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Der schönste Grasgarten im ganze Dorfe ist der von Doris Amhorst. Er ist lange nicht der größte, aber der schönste ist er doch. Das kommt daher, weil er vor dem Berge liegt, so daß man von der Straße ganz in ihm entlang sehen kann, und weil er noch so in der alten Art gehalten ist.
Doris ist eine hübsche Frau gewesen und sieht trotz ihrer weißen Haare noch stattlich genug aus, wenn auch ihre Augen kalt und ihre Lippen eng sind.
Die großen Leute, die an dem Garten vorbeigehen, nicken der Frau stumm zu, und sie nickt stumm wieder. Jeder weiß, daß Doris nur spricht, wenn sie muß. Den alten gichtischen Knecht, der seit fünfzehn Jahren auf dem Hofe ist, hat sie behalten, weil er stumm ist; denn in der Arbeit ist er nur langsam. Vielleicht behielt sie ihn auch, weil er so lebensunklug und so hilflos ist wie ein Kind. Gegen Kinder ist sie anders als gegen die großen Leute. Denen steht sie auch Rede und Antwort. Immer sind Kinder bei ihr, immer hat sie etwas für sie: eine Handvoll Kirschen, einen schönen Apfel, ein paar Walnüsse. Sie erzählt ihnen Geschichten, sie bringt den Mädchen das Stricken und Spinnen bei. Ohne eine paar Kinder um den Rock kann man sich Doris nicht denken. Sie selbst hat keine Kinder. Sie hat ein Kind und hat doch keins. Sie ist Frau und hat keinen Mann. Sie ist Witwe, aber bei der Kirche ist kein Grab, auf dem ihr Familienname steht. Doris Amhorst hat eine Geschichte, eine traurige Geschichte, die keinen Schluß hat und nie zu Ende geht. Alle Leute im Dorfe haben eine Geschichte. Die der meisten ist langweilig und alltäglich. Andere haben etwas erlebt, das außergewöhnlich ist; an Doris Amhorsts Geschichte reicht aber keine davon heran.
Fieken Rischmöller hat einen Hof und einen Jungen, aber keinen Mann. Den Jungen hätte ihr das Dorf schon verziehen, aber nicht den Vater. Das war ein Leutnant, der hier im Quartier lag. Wenn es der ärmste Knecht gewesen wäre, dann hätte man es ihr nicht nachgetragen; denn es wäre doch einer aus dem Dorfe gewesen. Aber Fieken ist nicht unglücklich; sie hat ihren Jungen und die Rumflasche.
Grete Bantelmann hat in einer Woche ihren Mann und ihre vier Kinder am Typhus verloren. Aber sie hat wenigstens die fünf Gräber bei der Kirche und die Bibel.
Doris Amhorst hat gar nichts auf der Welt, nicht einmal ein Grab, an dem sie weinen kann. Wenn sie trinken oder beten könnte, trüge sie ihr Leben leichter, aber für das eine ist sie zu stolz und für das andere zu hart. So hat sie nichts.
Vor zehn Jahren trug sie außer für sich und den Knecht immer noch zwei Gedecke mehr auf. Da nahm sie jede Woche einmal auch noch das schwarze Manneszeug aus dem Schrank und klopfte es, da sah sie immer noch die Strümpfe und Hemden in der einen Truhe nach, die jetzt auf dem Boden steht. Das tut sie nicht mehr, seitdem der Brief über Hamburg kam, der zu oberst in der Truhe bei der kleinen Schiefertafel liegt. Früher hat sie die Tafel jeden Abend herausgeholt und über die steifen Buchstaben geweint, die darauf stehen. Das tut sie schon lange nicht mehr. Sie weint nicht mehr und sie lacht nicht mehr.
Den Tag über kann sie das Leben noch tragen; dann hilft ihr die Arbeit über die Gedanken fort. Aber abends kommt ihre böse Stunde. Wenn im Kirchturme die Schleiereule kreischt, wenn die Fledermäuse um den Birnbaum huschen, dann wird alles wieder lebendig, was tot und doch nicht tot ist.
