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Es mögen jetzt zwei Jahre her sein, daß ich zum zweiten Mal in der Pinakothek in Verona stand und mein Schicksal aus dem lächelnden Gesicht von Morones Miseratrix virginum Regina zu lesen suchte. Ich fand – was jeder halbwegs vernünftige Mensch zu finden erwartet hätte – ganz denselben Ausdruck in dem gemalten Gesicht, der mich zwei Monate früher, als ich die vorstehenden Seiten zu schreiben begann, so sehr geärgert hatte. Da ich aber in jenen Tagen ganz und gar nicht vernünftig war, nahm ich der armen zerschlagenen Madonna Mangel an Teilnahme als einen Wink und ein Zeichen an, ging heim und traf die nötigen Vorbereitungen, um diese Welt für immer zu verlassen.
Vor zwei Jahren! Erst seit den letzten Monaten kann ich auf diese furchtbar schwere Zeit in Verona mit philosophischem Gleichmut zurückblicken. Und heute morgen war ich zum ersten Mal wieder in einem Gemütszustand, in dem ich meinem früheren Ich so objektiv gegenüberstand, daß ich ohne Herzweh die Erinnerungen an die vergangenen Tage aufschreiben konnte. Ich sitze auf der Plattform eines Hauses in Mogador an der marokkanischen Küste; ein Zeltdach schützt mich vor der grellen afrikanischen Sonne, die in Myriaden von glänzenden Punkten auf dem Meere dort draußen über den Häusern weg funkelt. Gestern abend war die Atmosphäre von dem erschlaffenden, unbeschreiblichen und unvergeßlichen Geruch des Ostens etwas drückend gewesen; aber morgens weht eine köstliche Brise vom Atlantischen Meer herein, und die Luft ist herrlich frisch und durchsichtig klar. Die würfelförmigen weißen Häuser und die Kuppeln der Moscheen heben sich scharf ab von einem gleichmäßig tiefblauen Himmel. Weit weg ist der Hafen mit seinem geschäftigen Getriebe, der Lärm der Straßen, die gedrängt voll sind mit kornbeladenen Kamelen und ihren schreienden Treibern, mit malerischen, streitenden, schwatzenden, schachernden Mauren, Juden und Arabern aus der Wüste; nichts umgibt mich als der Friede der unermeßlichen Himmelsbläue.
Und dann, als ich gestern nachmittag über den schmalen Streifen Wüstenland, der das »Palmbaumhaus« von Mogador trennt, zurückritt, als die Stadt, die, umflossen von dem violetten Schimmer des Sonnenuntergangs, sich wie eine Märchenstadt aus reinem weißem Schnee von dem ruhigen tiefen Blau des Golfs abhob – da ereignete sich etwas.
Und am Abend ereignete sich dann noch mehr!
Also vor zwei Jahren stand ich in Verona auf dem Punkt, meinem unnützen Leben ein Ende zu machen; ich konnte nicht einsehen, wozu ich noch leben sollte. Meine Theorie über mich selbst in Beziehung zum Kosmos war durch wirkliche Ereignisse umgeworfen worden, ohne daß sich mir eine andere auf sicherer Grundlage aufgebaute Theorie dargeboten hätte. Aber, fragte ich mich, wozu leben ohne Theorie? Schon jetzt führte ich ein Leben ohne Zweck, ohne Arbeit, ohne Freunde, ohne Judit und ohne Carlotta. Ohne wenigstens eine Theorie, die mich trösten könnte, würde es ganz unerträglich sein. Es gibt freilich Wesen, die tatsächlich ohne Liebe und ohne Theorieen existieren. Aber diese gehören meiner Ansicht nach in die Kategorie der Tiere, deren Leben mit dem Tode aufhört. Ich überlegte weiter; angenommen, ich fände nach gründlichen Untersuchungen eine neue Theorie, inwiefern würde mir das etwas nützen? Inwiefern könnte ich ihr trauen, daß sie mich nicht durch eine neue Reihenfolge phantastischer Erregungen und nutzloser Bestrebungen führte, deren höchste Stufe der Mord einer einäugigen Katze wäre? Selbstverachtung und Abscheu erfüllten mich, als ich an den armen Polyphem dachte, an den Augenblick, wo dieser vor dem Kamin lag und ich mit dem Schüreisen in der Hand bestürzt und von Gewissensbissen gepeinigt neben ihm stand.
