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VIII.

Nachdem Nikolai seinen Gesellenbrief erhalten hatte, wurde er eines Tages von einem erfreulichen Besuche überrascht – er wollte kaum seinen Augen trauen –, seine Mutter in eigener Person, die am Sonnabend mittag vor dem Keller, in dem er aß, auf ihn wartete!

Sie hatte gehört, er sei Geselle geworden, und hatte keine Ruhe gehabt, ehe sie auf einem der Langholzwagen mit in die Stadt fuhr, um ihn zu besuchen. Sie hatte sich so sehr gefreut! ... Wenn er wüßte, wie manchen Seufzer sie um seinetwillen getan, wie manche heiße Träne sie um ihn vergossen hätte, – die große, stattliche, halb bäuerlich gekleidete Frau war glühendrot im Gesichte und weinte und trocknete sich in einemfort die Tränen mit dem zusammengelegten Taschentuche, während sie ihrer Bewegung und Freude darüber Ausdruck verlieh, daß sich alles so wie durch göttliche Fügung gewandt hätte! ...

Sie sei lange Zeit so unglücklich gewesen; aber jetzt, da sie ihren Sohn wieder habe, sehe ja alles für sie anders aus  ... Nein, wie groß er geworden wäre! und so breit und so tüchtig! – ein richtiger Schmied! Jetzt besitze er wohl einen Schoßrock für Sonntags? ... Und einen Hut müsse er auch haben, – er solle nur auf sie hören; sie wisse ja Bescheid, denn sie hätte es doch gesehen!

Die Gefühle, mit denen Nikolai so mit einem Male eine Mutter vom Himmel fallen sah, waren ganz sonderbar, – anfänglich beinahe gemischt ... eines schönen Tages könnte ihm möglicherweise auch ein Vater hereinschneien!

Es war manch liebes Jahr her, seit er an sie gedacht hatte, und das Bild, das er eigentlich von ihr hatte, lag in der Tiefe seiner Erinnerung verborgen in einem schmutzig-grauen, salzig-bitteren Schlamm, aus dem er es in seiner jetzigen Stimmung nicht so leicht herauswühlen konnte. Es war in ihm etwas, das er auf Grund eines instinktiven Sicherheitsgefühls für sein neues, glückliches Dasein scheute; ... aber zum Glück des neuen Nikolai – des Schmiedegesellen Nikolai – gehörte es wohl auch, daß er seine Mutter wiederfand! Ja, gewiß freute er sich über sie, und es war ungeheuer rührend ...

Und während er mit ihr ging und ebenso fröhlich, wie freundlich und liebenswürdig war, und während er seinen Sonnabendnachmittag mit einem halben Tagelohn versäumte, hatte er, ohne es eigentlich zu wollen, für ein Geschenk – ein mächtig großes, feines, geblümtes Seidentuch – so viel ausgegeben, wie er in zwei Wochen zusammengequält und -geschuftet hatte, – und hatte außerdem der Mutter Feinbrot und einen Speckschinken gekauft, den sie mit heimnehmen sollte, und von dem Barbro schon unten in der Stadt einige tüchtige Scheiben zum Abendbrot probiert hatte.

Appetit hatte sie ... und ans Sparen schien sie auch nicht gerade gewöhnt zu sein! – das war ungefähr das Resultat der glücklichen, kindlichen Betrachtungen, die er nach dem Zusammensein anstellte. Sonst hatte er nur das Gefühl, unerwartet ein ganzes Teil Geld losgeworden zu sein; und herzlich mißmutig war er, als er abends hinging, um vielleicht Silla zu treffen und ihr von seinem neuen Glück zu erzählen.

– Die ganze Seite der Stadt, die den Abhang hinauf lag, war schon in Schatten getaucht, und an dem lauen Abend ging dieser und jener Arbeiter, die Jacke über den Rücken gehängt, vorüber, während hier und dort das Echo von Lärm und Spektakel aus den Läden der Fabrikstadt von unten heraufschallte.

