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Ich kam nach Niagara Falls in einem ›Pullman mit Seitentüren‹ oder, wie es in der bürgerlichen Umgangssprache heißt, in einem geschlossenen Güterwagen. Ein offener Güterwagen heißt, nebenbei bemerkt, unter Brüdern eine ›Gondel‹. Ich kam also am Nachmittage an und machte mich gleich vom Güterzuge nach dem Wasserfall auf. Sobald meine Augen dies Wunder stürzender Wasser sahen, war ich verloren. Ich konnte mich lange nicht losreißen, konnte mich nicht entschließen, bei den ›Eingeborenen‹ um Abendessen zu fechten. Selbst die Aussicht, ›hereingebeten‹ zu werden, hätte mich nicht weglocken können. Die Nacht senkte sich herab, und ich blieb bis elf Uhr am Wasserfall sitzen. Dann mußte ich sehen, irgendwo unterzukriechen.
Schlafen mußte ich, aber ich hatte eine Ahnung, daß Niagara Falls keine sehr geeignete Stadt für Landstreicher war, und so wanderte ich aufs Land hinaus. Ich kletterte über einen Zaun und legte mich auf das freie Feld. Ich schmeichelte mir, daß die Polizei mich hier nicht finden würde. Ich lag auf dem Rücken im Grase und schlief wie ein Kind. Die Luft war so mild und balsamisch, daß ich die ganze Nacht nicht ein einziges Mal aufwachte. Aber mit dem ersten Tagesgrauen schlug ich die Augen auf und erinnerte mich an den wundervollen Wasserfall. Ich kletterte wieder über den Zaun und machte mich auf den Weg, um ihn noch einmal zu sehen. Es war früh – erst fünf Uhr –, und vor acht konnte ich nicht anfangen, für das Frühstück zu ›arbeiten‹. Ich konnte also mindestens drei Stunden am Flusse verbringen. Aber ach! das Schicksal wollte, daß ich nie den Fluß oder den Wasserfall wiedersehen sollte.
Die Stadt schlief noch. Als ich die stille Straße hinabging, sah ich drei Männer mir auf dem Bürgersteige entgegenkommen. Sie gingen nebeneinander. Landstreicher, dachte ich, wie ich selber, die auch zeitig aufgestanden waren. Aber meine Annahme stimmte nicht oder doch nur zu zwei Drittel. Die beiden an den Seiten waren allerdings Landstreicher, der Mann in der Mitte aber nicht. Ich drückte mich ganz an den Rand des Bürgersteiges, um die drei vorbeizulassen. Aber sie gingen nicht vorbei. Der Mann in der Mitte sagte den andern etwas, worauf alle drei stehenblieben, und dann wandte er sich an mich.
Im selben Augenblick wußte ich, woher der Wind wehte. Es war ein Polizist, und die beiden Landstreicher waren seine Gefangenen. Die Polizei war auf frühe Vögel aus. Ich war ein früher Vogel. Hätte ich gewußt, was mir im nächsten Monat widerfahren sollte, so würde ich kehrtgemacht haben und gelaufen sein, als wäre der Teufel hinter mir her. Vielleicht würde der Polizist auf mich geschossen haben, aber er hätte mich jedenfalls treffen müssen, um mich zu kriegen. Er wäre nie hinter mir hergelaufen, denn zwei Landstreicher in der Hand sind mehr wert als einer auf der Flucht. Aber als er mich anhielt, stand ich da wie ein Ölgötze. Unsere Unterredung war kurz.
»In welchem Hotel sind Sie abgestiegen?« fragte er. Jetzt hatte er mich. Ich war in keinem Hotel abgestiegen, und da ich nicht ein einziges Hotel der Stadt auch nur dem Namen nach kannte, konnte ich nicht den Anspruch erheben, in einem von ihnen zu wohnen. Außerdem war ich verdächtig früh auf den Beinen. Es hatte sich also alles gegen mich verschworen.
»Ich bin eben angekommen«, sagte ich.