Auf und ab schritt ich in dem großen, kalten Zimmer des Marmorpalastes und machte mir die überwältigende Menge der Gründe klar, die mich zur Selbstvernichtung trieben. Auf einem Tisch in der Mitte des Zimmers stand ein Fläschchen mit Blausäure, das ich mir vor langer Zeit in London verschafft hatte, weil es meine Überzeugung ist, daß jedermann irgend ein sicheres Mittel, diese Welt zu verlassen, stets bei der Hand haben sollte. Oft blieb ich vor dem kleinen blauen Fläschchen stehen – ein Handaufheben, ein Zurückwerfen des Kopfes, und alles wäre vorbei! Schließlich zog ich den Pfropfen heraus, und ein leichter Mandelduft stieg mir in die Nase. Ich korkte das Fläschchen wieder zu und zündete mir eine Zigarette an. Doch schon nach ein paar Zügen warf ich sie wieder weg und trat aufs neue an den Tisch, auf dem der Tod stand. Ein heftiger natürlicher Widerwille, das Zeug zu schlucken, regte sich in mir. »Es ist nichts weiter als Feigheit des Fleisches,« sagte ich mir, und wieder entkorkte ich das Fläschchen. Jetzt erschien mir die Sache in einem andern Licht. »Nur ein Feigling sucht die Pflichten des Lebens von sich abzuschütteln. Wärest du wirklich eine so elende Kreatur, daß du nicht einmal den Mut zu leben hättest?« – »Nein,« antwortete ich, »ich bin tapferen Geistes,« und stellte das Gift wieder hin. – »Bah,« flüsterte neben mir der wohlbekannte Teufel des Selbstmords, »du fürchtest dich nur vor dem Sterben.« Da hatte ich das Fläschchen abermals in der Hand. Aber der andre Versucher brachte einen ebenso triftigen Grund vor, und zum dritten Mal stellte ich das schon entkorkte Glas auf den Tisch.
So stand ich zwischen zwei Feigheiten, von denen ich eine wählen mußte, und unwillkürlich fiel mir Buridans Esel ein. Ich zündete mir eine Zigarette an und durchdachte das Problem. In dem großen, frostigen Zimmer auf und ab gehend, rauchte ich zwei Zigaretten, während der süßliche, fast übelmachende Mandelgeruch immer stärker wurde und den physischen Widerwillen, den mir schon der erste schwache Duft verursacht hatte, noch vermehrte. Ich zitterte vor Kälte, denn bei meiner Rückkehr war das Feuer im Ofen schon niedergebrannt gewesen, und ich hatte es nicht für der Mühe wert gehalten, wegen der paar Minuten, die ich noch zu leben gedachte, nachschüren zu lassen. Mit den beiden Feigheitsbündeln des Esels hatte ich ja noch nicht gerechnet gehabt.
»Aber,« dachte ich, »ich könnte ebenso gut warm hier haben, bis ich zu einem vollständig befriedigenden Schluß darüber gekommen bin, ob es feiger wäre, zu leben, oder zu sterben; es eilt ja gar nicht so sehr.«
Ich nahm eine Reisedecke, mit der ich die Härten eines Ruhebettes à la Louis XV. zu mildern versucht hatte, warf sie über meine Schultern und setzte meinen Pilgerlauf fort. Bald war ich so in mein Problem vertieft, daß ich nicht merkte, wie die Decke allmählich von meinen Schultern herunterglitt.
