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Miltons Töchter

Das junge Mädchen schlug plötzlich halb die Augen auf, ohne ihre Haltung durch eine andere Bewegung zu verändern, und blickte aus ihren Augen voll sanfter, rührender Melancholie starr vor sich hin. Dann begann sie mit matter Stimme:

»Mutter, wenn ein Mann altersschwach wird und sein Geist erlahmt, wenn er launisch und unlenksam wird, wenn er nicht mehr imstande ist, den Seinen oder irgendwem zu nützen, wenn seine greisenhafte Eitelkeit, deren Selbstgefälligkeit die Vorübergehenden zum Lachen bringt, beim Nahen einer zweiten Kindheit ersichtlich zunimmt, ist es da sündhaft, zu Gott zu flehen, daß er ihm Barmherzigkeit erweise ... die Barmherzigkeit, ihn sobald wie möglich abzuberufen, empor zum Licht ... zum ewigen Leben? ...«

Die alte Frau wandte mit einem Schauder den Kopf ab und antwortete nicht. »Mir kommen wirklich ganz gefährliche Einfälle,« fuhr Deborah Milton mit der gleichen sanften, hellen, schleppenden Stimme fort, »und es wird mir manchmal schwer, nicht von hier zu entfliehen – um bald wieder zu kommen und dir Hilfe zu bringen, Mutter! Dir Brot und Feuer darzubieten. Was tut's, um welchen Preis ich es bekäme!«

»Schweige. Das verhüte Gott! Das ewige Seelenheil durch Glauben und Prüfungen zu erringen suchen und niemals zu murren, das ist's, was man tun muß.«

»Aber ... ich bin zwanzig Jahre alt; das vergissest du wohl, Mutter!«

»Morgen, morgen ... Du wirst so alt werden wie ich. Du wirst sehend werden, wenn du so weit bist.«

»Heute abend ist nicht morgen.«

»Schweig!«

Pause.

»Du bist schön. Du heiratest einen jungen Edelmann ... hoffe nur, meine Tochter.«

Bei diesen Worten erhob sich Deborah Milton mit kalter, strenger Miene und blieb so stehen.

»Einen jungen Edelmann! Ach, ich will nicht lachen zwischen diesen blutroten Mauern! Welcher Edelmann nähme wohl zur Frau die Tochter eines alten brotlosen Reimschmieds, der für den Tod seines Königs gestimmt hat? Ich hoffe noch nicht mal auf einen ... armen Geistlichen; denn auch diesen würde die Furcht vor der Mißachtung des niedrigsten Untertanen Karls II. von mir abwenden ...«

»Dein Vater hat seine Pflicht getan, wie sie sein Gewissen ihm vorschrieb ...«

»Solche gewissenhaften Leute sollten nur keine Kinder haben!« murmelte das junge Mädchen.

»Deborah, du bist grausam gegen ihn wie gegen andere ...«

»O Mutter, verzeih' mir ...«

Sie schlug mit ihrer Hand leicht auf den bloßen Tisch.

»Es ist auch schrecklich, alles das! Immerfort diese Träume ... Himmel ... Engel, Dämonen, die Ähnlichkeit mit Wolken haben! Und der Ton, in dem sie reden! Alles aufgeputzt mit dem Geklingel ihrer tönenden Reime. Das läßt einen an der Wirklichkeit zweifeln, die sie darstellen sollen: da schweigt sie, die wirkende Wirklichkeit. Es verlohnte sich fürwahr, blind zu werden, um in der ewigen Dunkelheit immer nur hohle Phantome vorüberziehen zu sehen. Der Glaube wird durch eine allzu klangvolle Phrase verleugnet; sie lenkt die Aufmerksamkeit auf sich selber und zieht den Geist von dem, was sie ausdrücken will, ab. Man sagt »ich glaube«, und das genügt. Aber Himmel und Hölle schildern! Und das irdische Paradies! Und die Geschichte des unglücklichen Menschenpaares, von dem wir alle abstammen! O, unerträgliches Geklingel von leeren Worten! Hohles Schaffen! Und da müssen wir, meine Schwester und ich, uns vorspannen zu dieser Arbeit! Stumm dasitzen und diese unsinnigen Reden niederschreiben! Manchmal eine Stunde lang dasitzen und auf die Verse warten, die oft gleich wieder ausgestrichen werden ... Und wenn wir über dem Papier einschlafen und dann hungrig wieder aufwachen – dann geht's weiter mit der Feder und immer wieder Schwarz auf Weiß ... und so unsere Jugend vertun und vernichten ... wo es doch drunten in London gutes Unterkommen gibt, reich besetzte Tafeln und schöne junge Männer – die uns mit Freuden willkommen hießen!«

Sie schwieg.

