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Die Schilderung der Familie Rother wäre die eines Zola würdige Aufgabe.
Vor zweiundzwanzig Jahren soll Auguste Jahnke ein zartes und sehr hübsches Mädchen gewesen sein; und dem von den Stürmen des Lebens verwitterten Gesicht sieht man auch heute noch die Spuren der vergangenen Schönheit an. Die zarte Figur ist allerdings durch die Jahre in grausamer Weise mißhandelt worden: der Rücken ist gekrümmt, die eine Seite der Schulter hat sich vorgeschoben. Jetzt sieht Auguste widerwärtig aus und unheimlich, aber, wie gesagt, vor zweiundzwanzig Jahren soll es anders gewesen sein, und ihre jugendlichen Reize sind zu damaliger Zeit nicht unbemerkt geblieben.
Am 10. Januar 1864 ist sie Mutter einer unehelichen Tochter geworden, die den Namen Bertha führt und die weibliche Hauptperson unseres Prozesses geworden ist. Bald darauf hat sich Auguste Jahnke mit dem Töpfergesellen Rother vermählt, der das uneheliche Kind legitimiert hat. In der Ehe mit Rother wurden dann noch zwei Mädchen geboren, Anna Rother, geboren 1867, die wir aus dem Prozeß Hammermann schon kennen, und Elisabeth Rother, genannt Lieschen, geboren 1871.
Das Familienhaupt, der Töpfergeselle Rother, ein Mann mit schlecht gepflegtem, üppigem schwarzem Haar und Bart, eingequetschter Nase, gelblicher Gesichtsfarbe und im Auge jenen Ausdruck von Müdigkeit und Wohlwollen, wie man ihn so oft bei gewohnheitsmäßigen Trinkern sieht, hat seine Stellung nicht gerade mit besonderer Würdigkeit bekleidet. Er arbeitete wenig oder gar nichts, trieb sich in Destillationen und Kellerschenken herum und war meist betrunken.
Für die Wirtschaft ließ er seine Frau sorgen. Seine Kinder ließ er aufwachsen, wie sie eben wachsen wollten.
Die Mutter verschaffte sich zunächst durch den in Berlin so gewöhnlichen Nebenerwerb des Zimmervermietens die notwendigsten Mittel zu ihrem Unterhalt. Auf besondere moralische Qualifikation ihrer Mieterinnen wurde nicht weiter gesehen, sie gab jungen Mädchen, um deren Verhältnisse sie sich nicht zu kümmern brauchte, und anderen, schlimmeren, polizeilich gebuchten und numerierten Personen Kost und Unterhalt. Ihre Wohnungen hatten gewöhnlich drei bis vier Zimmer außer der Küche. Daß die Hauswirte besondere Anstrengungen gemacht hätten, sich diese Mieterin zu erhalten, ist nicht wahrscheinlich, denn die polizeilichen Ermittlungen haben ergeben, daß Auguste Rother in den letzten sieben Jahren nicht weniger denn acht verschiedene Wohnungen innegehabt hat. Sie hat die Peripherie der ganzen Hauptstadt, vornehmlich aber die Gegend vor dem Halleschen Tore, unsicher gemacht. 1877 wohnte sie in der Johanniterstraße, von da zog sie nach der Nostiz-, dann nach der Acker-, der Linden-, der Mariendorfer Straße, dann nach dem Platz am Neuen Tor, nach der Schleiermacher-, der Mittenwalder und endlich nach der Fürbringerstraße, wo sie im Jahre 1885 verhaftet worden ist.
Die Fürsorge für das Wohl ihrer Mieterinnen scheint recht nachteilig auf die Erziehung ihrer Kinder eingewirkt zu haben. Die älteste, Bertha Rother, hat im ganzen sechs Wochen die Schule besucht. Annas Schulbildung ist nicht anders gewesen, sie schreibt vollkommen unorthographisch und mit lächerlichen Buchstaben, sie liest schlecht, die Geheimnisse des Einmaleins sind ihr nicht erschlossen; auf Veranlassung Dritter ist sie einmal in das Johannisstift gebracht worden, von dort jedoch nach drei Tagen entlaufen. Von Lieschens Bildungsgang wissen wir zwar nicht viel, aber wir haben Grund zu der Vermutung, daß es auch um sie nicht besser beschaffen sei.
