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Während der langen Zeit unseres Aufenthalts in der Höhle blieben wir in enger Fühlung mit allem, was in der Welt draußen vorging, und lernten die Stärke der Oligarchie, mit der wir im Kriege lagen, gründlich kennen. Nach den ersten Schwankungen hatten sich die neuen Einrichtungen gefestigt und wiesen jetzt alle Anzeichen der Dauerhaftigkeit auf. Der Oligarchie war es gelungen, eine Regierungsmaschine zu ersinnen, die, so verwickelt und vielseitig sie auch war, pünktlich und gut arbeitete trotz all unsern Bemühungen, sie zu hemmen oder in Unordnung zu bringen.
Das überraschte viele Revolutionäre. Sie hatten es nicht für möglich gehalten. Nichtsdestoweniger nahm die Arbeit im Lande ihren Fortgang. Die Männer arbeiteten in den Bergwerken und auf den Feldern – vollkommen wie Sklaven. In den lebensnotwendigen Industrien ging alles gut. Die Mitglieder der großen Arbeiterkasten waren zufrieden und arbeiteten freudig. Zum erstenmal in ihrem Leben hatten sie Arbeitsfrieden kennengelernt. Sie wurden nicht mehr durch schlechte Zeiten, Streik und Aussperrung beunruhigt. Sie wohnten in behaglichen Häusern und in herrlichen eigenen Städten – herrlich im Vergleich mit den Gassen und schmutzigen Vierteln, die sie früher bewohnt hatten. Sie hatten besseres Essen, kürzere Arbeitszeit, mehr Erholungstage und verschiedenartigere Interessen und Vergnügungen. Aber um ihre weniger glücklichen Brüder und Schwestern, die nicht begünstigten Arbeiter, das gepeitschte Volk des Abgrunds, machten sie sich keine Sorgen. Ein Zeitalter der Selbstsucht begann für die Menschheit. Und doch ist dies nicht ganz richtig. Die Arbeiterkasten wurden von unseren Agenten durchlöchert – von Männern, deren Augen jenseits der Not die strahlende Gestalt der Freiheit und Brüderlichkeit erblickten.
Eine andere große Institution, die feste Form angenommen hatte und glatt arbeitete, war die der Söldner. Dieser Truppenkörper, der sich aus der regulären Armee entwickelte, besaß eine Stärke von einer Million Mann, ohne die Kolonialstreitkräfte. Die Söldner bildeten eine besondere Kaste. Sie wohnten in eigenen Städten, die unter geschickter Selbstverwaltung standen, und genossen mancherlei Vorteile. Von ihnen wurde ein großer Teil des verbleibenden Überschusses verbraucht. Sie verloren jede Berührung und Sympathie mit dem übrigen Volke und entwickelten in Wirklichkeit eine eigene Klassenmoral und ein eigenes Klassenbewußtsein. Dennoch waren Tausende unserer Agenten unter ihnen tätig Die Söldner spielten in den letzten Tagen der Eisernen Ferse eine wichtige Rolle. Sie stellten den Machtpendel in dem Kampfe zwischen den Arbeiterkasten und der Oligarchie dar, der, je nach dem Spiel der Intrige und Verschwörung, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite schwang..
Die Oligarchen selbst machten eine bemerkenswerte und, wie man gestehen muß, unerwartete Entwicklung durch. Als Klasse waren sie gut diszipliniert. Jedes Mitglied hatte seine Aufgabe in der Welt und war gezwungen, diese Aufgabe durchzuführen. Es gab keine Müßiggänger mehr unter den jungen Leuten. Man brauchte ihre Kraft zur Stärkung der Oligarchie. Sie dienten als Truppenführer, als Leutnants und Hauptleute der Industrie. Sie wählten sich wissenschaftliche Berufe, und viele von ihnen wurden bedeutende Ingenieure. Sie traten in unzählige Verwaltungszweige ein, taten Dienst in den Kolonien, und zehn von tausend wandten sich den verschiedenen Geheimdiensten zu. Sie waren, möchte ich sagen, beim Unterrichtswesen, bei der Kirche, der Kunst, der Wissenschaft, der Literatur in die Lehre gegangen, und auf diesen Gebieten dienten sie der wichtigen Aufgabe, das Denken der Nation in die Richtung der ewigen Dauer der Oligarchie zu lenken.
