Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Bendlerstraße ist jetzt eine Tiergartenstraße wie jede andere. Kostspielige Prachtbauten, einer neben dem anderen, der eine reich, der andere noch ein bißchen reicher, der eine diskret und geschmackvoll, der andere vorlaut und protzenhaft – alle im einheitlichen Charakter und Gepräge des Wohllebens, das keine Kosten scheut.
Vor noch gar nicht langer Zeit – etwa fünfzehn Jahre mögen seitdem vergangen sein – sah es da anders aus. Da waren neben den stolzen Palästen des modernen Luxus noch einige Häuschen aus der genügsamen Zeit des »Sommerwohnens im Tiergarten« stehen geblieben. Als merkwürdigstes wohl das wasserblaugrau getünchte an der Ecke der Tiergartenstraße mit der primitiven Konditorei der Frau Maukel Da gab es so heißen dünnen Kaffee mit zwei Stücken Zucker und so guten Apfelkuchen mit Schlagsahne. Die vorurteilslosen Stammgäste, Schüler und Schülerinnen, sowie niedliche, noch nicht schulpflichtige Kinder mit ihren Fräuleins pflegten den Genuß zu kombinieren und stippten den Apfelkuchen mit Schlagsahne in den Kaffee.
Etwas weiter hinauf, dem Kanal zu, stand auf der anderen Seite der Straße auch so ein altmodisches Haus, etwas ansehnlicher, das hinter die Straßenflucht zurückwich. Im Vorgärtchen erinnerten wundervolle, mächtige Kastanienbäume an den ausgerodeten Wald. In diesem schmucklosen Hause, das in seinem nüchternsten Zweckmäßigkeitsstil wohl aus dem Anfang des vorigen Jahrhundert stammen mochte, befand sich die in den Tiergartenkreisen berühmte Privatschule des Fräulein Bollmann, für höhere Töchter und zu den höchsten Preisen.
Die jungen Mädchen konnten da viel lernen, wenn sie wollten: französisch, englisch, auch italienisch, wenn's verlangt wurde, Literatur- und Kunstgeschichte. Mit einer gewissen sprachlichen Vorbildung kamen die meisten schon in die unterste Klasse. So eine Art von Französisch hatten sie ja schon in der Kinderstube gelernt von ihrer Bonne aus Lausanne oder ihrer Mademoiselle aus Genf.
Aber ihren eigentlichen Ruhm verdankte die Anstalt des Fräulein Bollmann doch vor allem der Selekta. Da wurden über die schwierigsten Fragen tiefsinnige Aufsätze geschrieben. Da wurde vor allem französische Konversation gepflegt, »Charles douze« und »Télémaque« analysiert und kommentiert. Da wurde die ganze deutsche Literatur durchgepeitscht vom alten Ulfilas an, über die Spielmannsdichtung und Minnesänger hinweg, – mit flüchtiger Berührung der derben Herren Sebastian Braut, Fischart und Hans Sachs und mit besonders liebevollem Verweilen bei den langweiligsten Vertretern der schlesischen Dichterschulen und später bei Klopstocks populärer »Messiade«, – beinahe bis an die Klassiker heran. Insonderheit kamen Schillers »Tell« und »Jungfrau« als vorzüglich ergiebige Themata für sinnige Ferienaufsätze in Betracht. Auch Goethe durfte als Verfasser von »Wanderers Nachtlied« füglich nicht umgangen werden. Auf manche, wie sich nicht verkennen läßt, immerhin beachtenswerte literarische Erscheinung einer uns näherliegenden Zeit konnte wegen der Kürze des Semesters nur hingewiesen werden.
Die Lieblingsstunde der Backfische und der heranwachsenden jungen Damen war natürlich Kunstgeschichte; hier wurden sie durch den Lehrgegenstand und die Persönlichkeit des Lehrers gleichermaßen gefesselt. Denn für Herrn Dr. Otto Ellmers, der lange schlichte blonde Haare und einen noch blonderen weichen Vollbart dazu, ein tiefbraunes Sammetjackett, eine helle Kravatte mit bauschigen Zipfeln und einen gleichfalls weichen Filzhut mit breiter Krempe trug, schwärmten alle.
Nichts sprach deutlicher für die Festigkeit des Freundschaftsbundes der drei Unzertrennlichen als die Tatsache, daß die Liebe der drei jungen Damen aus der Selekta für den »schönen Otto«, wie man den Kunstlehrer allgemein nannte, nicht gesprengt, ja nicht einmal erschüttert wurde. Um allen unliebsamen Zusammenstößen vorzubeugen, waren sie übereingekommen, ihn umschichtig zu lieben: A. am Montag und Donnerstag, B. Dienstag und Freitag, C. Mittwoch und Sonnabend. Der Sonntag gehörte den erlaubten Gefühlen der Familie.
A. hieß Anna, B. Bertha, C. Charlotte. Und da sie Kinder begüterter Eltern waren und beständig in rosigster Laune zusammenhockten, hatte sie der Schulwitz wegen der Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen »das goldene ABC« geheißen. Sie waren die gescheidesten, hübschesten, ungezogensten und fidelsten Schülerinnen der Selekta. Sie wohnten nicht weit von einander, alle drei in der Nähe der Schule, und brauchten daher immer eine gute Stunde und mehr, um nach Hause zu kommen. Denn Anna begleitete zunächst Bertha und Charlotten, dann brachte Bertha Charlotten und Anna, dann Charlotte Anna und Bertha nach Hause. Schließlich stürzten sie noch zu Mutter Maukel, verschlangen in großer Hast einen Apfelkuchen mit Schlagsahne, um sich den Appetit zu verderben, wurden von Mama ausgezankt, gelobten Besserung und lebten sonnige Tage weiter.
Anna war die Tochter eines ausgezeichneten Arztes. Sie hatte eine reizende schlanke Figur, mandelförmig geschnittene, große tiefbraune Augen, die treuherzig und träumerisch in die Welt blickten, eine mattgelbe Gesichtsfarbe, volles schwarzglänzendes Haar, das sich schlicht an die anmutige Rundung des Köpfchens schmiegte, eine feingeschnittene Nase und Grübchen in Kinn und Wangen. Sie sah aus wie eine Südländerin. Man hätte sie für eine Spanierin sarazenischen Ursprungs halten können. Ihr Wesen machte den Eindruck des Sanften, Milden, Gelassenen, – des Madonnenhaften, wie es Murillo malte. Dabei war sie die durchtriebenste von allen und sagte mit melancholischem Augenaufschlag, ohne eine Miene zu verziehen, die unerwartetsten Dinge. Sie war die Jüngste; sie behauptete zwar fünfzehn Jahre zu zählen, aber sie machte sich ein Jahr älter, um den Abstand von ihren Freundinnen zu verringern.