Wenn Frau Rother nun für die geistige Bildung ihrer Töchter recht wenig getan, so hat sie sich doch eifrig bemüht, deren körperliche Vorzüge zu gewinnbringenden zu machen und ihr spärliches Einkommen durch das ihrer Töchter zu vermehren. Die kleinen Mädchen wurden also zu den Künstlern geschickt, um für Aktbilder Modell zu stehen, Bertha im Alter von sechs Jahren, Anna wohl nicht viel später. Anna verließ bereits im Alter von dreizehn Jahren das elterliche Haus und nährte sich seitdem vom Modellstehen, und mag nebenbei auch wohl andere Einkommen gehabt haben. Im Jahre 1880 war sie die »Braut« und Geliebte eines Lackierers Labisch, der sie für eine Siebzehnjährige hielt. Im selben Jahr wurde sie von der Polizei in schlechtester Gesellschaft allabendlich zu vorgerückten Stunden auf den Straßen in der Nähe der Kasernen bemerkt. Sie war damals, wie wir wiederholen, ein Mädchen von dreizehn Jahren. Die Ihrigen besuchte sie nur, um von ihnen Geld zu holen, wenn es ihr schlecht ging. Mutter Rother scheint sich über das Alleinleben ihres Kindes keine besonderen Sorgen gemacht zu haben.
Bertha, die ältere, blieb länger im Hause. Dieses hübsche, mit einem ungewöhnlich schönen Körper begabte Mädchen führte ein recht tolles Leben, was jedoch ihrer Mutter auch keinerlei Veranlassung zur Beunruhigung bot. Sie wurde zunächst 1878, also mit vierzehn Jahren, in der Friedrichstraße nach 12 Uhr nachts von der Polizei aufgegriffen und erklärte bei ihrer ersten Vernehmung, daß ihr in ihrem dreizehnten Jahr Gewalt angetan worden sei. Einige Zeit später wurde festgestellt, daß Bertha sich mit polizeilich überwachten Mädchen nächtlich Unter den Linden und in der Friedrichstraße umhertreibe, daß sie aus öffentlichen Lokalen wegen auffälligen Benehmens gewiesen sei usw. Im Juni 1880 wurde die indessen Sechzehnjährige in Begleitung der sittenpolizeilich gemeldeten Amanda Reuter aufgegriffen, und die gefürchtete amtliche Überwachung wurde nun über sie verhängt. Sie wurde dadurch also amtlich zu einer Zugehörigen des gewerbsmäßigen Lasters gestempelt. Auf wiederholte Anträge ihrer Eltern wurde dieser Überwachungszustand nach drei Monaten wieder aufgehoben; es muß jedoch erwähnt werden, daß es genügend Anhaltspunkte gab, um sie auch später wieder mit der Polizei in Berührung zu bringen.
Alle diese fatalen Tatsachen haben Frau Rother seelisch wenig angegriffen. Bertha hat bis Ende 1883, abgesehen von kürzeren Abwesenheiten, dauernd bei ihrer Mutter gelebt, und diese hat gewiß nichts auf ihre Bertha kommen lassen, hat sie doch in der Tat den ganzen Hausstand ernährt. Sie ist die Schraube gewesen, die die brave Mutter angesetzt hat, um aus Professor Graef die bedeutenden Summen, die der Haushalt mit der verschwenderischen Bertha und der schlecht wirtschaftenden Frau Rother verschlang, herauszudrücken.
Lieschen, die jüngste Tochter, war noch ein Kind, ziemlich groß, hager, unentwickelt, mit großen ausdrucksvollen blauen Augen, kränklich. Bei einem Kind der Mutter Rother muß die gewöhnlich selbstverständliche Tatsache, daß sich das Kind bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr seine anatomische Reinheit bewahrt hat, doch besonders verzeichnet werden. Trotz der unliebsamen Erfahrungen, die Frau Rother mit ihren beiden ältesten Kindern gemacht hatte, war sie doch eifrig beflissen, auch Lieschen genau auf dieselben Wege zu drängen; auch sie mußte sich als Modell anbieten, und es wurden Briefe aufgesetzt, bestimmt für bekannte Persönlichkeiten, von denen Frau Rother glaubte, daß sie für mädchenhafte Frühreize einen empfänglichen Sinn besäßen. Lieschen sollte diese Briefe abschreiben und hat das vielleicht auch in dem einen oder anderen Fall getan und die Herren in verlockender, viel andeutender Weise um Unterstützung gebeten.