Um den Grasgarten ist es gekommen. Den wollte der Nachbar gern haben, weil seine Scheunen nicht langten. Doris wollte wohl, denn der Nachbar bot einen guten Preis, aber ihr Mann wollte nicht. Und im Ärger darüber hatte sie geschrien: »Wem gehört denn der Garten? Hast du Land gehabt? Die paar Taler, das war alles, was du hattest!« Sie rechnete nicht, daß er in den sechs Jahren das kleine Anwesen durch Fleiß und Sparsamkeit hochgebracht hatte. Sie war schnell mit dem Wort und scharf mit der Zunge und warf ihm das Schlimmste in das Gesicht, was man einem Bauern sagen kann. Heinrich, ein stiller Mann von wenig Worten und langsamer Zunge, hatte die Faust auf den Tisch gestemmt und gesagt: »Ich verkaufe nicht!«
Hätte er geschimpft, hätte er auf den Tisch gehauen, wäre er in den Krug gegangen und voll wiedergekommen, und hätte er dann Teller und Tassen zerschlagen, dann wäre das nicht so gekommen. Aber seine kalte Ruhe machte sie verrückt. Sie hätte andere bekommen können, schrie sie, ganz andere. Die eigenes Land hätten. Ihn hätte sie nur genommen, weil er nicht getrunken und gekartjet hätte. Sie hätte sich aus ihm nie viel gemacht, und er solle nur nicht denken, daß der Junge...
Weiter war sie nicht gekommen. Ihr Mann war so weiß wie die Wand geworden; bis in die Lippen war er weiß geworden, und seine Hände hatten gezittert. Aber er hatte ganz ruhig gefragt: »Was ist mit dem Jungen?« Hätte er sie damals geschlagen, wäre es besser gewesen. Aber seine Ruhe reizte sie zu sehr. Sie hatte vielsagend gelacht und war in den Garten gegangen, kochend vor Wut. Das war im Mai. Alle Bäume blühten und im Rasen leuchteten die gelben Butterblumen. Die Stare lärmten, die Schwalben zwitscherten, der Wendehals saß vor seinem Loch im Birnbaum und lachte. Sie sah sich im Garten um. Wie ordentlich und sauber der war. Das war Heinrichs Werk. Früher hatte es da häßlich ausgesehen.
Sie sah ein, daß er recht hatte. Sie nahm sich vor, ihm zu sagen, daß sie im Ärger gesprochen habe. Daß das alles nicht wahr sei, daß sie ihn lieber hätte als alle anderen, daß sie schon als Schulmädchen nach ihm gesehen hätte. Aber vor seinem gelassenen Gesicht, das wie eine steinerne Wand war, prallten ihre guten Vorsätze ab.
Das war Sonnabend; Sonntag ging sie allein zur Kirche; er sagte, er ginge nicht. Als sie zurückkam, lag auf seinem Platze am Tische die Schiefertafel des Jungen, und darauf stand: »Ich gehe mit dem Jungen in die Fremde. Ich komme nicht wieder. Ich habe von meinem Geld hundert Taler genommen.«
Sie hatte erst gelacht. In der Nacht weinte sie. Dann wurde sie krank und lag drei Wochen im Fieber. Hinterher hatte sie einen Monat nichts getan, nur immer geweint. Schließlich war sie auf Zureden des Pfarrers an die Arbeit gegangen und war dabei wieder zu Kräften gekommen. Die Jahre darauf hatte sie immer noch Hoffnung gehabt. Nach zwölf Jahren kam ein Brief aus Hamburg; darin stand: »Uns beiden geht es gut. Ich heiße jetzt anders. Du kannst mich tot sagen lassen. Du wirst niemals wissen, wo ich bin.«
Es war ein dünnes Papier, auf dem das stand, so fein wie Seidenpapier, aber fester. Der Pastor sagte, Australien. Amhorst müsse den Brief einem anderen gegeben haben, der ihn über das Wasser gebracht habe; denn er sähe aus, als wäre er lange in der Tasche getragen.
Seitdem sind zwölf Jahre in das Land gegangen. Doris ist jetzt fünfzig Jahre alt. Sie hätte zweimal wieder heiraten können. Sie wollte nicht. Sie wußte, ihr Mann käme nicht wieder; sie wußte, sie sähe ihren Jungen nicht mehr. Sie waren tot für sie. Und sie war auch tot; ihr Herz wenigstens. Ihr Herz war gestorben, als der Brief kam. Ein ganz kleines Stück davon lebte noch. Das kommt anderer Leute Kindern zugute. Alles, was im Grasgarten an süßen Dingen wächst, gibt sie ihnen. Sie selbst braucht davon nichts.
So ist Doris Amhorst tot und doch noch am Leben. Mutter, aber kinderlos, Frau, aber ohne Mann, Witwe, aber ohne ein Grab.
Ihre Geschichte ist furchtbar, denn sie hat keinen Schluß; nicht einmal der Tod kann sie beenden. Die Hoffnung bleibt beim Menschen, solange er lebt. Die Hoffnungslosigkeit aber verläßt ihn nie.