Aus gröberem Holze geschnitzt war die sechzehnjährige Bertha, deren Vater ein wohlhabender Großindustrieller war. Sie überragte die zierliche Anna fast um eines Hauptes Länge und zeigte in den Formen schon eine frühzeitige Üppigkeit, die für ihr späteres Ausreisen ein bißchen bedenklich werden konnte. Aber sie war bildhübsch in ihrer blühenden Frische, mit ihren leuchtenden, ehrlichen blauen Augen und der krausen, dunkelblonden Kriemhildenmähne, deren Widerspenstigkeit weder Kamm noch Bürste zu zähmen vermochte. Mit ihrem etwas groß geratenen Munde versöhnten die prachtvollen schimmernden Zähne, die immer sichtbar wurden, wenn sie lächelte; und sie lächelte immer, wenn sie nicht lachte.
Die Älteste, Charlotte, die eben ihren siebzehnten Geburtstag gefeiert hatte, war die Tochter eines berühmten Malers, dessen Villa in der Rauchstraße mit dem herrlichen Atelier eine Sehenswürdigkeit von Berlin W. geworden war. Charlottens Hauptreiz beruhte im Kolorit. Zu ihrem goldblonden Haar bildeten die fast schwarzen schön geschwungenen Brauen, unter denen die dunkeln Augen leuchteten, einen merkwürdigen Gegensatz. Mit ihren rosigen Wangen, dem lustigen Stumpfnäschen und dem kleinen Mündchen, sah sie aus wie eine Watteausche Schäferin. Sie war von den Dreien die Klügste und beherrschte, ohne sich anzustrengen, ihre beiden Freundinnen vollkommen. Zu allen übermütigen Streichen gab sie die erste Anregung. Das Weitere pflegte dann die kleine sanfte Anna zu besorgen.
Die drei Mädchen bildeten in der Schule des Fräulein Bollmann eine Kaste für sich, und zwar die bevorzugteste. Die übrigen Schülerinnen fühlten sich geschmeichelt, wenn sie der Ehre gewürdigt wurden, einmal von einer vom »goldenen ABC« eingeladen zu werden. Sie wurden auch von den Lehrern und Lehrerinnen vorgezogen. Ihre Fehler wurden zwar gerügt, sie bekamen auch ihre Strafen, man ließ sie nachbleiben, aber alles das geschah mit einer gewissen latenten Zärtlichkeit. Sie waren eben liebenswürdige Geschöpfe, zwar recht wild, ungezogen, aber nie bösartig und dabei immer vergnügt. Ihre natürliche Anmut und Heiterkeit versöhnte mit allem. Wenn Fräulein Bollmann, die gewöhnlich der persönlichen Beeinflussung nicht zugänglich war, zu einer von ihnen sagte: »Was Sie da wieder getan haben, ist geradezu unerhört!« so klang das wie eine Art von Liebkosung; und wenn sie ärgerlich hinzufügte: »Es ist wirklich nicht mehr mit Ihnen auszuhalten!« so hörte man ganz deutlich den nicht gesprochenen Nachsatz: »Aber ich bin Ihnen nicht weiter böse.«
*
Aber da war vor kurzem eine neue Lehrerin eingetreten, die weniger Verständnis für entschuldbare Ungezogenheiten besaß. Sie stammte aus Wanzleben im Magdeburgischen. Ihr verstorbener Vater war da Kantor gewesen und Hauptlehrer der Schule. Ein wohlhabender Gutsbesitzer in der Nachbarschaft, der den Privatstunden des seligen Kantors Metzler die Einführung in die Bildung verdankte, hatte der verwitweten Frau Kantorin für ihre kluge und strebsame Tochter Elisabeth großmütig Erziehungsgelder zur Verfügung gestellt. So war Elisabeth nach Berlin in die Viktoriastiftung gekommen. Sie hatte sich als ernste, fleißige und gewissenhafte Schülerin durchaus bewährt und war, nach glänzend bestandenem Lehrerinnenexamen, auf Empfehlung der Vorsteherin von Fräulein Bollmann angestellt worden.
Häßlich war Fräulein Metzler nicht, aber reiz- und freudlos, hager und eckig. Man merkte ihr eine Jugend ohne Sonnenschein an, sie war aus den vier Pfählen der Pflichterfüllung eben nie herausgekommen. Sie verstand keinen Spaß und war bei ihrem stark entwickelten Gerechtigkeitsgefühl auf die bestechenden Eigentümlichkeiten des »goldenen ABC« gar nicht eingerichtet. In ihren Augen waren Anna, Bertha und Charlotte nichts anderes als die verzogensten Bälger der ganzen Anstalt, die schließlich auf den Ton und die Disziplin der Selekta einen üblen Einfluß ausüben mußten und daher mit besonderer Strenge zu behandeln waren. Zu diesem erzieherischen Reformwerke fühlte sie sich um so mehr berufen, als sie selbst noch sehr jung war – kaum ein Jahr älter als Charlotte, ihr ältester Zögling – und sich die unerläßliche Autorität durch eine gewisse reife Unjugendlichkeit erst zu verschaffen hatte.
Sie gab Französisch. Fräulein Bollmann hatte das bessere Teil erwählt, die amüsante Konversationsstunde, während Fräulein Metzler die undankbare Aufgabe zufiel, die jungen Damen in die unerquicklichsten Verborgenheiten der französischen Sprachlehre einzuweihen und sie durch die sandigsten Strecken der Syntax zu leiten, mit dem undurchdringlichen Gestrüpp des passé défini und subjonctif. Es war furchtbar! Es verleidete den Mädchen den Apfelkuchen mit Schlagsahne bei Mutter Maukel; die kleine Grammatik von Noël und Chaptal und der große Ploetz lagen als zentnerschwerer Alpdruck auf ihren Träumen; es vergällte ihnen das Dasein. Und gerade auf die drei vom »goldenen ABC« hatte es die boshafte »Metzlersche« besonders abgesehen; gerade an sie wurden die verfänglichsten Fragen gestellt. Zuerst machten sie den Versuch, die Sache komisch zu nehmen.
»Anna, übersetzen Sie folgenden Satz: »Als wir im letzten Sommer ans Meer kamen, waren wir so glücklich, daß wir uns wiedersahen« – alles im passé défini, als Bericht über eine abgeschlossene Tatsache … Nun, Anna«, setzte Fräulein Metzler nach einer kurzen Pause etwas schärfer hinzu, »ich warte! … Also wenn's gefällig ist …«
»Ach, wir waren ja im letzten Sommer gar nicht an der See. Wir mopsten uns in Friedrichsroda«, erwiderte Anna mit sanfter Stimme.
»Bertha, bitte«, sagte die Lehrerin, ohne eine Miene zu verziehen.