Man lehrte sie, und später lehrten sie es wieder, daß das, was sie taten, recht sei. Dieser aristokratische Gedanke wurde ihnen von Kindheit an so eingehämmert, daß er ihnen in Fleisch und Blut überging. Sie betrachteten sich als Bändiger wilder Tiere, als Beherrscher von Bestien. Unter ihren Füßen grollte der unterirdische Donner der Revolution. Gewaltsamer Tod schlich ständig unter ihnen einher; Bomben, Messer und Kugeln bedrohten sie als die Krallen der brüllenden Bestie des Abgrunds, die sie bändigen mußten, wenn die Menschheit weiter bestehen sollte. Sie waren die Retter der Menschheit und betrachteten sich selbst als die, welche heldenhaft und opferfreudig für das höchste Gut arbeiteten.
Sie, als Klasse, glaubten allein die Zivilisation aufrechtzuerhalten. Ihr Glaube war, daß, wenn sie je schwach werden sollten, die große Bestie sie und alles Schöne und Herrliche, alle Freude und alles Gute in ihrem geifernden Rachen verschlingen würde. Ohne sie würde Anarchie herrschen und die Menschheit in die dunkle Nacht sinken, aus der sie sich so mühsam erhoben hatte. Fortwährend wurde das Schreckensbild der Anarchie den Kindern vor Augen gehalten, und sie wiederum zeigten, von der in ihnen gepflegten Angst besessen, ihren Kindern nun ebenfalls das Schreckensbild der Anarchie. Das war die Bestie, die zerstampft werden mußte, und die höchste Pflicht der Aristokratie war, sie zu zerstampfen. Kurz, sie glaubten, allein in ununterbrochener Arbeit und Opferfreudigkeit zwischen der schwachen Menschheit und der alles verschlingenden Bestie zu stehen; und sie glaubten es fest.
Ich kann nicht Gewicht genug auf diese hohe moralische Rechtlichkeit der ganzen oligarchischen Klasse legen. Sie war die Kraft der Eisernen Ferse, und zu viele Genossen waren zu schwerfällig oder zu unwillig, als daß sie den richtigen Schluß daraus gezogen hätten. Viele von ihnen schrieben die Kraft der Eisernen Ferse ihrem System von Lohn und Strafe zu. Das ist falsch. Himmel und Hölle mögen die Grundfaktoren für den Eifer eines Religionsfanatikers sein; für die große Mehrheit der Gläubigen aber sind Himmel und Hölle unlösbar mit Recht und Unrecht verbunden. Die Liebe zum Recht, das Verlangen nach Recht, die Unglückseligkeit über alles, was nicht Recht ist – kurz, das moralische Leben ist der Grundfaktor der Religion. Und das war es auch bei der Oligarchie. Gefängnis, Verbannung und Erniedrigung, Ehren, Paläste und Wunderstädte, das alles sind Zufälligkeiten. Die große treibende Kraft der Oligarchie ist der Glaube, daß sie das Rechte tue; ungeachtet der Ausnahmen und ungeachtet der Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die die Eiserne Ferse ausübte. Alles ist erlaubt, und der springende Punkt ist, daß die Kraft der Oligarchie heute in ihrer Überzeugung von ihrem eigenen Recht liegt Aus der moralischen Zusammenhanglosigkeit und Inkonsequenz des Kapitals schufen die Oligarchen eine neue, zusammenhängende und stahlscharfe Ethik, die abgeschmackteste und unwissenschaftlichste, dabei aber die mächtigste, die eine Tyrannenklasse je besessen. Die Oligarchen glaubten an ihre Moralität trotz der Tatsache, daß Biologie und Entwicklung sie Lügen straften, und nur dieser Glaube setzte sie drei Jahrhunderte lang instand, die mächtige Flut des menschlichen Fortschritts zurückzudämmen – ein tiefes, gewaltiges, verwirrendes Schauspiel für die metaphysischen Moralisten, und eines, das dem Materialisten viele Zweifel und Nachprüfungen verursacht hat..