»Das sind schlechte Gedanken. Du mußt dich fügen.«

»Worte, Worte! Du hast Hunger, ich habe Hunger! ... Das ist die Wahrheit.«

»Auch er hat Hunger, aber er klagt nicht, und sein Leiden ist dadurch noch gemehrt, daß er euch in Not weiß, deren Anlaß er selbst ist.«

»Bah! Er hat zwei Dinge, die ihn sättigen: den Stolz und den Glauben! Die Dichter sind Wesen, die eine Zerstreuung als Lebenszweck ansehen und ihrer Umgebung und der Leiden, die dieser daraus erwachsen, nicht achten! Sie berührt nichts! Sie leben in ihren Träumen! O Eitelkeit! Wenn man bedenkt, daß er sich einbildet, das »Verlorene Paradies« werde im Gedächtnis der Nachwelt fortleben und es beherrschen! Lächerlich! Der Buchhändler wird nicht soviel dafür zahlen, wie das Papier gekostet hat, das er anstatt unseres Brotes gekauft hat. Wir werden bald in Lumpen gehen, aber er ist blind und stolz auf seine Verse, nicht auf seine Töchter! Und roh genug, uns zu schlagen! Nein, es ist zu viel; ich gehorche nicht länger!«

»Und was soll er tun?«

»Nicht mehr sein! Dann könnte man einen andern Namen annehmen, leben! Meine Schwester ist hübsch, und ich bin schön. Was weiter?«

»Kind, und deine Ehre? Wie du davon redest!«

Die Ehre der Töchter eines alten Königsmörders! ... Eines, der dazu beigetragen hat, den zu töten, der allein diesem Worte Sinn verleiht! – Du scherzest, Mutter. Wir haben Anspruch auf Rechtschaffenheit, das ist alles ... Man erbt alles, Gutes wie Böses, von denen, die uns erzeugen ... Es wäre bemitleidenswert, wollten wir von »unserer Ehre« sprechen vor Leuten, die das Recht haben, darüber zu urteilen, und auf deren Urteil man allein etwas geben muß.«

»Du redest, wie er reden würde, wenn er dächte wie du. Aber er ist von den Männern, die das, was du eben sagtest, belächeln würden.«

»Die wären dann nichts weiter als Lügner; das allein würde mich der Notwendigkeit entheben, sie zu überzeugen, unter ihrem Tadel zu leiden oder mich ihres Lobes zu rühmen. Man sieht sie an ... sie sind vernichtet ... und damit ist's zu Ende.«

»Ich denke, wir könnten vielleicht Mister Lindson um etwas Geld anborgen, so wenig es auch sei. Wir haben bisher noch nie was von ihm verlangt.«

»Jawohl, ich glaube, er sucht schon nach einem Vorwand, uns nicht mehr zu kennen, und er wagt es doch nicht, ohne einen Grund so feige zu sein. Er wird uns etwas geben in der Überzeugung, daß er es nie zurückerhält, und dies Bewußtsein wird ihn ermächtigen, uns fortan nicht mehr zu sehen. Aber du hast recht. Soll ich hingehen? Allein oder mit dir? Uns nicht mehr kennen? Dies Recht wird er sich gern erkaufen – ich denke für zwei Taler.«

Die Alte blickte zum Fenster hinaus.

»Da geht eben Mister Lindson ... man könnte vielleicht ...

»Ich gehe.«

Emma trat ein, mit einem schweren Bündel Holzabfälle beladen.

»Da.«

Emma Milton lief nach dem Brotschrank, öffnete ihn, suchte hinter den irdenen Schüsseln und warf dann beide Türen mit einem Krach wieder zu.

»Was, nichts? ... wo ist das Brot?«

Schweigen.

»Deine Schwester ist gegangen, etwas zu holen.«

»Ah! Hat der Buchhändler was gegeben?«

»Nein, sie ist zu Mister Lindson gegangen, um ihn anzuborgen ...«

»Ja? Es ist aber doch gar nicht sicher, daß er etwas hergibt.«

Deborah trat wieder ein.

»Zwei Schilling.«

Die Alte verbarg ihr Gesicht.