Nikolai war vergebens aus der Straße vor dem Valsethause aus und ab geschlendert und hatte dabei beständig die breite Landstraße, die am Heck entlang lief, und den Fußpfad, der hinter diesem quer durchs Feld führte, im Auge behalten. Silla war nicht zu erblicken! Ein Mädchen kam mit einem Bottich aus dem Kuhstall und ging in die Vorhalle. Sie sah zu ihm hinüber und lachte; – die Folge war, daß Nikolai seinen weg zur Fabrik hin fortsetzte, ohne sich ein einziges Mal umzublicken. Sie schienen durch die Wände gucken zu können! ... und hatten sich jedenfalls bereits gewundert, daß er dort so oft ging ...

Der Wasserfall war gestaut, so daß nur ein weißes Streifchen den Damm herabrann und tropfenweise über das Rad lief. Vor ihm auf dem Wege lärmte ein Karren ... Jetzt hielt er an und lud ab; er leerte sich prasselnd mit einem Male ... Es war Erde, die sie für eine Gartenanlage vor das Kontorgebäude der Fabrik fuhren.

Jenseits vom Staket standen eine ganze Menge Frauen und Mädchen in emsiger Beschäftigung. Sie harkten, jäteten und pflanzten, während ein Mann mit der Gartenspritze hinter ihnen herging, aus dem geöffneten Fenster aber lehnte der junge Wejergang den Strohhut aus dem Kopfe und schwatzte mit ihnen.

Da stand Madam Holman, die Hände in die Seiten gestemmt, an einem der schwarzen Erdbeete und musterte etwas, das sie gepflanzt und mit der Hand festgeklopft hatte, und – Silla! ... auf den Knien liegend und Unkraut von einer der Rabatten dicht am Hause in die Schürze sammelnd. Mit ihr spaßte der da oben am Fenster, und sie schüttelte den Kopf, lachte und sah einen Augenblick hinauf – zu antworten wagte sie scheinbar nicht Frau Holmans wegen!

Es war ihm, als kneife ihn eine Zange mit tausend Griffen gerade ins Herz, und mit einem Schlage stand jener Tag so lebendig vor ihm, an dem er Ludwig Wejergang unter den Fäusten gehabt hatte!

Einen Dorn in der Brust ging er hinab und setzte sich an einen Grabenrand mitten im Leide, von wo aus er unbemerkt die Hinuntergehenden beobachten konnte.

Wie hatte sie herrlich ausgesehen, als sie mit unterdrückter Lustigkeit aufgeblickt hatte! – darauf kam er immer zurück – weiter sah er nichts vor sich, als dies eine, unter dem er so schwer litt ...

Eine Stunde war verstrichen. Fast apathisch hatte er die eine nach der andern den weg hinuntergehen sehen. Da plötzlich wandelte sein Antlitz die Farbe. Ludwig Wejergang schleuderte vorbei – flott und leichtfertig, das Stückchen in der Hand schlenkernd. Er war blühend wie eine Jungfrau mit weichem, schwarzem Backenbart, Panamahut, und seine graublanken Augen blinzelten umher, während er vor sich hinsummte.

Nikolai starrte ihm fast mutlos, verzweifelt nach, als er unten verschwand ...

Wieder diese alte Hoffnungslosigkeit der Übermacht gegenüber! ... Dieses Gefühl, das ihn nicht zu Wort und zu Atem kommen ließ, ob es nicht einmal geschehen würde, daß – – Er schloß die Augen mit einem wilden, gewalttätigen Ausdruck um Kinn und Mund ...

Da kam Silla neben Frau Holman des Wegs. Sie ließ den Kopf hängen wie eine Weide, die sich im Wachsen zeigt, von Zeit zu Zeit blickte sie sich verstohlen um, gleich einem Schulmädchen, das dem Lehrer aus dem Wege gehen will.

Unten vor dem Valsethäuschen trennten sie sich; Silla ging hinein, um die Abendmilch zu holen.

Sie kam mit dem Eimerchen wieder heraus und schlug den Pfad durch die Wiese ein. Sie ging eilenden Schritts und lächelte vor sich hin, und sie fuhr fast zusammen, als Nikolai aus dem Dickicht am Grabenrand hervortrat.

»Erschrickst du, wenn du mich siehst, Silla?«

»Wenn du so wütend dreinschaust!« erwiderte sie scherzend.