»Schön, dann machen Sie kehrt und gehen Sie vor mir her, aber nicht zu weit entfernt. Es wünscht Sie jemand zu sprechen.«
Ich war ›geschnappt‹. Wer mich zu sprechen wünschte, wußte ich gut. Den Polizisten und die beiden Landstreicher hinter mir und dem Bescheid, den er mir gegeben, entsprechend, ging ich voraus nach dem städtischen Gefängnis. Dort wurden wir visitiert und unsere Namen einregistriert. Unter welchem Namen ich einregistriert wurde, habe ich vergessen. Ich gab den Namen Jack Drake an, bei der Visitation fanden sie jedoch Briefe, die an Jack London adressiert waren. Das verursachte natürlich Schwierigkeiten und erforderte Erklärungen, aber alles das habe ich längst vergessen, und noch heute weiß ich nicht, ob ich unter dem Namen Jack Drake oder Jack London geschnappt wurde. Aber einer von den beiden Namen muß jedenfalls heute noch im Gefängnisregister von Niagara Falls stehen, und man kann sich leicht Gewißheit darüber verschaffen. Es war Ende Juni achtzehnhundertundvierundneunzig. Ein paar Tage nach meiner Verhaftung brach der große Eisenbahnerstreik aus.
Vom Bureau aus wurden wir ins ›Landstreicherloch‹ gebracht und dort eingesperrt. Das ›Landstreicherloch‹ ist der Teil des Gefängnisses, wo die leichteren Verbrecher in einem großen eisernen Käfig eingesperrt werden, und da die Landstreicher den größten Teil der leichteren Verbrecher ausmachen, hat man besagten eisernen Käfig nach ihnen benannt. Hier fanden wir schon mehrere Landstreicher vor, die alle am selben Morgen geschnappt worden waren, und jeden Augenblick öffnete sich die Tür, und zwei oder drei neue flogen herein. Als wir schließlich alles in allem sechzehn Mann waren, wurden wir in den Gerichtssaal gebracht. Und jetzt werde ich genau berichten, was im Gerichtssaal vorging, denn Sie müssen wissen, daß meine Vaterlandsliebe und mein Bürgerstolz dort einen Stoß erhielten, den sie nie ganz überwunden haben.
Im Gerichtssaale befanden sich die sechzehn Gefangenen, der Richter und die beiden Gerichtsdiener. Der Richter war offenbar auch sein eigener Schreiber. Zeugen gab es nicht. Von den Bürgern von Niagara Falls war keiner anwesend, um zu sehen, wie die Gerechtigkeit in ihrer Gemeinde gepflegt wurde. Der Richter sah in die ihm vorgelegte Liste der Verbrecher und rief einen Namen auf. Ein Landstreicher erhob sich. Der Richter sah einen der Gerichtsdiener an. »Landstreicherei, Euer Gnaden«, sagte der Gerichtsdiener. »Einen Monat«, sagte Seine Gnaden. Der Landstreicher setzte sich. Der Richter rief einen neuen Namen auf, und ein neuer Landstreicher erhob sich.
Das Verhör des ersten Landstreichers hatte genau fünfzehn Sekunden gedauert. Das des zweiten Landstreichers ging ebenso schnell. Der Gerichtsdiener sagte: »Landstreicherei, Euer Gnaden!«, und Seine Gnaden sagte: »Einen Monat«. Und so ging es wie ein Uhrwerk: Fünfzehn Sekunden pro Landstreicher – und einen Monat.
Das ist doch blödes Vieh, dachte ich bei mir. Aber wartet nur, bis ich an der Reihe bin; ich werde Seiner Gnaden schon Bescheid sagen. Im weiteren Verlaufe der Vorstellung hatte Seine Gnaden plötzlich den Einfall, dem einen von uns Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen. Dieser Mann war zufällig kein richtiger Landstreicher. Er besaß keines der Kennzeichen, die dem gewerbsmäßigen Strolch eigentümlich sind. Wenn er zu uns gekommen wäre, während wir an einem Wasserbehälter saßen und auf einen Güterzug warteten, so würden wir ihn gleich als Außenseiter erkannt haben. Er schien nicht mehr ganz jung zu sein – meiner Schätzung nach etwa fünfundvierzig. Seine Schultern waren ein wenig schief, seine Züge verwittert.
Viele Jahre lang war er, seinem Bericht nach, Kutscher in einem Fuhrgeschäft, wenn ich mich recht entsinne, in Lockport (New York) gewesen. Es war bergab mit dem Geschäft gegangen, und als schließlich die schlechten Zeiten von achtzehnhundertunddreiundneunzig kamen, war es verkracht. Er war als einer der letzten von der Firma entlassen worden, wenn er auch in der letzten Zeit nur sehr unregelmäßig Arbeit gehabt hatte. Nun erklärte er des langen und breiten, wie schwierig es ihm in der letzten Zeit geworden sei, Arbeit zu erhalten (es gab ja so viele Arbeitslose). Schließlich war er zu dem Ergebnis gekommen, daß es leichter sein würde, an den Seen Arbeit zu finden, und nun war er auf der Reise nach Buffalo. Das war alles. »Einen Monat«, sagte Seine Gnaden und rief den Namen eines andern Landstreichers.