»Quand, l'été dernier, nous sommes ve …«
»Passé défini!« unterbrach die Lehrerin. »Wie heißt das passé défini von venir?«
»Je vins, glaube ich.«
»Richtig! Und die erste Person im pluriel? Wir kamen?«
»Nous … nous«, antwortete Bertha stockend, und sich dann zu einer entschiedenen Antwort aufraffend, erklärte sie: »Das hat der Franzose nicht!«
»O doch! … Wissen Sie es, Charlotte?«
»Nous vînmes.«
»Richtig. Also übersetzen Sie: »als wir im letzten Sommer ans Meer kamen …«
»Ouand, l'été dernier, nous vinmes á la mer.«
»Waren wir so glücklich …«
»Nous fûmes si heureuses.«
»Daß wir uns wiedersahen.«
»De nous rev …«
»Nicht infinitif!« unterbrach Fräulein, »mit dem Bindewort que, im passé défini!«
»Que nous nous revîmes.«
»Sehr gut!«
»Nein,« entgegnete Charlotte. »Das ist nicht sehr gut. Das ist sogar ganz schlecht: vînmes, fûmes, revîmes … so was sagt kein Mensch.«
Fräulein Metzler blieb unerschütterlich ruhig. Am Ende der Stunde bekamen die drei entsetzlich langweilige Strafarbeiten: Anna wegen ungehörigen Benehmens, Bertha wegen ungenügender Kenntnisse, Charlotte wegen vorlauter Bemerkungen.
So ging's weiter, bis die Bäume wieder grün waren und die heißersehnten Ferien vor der Tür standen. Die Versuche der Unzertrennlichen, die Angriffe der »Metzlerschen« mit Trotz und störrischem Schweigen abzuschlagen, waren auch gescheitert und hatten dieselben kläglichen Folgen gehabt: Strafarbeiten und kein Ende! Die Mädchen hatten sich ganz verändert. Es war der jungen Lehrerin wirklich gelungen, sie zu ducken. Sie begleiteten sich nicht mehr nach Hause, sie gingen nicht mehr zu Mutter Maukel, sie kamen pünktlich zum Essen und hatten guten Appetit. Mit den Freuden des Daseins war's vorbei.
Aber sie atmeten wieder auf, je schwüler es im Tiergarten wurde. Nur noch wenige Tage, und Schulschluß – mit dem erfrischenden Ausblick auf Heringsdorf, Saßnitz, Norderney; keine Metzlersche, keine verbes irréguliers, kein passé défini mehr!
Aber sie hatten eines vergessen: Das imparfait du subjonctif. Und gerade dieses Schrecklichste der Schrecken hatte sich die Unerbittliche, die Gräßliche, die Metzlersche als wirksamen Abgang für die letzte Stunde vor den Ferien aufgespart.
»Que nous nous assissions, que vous vous assissiez, qu'ils oder qu'elles s'assissent!!«
»Bertha, bitte, sitzen Sie doch ruhig!« mahnte die Lehrerin. »Wie heißt »bewegen?««
»Mouvoir.«
Also übersetzen Sie einmal: »Es wäre wünschenswert, daß Du Dich weniger bewegtest.«
»Il serait désirable, que tu te …« Das hat der Franzose nicht!«
»O doch! Besinnen Sie sich nur!«
»Que tu te niovusses …« sagte Bertha kleinlaut.
»Falsch! … Anna!«
»Ich habe ja nicht gemuckst.«
»Schon gut!.. Charlotte, Sie werden's uns sagen können.«
»Que tu te musses moins«. Aber das sagt kein Mensch!«
»Man muß es trotzdem wissen.«
»Weshalb denn? wenn man's doch nicht sagt … Darf ich auch mal so einen Satz bilden, Fräulein?«
»Bitte.«
»Il serait préférable que vous ue nous chicanassiez pas.« Ungeteilte Freude über Charlottens malitiöse Schlagfertigkeit.
»Darf ich's übersetzen Fräulein?« säuselte seelenvoll Anna.
»Bitte.«
»Es wäre noch besser, wenn Sie uns nicht chicanierten!« fügte sie mit sanftem Lächeln hinzu.
»Richtig« versetzte Fräulein Metzler mit eisiger Ruhe. »Aber in diesem Falle wäre »que vous ne nous tracassassiez pas« das Gebräuchlichere.«
Tracassassiez erregte allgemeines Wohlgefallen.
»Und da Ihnen diese Form ein besonderes Vergnügen zu bereiten scheint, werde ich Ihnen die Gelegenheit bieten, sich während der Ferien öfter daran zu erfreuen!« setzte sie ausdruckslos hinzu.
Und richtig! In der entsetzlichen Note über »französische Sprachlehre« war auf der Zensur die Bemerkung hinzugefügt, daß den dreien wegen Ungebühr Strafarbeiten hätten auferlegt werden müssen. Jede der drei mußte fünfzigmal das imparfait du subjonctif von ausgesucht hinterlistigen Worten niederschreiben. Anna bekam ramasser mit ramassassions, ramassassiez u. s. w. Bertha terrasser mit terrassassions, terrassassiez u. s. w. Charlotte rassasier mit rassasiassions, rassasiassiez u. s. w. Der Sommer war ihnen verdorben; hohläugig und halb blödsinnig kamen sie aus den Ferien nach Berlin zurück.
Aber da vereinigten sie sich wieder bei Mutter Maukel in geheimer Sitzung und stippten ihren Apfelkuchen mit Schlagsahne, Unheimliches brütend, in den bräunlichen Kaffee.
»Kinder«, nahm Charlotte das Wort, »in zwei Monaten habe ichs hinter mir. Und Ihr braucht's ja auch wohl nicht mehr lange zu machen. Aber ich will alles erleiden, was Deborah neulich im Kurtheater von Heringsdorf vom Himmel herunter geflucht hat, mein Acker soll keine Früchte tragen, meine Saat soll verdorren, wenn ichs der dürren Spinne, der hinterlistigen Metzlerschen nicht gedenke!«
»Eine Kröte!« rief Bertha in wahrer Entrüstung.
»Ein Biest!« säuselte innig die milde Anna.
»Aber was machen wir? In der Schule gehts nicht. Da ist sie uns über! Aber Rache ist eine süße Speise, die auch kalt gut schmeckt …«
»Frau Maukel, noch ein Apfelkuchen mit …« rief Bertha.
»Sei doch nicht so verfressen, wenn wir von wichtigen Dingen reden! … Also,« nahm Charlotte den Faden wieder auf, »das Leben wird uns bald auseinander treiben. Der feste Entschluß, an diesem klapprigen Frauenzimmer Rache zu nehmen, soll uns wieder zusammenführen! Ich schwöre es Euch! Schwört es mir!«
»Wir schwören!« Und in feierlich gehobener Stimmung legten sie die Hände ineinander.
»Frau Maukel, noch einmal Kaffee!« rief Bertha und setzte aus Charlottens strafenden Blick hinzu: »Wir müssen doch darauf anstoßen!«
*
Zwölf Jahre waren vergangen. Eine Weile waren sie gute Freundinnen geblieben. Dann sahen sie sich seltener und, da die Eltern miteinander nicht verkehrten, schließlich so gut wie gar nicht mehr. Wenn sie sich im Tiergarten zufällig trafen, begrüßten sie sich, plauderten einige Minuten über Dinge, die sie nicht mehr interessierten, und gingen weiter. Zuguterletzt schwatzten sie auch nicht mehr, sondern nickten sich nur noch freundlich zu, ohne stehen zu bleiben. Der Zusammenhang von ehedem hatte sich vollkommen gelöst.