»Sagtest du nicht, du wolltest meine Frau sein, Silla?«

»Kommst du schon wieder mit dem Gewäsch! – es ist ja noch solange bis dahin!«

»Mich treibt's, es noch einmal zu hören ... Wenn man seiner Sache nicht sicherer ist als ich, vergewissert man sich gern zweimal, ob der Griff, an dem man sich halten soll, fest ist ... oder ob er so wackelig ist, daß er abbricht! – Du hast so mancherlei Raupen in den Kopf gekriegt, seit du in die Fabrik gekommen bist!«

»Paß auf! ... paß auf, Nikolai, – zu guter Letzt wirst du noch ganz bange vor mir!« lachte sie übermütig; »aber, ich bin eben auch so 'n kleines bißchen erwachsen geworden. Du bist der einzige, der es nicht sieht! – und stehst da, wie ein Klotz! – – Aber, du kannst mir glauben, ich habe jetzt übergenug zu tun gekriegt. Sobald ich nur mein Abendessen verschlungen habe, muß ich wieder zur Fabrik hinauf. Ich, Kristofa, Kalla und Josefa sollen den ganzen Garten vor dem Kontor in Ordnung halten und jäten ... und all die Erbsen und Mohrrüben und die Kohlbeete ebenfalls – und wenn die neuen Anlagen im Herbst herangewachsen sind, kriegen wir die auch noch!«

Nikolai stand und rechnete nur ... Siebenundzwanzig Taler unter Abzug dessen, was heute für seine Mutter draufgegangen war, – einschließlich des Schinkens, wovon er wohl nichts wieder zu sehen bekommen würde! – Das war alles, was er besaß, und er mußte mindestens noch doppelt soviel haben, ehe er das Allernötigste für die Wohnung anschaffen konnte ... Es war ja nur, um sie aus diesen Verhältnissen zu befreien ... und wenn er Tag und Nacht schuften sollte!

Laut äußerte er mit der größten Vorsicht:

»Wenn wir nur recht vernünftig sind und uns gut vorsehen und aufpassen, dann könnten wir vielleicht schon im Frühling in unseren eigenen vier Wänden sitzen, Silla! ... Aber es kann so manches dazwischenkommen.«

Die letzten Worte kamen tonlos mit einem tiefen, gequälten Seufzer.

»Ich glaube, in dich kommt nicht eher Mut und Muck, als bis du verheiratet bist, Nikolai!« lachte sie, »jetzt bist du so eklig, wenn man dich trifft, daß man den ganzen Abend hinterher reinweg mißmutig und melancholisch wird ... 'n netter Schatz!« – Sie drehte sich neckisch, den Eimer weit von sich streckend, auf dem Zacken herum und eilte den Weg hinab, indem sie ihm ein Lebewohl zunickte.

Weswegen er ursprünglich dort hinauf gegangen war – um die Neuigkeit von seiner Mutter zu erzählen – dazu war er gar nicht gekommen, und die Wahrheit zu sagen: er hatte es gänzlich vergessen. Es war auch das nächste Mal, wenn er sie treffen würde, früh genug. Und bis dahin würde wohl nicht mehr lange sein – so, wie die Sachen jetzt standen!

*

Einige Wochen später wurde nach ihm gefragt.

Ein Fuhrknecht hatte im höchsten Grade unschlüssig, wohin er mit seiner Fracht sollte, draußen vor dem Speisekeller haltgemacht. Einen Teil der Last bildete die große Kiste seiner Mutter. Der Mann hatte es übernommen, sie in die Stadt zu schaffen und einstweilen bei Nikolai unterzustellen. Barbro selbst wollte erst an einem der nächsten Tage kommen.

Sie mußte etwas vorhaben! Dachte sie vielleicht daran, wieder einen Dienst anzunehmen?

Und als er eines Abends nach Hause kam, fand er eine große, rote Holzschachtel und ein paar Schnürstiefel oben auf der Kiste stehen. Seine Mutter mußte dagewesen sein!

Eine halbe Stunde später erschien sie auch. Sie war nur fortgewesen und hatte ein wenig frisches Schwarzbrot, Butter und Käse gekauft, um für den Abend eine Kleinigkeit im Hause zu haben.

Vorläufig schnitt sie etwas davon aus und bot ihm auch davon an.