»Ich tue es!« rief ich endlich und stürzte auf den Tisch zu.
Aber ein heimtückischer Zipfel der Reisedecke hatte jetzt den Fußboden erreicht; ich trat darauf, stolperte und griff unwillkürlich nach dem Tisch, um mich festzuhalten. Der Tisch, ein wackeliger guéridon, verlor das Gleichgewicht, mein offenes Fläschchen Blausäure kam ins Rollen und – lag in hundert Scherben auf dem Marmorboden.
» Solvitur,« sagte ich grimmig, » ambulando«.
Wenn ich jetzt an diesen Augenblick zurückdenke, bin ich sehr geneigt, mich milde zu beurteilen. Ob ich ohne den Zwischenfall das Gift getrunken hätte, kann ich nicht sagen. Die Absicht, es zu tun, hatte ich in jenem Augenblick. Nach der Katastrophe, die ich dem mich verfolgenden Fluch der Erfolglosigkeit zuschrieb, war ich froh, das muß ich gestehen. Nicht als ob mir das Leben anziehender als zuvor erschienen wäre, nein, aber die Entscheidung lag nicht mehr in meiner Macht. Hier in Verona konnte ich nicht die Läden nach Blausäure, einem Revolver oder einem starken Stricke durchstöbern, mein Rasiermesser war, seit Stenson nicht mehr danach sah, barmherzig stumpf geworden, und zu Hosenträgern wollte ich mich doch nicht herablassen. Ich ächzte und stöhnte in allen Tonarten, aber da es nun einmal geschrieben stand, daß ich leben sollte, ergab ich mich in ein erfolgloses, theorieloses Dasein.
Nach Verfluß von ein bis zwei Tagen machte sich der Trieb zum Leben kräftiger bei mir geltend. Eine erleuchtende Offenbarung war mir geworden, und sie erfüllte mich mit wahrer Begeisterung. Nun hatte ich einen Lebenszweck; hinaus in die Welt wollte ich auf die Suche nach einer Theorie. Hatte ich diese gefunden, so sollte mein Leben in den zwanzig oder dreißig Jahren, die ich möglicherweise noch auf diesem Planeten zuzubringen haben würde, ihr entsprechend eingerichtet werden. Ob auch sie mich zur Leiche eines Polyphem führen würde, das müßte ich eben abwarten.
Da ich überzeugt war, daß ich in Italien meine Theorie nicht finden würde, packte ich meine Siebensachen zusammen und verließ Verona. In Neapel lag gerade ein Dampfer der Messageries Maritimes, auf dem ich mich zu einer Rundreise nach der Levante einschiffte. In Alexandretta ging ich an Land, und erkundete den Weg nach der Wohnung des Polizeipräfekten. Zwar einen Besuch machte ich bei Hamdi Effendi nicht, aber ich ging in düsterer Stimmung und mit wehem Herzen um die Mauern herum und hätte gerne gewußt, wo Carlotta damals gesessen hatte, wenn Harry vorbeizukommen pflegte, und sie ihm auf sein Pfeifen dann wie ein zahmer Falke auf die Hand gehüpft war. Es war ein palastähnliches weißes Haus mit einem fest verschlossenen Erker, der auf roh ausgehauenen steinernen Trägern ruhte. An der Rückseite des Hauses zog sich ein großer, mit der obligaten Mauer umgebener Garten hin. Daß Hamdi ein reicher, mächtiger Mann war, und daß Carlotta eine nicht minder feine Erziehung erhalten hatte, als