Im übrigen hat die Kraft der Revolution in diesen zwanzig furchtbaren Jahren ebenfalls nur im Gefühl ihrer eigenen Rechtlichkeit gelegen. Anders lassen sich unsere Opfer und unser Märtyrertum nicht erklären. Aus keinem anderen Grunde hauchte Rudolf Mendenhall seine Seele für die Sache aus und sang in der Nacht vor seinem Tode seinen wilden Schwanengesang. Aus keinem anderen Grunde starb Hurlbert unter Foltern, weil er sich weigerte, seine Genossen zu verraten. Aus keinem anderen Grunde verzichtete Anna Roylston auf glückliche Mutterschaft. Aus keinem anderen Grunde war John Carlson der treue, unbelohnte Wächter unserer Zufluchtsstätte in Glen Ellen. Einerlei, ob jung oder alt, Mann oder Weib, hoch oder niedrig, Genie oder Dummkopf, man gehe, wohin man will unter den Genossen der Revolution, stets wird man ein tiefes, immerwährendes Rechtsverlangen als treibende Kraft finden!
Aber ich bin meiner Erzählung vorangeeilt. Ernst und ich verstanden, noch ehe wir unser Versteck verlassen hatten, sehr wohl, wie die Stärke der Eisernen Ferse sich entwickelte. Die Arbeiterkasten, die Söldner und das große Heer der Spitzel und verschiedenartigen Polizeigewalten waren der Oligarchie verpflichtet. Wenn sie den Verlust ihrer Freiheit übersahen, waren sie besser daran als früher. Andererseits sank die große hilflose Masse der Bevölkerung, das Volk des Abgrunds, in eine tierische Ergebung und Gleichgültigkeit mit ihrem Elend. Wenn starke Proletarier inmitten der Masse ihre Kraft geltend machten, wurden sie der Masse durch die Oligarchie entzogen, indem sie Mitglieder der Arbeiterkaste oder der Söldnerheere wurden. So lullte man die Unzufriedenheit ein und beraubte das Proletariat seiner natürlichen Führer.
Das Volk des Abgrunds befand sich in einer bejammernswerten Lage. Es gab keine öffentlichen Schulen mehr für die Menschen. Sie lebten wie Vieh in großen, schmutzigen Arbeitervierteln, wo sie in Elend und Entwürdigung verkamen. Alle ihre alten Freiheiten waren dahin. Die Wahl der Arbeit war ihnen versagt. Ebenso war ihnen das Recht der Freizügigkeit und das des Waffentragens genommen. Sie waren nicht Landsklaven wie die Bauern, sondern Maschinen- und Arbeitssklaven. Wenn es ungewöhnliche Arbeiten gab, wie den Bau von größeren Landstraßen und Hochbahnen, Kanälen, Tunnels, Unterführungen und Befestigungen, so wurden in den Arbeitervierteln Aushebungen vorgenommen und die Sklaven zu Zehntausenden nach dem Arbeitsfeld transportiert. Große Heere von ihnen arbeiten jetzt gerade an dem Bau von Ardis, wo sie in elenden Baracken hausen, in denen kein Familienleben gedeihen kann, und wo Anständigkeit durch dumpfe Bestialität ersetzt wird. Wahrlich, dort in den Arbeitervierteln wohnt die brüllende Bestie des Abgrunds, der Schrecken der Oligarchie – aber ihr eigenes Produkt. Sie will die Affen und Tiger in ihr nicht sterben lassen.