Die große Gestalt einschließlich ihrer Habseligkeiten füllte Nikolais kleinen, engen Schlafraum beinahe ganz aus. Sie war von all der Stubenhockerei etwas kurzatmig geworden und hatte ein Doppelkinn gekriegt; die mächtigen Kinnladen, die im Glanze der Jugend mit einem schieren, gesunden Rosenrot überzogen gewesen waren, machten jetzt, wie sie sich da beim Essen bewegten, nur den Eindruck von Kauwerkzeugen mit noch immer kräftigen Zähnen, in deren Reihen jedoch das Zahnweh – von all den brennend heißen Schälchen Kaffee hier und dort – eine mächtige Lücke gerissen hatte, während sie aus ihrer Kiste und er auf dem Bette saß, kam es zur Erklärung:

Der Bauer, bei dem sie sich »verakkordiert« hatte – für achtzehn Taler jährlich Hilfe in der Erntezeit und unter der Bedingung, daß sie sich den Kaffee selber hielte –, war so kleinlich und geizig mit der Kost, daß sie ihre Zuflucht dazu nehmen mußte, sich dieses und jenes nebenbei selbst zu kaufen! Ja, er sah sogar den Speckschinken und wußte, wie sie's bei Wejergangs gewohnt gewesen war! Das konnte sie wohl sagen: sie hatte ihr Essen manch liebes Mal unter Tränen heruntergewürgt, wenn sie daran denken mußte, was sie alles für Ludwig und Lizzie getan hatte, – daß sie sie aus ihren Armen getragen hatte und ihnen mehr als ihre eigene Mutter gewesen war ... Und wenn sie dann wieder daran dachte, daß der Lohn für das alles nur Schwerarbeit bei der Heu- und Kornernte sein sollte! ... Dazu hatte sie früher allzuviel Lob zu hören bekommen!

Sie hatte denn auch geduldig gewartet, daß sie sich der alten Barbro erinnern würden – – Aber nein! wenn daraus was werden sollte, mußte man sich wohl besser selbst in Erinnerung bringen!

Aber jetzt, wo ihr Nikolai drinnen war, hatte sie getiftelt und spekuliert und darüber nachgedacht, daß sie einen kleinen Handel in der Stadt anfangen wollte. Und heute war sie beim Generalkonsul gewesen!

Er war knurrig, sobald sie ins Kontor kam, und brummte; aber sie kannte ihn und begann, ihm um den Bart zu gehen:

»Wie geht's der gnädigen Frau und Herrn Ludwig und Fräulein Lizzie, wenn's erlaubt ist zu fragen? – Sapperment! die sind wohl jetzt so groß und erwachsen, daß sie kaum ihre arme, alte Dienerin wiedererkennen!«

»Dünn ... dünn wie die Lilienstengel,« lachte er, »du kannst sie noch bequem jedes auf einem Arme tragen! – –

Aber du mußt ja da oben in deinen Bergen das ganze Vorratshaus aufgefuttert haben; so umfangreich hatte ich dich nicht in der Erinnerung, Barbro! ... Du hast deinen Bauer wohl ganz um Haus und Hof gebracht?« scherzte er.

»Na ja,« sagte ich, »von Generalkonsuls her war ich doch auch nicht an Viehfutter gewohnt! Ich bin es vielmehr, die vom Hofe zu gehen gezwungen ist; der Mensch hütet sich schon, daß ihm jemand zu nahe kommt!«

Und dann schwatzte ich von Ludwig und Lizzie, bis mir die Tränen in die Augen kamen.

»Und dieser Junge von dir, mit dem du soviel Geschichten hattest?« fragte er.

»Oh, danke schön!« sagte ich; »mein Sohn Nikolai hat jetzt ausgelernt und ist hier in der Stadt Schmiedegeselle.«

Und dann erzählte ich ihm von meinen Plänen, daß ich in die Stadt ziehen und einen Handel anfangen wollte; ich hätte immer gesehen, daß es besser hinter dem Tresen sei als davor, meinte ich.

Da lachte er; – du willst dir gewiß hier in der Stadt ein neues Vorratshaus zulegen, Barbro!

Jawohl, Herr Generalkonsul! wenn's mit Redlichkeit möglich ist – und mit ein wenig Hilfe, dann verlangt's wohl jedermann nach dem täglichen Brot.