nur irgend eine vornehme Dame in Syrien, war zweifellos. Aber dieses Heim, das Carlottas Kindheit beschützt hatte, sah aus wie ein undurchdringliches Geheimnis. Ebenso verblüfft wie ich oft vor Carlottas Seele gestanden hatte, so stand ich jetzt vor diesem Gebäude. Das Ergebnis dieses Teils meiner Forschungen war die Entdeckung – nicht einer neuen Theorie, sondern eines alten Wehs. Niedergeschlagen kehrte ich aufs Schiff zurück und verursachte da einem der sanftesten Menschen, die ich je kennen gelernt habe, einen großen Kummer. Der Mann war ein hagerer ältlicher Deutscher, der bei jeder Gelegenheit und bei jeder Temperatur einen langen, fest zugeknöpften Überzieher, eine schmale schwarze Halsbinde und einen kleinen blaugrauen Filzhut trug, den eine Rebhuhnfeder zierte, wodurch der ganze Mann etwas Unternehmendes erhielt. Er hieß Doktor Anastasius Dose und führte ein tadelloses Leben, indem er für eine Leipziger Firma, deren Teilhaber er war, auf der Jagd nach seltenen, interessanten Büchern in der Welt herumreiste. Es gibt nämlich bestimmte Ausgaben von Büchern, die eine ebenso bekannte Geschichte haben wie berühmte Juwelen, und deren Erwerbung, die meist außerordentlich viel Takt erfordert, den glücklichen Käufer dann, wie mir Herr Dose sagte, in einen wahren Wonnetaumel versetzt. An dem eben genannten trübseligen Nachmittag brachte Herr Dose ein französisch-italienisches Exemplar der » Synonima« des St. Fliscus herbei. Das Buch war Anno 1480 in Mailand von Simon Magniagus gedruckt, und Herr Dose schlug die Pergamentdecken mit vorsichtigen Fingern auseinander.
»In der ganzen Versammlung menschlicher Atome, die dieses Schiff bevölkern,« sagte er, »befindet sich nur eines, das von Ehrfurcht für die Vergangenheit erfüllt ist und ein Gefühl für den Wert des nur einmal Existierenden hat. Ihnen, Herr Baron, einem solchen Gelehrten wie Sie, brauche ich nicht zu sagen, daß von dem Werk hier nur zwei Exemplare in dieser von Tinte getränkten Welt existieren; das eine ist in der Universitätsbibliothek von Bologna, das andre haben Sie hier vor Augen. Dies ist übrigens das einzige Buch, von dem man sicher weiß, daß Magniagus es gedruckt hat. Sehen Sie nur die schönen kleinen lateinischen Lettern – ein Meisterwerk! Ach, Herr Baron, denken Sie sich den Menschen, der ein solches Meisterwerk vollbracht hat, droben im Himmel unter den hochgelobten Heiligen sitzen und auf die Erde herabschauen in dem Bewußtsein, daß die beiden einzigen Exemplare dieses Werkes von den Auserwählten hochgehalten werden – welch eine Belohnung, welch eine innige Glückseligkeit für ihn!«
Ich blätterte in dem Buch. Ein schwacher Moderduft drang mir entgegen, und plötzlich tauchte die Erinnerung an jenen Geruch von » L'histoire des Uscoques« und die Anlagen des Embankments wieder in mir auf.
»Der › odor di femina‹ in der Nase des Gelehrten,« sagte ich.
» Femina, Weib?« rief er entsetzt.
