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Gustav Graef ist am 14. Dezember 1821 zu Königsberg geboren. Er hat dort das Gymnasium absolviert und die Universität bezogen. Die Freundschaft mit seinem ausgezeichneten Verteidiger, Justizrat Simson, stammt aus dieser Zeit. Graef hat dann künstlerische Studien auf der Düsseldorfer Akademie gemacht. Seit 1852 lebt er in Berlin. Durch zahlreiche größere historische Bilder, die er für monumentale Gebäude ausgeführt hat (»Wittekind und Karl der Große« im Kuppelsaal des Neuen Museums, »Herkules und Theseus« im Porticus des Alten Museums), besonders aber durch seine weiblichen Porträts hat sich Graef eine sehr angesehene Stellung in der Berliner Künstlerschaft erworben. Er ist Königlicher Professor geworden.
Bis zum Jahre 1879 hat er eine lange Reihe ehrenhafter und schöner künstlerischer Erfolge davongetragen, aber er hatte noch keinen eigentlichen Treffer gehabt, keines seiner zahlreichen Bilder, deren tüchtige und liebenswürdige Eigenschaften von den Kunstgenossen, der Kritik und dem Publikum gleichermaßen anerkannt wurden, hatte im wahren Sinne des Wortes Aufsehen gemacht. Und Graef selbst fühlte, daß er noch etwas anderes, Besseres schaffen könne. Er sprach sich seinen Freunden gegenüber oft darüber aus, daß er den sehnlichen Wunsch habe, wieder einmal anderes zu malen als Porträts: ein schönes ideales Weib. Die allgemeine Anerkennung, die er gefunden hatte, genügte seinem künstlerischen Ehrgeiz noch nicht. Er schwärmte seinen Freunden beständig etwas vor von jener Idealgestalt, die er malen wolle und die er auch dereinst malen werde.
Da erhielt er gelegentlich eines Aufenthaltes in Paris im November 1878 den Auftrag, die Geliebte eines reichen jungen Mannes für diesen in allen ihren unverhüllten Reizen darzustellen. Mit wahrer Begeisterung machte sich Graef an diese Aufgabe. Er begann das Bild in Paris und vollendete es in Berlin. Der jugendliche schöne mädchenhafte Körper, der sich in lieblichem Übermut auf dem Lager streckt, das anmutig frohe, kindliche Antlitz – alles das war nach dem Leben gemalt. Zur Vollendung des Bildes benutzte Graef in Berlin noch ab und zu ein Modell, das sich früher bei ihm gemeldet hatte, das er für Einzelheiten auch zu diesem Bildnisse gebrauchen konnte. Es war Bertha Rother, ein junges Mädchen von schlankem, edlem Wuchs mit einem hübschen, aber nicht schönen Gesicht; die Nase ist sogar beinahe häßlich zu nennen. Aber diese Bertha hat auch große Schönheiten: üppiges, sanftgewelltes kastanienbraunes Haar mit goldigem Schimmer, nicht große, aber von den langen Wimpern herrlich umrahmte ausdrucksfähige Augen, ein reizend feines Kinn mit einem freundlichen Grübchen und eine bezaubernde Stimme – es ist ein von der Natur reich ausgestattetes Wesen, ganz dazu angetan, die Phantasie eines schönheitsdurstigen Künstlers anzuregen.
