielt es umschlungen.
Unter dem dunklen Rund der Wälder zuckten jetzt die Lichtlein des Tales aus. Die blaunächtigen Massen oben blickten kühl und groß auf diese herab, wie sie blassend und strahlend am Hange dahinstanden. Wortlos warteten die Beiden auf deren Zunehmen; aber die wollten sich nicht mehren. Endlich meinte der junge Mann stockend:
»Wie wenige – sind verblieben.« 155
Und als doch noch zur Linken ein helles Licht aufblitzte, setzte er hinzu:
»Aus dem Zimmer der Mutter.«
»Ja, und das oben ist beim Preisler-Bauer und jenes gedämpfte scheint aus Vogel-Ulbrichs Häusel her.«
»Weißt du noch?« fügte sie hinzu und legte den Kopf an seine Brust.
Er wußte es und meinte gerührt:
»Heute, wie damals. Alle die Lichtlein schauen her gegen uns aus Stuben des Gleichmutes neben Stuben des Jammers. Aber unser Auge ist kein Ohr, das zu vernehmen und es ist alles unzulänglich.«
Nun zuckte zur äußersten Rechten auch noch ein Licht auf und das Mädchen rief freudig:
»Sieh, Robert, nun stellen sich die Lichter zusammen, wie ein Abbild des Himmelswagens, dessen Sterne dort oben über dem Walde leuchten. Dem Glück entgegen wird er uns führen.«
»Ja, Geliebte. Und nun glänzt neben ihm auch Arctur auf im Führer jenes Himmelsgefährtes und er soll uns künftig Leitstern sein. Auf unsrer Lebensreise wollen wir die Blicke recht oft dem klaren Lichte des Gestirnes zuwenden 156 und Friede und Ergebung soll aus seinem ruhigen Leuchten auf uns herabströmen.«
Noch zagten die Herzen der Beiden, auf dem Schutt des niedergegangenen Unheils ihr neues Glück zu gründen; aber wie darauf zarte Mondlichtsilberschleier das Dunkel der Wälder zu erhellen anhoben, wuchs auch die Hoffnung bei ihnen übermächtig empor. Zärtlich beugte der junge Mann sich über die Geliebte und flüsterte bewegt:
»Und nun komm, wir gehen zur Mutter.«
Alle die hohen Waldberge taten ihre Düsterheit ab, die Täler schienen abgrundtief zu versinken und der stille Geisterbote oben verklärte alles mit seinem Licht, wie sie gegen das erleuchtete Fenster der Mutter hinabgingen.