So die Mutter und die Kinder.
Der gesetzliche Vater und Töpfergeselle trank inzwischen unbekümmert seine Schnäpse weiter, und da er nichts weiter tat, Frau Rother aber trotz ihrer vorgerückten Lebensjahre in ihrem mageren Körper noch ein fühlendes Herz trug, warf sie ihn eines Tages zur Türe hinaus. Das war Ende des Jahres 1880.
Zu jener Zeit war in dem Rotherschen Haus nämlich eine neue Erscheinung aufgetaucht: Herr Ihlow. Mit dem Zimmervermieten allein, mit dem Modellstehen der Töchter und deren sonstigen Nebenverdiensten war Frau Rother noch immer nicht auf einen grünen Zweig gekommen. Sie hatte also ein Geschäft eröffnet, und der großmütige Beschützer des Hauses, Professor Graef, der seinem Modell zuliebe alles tat, war auch hier der hilfsbereite Wohltäter gewesen. Er hatte Frau Rother die Mittel zur Eröffnung eines Handels zur Verfügung gestellt, in der törichten Hoffnung, daß sie nun selbst Geld verdienen und somit weniger Ansprüche an seinen Geldbeutel stellen werde. Frau Rother versuchte es zunächst mit einem Handel mit Federvieh, danach eröffnete sie eine Butter-, Milch- und Käsehandlung – beide Geschäfte gingen zugrunde. Danach wurde sie Inhaberin eines Fuhrgeschäftes, das zwar bedeutendere Kapitalien erforderte, das aber auch, wenn es gut ging, einen bedeutenderen Gewinn abwerfen konnte; und wiederum brachte Professor Graef dafür erhebliche Opfer. Frau Rother schaffte, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, zwei Droschken erster Klasse, einen Möbelwagen und acht Pferde an. Der Leiter dieses Geschäfts war eben jener Herr Ihlow, ein strammer junger Mensch, damals sechsundzwanzig Jahre alt, der soeben mit guten Militärpapieren aus der Armee entlassen war und nun bei Frau Rother eine lohnende Beschäftigung fand. Ihlow ist vom Äußeren gar nicht übel. Er ist gut gebaut, volles blondes Haar und ein leichter blonder Bart umrahmen das runde, frische Gesicht; seiner straffen Haltung und dem Ton, in dem er seine Antworten gibt, merkt man sofort den gewesenen Soldaten an. Er ist dem Alkohol zwar auch nicht gänzlich abgetan, aber ein gewohnheitsmäßiger Säufer wie Rother ist er nicht. Ihlow schlief zunächst im Keller. Frau Rother betrachtete aber den jugendlichen Mann mit Wohlgefallen, sein Anblick erweckte schöne Erinnerungen an ihre Jugend, und die beiden fanden sich. Daß Frau Rother dreizehn Jahre älter war, machte auf Ihlow geringen Eindruck: sie war ja die Inhaberin des Fuhrgeschäftes. Sobald das Liebesverhältnis zwischen den beiden perfekt geworden war, wurde die Überflüssigkeit des Töpfergesellen Rother immer deutlicher erkannt, und diese Erkenntnis führte dazu, daß Rother aus dem Hause flog.
Aber auch für ihn, den so schnöde behandelten Ehemann, fand sich noch ein liebendes Herz: die alte gutmütige Plätterin Beeskow, eine Frau von wahrhaft entsetzlichem Äußeren, einäugig, mit einem eingesetzten Glasauge, dessen leblose Starrheit dem alten, faltigen Gesicht einen wahrhaft entsetzenerregenden Ausdruck gibt, nahm den herausgeworfenen Töpfergesellen freundlich auf, und auch zwischen diesen beiden wurde ein zarter Bund gestiftet.