»Ja, mein Freund,« sagte ich. »Alles, was unter dem Mond vor sich geht, kann auf das Weib zurückgeführt werden. St. Fliscus hat geschrieben, weil er kein Weib hatte; Simon Magniagus hat aufgehört zu drucken, weil er geheiratet und fortan sein Leben dazu angewandt hatte, anstatt den St. Fliscus lieber sich selbst zu vervielfältigen.«
»Das ist ja sehr interessant!« sagte Herr Dose. »Könnten Sie mir wohl das Datum von Magniagus' Hochzeit sagen?«
»Bis zu diesem Augenblick habe ich noch nie etwas von ihm gehört. Aber verlassen Sie sich darauf, entweder war er verheiratet, oder im Begriff, es zu tun, aber seine Braut ging ihm durch, und da hatte er keinen Mut mehr, für die Nachwelt zu drucken, und als er seinen Platz unter den Heiligen einnahm, sagte sie, jene Braut, sie sei recht froh! Er sei ein einfältiger alter Tintenkleckser gewesen!«
Das kostbare Buch fest an sein Herz drückend, verließ der Doktor das Deck. Solche verblümte, irreführende Aussprüche erschreckten ihn wie unanständige Redensarten; und ich hatte seinen Schatz doch nur als eine Art Kleiderhalter benutzt, an dem ich meine Ideen aufgehängt hatte. Es dauerte drei volle Tage, bis er wieder so weit zutraulich geworden war, daß er mir einen andern Schatz, den er kürzlich in Athen erworben hatte, zeigte: Die von Nikolas Bassaeus von Frankfurt gedruckte » Tractate de Lamiis« des Johannes Georgius Godelmann. Ich las ihm Keats Gedicht über das Mädchen von Athen vor, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Diesem Gedicht gegenüber verhielt er sich innerlich so nachsichtig wie ein alter Diplomat dem wollenen Schäfchen eines Kindes gegenüber. Die Literatur hat für ihn überhaupt nie existiert, und die Buchdruckerkunst nahm für ihn im Jahre 1600 ein Ende. Aber es tat mir doch sehr leid, als er mich in Konstantinopel verließ, um einer böhmischen, in Prag gedruckten Pflanzenkunde, die jedoch von keinem Sterblichen je wieder benützt werden würde, nachzuspüren. Im Sommer wollte er dann auf die Bücherjagd nach Island, und ganz zufällig habe ich seither gehört, er sei dort gestorben. Friede seiner Asche! Soviel ich sehen konnte, lebte er in einem sanften Glückstraum, vollständig aufgehend in seinem unersättlichen Sammeleifer. Ich möchte wissen, ob in seiner Seele überhaupt Raum war für das Gegenmittel, den » odor di femina«? Vielleicht ist er ihm in Rejkjavik begegnet, und vor Entsetzen darüber ist er dann wohl gestorben.
Ich war der Meinung gewesen, daß an der Fortdauer meiner Affenliebe für Carlotta nur meine Landung in Alexandretta schuld gewesen sei, und hoffte deshalb, daß neue Umgebungen Carlottas sinnverwirrendes Bild verscheuchen würden. Aber nein, auch dies war eine der vielen törichten Erwägungen, auf die ich eine falsche Philosophie aufbaute. Wo ich auch war, ob in Beirut, oder in dem Land »des süßen Sängers der Persephone« oder in Alexandria, oder auf der Cannebière in Marseille, oder in dem eigentümlichen halb orientalischen Algier, wohin das ruhelose Suchen nach ein und demselben Gegenstand mich führte, ob in Lissabon oder in dem bergigen Freistaat Andorra, wo ich die ursprüngliche Weisheit zu finden hoffte, um mir dann eine Theorie aus deren Grundbegriffen zu bilden, und von wo ich – welcher Hohn! – durch Flöhe vertrieben wurde – ob zu Wasser oder zu Land, ob in Städten oder in der Einsamkeit, die verschwundene Hand spielte eben doch immer noch auf den Saiten meines Herzens, und der süße Ton der nur für mich still gewordenen Stimme klang mir noch immer in den Ohren.
An Bord eines Dampfers war ich einmal Zeuge davon, wie eine hübsche sechzehnjährige Amerikanerin mich beschrieb. Sie sagte: »Er ist ein netter, sanfter, alter Kauz, der das gräßlichste Zeug schwatzt, dabei aber immer an etwas andres denkt.« Mein plötzliches Heraustreten aus der Kajüte, wo ich mir eine Zigarette angezündet hatte, ließ ein lebhaftes Rot der Verwirrung in die Wangen der jungen Dame steigen.
»Für wie alt halten Sie mich denn?« fragte ich.
»O, ungefähr sechzig,« erwiderte die Maid.