Und da versprach er mir, ohne sich einen Augenblick zu besinnen, freie Wohnung und Küche für ein ganzes Jahr in einem der Häuser oben im Fabrikviertel!«

Wie Mutter und Sohn sich da so gegenübersaßen, war eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen vorhanden; aber da, wo das Schicksal die Züge in seinem breiten, lebhaften Gesichte zu Muskeln und Energie gestählt hatte, da hatte es bei Barbro alle Federn zu trägen, quellenden Fettpolstern erschlafft.

Trotzdem entwickelte sie jetzt nicht ohne eine gewisse Leidenschaftlichkeit ihre Pläne betreffs des Kleinhandels, und wie sie es einrichten würde, sich Kredit zu verschaffen, – hier ein bißchen und da ein bißchen; sie hatte noch von ihrer Wejergangschen Zeit her ringsherum in den Kramläden Bekannte. Nachher brauchte sie dann nur auszuverkaufen, das Alte zu bezahlen und wieder Neues zu beschaffen; das Ganze ginge im Kreise, wie die Mühlenflügel!

Aber etwas mehr bares Geld mußte sie haben, denn das ihrige reichte nicht weit! Wenn Nikolai ihr zum Beispiel eine Kleinigkeit vorstreckte? Es würde ja alles in Waren angelegt werden, so daß es in dieser Beziehung völlig gleichgültig wäre, ob er seine Schillinge da anlegte oder sie in der Tasche hätte, – vollständig schnuppe!

Könnte er ihr wohl sagen, wie sie für wenig Geld einen Tresen kaufen oder besser noch auf Kredit kriegen könnte? Denn wenn es augenblicklich bei ihr irgendwo haperte, so wäre es mit dem Bargeld, vielleicht könnte sie gleichzeitig von dem Tischler noch einige Kleinigkeiten mehr zu bekommen suchen, nur einen einigermaßen geräumigen Klapptisch, zwei Betten und ein paar Stühle ... Sie hatte sich nämlich gedacht, Nikolai könne, wenn sie nur erst ein wenig in Gang gekommen wäre und ihre Sachen in Ordnung gebracht hätte, bei ihr wohnen! Wenn sie ihm dann alle Mahlzeiten lieferte, könne es ja Zug um Zug gehen und er einen bestimmten Teil seines Lohnes zuschießen, – er sollte es selbst überschlagen und sagen, wieviel er meinte ...

Barbro ging immer hitziger ins Zeug und baute, ab und zu die Hände ineinanderschlagend, Luftschlösser, wie alles werden sollte.

Aber während sie sich an ihren Zukunftsplänen immer mehr erwärmte und begeisterte, saß Nikolai zweifelnd und stampfte mit dem Fuße einen leisen Takt. Die Sache mit dem Handel war vielleicht gar nicht so übel. Seine Mutter mußte es ja wohl wissen, da sie bei Wejergangs gewesen war und jetzt obendrein mit dem Herrn Generalkonsul selbst gesprochen hatte. Aber je mehr sie ihn in ihre Pläne einbezog und auf ihn ganz allein Beschlag legte und munter darauflos schwatzte, als könne es zwischen Himmel und Erde keinen Hinderungsgrund geben, desto weiter öffnete sich für ihn die Kluft zwischen ihren beiderseitigen Wünschen und Interessen. Sie kam mit dem langentbehrten Anrecht der Mutter, und ihm lag gerade das am Herzen, daß er einer anderen noch mehr gehörte und gerade jetzt seinen eigenen weg gehen mußte!

Sie konnte nicht wissen, daß sie fortwährend an wunde Stellen rührte; – er mußte also Farbe bekennen!

»Ja, siehst du, Mutter!« er blickte zu Boden. »Mein Geld kannst du wohl bekommen, wenn es nur sicher ist, daß ich es zu Neujahr wiedererhalte; – in der Beziehung steht also nichts im Wege. Aber, siehst du, weshalb ich es so bestimmt wiederhaben muß, das – das ist, weil ich und Frau Holmans Silla uns einig geworden sind und uns heiraten und einen eigenen Hausstand gründen wollen. Und das steht von meiner Seite unerschütterlich fest, denn dafür habe ich gestritten und gearbeitet von dem Augenblick an, wo Holman starb; – und es würde übel gehen, wenn ich darauf verzichten sollte!«

Seine scharfen, grauen Augen schossen einen Blitz auf sie, und die Mutter fühlte instinktiv, daß sie einem Willen gegenüberstehe, der ihren Händen entglitten sei.