So gewährt das Rothersche Haus zu Anfang der achtziger Jahre folgendes anmutige Bild. Der Vater, ein Säufer, ist an die Luft gesetzt und lebt mit einer gutmütigen alten Frau von erschreckendem Aussehen. Die Mutter lebt mit einem dreizehn Jahre jüngeren Manne in ehebrecherischem Verhältnis, das nicht einmal vor ihren Kindern verborgen wird. Die zweite Tochter Anna ist entlaufen und verdient ihr Geld als Modell und Gott weiß was. Die älteste Tochter führt das lustige Leben von Damen, die der Sittenpolizei eben entronnen sind und immer in Gefahr schweben, aufs neue mit der gefürchteten Behörde in unliebsame Berührung zu kommen. Sie steht Modell und treibt sich in den Lokalen herum, die vorzugsweise von ihresgleichen besucht werden. Die Jüngste, damals noch ein Kind, wird allmählich in derselben Schule zum Laster herangezogen.
Das Bild ist indes noch nicht vollständig. Um es in seiner ganzen Anschaulichkeit vor sich zu sehen, muß man auch die Staffage, die Mieterinnen, noch etwas näher kennenlernen.
Es sind fast ohne Ausnahme junge und zum Teil sehr hübsche Mädchen. Um ganz von unten zu beginnen, nennen wir zunächst Amanda Reuter, auf die die Bezeichnung hübsch allerdings nicht zutrifft. Sie ist ein großes, plumpes Frauenzimmer mit groben, törichten Zügen, mit dicker Nase, geschminkten Brauen und Wimpern, stark gepudert, im auffälligsten Anzuge, mit dem bekannten, sich wiegenden, schwankenden Gange, den jedermann, der zwischen 12 und 2 Uhr nachts einmal durch die Friedrichstraße gegangen ist, als ein besonderes Merkmal dieser Gattung von Damen kennt. Amanda Reuter ist als polizeilich überwachte Person ein wöchentlich regelmäßiger Gast des Molkenmarktes. Mit ihr ist Bertha Rother aufgegriffen worden.
Ungleich höher stehen die anderen Mieterinnen, die nach und nach bei Frau Rother gewohnt haben: Schneiderinnen, Putzmacherinnen, Konfektionösen und dergleichen, die von den Behörden ungeschoren gelassen sind, die vielleicht diesen oder jenen, vielleicht auch diesen und jenen Freund haben, aber doch zu öffentlichem Ärgernis keine Veranlassung bieten. Sie sind samt und sonders mit großer Sauberkeit gekleidet, oft sogar mit einer gewissen Eleganz. Die Anhänglichkeit, die alle diese jungen Mädchen an das Rothersche Haus haben, hat etwas Rührendes; alle treten vor Gericht mit dem unverkennbaren Willen, die Wahrheit zu sagen, aber auch alle mit dem ebenso unverkennbaren Bestreben, die Wahrheit in die schonendste Form zu kleiden. Alle Mädchen rühmen die unglaubliche Gutmütigkeit der alten Frau Rother und zeigen eine freundschaftliche Ergebenheit für Bertha.
Von anderer Art als diese Hausbewohner sind die beiden, mit denen wir uns nun zu beschäftigen haben und die im Gegensatz zu der Gesinnung, welche all diese Mädchen für die Familie Rother an den Tag legten, dem Hause feindselig und gehässig gegenüberstehen.
Frau Rother ließ sich aus jener Gutmütigkeit, von der eben die Rede war, dazu verleiten, einen gewissen Kühnle, Stellmacher seines Zeichens, in ihr Haus zu nehmen. Kühnle ist der Typus dessen, was man in Berlin als »Pennbruder« zu bezeichnen pflegt. Kaum mittelgroß, untersetzt, mit einem schlotternden, viel zu langen Rocke, den früher jedenfalls ein Größerer und Stärkerer getragen haben wird, mit fahler, aschgrauer Farbe, tiefschwarzem Bart, struppigem schwarzem Haar, mit fuselumflorten Augen – so tritt dieser Mann, der ebenfalls für den Schnaps eine verhängnisvolle Vorliebe hat, uns entgegen. Kühnle hat für Frau Rother in einem Prozesse einmal einen Eid geleistet; vielleicht schreiben sich daher die freundlichen Beziehungen zwischen den beiden. Eines Tages kommt er bettelnd zu Frau Rother, er hat keinen Pfennig in der Tasche, kein Obdach. Er bittet sie, ihn aufzunehmen. Sie tut es; sie weist ihm auf dem Flur eine »Kabuse« an, wo sich der nicht verwöhnte Kühnle gewiß sehr behaglich fühlt. Er ißt mit aus ihrem Topf, sie läßt ihn Gänge machen, gibt ihm ab und zu fünfzig Pfennige und eine Mark, um ein Glas Bier zu trinken oder auch ein Glas Schnaps – und so lebt denn dieser Biedermann auf Kosten der Familie Rother im Hause. Wie er diesen Aufenthalt verwertet, wie er seiner Wohltäterin dankt, werden wir sehen.