Alle drei hatten sich verheiratet und gut verheiratet.
Die zierliche schwarze Anna, die jüngste, hatte als Achtzehnjährige den Anfang gemacht, mit dem Baumeister Specht, einem blonden Hünen; wenn er sich nicht gutwillig bückte, mußte sie sich auf die Fußbank stellen, um ihm einen Kuß zu geben. In ihrer nunmehr achtjährigen Ehe war sie glückliche Mutter von vier Kindern geworden – lauter strammen, blonden Jungen in regelmäßigem Abstand von je zwei Jahren. Der älteste Lümmel war sieben, das jüngste Baby ein Jahr alt. Anna hatte sich merkwürdig wenig verändert. Sie war gerade so zierlich geblieben und sagte mit madonnenhafter Einfalt noch gerade so fürchterliche Dinge, wie vor zwölf Jahren bei Fräulein Bollmann. Die Leute lachten, wenn sie hörten, daß dies zarte mädchenhafte Geschöpf vier Jungen hatte und, wie sie sagte, gehörig an der Strippe hielt.
Bertha hatte ihre Mündigkeit abgewartet. Sie hatte vor sieben Jahren den reichen Bankier Engels geheiratet, der aussichtsvoll dem Kommerzienrat und Kronenorden vierter Klasse zustrebte. Die Erwartungen einer kräftigen Entwicklung ihrer junonischen Reize hatten sich, trotz des alljährlichen Gebrauchs der Marienbader Kur und regelmäßiger Dauerläufe im Tiergarten, erfüllt. Sie wog 22 Pfund mehr als ihr Mann. Sie hatte nur ein Kind, ein Angstkind, ein jetzt sechsjähriges, zartes kleines Mädchen, das sie vergötterte. Das Kind wurde überfüttert, und die gute Bertha konnte es nicht fassen, daß ihr Lorchen immer an verdorbenem Magen litt und gar nicht zunehmen wollte. Sie bekam doch so gute kräftige Sachen, und so reichlich!
Am längsten halte Charlotte gewartet, bis sie ihren Herzenswunsch, aus dem Künstlerkreise nicht herauszuheiraten, erfüllt sah. Sie stand jetzt schon beinahe an der Schwelle der Dreißig und war in ihrer fünfjährigen Ehe mit dem fast zwanzig Jahre älteren, sehr fidelen und sehr tüchtigen Bildhauer, Professor Zerbst, Mutter eines Mädchens, das jetzt drei Jahre alt war, und eines jetzt zweijährigen Jungen geworden. Sie war eine behagliche, rundliche, lustige, vernünftige kleine Frau.
*
In einer großen Gesellschaft, die der Geheimrat Steffensen zur Einrichtung seiner prachtvollen Villa am Kurfürstendamm gab, trafen die drei vom einstigen »goldenen ABC« nach jahrelanger Trennung und Entfremdung wieder zusammen. Freudig war das Wiedersehen auf der Stelle, beim Austausch der Erinnerungen an die heiteren Tage der Selekta wurde es immer herzlicher. Sie schwelgten im Gedanken an die gute Mutter Maukel, an ihren unerreichten Apfelkuchen mit Schlagsahne, an den lieblich bräunlichen Kaffee, der ihnen so gut geschmeckt hatte und gewiß so schlecht war …
»Die reine Lurke!« bestätigte Anna mit keuscher Wehmut.
»Unser schöner Otto war übrigens, glaube ich, auch nicht so schön, wie er uns damals erschien,« bemerkte Charlotte.
»Ein Quadratekel!« flötete Anna. »Ich habe ihn im vorigen Winter mal in Gesellschaft getroffen und mit ihm getanzt. Laatschen wie die Äppelkähne … und dabei piecht er, wenn's links rum geht, und schwitzt so gesund! Wo haben wir nur unsere Augen behabt! Seine Locken sind futsch, und dick ist er geworden.«
»Aber so hör doch auf,« warf Bertha ein, der das Gespräch über Korpulenz unbehaglich wurde. »Du zerstörst einem ja alle Illusionen.«
»Mein Mann hat mich gut aufgezogen, als ich ihn mit unserer Jugendliebe bekannt machte«, fuhr Anna mit ihrer gewöhnlichen Sanftmut fort. »Von Kunst soll er auch gar nichts verstehen, sagt mein Mann. Der reine Kaffer!«
Auf einmal standen alle drei unter einer gleichzeitigen und gemeinsamen Suggestion. Sie hörten von der Ferne her, aber ganz deutlich etwas Grausiges! Ein Gezischel und Geraffel: assassassassions, assassassassiez, assassassassent … Es war unheimlich.
Und vor ihrem geistigen Auge stand gespenstisch ein hageres Mädchen, kalt und traurig.
Die Metzlersche!
»Aber die war nun wirklich schon in ihrer Jugend ein Biest!« bemerkte Anna mit liebreizender Schüchternheit.
»Das stimmt«, sagte Bertha, »die Ferien von 1890 hat sie uns gründlich versalzen mit ihrem imparfait du subjonctif«.
»Um Gotteswillen, erinnere mich nicht an die assassassassassions, ich kriege die Drehe und mir wird ganz mau,« bat sanft in ihrer gewählten Ausdrucksweise die zierliche Anna Specht.
»Kinder, müssen wir uns nicht schämen? nahm jetzt Frau Charlotte das Wort. »Was ist aus unserem heiligen Racheschwur bei Mutter Maukel geworden?«
»Könnten wir's nicht nachholen?« fragte Bertha Engels.
»M. w.!« hauchte Anna, »das gab 'n klotzigen Feez! … Aber wie?«
»Ich hab's!« rief Charlotte Zerbst. »Wir nehmen französische Stunde bei ihr – wöchentlich einmal – die Reihe herum. Das ist auch das einfachste Mittel, daß wir nun wieder miteinander Fühlung behalten. Wir zahlen sie anständig – jede von uns zehn Mark, schlage ich vor …«
»Und piesacken sie für zwanzig,« ergänzte die gütige Anna. »Sie war immer so ete-peteete; ich unterhalte mich mit ihr eingehend über den Klapperstorch.«
Das Amendement wurde von Bertha, die beständig in Angst an ihr Lorchen dachte, energisch bekämpft und abgelehnt, Charlottens Antrag dagegen gerade wie früher mit begeisterter Akklamation angenommen.
Schon am andern Morgen zog sie ihre Erkundigungen ein, und als sie hörte, daß die Lehrerin noch immer am Institute des Fräulein Bollmann, jetzt in der Magdeburger Straße, wirkte, ging im Laufe des Nachmittags der folgende Brief an Fräulein Elisabeth Metzler ab:
»Charlottenburg, Pestalozzistraße.
28. November 1902.
Sehr geehrtes Fräulein!