Das war ein dicker Strich durch ihre Pläne! ...

Um die Mißstimmung abzuschwächen, gab er ihr seine dreißig Taler, ehe sie ging. –

Es gibt in den belebten Gäßchen und Vorstädten eine Handelstätigkeit, die eine Stufe höher steht als die der Marktfrauen. Man verkauft seine Waren vom Hause aus, erwirbt nach den gesetzlichen Bestimmungen ein gut Teil Gegenstände mehr, und man führt dabei ein behagliches Dasein, einen Schritt weiter von dem Leben von der Hand in den Mund entfernt; das heißt, man erreicht, anstatt Eintagskredit und wöchentlicher Abrechnung, dasselbe etwa für eine Woche und einen Monat.

Diese Art Kleinhandel war es, auf den sich Barbro verlegen wollte, und sagt man von Amerika, daß ganze Städte und Tätigkeitsgebiete im Handumdrehen erstehen, so konnte man etwas Ähnliches auch von Barbros Handel sagen.

Kaum eine Woche später saß sie unter Dach und Fach, hatte im Fenster eine Auslage von Zwirnknäueln, Kringeln, Brot, Bonbons, Schnürbändern, Nadelkästchen, Schnupftabak, Tonpfeifen, Stahlfedern, Streichhölzern und anderes mehr, während sie selbst hinter dem Tresen – der aus einer, mit blauem Stoff überzogenen Kiste bestand – saß und Kaffee mahlte, den sie in der Küche hinter dem Laden brannte. In einer verschließbaren Kommodenschublade, die Nikolai nachgesehen hatte, stand eine Zigarrenschachtel, die als Geldschrank diente, mit ein paar Schillingen Kupfergeld darin.

Die Bekanntschaft zwischen Frau Holman und Barbro war auch bereits erneuert – auf seiten der letzteren mit dem Silla-Geheimnis vor Augen.

Frau Holman – sie wohnte nur eine Straße weiter unten – war vorbeigekommen, als Barbro gegen Abend draußen auf der Kellertreppe stand und ihre neue Umgebung im Lichte der gerade fertiggestellten Fensterauslagen betrachtete. Da durfte sie doch natürlich an der Tür einer alten Bekannten nicht vorbeigehen! Sie mußte eintreten und ein Täßchen Kaffee mittrinken, – der auf dem Herde stand und zog, – wenn sie damit fürlieb nehmen wollte!

Frau Holman hätte sich ja über allerlei, das sie da drinnen sah, äußern können; sie zog es aber vor, während sie ihren Kaffee schlürfte, lieber Barbro von all den Schicksalsfügungen, die ihr seit Holmans Tode zugestoßen waren, zu unterrichten.

»O nein! die Tasse noch nicht umkehren! – eine trinken Sie doch noch, Frau Holman?«

Madam Holman trank, ohne mit der Wimper zu zucken, auch noch ein drittes Schälchen. Ihre stillen, grauen Augen hatten forschend umhergeschaut, während sie schwatzte und ihr die Bemerkungen von Barbros großtuerischer, prahlerischer Art wie Schmalz eingingen. Aber als sie ging, hatte sie unter mancherlei Vorbehalt und in der Voraussetzung, daß die Waren auch auf die Dauer sich als gut erwiesen, ihre Bereitwilligkeit ausgesprochen, ihre Kundschaft auf Barbro übergehen zu lassen. –

Madam Holmans Silla stand gerade vor dem Ladentische; sie sollte ein halbes Quart Graupen holen, als Barbro, die gerade das Verlangte in das Maß schüttelte, plötzlich Ludwig Wejergang in der Tür erblickte.

Er hatte ja schon früher Barbro begrüßt und nickte ihr wohl auch zu, wenn er jetzt zweimal täglich draußen vorbeiging und sie sich auf der Treppe zeigte. Aber so freundlich wie heute! ... Barbro war völlig überwältigt; fast hätte sie ihn wieder Ludwig genannt, so lustig, wie er war und wie er über ihren Handel scherzte und spöttelte! Zwischendurch schäkerte er mit Silla und lächelte ihr zu, während diese immer schüchterner und röter wurde und in ihrer Verwirrung nur danach trachtete, ihre Tüte mit Graupen heil und sicher aus Barbros Hand zu bekommen. Er hatte der Hitze wegen den Panamahut von seinem lockigen Haar genommen und sah so elegant und fein aus.