Das Bild, »Félicie« genannt, erschien auf der Kunstausstellung 1879 und machte geradezu Sensation. Ich erinnere mich, daß ich bei der Besprechung der damals ausgestellten Kunstwerke meine Kritik über »Félicie« mit den Worten einleitete: »Was ist denn auf einmal über Graef gekommen?« Es schien in der Tat in der künstlerischen Wirksamkeit dieses Mannes eine vollkommene Wandlung eingetreten zu sein. Wenn es auch an gewissen Moralpharisäern nicht fehlte, die das Bild jenes nackten Mädchens, daß sich seiner Nacktheit durchaus nicht schämt, sondern sich seiner Schönheit sogar wohlgemut erfreut, anstößig oder zum mindesten bedenklich fanden, so stand doch die erdrückende Mehrheit der Kunstfreunde und Kunstgenossen ganz entschieden auf Graefs Seite. Sie erblickten in diesem Bilde ein lebensvolles, edles, heiteres Werk, bei dessen Ausführung die in dem Künstler schlummernden Eigenschaften erst erwacht zu sein schienen. Berufene Stimmen sprachen es aus, daß unter unseren Künstlern kaum noch ein zweiter so lebendes Fleisch, eine Haut, unter der man das erwärmende Blut spürt, mit soviel Empfindung und Gefühl für Form und Bewegung malen könne. Der Erfolg war ein durchschlagender. Unter den nennenswertesten Bildern der Ausstellung wurde Graefs »Félicie« immer mit in erster Reihe erwähnt, und infolge dieses Bildes wurde Gustav Graef zum Mitglied der Akademie gewählt.
So hatte er also mit seinem Sehnen und Verlangen, der weiblichen Idealgestalt Form und Farbe zu geben, recht gehabt? So hatte er jetzt an der Schwelle der Sechzig endlich den Weg gefunden, der ihn zu der erträumten künstlerischen Höhe hinaufführen sollte? Graef war davon in tiefster Seele überzeugt, und der Erfolg der »Felicie« bestärkte ihn in dieser Überzeugung.
Aber »Félicie« war noch nicht das Rechte gewesen. Es war ein auf Bestellung gemaltes Bild nach dem Leben, das ein volles Entfalten der künstlerischen Phantasie nicht gestattete. Ein solches aber schwebte Graef immer vor Augen, immer dieselbe Idealgestalt, die er in diejenigen Bedingungen des Raumes, des Lichtes, der Stellung, des Vorgangs rücken konnte, die den Eingebungen seines künstlerischen Genius am nächsten kamen. Und er hatte sich schon etwas ausgedacht: ein Märchen! Im Freien, am Wasser, in der Sommersonne: ein Mädchen, das in einen Fisch verwandelt worden war, ist dem Wasser entstiegen und hat die Fischhaut abgestreift, die ein verzauberter Rabe, den das Mädchen nicht sieht, mit dem Schnabel faßt. Das Mädchen begrüßt mit dankbarem Lächeln zum ersten Mal wieder das goldene Sonnenlicht, das ihre schönen Formen umschmiegt. Und das lebende Wesen, das eben dem Kinde entwachsene Mädchen, das dem Künstler diese erste poetische Anregung gegeben hatte, war wiederum Bertha Rother.
Graef war in tiefster Seele beglückt, daß er dieses Modell, das alle seine künstlerischen Wünsche erfüllte, gefunden hatte, und er sprach in wahrer Begeisterung zu seinen Freunden von seinem Funde. Er war sicher, daß er mit Hilfe dieses Modells ein Werk schaffen werde, das dereinst als das bezeichnendste in seiner gesamten künstlerischen Tätigkeit betrachtet werden durfte, das Werk seines Lebens. Er war von vornherein entschlossen, alles zu tun, was er irgend tun könne, um dieses Modell dauernd an sich zu fesseln. Kein Opfer erschien ihm da groß genug. Das Modell war ihm für dieses Werk eine Bundesgenossin, die er nicht entbehren konnte: ihre Formen und Farben flößten ihm bei der Arbeit jene hohe künstlerische Begeisterung ein, deren er bedurfte.