Drei Ihrer dankbaren Schülerinnen, die Ihnen vielleicht als die ungezogenen Mädchen vom »goldenen ABC« im Gedächtnis geblieben, inzwischen aber ehrsame Hausfrauen geworden sind, möchten ihre mit den Jahren etwas verblaßten Erinnerungen an die Eigentümlichkeiten des passé défini und des imparfait du subjonctif wieder auffrischen. Würden Sie bereit sein, uns wöchentlich einmal – vielleicht an jedem Mittwoch von 4 bis 5 – eine französische Stunde zu geben? Ueber alles Weitere würden wir uns schnell einigen. Erfreuen Sie durch eine zusagende Antwort
Ihre ergebene
Charlotte Zerbst,
geb. Gerhardt.«
Am nächsten Mittwoch – es war der 3. Dezember – waren schon lange vor Beginn des geplanten Überfalls die drei Freundinnen in Charlottens reizendem Heim, das der Kunstsinn ihres Mannes mit allerhand schönen und gefälligen Sachen geschmückt hatte, in übermütigster Laune zu arger Tat versammelt. Mit der eigentlichen Vollstreckung des Urteils wurde natürlich die sanfte Anna, jetzige Frau Specht, betraut, die mit so treuherziger Einfalt die schrecklichsten Sachen sagen konnte, so daß man immer glaubte, man müsse sich wohl verhört haben, und hinter deren unschuldsvoller Taubenanmut kein Mensch listige Tücke vermuten konnte. Es war behaglich warm, und die großen Vorstecksträuße verbreiteten einen leichten Hauch von Veilchenduft durch den freudigen Raum. Alle drei hatten sich besonders schön gemacht und waren herrlich in der Jugend und des Wohllebens Prangen; äußerlich drei schelmische Grazien, aber unerbittliche Parzen im finstern Gemüt. Ihr Schlachtplan war fertig. Charlotte sollte das Feuer eröffnen, dann Anna auf den Feind eindringen und ihn langsam aber sicher vernichten. Nun warteten sie auf ihr ahnungsloses Opfer und weideten sich schon im voraus an den Qualen des zuckenden Lammes.
Mit dem Glockenschlag vier öffnete der Diener die Tür, und Fräulein Elisabeth Metzler trat ein.
Der Gegensatz zwischen dem armen Fräulein im billigsten Kleide mit der von der schneidenden Kälte in der zugigen Elektrischen geröteten Nase, scheu lächelnd und nicht recht wissend, was sie für ein Gesicht machen sollte, und diesen fröhlichen, reichen und schönen Damen, die hier zu Hause waren oder sich wie zu Hause fühlten, – dieser Gegensatz zwischen dürftiger, demütiger Befangenheit und sorgloser, übermütiger Sicherheit wirkte recht traurig. Sie hatte sich wenig verändert, sie hatte sich konserviert etwa wie eine Mumie, nur noch ein bißchen eingetrockneter und noch ein bißchen kümmerlicher als vor zwölf Jahren. Den Dreien war im ersten Augenblick der Wiederbegegnung die Lust zum grausamen Spiel einigermaßen vergangen.
Charlotte war ihr entgegengegangen und hatte ihr freundlich die Hand gereicht. Die beiden anderen waren dem Beispiele gefolgt. Elisabeth lächelte dankbar und verlegen.
»Es ist ungemein artig von Ihnen«, sagte das Fräulein, »daß Sie Ihrer alten Lehrerin so treu und liebevoll gedacht haben.«
»Aber, liebes Fräulein, ich bitte Sie …«
»Ja,« fuhr sie fort, während sie mühsam die harten Zwirnhandschuhe von den klammen Fingern streifte, »Dankbarkeit ist ja im allgemeinen so etwas Seltenes, besonders aber alten Lehrern gegenüber. Unsere guten Absichten werden von der Jugend so oft verkannt, daß es uns eine doppelte und dreifache Freude ist, wenn uns einmal in unserm dornenvollen Beruf eine verständnisvolle Anerkennung unseres redlichen Wollens zu teil wird.«
»Aber, liebes Fräulein …«
»Ja, gnädige Frau, es ist etwas so Ungewöhnliches, daß ich, als ich Ihren gütigen Brief gelesen hatte, Ihnen im ersten Augenblicke das schwere Unrecht antat, an eine Mystifikation zu glauben …«
»Aber, liebes …« die drei Freundinnen wechselten sonderbare Blicke.
»Ich bitte deshalb sehr aufrichtig um Vergebung, gnädige Frau! Es war häßlich von mir. Ich hätte mir doch gleich sagen müssen: was könnte wohl glückliche junge Frauen, die vom Geschick vor tausenden und abertausenden bevorzugt sind, dazu bewegen, mit einem geplagten Geschöpf, das recht schwer am Dasein zu tragen hat, herzlos zu tändeln? Also noch einmal: verzeihen Sie, meine Damen! Ich mußte meinen häßlichen Argwohn Ihnen beichten. Nun habe ich mein Gewissen erleichtert. Und wenn es Ihnen recht ist, können wir gleich anfangen.«
Der Diener hatte inzwischen behutsam den Tee aufgetragen und sich sachte wieder entfernt.
»Erst trinken wir eine Tasse Tee. Sie müssen doch erst auftauen. Sie sind ja ganz erstarrt.«
»So eilig haben wir's ja nicht«, bekräftigte Bertha, die ihren gesegneten Appetit mit den Jahren nicht verloren hatte. »Ich muß mich vor Allem erst stärken.«
Charlotte hatte dem Fräulein die Tasse mit dampfendem Tee vorgesetzt und ein Stück Zucker hineingetan.
»Noch ein Stück?« fragte sie, während sie die Zange mit dem eingekniffenen zweiten Stück über der Tasse hielt.
»Ach nein, ich danke, es ist doch wohl zu groß.«
»Zu groß?« wiederholte Charlotte. »Soll ich's entzweibrechen?« Und mit triumphierendem Ausdruck übersetzte sie: » Désireriez-vous, que je le cassasse?«
Der längst verklungene Laut des tadellosen subjonctif rief allgemeine Heiterkeit hervor, an der sich auch Fräulein Metzler mit geziemender Mäßigung beteiligte.
Ein großer Teller voll Kuchen und ein zweiter mit raffiniert belegten Brödchen waren liebevoll in ihre nächste Nähe geschoben, und Charlotte machte die angenehme Wahrnehmung, daß es der Lehrerin, durch Berthas anregendes Beispiel ermutigt, offenbar gut schmeckte.
»Nun sagen Sie mal, Fräulein Metzler«, begann Anna, in der die edleren Regungen menschlichen Mitempfindens allmählich durch den Übermut schonungsloser Jugend unterdrückt waren, »lebt denn die olle Bollmannen noch?«
Fräulein Elisabeth blickte bei dieser gemütlichen Bezeichnung einer ehrwürdigen Respektsperson ganz betroffen auf. Charlotte drückte die Serviette in den Mund und Bertha biß einen schönornamentierten Halbmond in einen Baumkuchen, um nicht laut aufzulachen.