»Ich bin nur froh, daß ich wenigstens nett und sanft bin, wenn ich auch nur dummes Zeug schwatze.«
Als echte Amerikanerin wußte sie sich jedoch schnell zu helfen – sie schob ihren Arm in den meinen und ging mit mir in vertraulichem Geplauder auf dem Deck hin und her.
»Sie sind einfach lieb,« bemerkte sie.
Mehr hätte sie auch nicht zu Anastasius Dose sagen können, wenn der hier gewesen wäre, doch wenn ich mich recht erinnere, muß er gerade damals an dem »Unvermeidlichen« in Island gestorben sein. Vielleicht war ich ihm in den letzten paar Monaten ähnlich geworden. Instinktiv fuhr ich mir mit der Hand an den Kopf, um mich zu vergewissern, daß ich kein verwegenes, weiches Filzhütchen mit einer Rebhuhnfeder aufhätte, und mit einer gewissen Selbstgefälligkeit sagte ich mir ferner, daß ich mit meinem Kneifer ohne Metallfassung sicher nicht so eulenmäßig aussähe, wie Anastasius Dose mit seiner großen runden Stahlbrille. Ja, so herabgekommen sind wir manchmal, daß derartige kleine Eitelkeiten uns Trost gewähren.
»Ich möchte gerne wissen, was Sie sind,« sagte meine junge amerikanische Freundin.
Soll ich gestehen, was mich an ihr anzog? Ach, sie erinnerte mich ein ganz klein wenig an Carlotta; sie hatte Carlottas Teint und Carlottas offenes Wesen. Aber damit war die Ähnlichkeit auch zu Ende. Die graue Gehirnsubstanz dieses jungen Mädchens war aus der Luft von Wall Street destilliert, und es gab herzlich wenig Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sie keine Kenntnis hatte.
»Ich bin ein Philosoph, der Schiffbruch gelitten hat,« antwortete ich ruhig.
»O, das tut nichts. Das ist jedermann, sobald er zur Vernunft kommt. Womit haben Sie Ihr Geld verdient?«
»Ich habe gar keines verdient,« antwortete ich demütig.
»So? Ich glaubte, alle, die in Ihrem Vaterland geadelt werden, hätten klotzig Geld verdient.«
»Wer geadelt wird?« rief ich. »Ja, was meinen Sie denn, wofür so ein ›netter alter Kauz‹ wie ich geadelt worden sein könnte?«
»Also sind Sie doch ein Baron?« fragte sie ernsthaft.
»Jawohl, aber gewiß nicht durch meine Schuld.«
»Bis jetzt hielt ich alle Barone für schlechte Subjekte; in den Romanen wenigstens sind sie es; aber Sie sehen eigentlich gar nicht wie ein Baron aus. Sie müßten einen schwarzen Schnurrbart haben und ein Monokel tragen, Zigarren rauchen und über alles spotten. Aber, sagen Sie mir, bitte, womit füllen Sie denn Ihre Zeit aus, wenn Sie nichts tun, um Geld zu verdienen?«
»Ich ziehe durch die Welt, immer auf der Suche nach etwas Unerreichbarem, wie ein Ritter – oder Baron, wenn Ihnen das besser gefällt – von König Artus' Tafelrunde. Ich bin auf der Fahrt nach einer Lebenstheorie.«
»O, die habe ich wahrscheinlich schon mit auf die Welt gebracht,« rief Jung-New York.
»Und ich werde wahrscheinlich sterben, ohne sie gefunden zu haben,« lautete meine Antwort.
*
Wieder in London. Ich bin wieder in meinem ruhigen Haus, habe Antoinette und Stenson, habe meinen alten, wie am Schnürchen gehenden Tageslauf, meine Bücher und mein reich mit Eselsohren versehenes Manuskript der »Geschichte der Moral der Renaissance«, das Stenson ausgepackt und an seinen gewohnten Platz auf dem Schreibtisch gelegt hat. Nichts hat sich verändert, und doch ist alles so ganz anders.