Nach einem Augenblick des Schweigens:

»Es ist Gott, der sie uns gibt. Danken wir ihm für seine Barmherzigkeit, und fügen wir uns. Morgen wird er uns mehr geben.«

»Es ist fast ein Almosen,« sagte Emma.

»Nein,« entgegnete Deborah, »es ist weniger als das ... Ich werd' es dir erzählen.«

»Gib nur; ich laufe schnell und hole was zu essen.«

Sie geht.

* * *

Milton erschien.

Der Greis tastete sich mit Hilfe seines Stockes an den Wänden entlang. Sein Antlitz mit den strengen Linien, durch Kummer gebleicht, seine mächtige Stirn, von drei geraden, langen Runzeln durchfurcht, seine erloschenen Augen starr, sein Kopf von mystischer Vornehmheit des Schnittes, die dichten, herabwallenden Haare in der Mitte gescheitelt ... Ein altes Wams aus kastanienbraunem Samt und ein ebensolches kurzes Beinkleid, und ein großer schmutzig-weißer Kragen, von zwei Quasten zusammengehalten, Schnallenschuhe und Puritanerhut aus Cromwells Zeit.

Er trat näher.

»Ihr seid hier, nicht wahr?« fragte er.

Zuerst keine Antwort.

»Ja, mein Lieber,« sagte schließlich die Alte. Deborah zuckte die Achseln, Emma lächelte.

»Vorwärts also, aber schreibt leserlich, oder ich ... Vor allem ändert die Worte nicht, die mir kommen, und unterbrecht mich nicht, wenn ich keine Pause mache ... Ihr habt die Sucht, mir Worte einzuflüstern, die mir gut erscheinen, wenn Ihr sie sagt, weil sie mich überraschen ... die aber ganz hohl und inhaltslos klingen, wenn Ihr sie mir vorlest! Das Wort, das alleinstehend nicht passend erscheint, ist im Zusammenhang oft das richtige; denn in Wirklichkeit gibt es keine Worte. Der einzig wahre Dichter ist der, der seine Gedanken nur großartig herausbellen kann, manchmal auch heulen, oft auch donnern ... Aber man vernimmt ihn nur im Sturmesbrausen ... Um so schlimmer für die, die die Sprache jenes Landes nicht verstehen, aus dem der Hauch der Ewigkeit meine Verse durchweht.

»Und um dann das Schnurren der Verse wieder wegzuschaffen, die Bilder, die Ausdrücke, die gedrechselten Wendungen, die Bewegungen der Gedanken ... das geht wie nichts, ohne daß man es weiß! Und mit einem bißchen Geschicklichkeit kopiert man nicht, man äfft nach. Und man bedient sich dieser Geschicklichkeit für irgendwelche Albernheit, die unbemerkt vorübergehen müßte, wenn sie nicht heuer die Aufmerksamkeit auf das Werk richtete, von welchem die hohle Seifenblase ausgeht ... und welches das einzig bezahlte ist; denn die hohle Welt bezahlt und beachtet nur das Leere ... Was tut's? Der Gedanke allein wird leben. Die Worte verändern sich rasch und kommen aus der Mode, der Gedanke allein wird leben – denn auf dem Grunde der Dinge gibt es weder Worte noch Phrasen noch irgend etwas andres als das, was diese Hüllen belebt! Der Gedanke allein wird erscheinen ... der Eindruck des Werkes wird allein bleiben. Unter diesen sogenannten Poeten komme ich mir vor wie ein Lebender unter Toten, ein Mensch unter Affen, ein von Ratten verschlungener Löwe. Jesus Christus hat mir den Pfad gewiesen; ich weiß, wie die Menschen einen Gott behandeln. Ich werde das Geschick der Propheten teilen. Ich füge mich darein, daß die Menschen über meine Armut spotten ... Denn wäre ich reich – ach, welchen großen Dichter würden sie in mir erkennen! Den Nebenbuhler mindestens von Mister Tom Craik, Verfasser des ... der unsterbliche Name ist mir entfallen ...

»Vorwärts! Mein Gott, wie weh ist mir im Magen! Aber das ist vielleicht etwas Hunger? Vorwärts, das macht nichts. Überdies müßt ihr auch nüchtern sein, meine Töchter, ihr auch ... Also laßt uns Gott preisen. Die Heiligen aßen nur wenig ... Diese Unbequemlichkeit ist nicht so peinlich wie der verdorbene Magen derer, die uns durch ihre bösen Streiche das Notwendigste stehlen ... Schreibt ... Warum antwortet ihr nicht? Seid ihr wenigstens da?