»Aber gewiß, gnädige Frau«, antwortete die Lehrerin mit Fassung. »Fräulein Bollmann ist sogar noch sehr wacker und rüstig und nimmt es in der Arbeit mit uns viel Jüngeren auf.«
»Das freut mich«, fuhr Anna treuherzig fort. »Ihnen scheint es ja, unberufen, auch recht gut zu gehen. Aber verheiratet haben Sie sich wohl nicht?« setzte sie mit menschenfreundlicher Teilnahme hinzu.
»Nein, gnädige Frau«.
»Gar nicht? … Überhaupt nicht? … Auch nicht annähernd?« …
Elisabeth schwieg und tat einen langen Schluck aus der Tasse.
»Das tut mir aber leid! In den schönen Otto – ich meine Ellmers – waren Sie doch auch verschossen? Wir waren ja alle in ihn verkeilt …«
»Aber, gnädige Frau …«
»Herrgott, was ist denn dabei? Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr. Kleine Kinder haben wir ja selbst. Wir Alle. Bloß Sie nicht … Natürlich nicht! … Ich habe vier Stück … wie die Orgelpfeifen. Ich führe sie Ihnen vor, am nächsten Mittwoch, bei mir … Na also, wie steht's mit dem schönen Otto? Ich bin ihm mal begegnet, aber ich habe ganz vergessen, ihn zu fragen: ist er noch bei Fräulein Bollmann?«
»Oh, schon seit Jahren nicht mehr«, antwortete Elisabeth verlegen zögernd und schlug die Augen nieder.
»Aha! … Er hat gewiß was ausgefressen?«
»Man spricht nicht gern darüber …«
»Wir doch! Was war's denn? Doch nicht etwa? …«
»Herr Dr. Ellmers hat sich allerdings nicht ganz korrekt benommen.«
»Je, comprends! Il a eu un petit techtel-mechtel avec une Tiergartenjöre? Kennen wir doch!« sagte Anna gelassen.
»Es war wohl nur eine Unbedachtsamkeit, gewiß keine Schlechtigkeit.«
»Schlechtigkeit? Wenn die Beiden einig waren, kann ich nichts Schlechtes dabei finden.«
»Aber, gnädige Frau! Hinter dem Rücken der Eltern … Briefe, wie sie ein Lehrer seiner Schülerin eben nicht schreiben darf …«
»Briefe? … Weiter nichts?«
»Das ist doch wohl genug, sollte ich meinen. Übergenug! Heimliche Briefe! …«
»So fängt's doch immer an, wenn's hübsch werden soll. Denken Sie, daß ich zu meiner Mutter gelaufen bin und ihr erzählt habe, wie mir Herr Specht einen heimlichen Kuß gegeben hat?«
»Als ob das Dein erster heimlicher Kuß gewesen wäre!« sagte Charlotte.
»Das habe ich nicht behauptet«, antwortete Anna, seelenvoll wie immer.
Bertha und Charlotte heuchelten Entrüstung.
»Kinder, habt Euch nicht!« fuhr Anna milde lächelnd fort. »Ihr habts gerade so gemacht! Jedes normale junge Mädchen hat als Backfisch mal so was gemacht. Du auch, Bertha, und von Dir, Charlotte, weiß ichs sogar bestimmt. Du hasts mir ja selbst erzählt, mein Engel! … Und Sie auch, Fräulein Metzler! Gestehen Sies nur! Jawohl, Sie auch!«
Elisabeth hatte während dieser Ungeheuerlichkeiten wie auf Kohlen gesessen, und ihre Befangenheit durch reichliche Einnahme von Tee und Brödchen zu ersticken versucht.
»Sie brauchen nicht rot zu werden. Wir sind abgebrüht und können einen Puff vertragen. Wir gehören zur Moderne, und wenn wir gereizt werden, tragen wir Reform, ohne dessous! Also heraus mit der Sprache! Wie war's mit dem ersten Kuß? Das müssen Sie uns erzählen!
»Ach ja! Bitte, bitte!« unterstützten Charlotte und Bertha die Rädelsführerin. »Wir sind ja so furchtbar neugierig!«
»Und Diskretion Ehrensache!« fügte Anna hinzu. »Wie war's? Und wer war's? Ein Kadett oder der Sohn vom Pastor?«
»Aber, gnädige Frau! …«
»Na, Einer muß es doch gewesen sein! … Und wo war's? Auf dem Hausflur, hinter der Tür? Oder im Freien, bei einer Biegung des Wegs? … Was? …«
»Aber, gnädige Frau, das gehört doch nicht zur französischen Sprachlehre!«
»Na, wenn schon – es ist doch viel netter! … Sie brauchen sich gar nicht zu genieren. Wir sind ja lauter Erwachsene, keine dummen Puten aus dem Pensionat. Und da fällt mir gerade ein, Fräulein, ist das wahr, was man sich von den Mädels im Sacré-Coeur erzählt? Daß sie das Wort »Liebe« überhaupt nicht aussprechen dürfen und jedes mal, wenn es in einem Gedicht oder so vorkommt, statt » amour« » tambour« sagen müssen? Ist das wahr?«
»Davon ist uns nichts bekannt«, versetzte die Lehrerin mit würdevoller Gemessenheit. »Ich sollte übrigens meinen, daß es jetzt Zeit wäre abzubrechen und uns endlich mit dem zu beschäftigen, was mich hierher geführt hat.«
»Dazu ist es heute wirklich zu spät geworden!« warf Charlotte ein, nachdem sie einen Blick auf die Pendule geworfen hatte. »Zehn Minuten vor 5. Wir essen um halb 6. Ich muß also um pünktlichen Schluß bitten. Übrigens betrachteten wir die heutige Stunde, für die wir Ihnen sehr dankbar sind, als Einführung. Mit dem subjonctif beschäftigten wir uns heut über acht Tage bei Frau Anna Specht. Einverstanden?«
Elisabeth neigte schweigsam zustimmend den Kopf.
»Na, Fräulein«, nahm Anna noch einmal das Wort. »Es bleiben uns immer noch acht Minuten; in acht Minuten kann man viel erzählen … Also, wie war's? … Ich finde es geradezu kränkend, daß Sie uns Ihres Vertrauens nicht für wert halten und sich in tiefes Schweigen hüllen.«
»Ich habe nichts zu verschweigen, weil ich nichts zu sagen habe«, entgegnete Elisabeth ruhig.
»Das wäre ja schrecklich! Furchtbar! … Das kann doch so nicht weiter gehen! … Weihnachten steht vor der Tür! Ich baue Ihnen was auf, das Ihnen Freude machen soll!«
»Sie sind viel zu gütig.«
Charlotte erhob sich, um Fräulein Metzler den Aufbruch zu erleichtern.
»Also, liebes Fräulein, es bleibt dabei: heut über acht Tage …«
»Tauenzienstraße 25«, ergänzte Anna.
Die Lehrerin packte die Grammatiken von Noël-Chaptal und Ploetz wieder in ihren verschlissenen Pompadour und wandte sich der Tür zu.