Das Mittelzimmer nach vorn in der Wohnung der Fürbringerstraße hatte ein Fräulein Intrau inne, die als wichtigste der späteren Belastungszeugen eine besondere Aufmerksamkeit verdient. Die Intrau hat sich seitdem verheiratet, ihr Mann ist Offizier gewesen, hat seinen Abschied genommen und soll gegenwärtig eine Beamtenstelle innehaben. Mit Rücksicht darauf werden wir den Namen des Gatten aus unserem Bericht ausscheiden und immer nur von der früheren Intrau sprechen. Die unverehelichte Intrau hatte ein uneheliches Kind und wurde von ihrem Bräutigam, ihrem späteren Manne, zu jener Zeit ausgehalten. Auch sie hat früher einmal Modell gestanden. Diese Tatsachen im Zusammenhang mit ihrem Verweilen im Schoß der Familie Rother berechtigen zu dem Schluß, daß sie auf eine bevorzugte Stellung in diesem Prozeß trotz ihrer Vermählung keinen Anspruch hat. Daß sie mit dem eben bezeichneten Pennbruder Kühnle gemeinsame Sache machte, verstärkt diesen Eindruck erheblich. Sie ist ziemlich groß, trägt ihr stumpfblondes Haar schlicht gescheitelt und hat unfreundliche, stechende Augen. Sie behauptet zwar, daß sie den Rothers keineswegs feindlich gesinnt sei, aber was will diese Behauptung sagen! Wer Augen hat zu sehen, der sah, wie es darum bestellt war. Der sah, mit welcher Freude sie alles auskramte, was sie nur irgendwie Ungünstiges, gehässig Wirkendes wußte, wie sie heranhüpfte voller Freude, wenn der Vorsitzende ihren Namen aufrief, um immer noch einmal etwas zu sagen, was den Angeklagten schädlich sein könnte. Man verlangte gar nicht, mehr zu hören, sie aber fing immer wieder an: »Und dann habe ich gehört ... und dann habe ich gehört.« Wer da nicht eine leidenschaftliche Erbitterung, ja finsteren Haß heraushörte, wer da nicht empfand, daß die jetzt Verehelichte sich vorgenommen hatte, den Leuten, durch die sie nun dazu gezwungen wurde, über ihr Vorleben zu sprechen, eins zu versetzen, der muß in der Tat einen geringen Grad von Feinfühligkeit besitzen. Aber es ist auch möglich, daß irgend etwas vorgekommen ist, was die Intrau zu ihrer feindseligen Haltung bestimmt hat. Sicher ist sie niemals Berthas Freundin gewesen, sicher hat sie sich mit der alten Rother verschiedentlich gezankt. Rothers behaupten, daß sie ihr Kind mißhandelt, daß sie ihm die Ohren blutig gerissen und daß diese Mißhandlung die alte Rother empört habe; festgestellt ist, daß sie sich mit Lieschen gezankt, ja geprügelt hat – Grund genug, um eine von Haus aus nicht gutmütig gesinnte Person zu jener Feindseligkeit zu veranlassen, von deren verhängnisvollen Folgen sie sich wohl selbst nicht Rechenschaft abgelegt haben mag.