De Aufgerufene erhob sich. »Landstreicherei, Euer Gnaden«, sagte der Gerichtsdiener, und Seine Gnaden sagte: »Einen Monat«.
Und so ging es weiter: fünfzehn Sekunden, und einen Monat für jeden verhafteten Landstreicher. Die Maschinerie arbeitete glatt und fließend. Aller Wahrscheinlichkeit nach – es war ja ganz frühmorgens – hatte Seine Gnaden noch nicht gefrühstückt und hatte Eile.
Aber mein amerikanisches Blut begann zu kochen. Hinter mir standen viele Generationen amerikanischer Vorfahren. Eine der Freiheiten, für die diese Vorfahren gekämpft und das Leben gewagt hatten, war das Recht, von einer Jury abgeurteilt zu werden. Das war mein Erbteil, heilig, weil sie ihr Blut dafür vergossen hatten, und jetzt war es meine Sache, dafür einzustehen. Schön, sagte ich bei mir: warte nur, bis du zu mir kommst.
Und er kam zu mir. Mein Name, wie er nun war, wurde aufgerufen, und ich erhob mich. Der Gerichtsdiener sagte: »Landstreicherei, Euer Gnaden«, und dann begann ich zu reden. Aber gleichzeitig begann auch der Richter zu reden und sagte: »Einen Monat«.
Ich wollte dagegen protestieren, aber schon war Seine Gnaden bei dem nächsten Landstreicher auf der Liste angelangt. Seine Gnaden hielt gerade so lange inne, um »Halt den Mund!« zu mir sagen zu können. Und im selben Augenblick hatte der nächste Landstreicher seinen Monat bekommen, und der dann folgende war an der Reihe.
Als wir alle unser Teil hatten – jeder Mann einen Monat – und Seine Gnaden schon im Begriff stand, uns wegzuschicken, wandte er sich plötzlich nochmals an den Kutscher aus Lockport – dem einzigen, dem er erlaubt hatte, etwas zu sagen.
»Warum haben Sie Ihre Arbeit aufgegeben?« fragte Seine Gnaden.
Nun hatte der Kutscher schon erklärt, warum er seine Arbeit verloren hatte, und er war daher etwas bestürzt über die Frage.
»Euer Gnaden«, begann er verwirrt, »ist das nicht eine merkwürdige Frage?«
»Noch einen Monat, weil Sie Ihre Arbeit verlassen haben«, sagte Seine Gnaden, und damit war die Gerichtssitzung geschlossen. Das war also das Ergebnis. Der Kutscher bekam zwei Monate, wir andern einen.
Ich war vollkommen verstört. Ich war zu Gefängnis verurteilt nach einer verrückten Farce von Verhör, bei der mir nicht nur mein Recht, von einer Jury abgeurteilt zu werden, sondern auch das Recht versagt worden war, mich schuldig zu bekennen oder nicht. Noch eines war mir eingefallen, wofür meine Väter gekämpft hatten – die Habeaskorpusakte. Ich wollte es ihnen schon zeigen! Als ich aber einen Rechtsanwalt verlangte, wurde ich ausgelacht. Die Habeaskorpusakte war selbstverständlich sehr gut, aber was nützte sie mir, wenn ich mit niemand außerhalb des Kittchens in Berührung kommen konnte? Aber ich wollte es ihnen doch schon zeigen! Man konnte mich ja nicht in alle Ewigkeit im Gefängnis behalten. Sie sollten nur warten, bis ich herauskam! Ich wollte ihnen tüchtig eins auswischen. Ich kannte das Gesetz und meine eigenen Rechte, und ich wollte der Welt zeigen, wie elend das Recht verwaltet wurde. Visionen von Schadenersatzprozessen und sensationellen Zeitungsüberschriften tanzten mir vor Augen, als die Gefängniswärter hereinkamen und damit anfingen, uns ins Hauptbureau zu treiben.
Ein Polizist ließ ein Handeisen um mein rechtes Handgelenk zusammenschnappen. (Aha, dachte ich, eine neue Schändlichkeit. Wartet nur, bis ich wieder draußen bin!) Das andere Handeisen, das mit dem ersten durch eine Kette verbunden war, schloß er um das linke Handgelenk eines Negers. Es war ein sehr großer Neger, reichlich sechs Fuß hoch – so groß war er, daß seine Hand, als wir Seite an Seite dastanden, die meine an dem Handeisen ein wenig hochhob. Dazu war er der vergnügteste und zerlumpteste Neger, den ich je gesehen habe.