»Ich krieg's doch heraus!« rief ihr Anna nach. »Ein Lehramtskandidat oder der Sohn vom Pastor …«
»Ich empfehle mich, meine Damen!«
Charlotte drückte der Scheidenden freundlich die Hand, Elisabeth verbeugte sich hölzern und ging.
Die drei lachten, als sie allein waren, während die Lehrerin traurig und fröstelnd an der Ecke auf die Elektrische wartete. Der Gedanke an das Honorar von 30 Mark wirkte versöhnlich.
Die beiden andern hatten sich nun auch zum Abschied erhoben. Anna stand vor dem Spiegel.
»Fürs nächstemal habe ich mir was Ulkiges ausgedacht – eine Überraschung, über die Ihr Euch wirklich amüsieren werdet. Ich baue ihr was auf.«
»Was denn?«
»Ich sag's Euch nicht! Ich will Euch ja überraschen.«
»Unsinn! … Was willst Du ihr aufbauen?«
Anna zog den Schleier vors Gesicht und drückte ihn mit den komisch vorgeschobenen Lippen vom Munde ab. Mit der treuherzigen Gelassenheit, die sie nie verließ, antwortete sie ruhig und leise:
»Den schönen Otto.«
*
Mit sehr viel geringerer Spannung sahen die Damen der zweiten französischen Stunde am 10. Dezember entgegen. Es kam ihnen so vor, als ob für den Spaß die erste und bisher einzige Stunde eigentlich schon recht reichlich bemessen war. Sie hatte sie zwar nicht enttäuscht, aber in der Wirklichkeit war's doch anders geworden, als man es sich gedacht hatte. Es ging eben nicht an, daß vernünftig gewordene Menschen kindische Gelübde halten sollten. Die holde Jugendeselei war davongezogen, und die nüchterne Reife, die plump an ihre Stelle gerückt war, versagte dem unflüggen Unterfangen ihren Segen. In das helle Kichern über das Gelingen des Racheplans mischten sich mißlautend sentimentale Vorwürfe, die den Gewissensbissen recht ähnlich waren.
Eine Steigerung war von der Fortsetzung des Scherzes keinesfalls zu erwarten, eine Abschwächung erschien vielmehr unausbleiblich. Anna hatte es in der ersten Stunde schon toll genug getrieben. Sollte das nun so weiter gehen? Das würde auf die Dauer doch recht monoton, recht langweilig werden. Und schließlich – als übermütigen Einfall konnte man sich die Sache allenfalls einmal gefallen lassen, als chronische Einrichtung hätte sie unbedingt etwas Geschmackloses, ja Rohes. Drei gegen eine, und drei so starke Verbündete gegen eine wirtschaftlich so Schwache! Es wäre die Verneinung jeder anständigen Gesinnung.
Und die Arme tat ihnen auch leid. Du lieber Himmel, was hatte sie ihnen denn groß Unrechts getan? Sie waren schlechte Schülerinnen gewesen; die ernste Lehrerin hatte über die fidelen Sünderinnen die schulmäßigen Strafen verhängt. Das war ganz in der Ordnung. Keinesfalls war's ein Grund, um nach zwölf Jahren ein armes, wehrloses Geschöpf in boshafter Weise zu martern. Und auf zehn Stunden hatten sie sich verpflichtet! Daß das törichte Programm im vollen Umfange durchgeführt werden könne, daran war gar nicht zu denken.
Das war Gedankengang jeder Einzelnen. Ohne daß sie sich inzwischen getroffen hatten, sagte sich jede von ihnen ganz dasselbe. Jede Einzelne überlegte sich, wie der dummen Geschichte mit einigem Anstand ein Ende gemacht werden könne. –
Anna war recht verdrießlich. Ihr gefürchteter Mittwoch war nun da. Sie hatte es nicht gewagt, unter dem Vorwande ihrer üblichen Migräne, die sie nur dem Namen nach kannte, abzusagen. Und sie hatte die Torheit begangen, den schönen Dr. Otto Ellmers wirklich einzuladen, um die arme Elisabeth Metzler mit ihrem sündigen Kollegen zu überraschen; und ihren Jungen hatte sie obenein noch eine sinnreiche Ovation eingedrillt. Es war schrecklich.
Die Morgenpost brachte ihr folgenden Brief:
»NW Marienstraße, 9. Dezember 1902.
Hochverehrte gnädige Frau!
Es wird mir eine Auszeichnung sein, Ihrer so gütigen Einladung zum half past three o'clok-tea pünktlich Folge leisten zu dürfen.
Mit ergebenstem Dank
verehrungsvoll
Dr. Otto Ellmers.«
In der Mittagsstunde brachte ein Diener einen zweiten Brief. »Eilig.«
»Mittwoch früh.
Liebste Anna!
Es tut mir schrecklich leid, aber ich kann heute nicht kommen. Mein Mann hat sich erkältet, ich muß ihn pflegen. Er ist so verwöhnt! Entschuldige mich, auch bei Charlotten, und grüße sie. Treib's mit unserem armen Fräulein nicht gar zu toll. Bitte, gib ihr die einliegenden 100 Mark, das Honorar für die 10 Stunden. Zu Weihnachten wird Sie's vielleicht gut brauchen können.
Auf baldiges Wiedersehen … vielleicht am nächsten Mittwoch bei mir. Na, darüber unterhalten wir uns noch telephonisch.
Deine alte Freundin
Bertha.«
Um ½3 brachte ein anderer Diener einen dritten Brief.
»Eilt sehr!«
Liebste Anna!
Sei mir nicht böse! Meine Migräne! Ich kann kaum aus den Augen sehen. Unmöglich, den Fuß vor die Tür zu setzen Die einliegenden 100 Mark, das Honorar für Frl. Metzler, hast Du wohl die Güte, dem armen Fräulein zu übergeben. Hast Du ihre Zwirnhandschuhe gesehen? Zu Weihnachten wird ihr ein kleiner Zuschuß gewiß angenehm sein. Entschuldige mich bei ihr und besonders auch bei Bertha, die ich herzlich grüße. Ich kann nicht mehr. Meine Migräne! Ich umarme Dich
Deine aufrichtige
Charlotte.
Du! Schone das arme Fräulein! Die Quälerei hat wirklich keinen Sinn mehr. Darüber sprechen wir noch – vielleicht am nächsten migränefreien Mittwoch, wenn nicht schon früher.
Die Deine.«
Anna war nun nicht mehr verdrießlich. Sie lächelte sogar. Als sie den letzten Brief gelesen hatte, setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schrieb in ihrer großen, schöngebildeten, englischen Handschrift die folgenden Zeilen:
»10. Dezember 1902.
Sehr geehrtes Fräulein!