Silla wagte kaum, ihn anzuschauen, hörte nur etwas, wie Sommersprossen schadeten nichts, wenn man zwei so schwarze Augen hätte, und – war mit dem Kopfe voran zur Tür hinaus!

Barbros Meinung über Sillas Benehmen – daß sie so mit einem Male rot wie ein Krebs wegrannte wegen ein paar unschuldiger Worte von einem so wohlwollenden, netten Menschen wie Ludwig Wejergang! – bekam der Sohn am selben Abend zu hören ... Ein junges Mädchen hätte hübsch bescheiden stehen zu bleiben und sich nicht derartig aufzuführen! auf diese Weise würde sie bald das ganze Mannsvolk hinter sich herkriegen!

Ob das wohl was für Nikolai sei – dieses plustrige, schwarze, aufgeschossene Mädchen, das mit seiner zu kurzen Jacke wie eine halb abgepellte, krumme Garneele herumlief  ... und am Rinnstein entlang balancierte, als wäre sie Seiltänzerin, – ohne alle Erziehung! Wenn's nicht gerade Ludwig Wejergang gewesen wäre – jeder andere würde jetzt an allen Ecken und Kanten hinter ihr her rennen!

»Aber, siehst du, Nikolai! während er so dastand, fiel's mir ein, daß ich jetzt den gefunden hätte, der wohl imstande wäre, mir mit den fünfzehn Talern auszuhelfen, deren ich noch so dringend bedarf, – und der es auch gern tun würde! Aber da war er fort, ehe ich mich aufraffen konnte ...«

»Von ihm? – nein, Mutter, nie und nimmer! Ich will sie dir schon schaffen, wenn du nur noch etwas warten willst – und mein Geld kannst du ebenso gut gebrauchen wie seines!«

»Ja, – hätte ich dich nicht, Nikolai!« – schluchzte Barbro gerührt; »komm, jetzt sollst du einen schönen Kaffee haben mit frischem Kaneel dazu, den ich heute nicht losgeworden bin!«

»Nein, vielen Dank, Mutter,« kam es düster; er war schon in der Tür. –

Später am Abend glückte es ihm, Silla zu treffen. Sie war heute so übermütig und lustig:

»Ich lief ja meiner Wege; sah ihn gar nicht an! Meinst du denn, ich hätte lieber bleiben sollen?« neckte sie.

Er war entwaffnet – sofort entwaffnet – so vertrauensvoll, wie sie lachte.

Aber als er heimwärts ging, sah er trotzdem Wejergangs übermütig blinzelnde Augen vor sich, die Schmachtlocke unter dem Hut hervorlugend, und – Gott weiß, wie's kam! – er fühlte sie gleichsam um seinen Finger gewickelt! ...

Daß sie sich so vergnügt gebärdete, behagte ihm ja nicht und ebensowenig, daß sie allemal, wenn er sich nachher die Zeit nahm, abends hinaufzugehen, so glühendheiß aus den Anlagen herabkam und immer davon schwatzte, ob der junge Wejergang dagewesen wäre oder nicht, was er gesagt und sie gedacht hatte, und ob Kristofa hinterher mit ihr darüber einig oder uneinig gewesen wäre. Es war, als ob sie von nichts anderem reden könnte!

Vielleicht war es noch nicht das Schlimmste, wenn sie selbst es war, die ihm alles ausschwatzte und ausplauderte.

Aber sicher war, daß er wie in Schweiß gebadet in der Schmiede stand, wenn er an all das dachte, was da oben vorging! Er fühlte sich wie im Schraubstock ...

Weshalb konnte der Arme nicht in Frieden leben? Da ging er nun umher und schuftete und würde gern all sein Blut hergegeben haben, das in seinen Adern rann, wenn er sich verheiraten könnte, – und der andere, dessen Taschen gespickt voll waren, und der jedes vornehme Fräulein haben konnte, wenn er nur mit dem Finger winkte, ... war diese Art Menschen nicht schlimmer als Raubtiere und Mörder?

– Und so verrann inzwischen die Zeit!