Eine zunehmende Abneigung gegen die unvermeidlichen Reisebekanntschaften und ein zunehmendes Verlangen nach der Heimat haben mich zurückgeführt. Außer vielleicht in gesundheitlicher Beziehung habe ich durch das Reisen wenig gewonnen. Meine körperliche Hülle hatte allerdings einen Punkt in einer fremden Landschaft gebildet und an zufälligen Vereinigungen von Menschen teilgenommen, aber mein Herz ist die ganze Zeit über in einem Mausoleum beim Regent's Park gewesen, und dahin hatte es mich immer mit magnetischer, unwiderstehlicher Macht gezogen. Daheim bewillkommneten mich meine beiden Dienstboten, sonst niemand. Nur mein Rechtsanwalt wußte von meiner Ankunft; nur mit diesem allein hatte ich während der vielen Monate meiner Abwesenheit Briefe gewechselt. Halt! Von Verona aus schrieb ich einmal an Mrs. Mc Murray auf eine Anfrage von ihr, was aus Carlotta und mir geworden sei. Höflich, aber kurz, antwortete ich, Carlotta sei mit Pasquale durchgegangen, und ich würde auf unbestimmte Zeit im Ausland bleiben. Aber nicht einmal ein Brief von meinem Rechtsanwalt erwartete mich daheim. Fast sehnsüchtig dachte ich, daß ich gern doppeltes Porto für einen solchen bezahlt hätte; aber das war ein vorübergehendes Gefühl gewesen.
Jetzt begann ein sonderbares, gleichmäßiges Leben für mich. Ohne es mir eigentlich vorgenommen zu haben, wurde ich zum Einsiedler und lebte von Tag zu Tag einsam dahin. Wie eine Fledermaus mied ich den hellen Sonnenschein und nur nachts machte ich melancholische Spaziergänge. Ich gefiel mir darin, mich immer mehr in meine Einsamkeit zu vergraben. Wenn ich nicht eine ganz entschiedene Abneigung gegen Wurzeln und Wasser, gegen Feuchtigkeit und die mancherlei andern Unannehmlichkeiten einer Höhle hätte, also einer Art Wohnung, wo die Dienstleistungen von Stenson und Antoinette durchaus nicht am Platz gewesen wären, dann hätte ich den Versuch gemacht, einen der thebaischen Wüste möglichst ähnlichen Aufenthaltsort zu finden und mich dahin zurückzuziehen. Ich war wirklich in einer milden Form von der Einsiedleridiosynkrasie befangen. In meinen Klub ging ich nie mehr. Eine von Osten nach Westen gezogene Linie, die den untersten Punkt des zoologischen Gartens berührte, bildete die südliche Grenze meiner Wanderungen. Einmal erspähte ich in der Ferne Mrs. Mc Murray, die gute Seele; doch glücklicherweise fuhr eben ein Omnibus vorbei, in den ich mich retten und so der Begegnung ausweichen konnte. Mein Werk blieb unberührt liegen – der über der Renaissance liegende Glanz war verschwunden. Um mich zu beschäftigen, las ich die Neu-Platoniker und Bücher über Thaumaturgie und Dämonologie, deren Studium ich früher zwar immer für sehr interessant, aber auch für sehr unfruchtbar gehalten hatte. Ich bedauerte eigentlich recht, daß ich mit der modernen Wissenschaft auf so wenig vertrautem Fuß stand, denn dies verhinderte mich, mir ein Laboratorium mit allerlei Retorten und magischen Kristallen einzurichten, wo ich das Lebenselixier und den Stein der Weisen hätte finden können. Die Zeitungen las ich selten. Wie jene hervorragende Persönlichkeit der Gegenwart wußte auch ich, daß zur Zeit irgendwo Krieg geführt wurde, aber ich interessierte mich nur ganz wenig dafür, und das Geschrei darüber war mir zuwider.
»Monsieur wird krank werden, wenn er nicht in den Sonnenschein hinausgeht,« sagte Antoinette.