Die heutige Stunde muß leider ausfallen. Ich habe einen heftigen Migräneanfall, und meine Freundinnen sind gleichfalls verhindert. Verzeihen Sie, daß es mir nicht möglich gewesen ist. Sie rechtzeitig zu benachrichtigen. Die Migräne kommt eben unangemeldet. Da solche unerwarteten Störungen doch öfter eintreten können und wir voraussetzen, daß sie gerade wie wir in diesen Tagen vor Weihnachten keine säumigen Schuldner haben mögen, bitte ich Sie, in unser aller Namen mir zu gestatten, mit herzlichem Dank das für unfern Kursus vereinbarte Honorar im Betrage von 300 Mark diesen Zeilen beizufügen. Und noch um eines möchte ich Sie bitten: Wenn ich Sie am letzten Mittwoch durch einige übermütige, aber wirklich nicht böse gemeinte Scherze irgendwie verletzt haben sollte, so verzeihen Sie es mir. Wie ein ungezogenes Kind, das sich vornimmt, wieder artig zu werden, sage ich Ihnen – und diesmal recht ernsthaft: ich will's nie wieder tun!
Ihre ergebene alte Schülerin
Anna Specht.«
*
Mit militärischer Pünktlichkeit, um ½4, ließ sich Herr Dr. Otto Ellmers melden. Anna empfing ihn mit unwiderstehlicher Liebenswürdigkeit.
»Sie können mir einen Dienst erweisen«, sagte Anna, als sie im kleinen Empire-Boudoir dem nicht mehr schönen Otto lächelnd gegenübersaß.
»Ich stehe vollkommen zu Ihrer Verfügung, gnädigste Frau«, versetzte Ellmers mit dem süßen Lächeln, das sie einst bezaubert hatte.
»Ja … es ist am Ende nicht so leicht, wie Sie denken … Darf ich mit Ihnen ganz frei und offen sprechen, wie eine gläubige Sünderin zu ihrem Beichtvater?«
»Ich wüßte mir kaum ein dankbareres Amt zu wünschen.«
»Also … ich erwarte Fräulein Metzler …«
Ottos Augen leuchteten freudig auf.
»Fräulein Metzler? … Das ist ja charmant! Ich habe lange nicht die Freude gehabt, sie zu sehen. Die Dame ist mir immer so sympathisch gewesen.«
»Das trifft sich ja gut! … Nun hören Sie bloß, was wir mit der vorgehabt haben!«
Und in voller Ehrlichkeit erzählte ihm nun Anna die ganze Geschichte, von den durch das imparfait du subjonctif verdorbenen Ferien und dem Racheschwur mit Apfelkuchen an bis zur letzten Begegnung am vorigen Mittwoch und allen Teufeleien.
»Ei, ei!« warf der schöne Otto mit mißbilligendem Kopfschütteln einmal um das andere ein.
»Ja, lieber Doktor,« bekannte Anna de- und wehmütig, »nous étions, en effet, bien ruppig! Aber wir haben unser Unrecht eingesehen, wir bereuen es und wollen der Sache ein Ende machen. Mir wäre es aber geradezu schrecklich, wenn ich dem Fräulein das sagen müßte, was ich Ihnen gesagt habe. Und nun kommt meine Bitte, groß und schwer! Würden Sie die unendliche Liebenswürdigkeit haben, mir diese Unannehmlichkeit abzunehmen? Empfangen Sie Fräulein Metzler, sagen Sie ihr die volle Wahrheit, schonungslos, aus uns brauchen Sie gar keine Rücksicht zu nehmen, sagen Sie ihr … sagen Sie ihr … na, Sie werden ja viel besser wissen, was Sie zu sagen haben, als ich's Ihnen sagen könnte! Wollen Sie das, lieber, liebster Herr Doktor?«
Ottos Lächeln hatte sich wieder eingestellt mit verdoppelter Süßigkeit.
»Herzlich gern, gnädige Frau! Ich bin Ihnen wahrhaft dankbar für das Vertrauen, das Sie durch einen so delikaten Auftrag mir bekunden.«
»Sie sind zu nett, lieber Doktor! Und noch eins: Bitte, geben Sie dem Fräulein diesen Brief, in dem wir unser Ausbleiben entschuldigen … Nun bekomme ich meine Migräne, drücke mich und lege mich ein Stündchen in die Baba! … Sie glauben nicht, wie dankbar ich Ihnen bin!«
»Fräulein Metzler«, meldete der Diener.
»Bitte, in den Salon.« Der Diener entfernte sich. »Die Türe da!« wandte sich Anna wieder zum schönen Otto, aus die Tür rechts weisend. »Ich schicke Ihnen Tee, Kuchen und die Jungen … Auf in den Kampf, Torero!«
Er küßte die ihm dargebotene schmale Hand, lächelte süß und trat in den Salon ein. Anna zog sich in ihr Schlafgemach zurück.
*
Als der Diener den Tee brachte, saß Fräulein Metzler mit strengem Ausdruck auf dem Sofa in lebhaftem Gespräch mit dem Doktor, der sich auf den Sessel ihr gegenüber niedergelassen hatte.
Als eine Viertelstunde später das Kinderfräulein mit dem Jüngsten auf dem Arm eintrat, gefolgt von den drei älteren Jungen in neuen Matrosenanzügen, die strammen Schritt hielten, saßen die beiden dicht neben einander auf dem Sofa, lächelten und schwiegen. Sie erhoben sich schnell und traten an die niedlichen Kinder heran. Die Jungen schenkten aber den Kuchentellern eine größere Aufmerksamkeit als den Gästen. Sie bekamen auch richtig eine gehörige Portion und ließen sich um diesen Preis die Liebkosungen gleichmütig gefallen. Als sie mit ihrem Kuchen fertig waren, nahmen sie hart an der Tür Ausstellung in Front.
Der Älteste kommandierte: »Eins, zwei, drei!« Und nun setzten die beiden andern ein, und alle drei riefen, scharf rhythmisch skandierend, langsam und überlaut: »Onkel und Tante Ellmers Hurra! Hurra! Hurra!!«
»Kehrt!« schrie der Älteste. Sie marschierten ab. Das Kinderfräulein folgte lächelnd mit dem plärrenden Baby, das sich vor dem Kindergebrüll ängstigte.
»Die ahnungsvollen Engel, die!« säuselte der schöne Otto mit dem allersüßesten Lächeln, beugte sich über Elisabeth und drückte aus ihre jungfräuliche Stirn einen langen Kuß …
Am ersten Feiertage stand unter den Familiennachrichten folgende Anzeige:
Elisabeth Metzler,
Verlobte. |
Anna strahlte, als sie das las, und schob das Blatt triumphierend ihrem Manne hinüber, der sich nach dem Morgenkaffee gerade seine Zigarre anzündete, eine Weihnachtszigarre von Anna.
»Den hab' ich ihr aufgebaut!« rief sie stolz.
»Was Du für Weihnachtsgeschenke machst« … erwiderte der gefühllose Baumeister gemütlich. »Mit der Zigarre haben sie Dich wieder gründlich reingelegt … Wohin willst Du denn?«
»Ich will Bertha und Charlotte antelephonieren … Die Zigarre kannst Du übrigens umtauschen.«
»Tu' ich auch.«