Während die Intrau und Kühnle in der Fürbringerstraße wohnten, dienten bei der alten Rother nacheinander als Köchinnen und »Mädchen für alles« zwei Schwestern, Minna und Clara Adler, »Küchendragoner« von mäßiger Intelligenz, nicht gerade boshaft, die sich jedoch ohne Zweifel leicht von dem, der sie gerade bearbeiten wollte, bestimmen ließen, im guten Glauben Küchengeschwätz weitertrugen und dieses, auch ohne daß sie es wußten, je nach den jeweiligen Einflüsterungen umgestalten mochten, wie es gerade gewünscht wurde. Die beiden Mädchen sind bei den öffentlichen Verhandlungen in ihren Angaben schwankend geworden. Daß sie mit der Intrau viel verkehrt und sich gegenseitig über die Vorfälle im Haus allerhand erzählt haben, ist erwiesen. Aber auf diese beiden Mädchen kommt es weniger an, von entscheidender Wichtigkeit sind eben nur Kühnle und die Intrau.
Diese beiden waren es, an die nun Hammermann herantrat, mit denen er ein Komplott begründete, um über die Vorgänge im Hause Rother alles zu erfahren, was geeignet sein könnte, das von Professor Graef eidlich in Abrede gestellte »Verhältnis« zwischen ihm und Bertha Rother zu erweisen.
Hammermann hatte gefunden, was er brauchte: regelmäßige Spione im Hause, die ihm alles haarklein erzählten und ihn auch mit wichtigem Beweismaterial versahen – selbstverständlich uneigennützige Menschenfreunde, die gerade wie Krischen aus reiner Liebe zur Wahrheit handelten. Kühnle, Hammermann und die Intrau fertigten in gemeinsamer täglicher Arbeit die Schlinge, die sie dem Professor Graef um den Fuß werfen und mit der sie ihn zu Fall bringen wollten. An ihrem guten Willen, dieses löbliche Werk durchzuführen, kann nicht gezweifelt werden, aber die Verhältnisse waren dem Unternehmen nicht hold.
Zu jener Zeit nämlich, als die Intrau und Kühnle bei den Rothers hausten, hatte Bertha ihre Mutter bereits verlassen. Sie war seit Herbst 1883 am Theater zu Burg – nicht mit dem Burgtheater zu verwechseln – als Schauspielerin engagiert. Der Theateralmanach führt in der Tat unter den »Vereinigten Stadttheatern von Burg und Brandenburg« (in Burg: Direktor der Gasthofsbesitzer Otto Rabe) Bertha Rother als »Soubrette und Liebhaberin« auf. Dort hatte sie einen jungen, beim Landrat beschäftigten Referendar kennengelernt, mit diesem ein Verhältnis angeknüpft und auch ihn durch ihren eigentümlichen Liebreiz ernsthaft gefesselt. Nach Ablauf ihrer künstlerischen Wirksamkeit in Burg (55 000 Einwohner) war sie nach Berlin zurückgekehrt. Der Referendar hatte sie aus der Familie, deren Bekanntschaft er bei dieser Gelegenheit machte und die seinem Geschmack nicht gerade behagte, herausgenommen und ihr in der Pritzwalker Straße eine Wohnung gemietet und eingerichtet. Das Verhältnis mit Professor Graef, wie immer es gewesen sein mochte, war zu jener Zeit bereits gelöst, und gerade über dies Verhältnis wollte ja Hammermann Bestimmtes erfahren. Kühnle und die Intrau konnten davon natürlich selbst nichts mehr wahrnehmen und mußten sich darauf beschränken, zu horchen und aufzufangen, was über die Vergangenheit in dieser Beziehung gesagt wurde. Das, worauf es ankam, konnten sie selbst nicht mehr beobachten: sie hatten keinen Vorfall mit eigenen Augen gesehen, keine Unterredung zwischen Graef und Bertha mit eigenen Ohren gehört. Sie sind nicht imstande gewesen, auch nur ein Moment anzugeben, das unmittelbar für eine Belastung der beiden gesprochen hätte.
Freilich kam auch zu jener Zeit (Winter 1884/85) Professor Graef noch manchmal ins Haus, auch Bertha machte von der Pritzwalker Straße aus ihrer Mutter ab und zu einen Besuch, aber beide sind in dem Zeitraum niemals dort zusammengetroffen. Kühnle und die Intrau bezogen regelmäßig ihre Beobachtungsposten, sobald Bertha oder Professor Graef im Hause der alten Rother erschien, und alles, was sie da wahrnahmen oder wahrzunehmen glaubten, prägten sie sich mit schier wunderbarer Schärfe ins Gedächtnis ein. Sobald sie etwas Verdächtiges bemerkt hatten, liefen sie in die Küche und waren beflissen, ihre Wahrnehmungen durch das Zeugnis der Köchin zu festigen, und brühwarm gaben sie sodann dem wartenden Hammermann genaue Kunde.