Demjenigen, der der Kunst fernsteht, mag es seltsam erscheinen, daß sich der Künstler unter Umständen in ein solches Abhängigkeitsverhältnis von seinem Modell begibt. Es kommt ja auch in der Tat selten vor, daß ein Künstler um seiner Kunst willen für ein Modell Opfer bringt, wie sie Graef drei Jahre lang für Bertha Rother und deren Familie gebracht hat. Ein allein dastehendes Beispiel ist es indessen nicht. Es ist mir fern, für Künstler und Dichter in bezug auf Sittlichkeit gewisse Vorzugsrechte zu beanspruchen, jedoch läßt sich nicht in Abrede stellen, daß dem Künstler gewisse Anschauungen als natürlich und selbstverständlich erscheinen, die den Nichtkünstler befremden. Zu diesen gehört auch das Verhältnis zwischen Künstler und Modell. Der begeisterte Jubel, ein geeignetes Modell gefunden zu haben, der tatsächliche Einfluß dieses Modells auf seine Arbeit, die Angst, daß es ihm verlorengehen könne, die Opfer, die er bringt, um es sich zu erhalten, die Naivität, mit der er über die moralischen Qualitäten eines Mädchens hinwegsieht, deren Körperlichkeit allein ihm eine ständige Anregung zu künstlerischem Schaffen ist – alles das sind Dinge, die dem Laien mehr oder minder rätselhaft erscheinen, die nur aus künstlerischer Auffassung heraus zu begreifen und nachzuempfinden sind.
In den Verhandlungen dieses Prozesses ist dieser Gegensatz zwischen Künstler und Nichtkünstler tatsächlich und häufig in drastischer Weise ans Licht getreten. Es war dem Juristen, wenn er die auffälligsten, verfänglichsten Dinge zur Sprache brachte und den Angeklagten um Aufklärung anging, nicht zu verargen, daß er den Kopf schüttelte, wenn dieser in voller Harmlosigkeit darauf den Bescheid erteilte, er habe sich eben sein Modell erhalten wollen. Es hatte aber gerade diese Harmlosigkeit in meinen Augen etwas unendlich Beweiskräftiges. Es war wunderbar zu beobachten, wie Professor Graef, der die Juristen nicht verstand, immer wieder auf den einen Punkt hinwies und wie dann der Jurist, der den Künstler Graef nicht verstand, immer eine andere, ihm einleuchtendere Erklärung zum Verständnis des ihm Unverständlichen begehrte. Die Gegensätzlichkeit läßt sich eben nur verstehen aus der völligen Verschiedenheit der Anschauungen.
Im August 1879, noch vor der Eröffnung der Kunstausstellung, begab sich Professor Graef mit seiner Familie nach Saßnitz auf Rügen. Dort wollte er einen geeigneten landschaftlichen Platz für sein Bild suchen. Er hatte schon seinen Freunden gegenüber davon gesprochen, daß er zu dem Bild unbedingt eine Studie im Freien bei Sonnenlicht machen müsse. Das Mädchen sollte ihm also da völlig unbekleidet unter freiem Himmel Modell stehen. Er wurde zwar darauf aufmerksam gemacht, daß ihm diese Studie vielleicht ernsthafte Unannehmlichkeiten bereiten, ihn am Ende gar in Konflikt mit der Polizei bringen würde, aber er antwortete darauf mit der vollen Gelassenheit des Künstlers: das sei ihm gleichgültig, es würde ja nichts Unzulässiges geschehen, er müsse eben das Bild so malen, anders könne er es nicht. Als ein geeigneter Platz dazu erschien ihm eine Stelle am Schmachtersee bei Binz. Dorthin ließ er nun Bertha Rother nachkommen. Seine Familie hatte sich in Saßnitz indessen eingerichtet und fand es zweckmäßiger, dort zu bleiben, während Graef mit seinem Modell zeitweilig nach Binz ging und dort in der Tat Bertha Rother einige Male im Freien Modell stehen ließ. Nachdem er seine Studie gemacht und Bertha entlassen hatte, kehrte er zunächst nach Saßnitz und dann mit seiner Familie nach Berlin zurück und begann nun, an dem Bilde »Märchen« zu malen.
Graef hoffte, es im ersten Anlauf nahezu zu vollenden. Die Aufgabe war indessen nicht so leicht, wie er es sich vorgestellt hatte. Je weiter er kam, desto mehr Schwierigkeiten stellten sich ihm bei der Lösung seiner Aufgabe entgegen, zumal er das Bestreben hatte, mit seinem »Märchen« den Erfolg von »Félicie« zu überbieten. Anderweitige Verpflichtungen, die er übernommen hatte, zwangen ihn, seine Arbeit einstweilen beiseite zu stellen. Inzwischen machte ihm aber auch sein Modell Schwierigkeiten.