»Wir können sie nur beklagen, daß sie so dumm gewesen sind, sich den Magen zu verderben durch ihr Lachen über unseren Hunger! Jedem das Seine! Das sind Menschen, die nichts Süßeres kennen, noch Unterhaltsameres, als ihren Brüdern das Brot zu stehlen, um zu hohnlachen, wenn sie uns aus Mangel an Nahrung abmagern sehen. Sie vergessen dabei nur eins: daß es ebenso lächerlich ist, am verdorbenen Magen zu sterben wie an Hunger, an Dickleibigkeit wie an Magerkeit – und daß sie einst sterben werden, ohne zu lachen – selbst über uns.

»Meine Tochter, ich bitte dich, ich flehe dich an, laß mich nicht mehr von anderen Dingen sprechen. Gehorche mir! Ich bin dein Vater? Sieh, ich liege dir zu Füßen!«

»Vater, welche Überspanntheit! Ist das vernünftig, was du jetzt tust? – Wenn man etwas Derartiges von dir sieht, wie kann man da wohl glauben, daß du dich deines vollen Verstandes erfreust, der doch so nötig ist, um lesbare Sachen diktieren zu können, wie zu der Zeit, da du noch selber schriebst? ... Glaub' es mir! Es ist im Interesse deines eigenen Ruhmes, wenn wir dich anflehen, dich zur Ruhe zu legen.«

»Ah, grausames Kind! Sei ... doch nein, ich will niemanden verfluchen ... nicht einmal die, welche ... Wisse, daß dies der Hauch Gottes ist! O Säuseln von Gottes Odem! O Elend göttlicher Demut! Auf den guten Willen dieser Frauenzimmer angewiesen zu sein, auf daß man in meinen Werken den Odem Gottes verspüre! ... Sieh, Greis, wie dein Werk ...«

Die Mädchen waren verschwunden – wie stets rebellisch gegen den jähzornigen Greis.

In der Dunkelheit tastend, erreichte er die Lehne eines Sessels, der nahe am Tische stand. Er setzte sich, stützte sein Haupt in die Hände und schloß die Augen.

Und plötzlich erklang Miltons Stimme langsam und feierlich. Er sagte:

»Sei gegrüßt, heiliges Licht, erstgeborene Tochter des Himmels ...«

Und nun kam ein Hymnus, wie es seit Geschlechtern nicht erhört ward.

Es war ein Ausbruch von Bildern und Gestalten, durch die sich die Gedanken wie mächtige Blitze entluden – und seine Stimme, der späten Nachtstunde nicht achtend, erklang tief, vibrierend, melodisch! Ein Engel senkte sich auf seine Begeisterung herab; denn es war fast, als hörte man das Rauschen von Flügeln in den heiligen Worten, die er sprach. Und die Spitzen der Bäume des Gartens Eden erglänzten in den Strahlen vergangener Morgenröte, und Eva erhob ihren Morgengesang, an den ersten Quellen betend, und neben ihr betete der ernste, unbefleckte Adam schweigend an. Und der bläuliche Schimmer der Schlange, die sich um den Baum der Erkenntnis ringelte, und der Eindruck der ersten Versucherin unseres Geschlechtes – oh, das alles sang und klang in der Verklärung des Sehers.

Bei diesen Klängen von schier überirdischem Hauche erschienen die drei Frauen in ihren Nachtgewändern, in der Unordnung des ersten unterbrochenen Schlafes, an der Tür des Gemachs, worin der Seher in der Einsamkeit, von tiefen Schatten umgeben, die himmlischen Dinge kündete. Die eine hielt eine Lampe, die sie mit den Händen gegen den Luftzug der Finsternis schützte, und sie lauschten seinen Worten.

»Vater, wir sind hier! Wir suchen dir zu folgen, aber du sprichst zu rasch, wir können nicht so schnell schreiben. Das, was du sagst, klingt diesmal wirklich sehr gut, das muß ich sagen ... Wenn du noch einmal anfangen wolltest, ohne dich so fortreißen zu lassen, und langsam sprächest ... vielleicht ...«

Langes Schweigen herrschte, und Milton schauderte tief; dann seufzte er leise:

»Ach, nun ist's zu spät, ich hab' es vergessen.«


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