Es liegt mir durchaus fern, es irgendwie bezweifeln zu wollen, daß die Staatsanwaltschaft mit heiligstem Ernste an die Sache, die so viel böses Blut gemacht und eine so tiefgehende Erregung hervorgerufen hat, herangetreten sei, aber ich muß sagen, daß ich das Vorgehen der Staatsanwaltschaft nicht recht verstehe. Was hat sie nach ihrer reiflichen Überlegung, ihrer tiefen Überzeugung und dem Erkennen ihrer unabweislichen Pflicht dazu veranlaßt? Die Anzeige Hammermanns, gestohlene Briefe, bei einer Haussuchung aufgefundene Quittungen und Gedichte und die Aussagen der Zeugen Kühnle und Intrau!
Nun, die Denunziation Hammermanns, dessen Interesse, Graef eine Grube zu graben, vor aller Welt klarlag, mußte doch von vornherein als eine nicht ganz lautere angesehen werden. Die gestohlenen Briefe, die zwischen Graef und der Familie Rother und den Mitgliedern der Familie untereinander gewechselt worden sind, beweisen doch nichts weiter als einen ungewöhnlichen Verkehr zwischen Graef und der Familie, den der Professor ja selbst zugegeben hat. Nur einen ungewöhnlichen, nicht einen strafbaren! Im Verein mit den beschlagnahmten Quittungen beweisen sie nichts weiter, als daß Graef überraschend hohe Geldopfer gebracht hat, die er ebenfalls in vollem Umfange zugegeben hat. Die Gedichte beweisen gar nichts, wir werden darauf noch zurückkommen. – Und nun die Zeugen! Zeugen, die nichts gesehen, die immer nur gehört haben. Und wie? Durch die Holzwand einer verschlossenen Tür, durch Küchengeschwätz. Diese allein wissen Verfängliches auszusagen, sie, die niemals Bertha und Professor Graef zusammen gesehen haben, die in das Haus gezogen sind, als Bertha es bereits verlassen hatte, während die früheren Mieterinnen der Frau Rother, die Graef sehr häufig in der Intimität der Rotherschen Familie mit Bertha habe verkehren sehen, ohne Ausnahme entweder völlig entlastende oder durchaus unerhebliche Aussagen machen! Es sind wohl zehn Zeugen und Zeuginnen auf ihren Eid gefragt worden, ob sie einmal gesehen hätten, daß Graef Bertha in einer irgendwie verfänglich wirkenden Weise geliebkost, sie zärtlich umschlossen hätte – und allesamt ohne Ausnahme haben auf ihren Eid hin die Frage verneint, in bestimmter Weise verneint, ohne Umgehen der Frage.
Ich muß sagen, dieser Widerspruch wäre mir doch sehr verdächtig vorgekommen, und ich hätte den Augenzeugen mehr Glauben geschenkt als den Zeugen, die dies und das gehört haben wollen. Ich hätte mich doch besonnen, auf Grund derartiger Zeugenaussagen die eidliche Aussage eines sechzigjährigen Mannes, an dem nie ein Makel gehaftet hat, in Zweifel zu ziehen, gegen diesen mit einer Schonungslosigkeit vorzugehen, als handle es sich um ein tatsächlich schon erwiesenes Verbrechen, dessen Bestrafung gewissermaßen nur noch als eine Formfrage zu betrachten sei, Haussuchung bei ihm zu halten, die geheimsten Papiere mit Beschlag zu belegen und von Amts wegen zu eröffnen, ihn gefänglich einzuziehen, jedes Gesuch um Freilassung gegen Kaution in beliebiger Höhe zurückzuweisen, ihn sieben Monate der Freiheit zu berauben – alles das, weil ein Hammermann denunziert, ein Kühnle Briefe gestohlen, eine Intrau durch die Tür Verdächtiges gehört hat.