Und eben jetzt heißt es, daß Aushebungen in Sicht seien für den Bau von Asgard, der geplanten Wunderstadt, die nach ihrer Vollendung Ardis noch weit in den Schatten stellen wird Ardis wurde im Jahre 1942 vollendet. Asgard hingegen erst 1984. Zweiundfünfzig Jahre wurde an der Stadt gebaut und dabei eine ständige Armee von einer halben Million Sklaven beschäftigt. Zeitweise schwoll diese Ziffer auf mehr als eine Million an – ohne die Hunderttausende zu rechnen, die den Arbeiterkasten und der Künstlerschaft angehörten.. Wir Revolutionäre werden das große Werk fortsetzen; aber es wird nicht durch elende Sklaven getan werden. Die Mauern, Türme und Schächte jener herrlichen Stadt werden unter Gesang entstehen, und in ihre Schönheit und Wunder werden nicht Seufzer und Schmerz, sondern Musik und Lachen gewoben werden.
Ernst war krank vor Ungeduld, in die Welt hinauszukommen, und die Arbeit für unsere erste Revolution, die in der Chikagoer Kommune so elend fehlschlagen sollte, reifte schnell. Aber er zwang sich zur Geduld. Und in dieser Zeit seiner Folter, als Hadly, der eigens dazu aus Illinois gekommen war, ihn in einen ganz anderen Menschen verwandelte Unter den Revolutionären gab es viele Chirurgen, die in der Vivisektion eine erstaunliche Fähigkeit erzielten. Nach den Worten Avis Everhards konnten sie einen Menschen buchstäblich umarbeiten. Das Ausmerzen von Narben und Entstellungen war etwas ganz Alltägliches für sie. Sie verwandelten die Züge mit einer solchen mikroskopischen Sorgfalt, daß keine Spur ihrer Arbeit zurückblieb. Ein beliebtes Organ für ihre Arbeit war die Nase. Haut- und Haartransplantationen waren einer ihrer gewöhnlichen Kunstgriffe. Die Veränderungen, die sie im Ausdruck hervorriefen, grenzten an Hexerei. Augen und Augenbrauen, Lippen, Mund und Ohren wurden von Grund auf verändert. Durch fein durchdachte Operationen der Zunge, der Kehle, des Kehlkopfes und der Nasenhöhlen konnte die Aussprache und Sprechweise eines Menschen völlig verändert werden. Verzweifelte Zeiten machten verzweifelte Hilfsmittel notwendig, und die Ärzte der Revolution zeigten sich dieser Notwendigkeit gewachsen. Unter anderem vermochten sie die Gestalt eines Erwachsenen um vier bis fünf Zoll zu vergrößern oder um ein bis zwei Zoll zu verkleinern. Die Kunst, die sie ausübten, ist heute verlorengegangen, wir brauchen sie nicht mehr., entwarf er große Pläne für die Organisation des gebildeten Proletariats sowie für die erzieherischen Anfangsgründe im Volk des Abgrunds – alles natürlich für den Fall eines Fehlschlages der ersten Revolution.
Erst im Januar 1917 verließen wir unseren Zufluchtsort. Alles war vorbereitet. Gleichzeitig nahmen wir alle unsere Stellen als Agents provocateurs im System der Eisernen Ferse ein. Ich sollte als Ernsts Schwester gelten. Oligarchien und Genossen, die hohe Stellungen im Innendienst bekleideten, hatten Platz für uns geschaffen, wir waren im Besitz aller notwendigen Dokumente, und unsere Vergangenheit war hinreichend erklärt. Mit Hilfe der erwähnten Leute war das leicht zu bewerkstelligen, denn in dieser Schattenwelt des Geheimdienstes war die Identität unklar. Die Agenten kamen und gingen wie Geister, gehorchten Befehlen, kamen ihren Pflichten nach, verfolgten Spuren und erstatteten ihre Berichte häufig Vorgesetzten, die sie nie sahen, oder arbeiteten mit Agenten zusammen, die sie nie zuvor gesehen hatten und auch nie wieder sehen sollten.