Er hatte die Herbstsonne und das Dunkel begrüßt, die all dem abendlichen Umherlaufen ein Ende machten; und nun hatten Winter und Schnee ihren Einzug gehalten! Wenn er nachrechnete – und er stand immer da und rechnete – dann würde er jetzt zu Neujahr der glückliche Besitzer von fünfundsiebzig Speziestalern sein, die er sich alle redlich zusammengehungert hatte; – und von ihnen standen einstweilen die fünfundvierzig und dann noch einmal dreizehn im Geschäfte der Mutter. Zimmer und Küche hatte er für einen bescheiden monatlichen Preis angesetzt, und das, was er im Hause haben sollte, desgleichen ... Das letzte Mal, als er seiner Mutter Geld lieh, hatte sie gesagt, er brauche nicht ängstlich zu sein, sie verkaufe ihre Waren und streiche den Gewinn ein.

Alles war in Ordnung, und nun kam es wohl nur noch auf den Kampf mit Frau Holman an! Aber, wenn er mit seinem Gesellenbrief herausrückte, mit seinen fünfundsiebzig Talern, mit einem festen Verdienst bei Haegberg, der von Neujahr an durch eine Lohnerhöhung noch größer wurde, dann würde sie sich wohl gnädigst ergeben müssen!

An einem der Tage zwischen Weihnachten und Neujahr begab er sich zu seiner Mutter, um sie darauf vorzubereiten, daß er im kommenden Februar sein Geld wieder ausbezahlt haben müsse. Dann wolle er zu Frau Holman gehen.

Es kam ihm vor, als sei seine Mutter ein bißchen verwirrt und vergeßlich, während sie den Kaffee zubereitete.

Sie meinte, sie sei heute halb verrückt, – das sagte sie selber; aber Kaffee solle er haben, das gehöre zu Weihnachten dazu, und sie sei's nicht anders gewohnt gewesen, wo sie aufgewachsen sei.

Also wirklich? Nikolai müsse seine Schillinge jetzt schon wieder haben? Sie sei so vergeßlich geworden, daß sie mit keinem Gedanken daran gedacht hätte, daß es jetzt schon so weit sei ... Und dann habe sie kurz vor Weihnachten eine Forderung für Kaffee und Zucker begleichen müssen, die sie ihrer Lebtage nicht vor dem Ostermarkt oder vor Johannis erwartet hätte! ... Aber er solle nur nicht bange sein, sie wisse schon, wie sie das Geld beschaffen solle, – sie brauche nur ihre Haube umzubinden und sich nach ihm auf die Suche zu machen! –

So, so, – nun trink nur, Nikolai, meiner ist stark wie Mark; es ist nur einmal im Jahre Weihnachten, sagen sie auf dem Lande ... Du bist doch wohl nicht bange, ich ... wegen deines Geldes? Nein, weißt du, darum kümmere dich nur nicht! Was deine Mutter verspricht, hält sie auch; – du kannst völlig beruhigt sein!

So, wie kürzlich der Ludwig wieder zu mir war, als er bei mir vorsprach, – am Nachmittage vor Heiligabend war's – kann Barbro auf einige Schillinge von ihm rechnen, wenn ich sage, mein Sohn habe sie nötig! ... Das ist ganz zweifellos!

Nun, nun, Nikolai! Hab' dich doch nicht so! Ich sage dir ja: du kriegst es wieder ... Um Gottes willen! wie der mich ansieht!

Er sagte nichts, saß nur lange still – und Barbro kam diese Ruhe geradezu unheimlich vor. Bald versuchte sie es so, bald so:

»Ich werde es sofort nach den Festtagen versuchen. – Nein, wirklich! hätte ich gewußt, daß es so kommen würde, hätte ich nie dein Geld geliehen ...«

»Nein, Mutter! – Das mit dem Gelde magst du in Ordnung bringen, wann du kannst; ich will dich nicht damit quälen. Aber versuchst du, Ludwig Wejergang darum anzubetteln – dann sind wir geschiedene Leute, hier in dieser Welt und, soweit es geht, in jener auch! Nun weißt du Bescheid, Mutter! – Und dann: herzlichen Dank für die Hochzeit ... herzlichen Dank von meiner Seite und von Sillas!« Er riß die Tür auf.


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