»Monsieur hält den Sonnenschein für einen unverschämten Gesellen, der eine das Zwielicht liebende Seele behelligt,« erwiderte ich.
Hätte ich diese Bemerkung einer Engländerin gegenüber gemacht, dann hätte sie mich als einen armen geistesschwachen Herrn bedauert. Aber Antoinette hat das ihrer Nation angeborene Verständnis für Seelenzustände, und ihre Teilnahme war darum nicht weniger verständnisvoll, weil sie nur traurig den Kopf schüttelte und sagte, dieses Eingeschlossensein sei auch nicht gut für den Magen.
»Meine gute Antoinette,« sagte ich, weil unwillkürlich Erinnerungen an alte Zeiten in mir auftauchten, »wenn Sie mich noch lange so mit meinem Magen quälen, baue ich mir im Garten hinter dem Haus einen vierzig Fuß hohen Turm, richte mir ganz oben ein Zimmer ein, lasse mir mein Essen durch einen Aufzug hinaufschicken und komme nie wieder herunter.«
»Dann könnte Monsieur ebensogut im Paradies sein,« meinte Antoinette.
»Ach ja,« sagte ich, und dabei dachte ich mit gemischten Gefühlen an jenes zerbrochene Fläschchen Blausäure.
Während all dieser Monate lebte Judit wie ein blasses Gespenst im Hintergrund meiner Seele. Wir hatten uns so vollständig getrennt, daß mir ein Briefwechsel zwischen uns wie eine Ungehörigkeit erschienen wäre. Aber wenn ich ihr auch nicht geschrieben hatte, so warf ihr Schicksal doch einen der dunkelsten Schatten in mein jetzt so trübes Dasein. Die liebe lebensfrohe Judit! Wie oft hatte ich sie im Geist bedrückt und sehnsüchtig in der ärmlichen kleinen Missionskirche von Hoxton sitzen gesehen! Hatte ich, Markus Ordeyne, sie zu dieser Buße verdammt? Ach, wer wäre imstande, die Wage der Moral so sicher zu halten, um das zu entscheiden?
Da, am Jahrestag unserer Trennung, erhielt ich einen Brief von ihr. Sie sagt, sie habe in einem sonderbaren Etwas, das sie Pflicht nennt, Rettung gefunden. – »Ich erfülle eine mir zugewiesene Aufgabe,« schreibt sie, »und das Maß meines Erfolgs ist das Maß meines Glücks. Ich bringe einem unsteten und gequälten Geist Frieden. Im Lauf eines Jahres bin ich aller der kleinlichen weiblichen Eitelkeiten entkleidet worden, ja, ich möchte fast sagen, es ist mir das Opernglas aus der Hand genommen worden, durch das eine Frau selbstgefällig ihren Einfluß auf einen Mann betrachtet, und jetzt kann ich klar sehen. Dies Jahr hat mir die über allen Zweifel erhabene Überzeugung beigebracht, daß dieser unstete und gequälte Geist ohne mich zu Grunde ginge. Ich halte tatsächlich die Seele eines Mannes in meinen Händen. Was kann eine Frau mehr von den erhabenen Göttern verlangen? Wie Sie sehen, wende ich Ihre Bilder noch immer an. Geliebter Freund, bemitleiden Sie mich nicht. Über allen Flammen der Liebe, durch die man hindurchgeht, steht der Stern der Pflicht, und glücklich der, der in seinem ruhigen Lichte leben kann.«
Diese Aussprüche gleichen auffallend der Lebenstheorie, die zu suchen ich von Verona ausgezogen bin, die sich mir aber bisher beständig entzogen hat. Was Judit sagt, ist weder sehr neu, noch scharfsinnig, noch begeisternd. Aber so ist der Lauf der Welt; mag man es auch noch so lange versuchen, höheren Sphären zuzuschweben, schließlich landet man doch in der nackten Wirklichkeit.