Graef wußte, daß Bertha Rother ein leichtsinniges Leben führte. Er hatte Angst, daß ihr von irgendeinem jungen Lebemann die Mittel geboten werden möchten, ganz nach ihrem Gefallen zu leben, ohne daß sie zu der anstrengenden und langweiligen Arbeit des Modellstehens genötigt wäre. Dies wollte er vor allen Dingen verhindern und hielt es daher für richtig, ihr selbst alle Mittel zur Verfügung zu stellen, deren sie bedurfte, und ihr womöglich die Gelegenheit zu bieten, sich aus dem Unrat der Umgebung herauszuarbeiten. Damit beginnen die ersten Geldopfer für Bertha und ihre Familie, die, wenn man die Summen nach dem Preise, den man gewöhnlich einem Modell für die Stunde zahlt, abmißt, allerdings unbegreiflich hoch erscheinen müssen, die aber, wenn man sich auf den Standpunkt Graefs stellt, zunächst nicht einmal als auffällig zu bezeichnen wären, denn die ersten Geldspenden sind verhältnismäßig gering. Um diese Geldopfer zu der Höhe hinaufzutreiben, zu der sie später anstiegen – dazu gehörten die weltunkluge, verblendete Gutmütigkeit Graefs und die raffinierte Auspressungskunst der alten Frau Rother.
In jener Zeit nun hatte Bertha die unangenehmen Begegnungen mit der Polizei, die bereits erwähnt worden sind. Graef hatte für das in seiner Erziehung völlig vernachlässigte, aber begabte Mädchen nun auch menschliche Teilnahme gewonnen. Er wollte sie nicht zugrunde gehen lassen. Er wollte ihr klarmachen, daß sie durch ihn die Möglichkeit erhalten konnte, zu einem besseren Dasein auszusteigen; und da Bertha ebenfalls den Wunsch zeigte, etwas zu lernen, und Lust, sich zur Schauspielerin auszubilden, so versprach ihr Graef, daß er die Kosten ihrer Ausbildung übernehmen wolle.
Bertha war zunächst mit Lust und Eifer bei ihrem neuen Beruf. Graef hoffte, es würde etwas aus ihr werden, sie schien Talent zu haben, und er hatte Freude an ihr, und diese Freude war auch rückwirkend wieder seinem Bilde günstig. »Es ist ein so besonders glückliches Ereignis«, sagte Graef in der Verhandlung, »wenn ein Künstler für das Gebilde seiner Phantasie ein Modell findet, welches dieses Gebilde verkörpert. Ich blieb während der Arbeit vollständig in Illusion, und diese Illusion wollte ich mir um keinen Preis zerstören lassen. Ich idealisierte daher in meiner Phantasie das Mädchen selbst, sie wurde mir das ›Märchen‹; das war ein Glück für mein Werk. Die praktische Durchführung aber war unendlich schwierig und wurde für mich verhängnisvoll.«
Das Märchenbild war also für die Ausstellung 1880 nicht fertig geworden, und da der Künstler inzwischen zu der Ansicht gekommen war, daß an dem Bild umfassende Veränderungen vorgenommen werden müßten, so stellte er das angefangene Werk beiseite, um zunächst andere Aufträge zu erfüllen. Daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit, Bertha Rother auf eine noch längere Zeit an sich zu binden. Bisher hatte sie den Hausstand der Mutter nahezu allein bestritten. Graef entschloß sich dazu, der alten Rother die erforderlichen Summen zur Einrichtung eines Geschäftes zur Verfügung zu stellen. Für diese Schenkungen wurde die Form des Darlehens gewählt. Frau Rother unterschrieb einen Schuldschein um den anderen und verpflichtete sich unbedenklich zu Zinszahlungen und allmählichen Abtragungen. Es versteht sich, daß sie keine ihrer Verpflichtungen erfüllt hat.
Während der folgenden Zeit wiederholt sich nun mit tödlicher Einförmigkeit dieselbe Tragikomödie: Die Mutter macht sehr schlechte Geschäfte, gibt das eine auf, um ein anderes anzufangen, ist in beständiger Geldverlegenheit, kann die Miete nicht zusammenbringen, hat Anschaffungen zu machen und kommt mit unausstehlicher Beharrlichkeit immer und immer auf den freigebigen, in Geldsachen leichtsinnigen Künstler zurück. Die Tochter macht hin und wieder ernsthafte Anläufe, sich aus dem widerwärtigen Leben, in dem sie aufgewachsen ist, herauszuarbeiten, aber ihr natürlicher Leichtsinn veranlaßt sie stets aufs neue zu verhängnisvollen Rückfällen in ihr früheres Dasein. Der Künstler, der mit seinem Werk noch immer nicht zufrieden ist, der immer daran arbeitet, es um keinen Preis aufgeben will, der sich nach mancherlei Versuchen mit anderen Modellen davon überzeugt hat, daß kein anderes als Bertha Rother seinem Zwecke dienen und sein Werk befördern kann, tut alles, was er tun kann; er hat der Familie zunächst den kleinen Finger gereicht, sie hat mit Gier die ganze Hand erfaßt und läßt sie nun nicht los. Und nun kommt die verhängnisvolle Zeit, in der Graef zu dem Schlüsse kommt, daß es nun, da das Modell schon Tausende verschlungen hat, auf ein paar hundert Mark mehr oder weniger auch nicht mehr ankommt. Hunderte von Menschen sind dadurch zugrunde gegangen, daß sie diesem gefährlichen Grundsatz gehuldigt haben. Graef ist zum Glück finanziell nicht ruiniert, da er just in jenen Jahren, in denen die Geschichte mit Bertha Rother spielte, von seinen Bildern beträchtliche Einnahmen, jährlich 40 000–60 000 Mark, gehabt hatte und überdies noch einen bedeutenden Lotteriegewinn machte. Er hat wohl nie geknausert, mochte aber wohl deshalb in dieser Zeit zu bedeutenden Ausgaben mehr denn je geneigt gewesen sein.
Auch zur Ausstellung des Jahres 1881 war das Bild nicht in der Weise fertiggestellt worden, wie es sich der Künstler erträumt hatte, da er immer wieder sehr viele Porträts zu malen und auch sein Modell ihn oft im Stich gelassen hatte. Deshalb war der Erfolg des Bildes geringer als erwartet. Aber er ließ sich dadurch nicht beirren, sondern machte sich nun noch einmal an die Arbeit.
Kommen wir zu den Gedichten, deren Inhalt das Gericht als belastend für den Angeklagten angesehen hat. Es ist mir völlig unbegreiflich, daß man aus diesen gelegentlichen Gedichten einen Rückschluß auf tatsächliche Vorgänge hat ziehen wollen, daß man in gewissen stark sinnlichen Wendungen die schriftliche Beurkundung eines Liebesverhältnisses zwischen dem Künstler und seinem Modell hat erblicken wollen. Für die Körperlichkeit, für das Modell empfand Graef eine leidenschaftliche Schwärmerei, ein künstlerisch-sinnliches Wohlgefallen. Dies aber hat mit dem grobsinnlichen Begehren und Gewähren nichts gemein, es ist sogar gewöhnlich deren Verneinung. Würde Graef, wenn er Bertha Rother als Liebchen gehalten hätte, ohne alle Erregung mit angesehen haben, wie sie ihr leichtsinniges Leben fortsetzte? Würde er dann darauf hingewirkt haben, daß sie an kleinen Bühnen der Provinz als Schauspielerin Anstellung fand? War die Duldsamkeit in bezug auf Berthas Treiben vereinbar mit der Stellung, die der zahlende Aushalter der bezahlten Geliebten gegenüber einnimmt? Muß nicht vielmehr angenommen werden, daß der Künstler gewaltsam vor allem, was mit Berthas Treiben außerhalb der Künstlerwerkstatt zusammenhängt, geflissentlich die Augen schließt, daß er sich von allem, was die Unsittlichkeit und Lasterhaftigkeit dieses Treibens betrifft, mit Anstrengung losmacht, um sich zu befähigen, dieses Mädchen als die Verkörperung seines Ideals anzusehen?
Es ist wohl allerdings eine Torheit, zu behaupten, daß gewährte Liebesgunst den dichterischen Flug hemme, aber solche Gedichte, wie Graef sie gemacht hat, würden meiner Meinung nach schwerlich entstanden sein, wenn die Allerweltsgeliebte nun auch noch die des Künstlers gewesen wäre. Und führt man jene Stellen aus den Gedichten an, die für ein Liebesverhältnis der beiden zu sprechen scheinen, weshalb glaubt man diesen mehr als jenen anderen in einem Gedicht Graefs an seine Frau, die die völlige Reinheit dieses Verhältnisses zu Bertha erhellen.
Die Gedichte beweisen nichts anderes, als daß Graef das Mädchen angeschwärmt hat, und das ist ja von keiner Seite bestritten worden. Darauf aber kam es ja gar nicht an. Es kam darauf an, zu beweisen, daß zwischen Graef und Bertha ein wirkliches Liebesverhältnis bestanden hat, und zu dieser Beweisführung durften meines Erachtens Gedichte niemals herangezogen werden. Ungewöhnlich bleibt die ganze Sache ja immerhin, aber das Ungewöhnliche ist doch nicht das Unmögliche. »Künstler seynd immer die ersten im Narrenschiff«, sagt Sebastian Brant, und die Motive ihrer Handlungen brauchen keineswegs diejenigen zu sein, die die Philisterhaftigkeit als die nächstliegenden annimmt.
Bertha Rother war 1884 von Burg nach Berlin zurückgekehrt; sie behauptete vor Gericht (und redete sich vielleicht auch ein), daß der junge Mann, der sie dort als Schauspielerin kennengelernt und der sich in das eigentümlich reizvolle Mädchen verliebt hatte, sie heiraten werde. Wir wissen, daß er ihr in der Pritzwalker Straße eine Wohnung hübsch eingerichtet hatte, wenn auch nicht »fürstlich«, wie der Polizeibericht sagt; die für die Einrichtung verausgabten Summen lassen die Übertreibung des polizeilichen Stils auf den ersten Blick erkennen. In jener Wohnung scheint es recht lustig hergegangen zu sein. Berthas Freund kam mit seinen Freunden, jungen Leuten aus guter Familie mit reichen Mitteln, häufig dahin. Daß auch andere ohne Wissen des Referendars und hinter dessen Rücken da verkehrt hätten, ist zwar behauptet, aber nicht erwiesen worden; und als durchaus haltlose Erfindung hat sich die Meldung herausgestellt, daß diese Wohnung eine Art Spielhölle für junge Leute gewesen wäre, daran ist kein wahres Wort. Damit soll indessen nicht gesagt sein, daß in der Pritzwalker Straße ein Musterhaushalt gewesen sei. Das Rothersche Blut verleugnet sich auch dort nicht: Bertha nimmt die alte Plätterin, die mit ihrem Vater in zärtlichen Verhältnissen lebt, als Wirtschafterin an und nimmt auch den von der Mutter herausgeworfenen Vater mit in die Wirtschaft hinein. Und so haben wir denn als anmutiges Seitenstück zu Auguste Rother und Ihlow mit Lieschen drüben, hüben den alten Rother und die Beeskow mit Bertha. Wie gesagt, Zola könnte es nicht schöner erfinden!
Professor Graef hat während der Untersuchungshaft sehr fleißig gearbeitet. Er hat mehrere Porträts, Zeichnungen und Aquarelle angefertigt und endlich das Schmerzenskind des Künstlers, das »Märchen«, vollendet. Außerdem hat er sehr umfassende biographische Aufzeichnungen gemacht und durch eine außerordentlich eingehende Beantwortung aller in der Anklageschrift aufgeworfenen Fragen seinen Verteidigern überaus wertvolles Material an die Hand gegeben. So ist denn die lange Untersuchungshaft, so schmerzlich ihm die Beraubung der Freiheit auch sein mochte, doch seiner Arbeit nicht verlorengegangen.