Wir wurden alle auf gleiche Art paarweise aneinandergefesselt. Als dies geschehen war, wurde eine blanke Nickelstange geholt, durch die Gelenke der Handeisen gesteckt und an beiden Enden der doppelten Reihe verschlossen. Jetzt waren wir eine Horde von Kettensträflingen. Der Befehl zum Abmarsch wurde gegeben, und wir gingen, von zwei Polizisten bewacht, auf die Straße. Der große Neger und ich hatten den Ehrenplatz. Wir führten die Prozession an.
Nach dem Grabesdunkel, das im Gefängnis geherrscht hatte, war das Sonnenlicht geradezu blendend. Noch nie war mir das Sonnenlicht so wunderbar erschienen wie jetzt, da ich als Gefangener mit klirrenden Ketten dastand und wußte, daß ich es für einen ganzen Monat zum letzten Male sah. Durch die Straßen von Niagara Falls marschierten wir zum Bahnhof, angestarrt von neugierigen Fußgängern und namentlich von einer Schar Touristen, die, als wir vorbeimarschierten, auf der Veranda eines Hotels saß.
Die Kette hing ziemlich lose, und unter Rasseln und Klirren setzten wir uns, je zwei und zwei, auf die Sitze eines Raucherabteils. Wenn ich auch von glühendem Haß über den Hohn erfüllt war, der mir und meinen Vorfahren erwiesen wurde, war ich doch zu prosaisch und praktisch, als daß ich deswegen den Kopf verloren hätte. Alles war neu für mich. Dreißig in einen geheimnisvollen Schleier gehüllte Tage lagen vor mir, und ich sah mich nach jemand um, der mir einige Auskünfte erteilen konnte. Ich hatte nämlich erfahren, daß unser Bestimmungsort nicht ein elendes kleines Gefängnis mit so um hundert Gefangenen, sondern ein ausgewachsenes Zuchthaus war, in dem mehrere tausend Gefangene von zehn Tagen bis zu zehn Jahren saßen.
Auf dem Sitz hinter mir saß, das Handgelenk an die Kette geschlossen, ein vierschrötiger, schwergebauter Mann mit mächtigen Muskeln. Er mochte zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt sein. Ich sah ihn mir an. In seinen Augenwinkeln waren Humor, Lachen und Freundlichkeit versteckt. Im übrigen sah er aus wie ein brutales Tier, gänzlich unmoralisch und mit der ganzen Leidenschaftlichkeit und zügellosen Heftigkeit eines Tieres. Was ihn rettete, was ihn in meinen Augen brauchbar für mich machte, waren eben die Augenwinkel – der Humor, das Lachen und die Freundlichkeit des Tieres, solange es nicht gereizt ist.
Er war ein gefundenes Fressen für mich. Ich machte mich beliebt bei ihm. Während sich der große Neger, mein Kettenkamerad, kichernd und lachend über seine Wäsche beklagte, die er durch die Verhaftung verlor, und während der Zug weiter nach Buffalo fuhr, sprach ich mit dem Manne hinter mir. Seine Pfeife war leer. Ich stopfte sie ihm mit meinem teuren Tabak – es ging so viel drauf, daß ich mir ein Dutzend Zigaretten daraus hätte drehen können. Aber je mehr wir miteinander sprachen, um so überzeugter wurde ich, den Mann, den ich suchte, gefunden zu haben, und so teilte ich meinen Tabak mit ihm.
Nun ist mein Organismus zufällig leichtflüssig genug geartet, um dem Leben selbst genügend verwandt zu sein und sich fast jeder Lage anzupassen. Ich bemühte mich nun auch, mich dem Manne anzupassen, obwohl ich noch keine Ahnung hatte, welchen Wert er für mich haben würde. Er war noch nie in dem Zuchthaus gewesen, in das wir kommen sollten, aber er hatte ein, zwei oder drei Jahre in verschiedenen andern Zuchthäusern gesessen und wußte fabelhaft Bescheid. Wir wurden gute Freunde, und mein Herz klopfte vor Freude, als er mir riet, ihm in allem zu folgen. Er nannte mich »Jack«, und ich nannte ihn ebenfalls »Jack«. An einer Station, ungefähr fünf Meilen vor Buffalo, hielt der Zug, und wir, die Kettensklaven, standen auf. Ich weiß nicht mehr, wie die Station heißt, aber ich bin überzeugt, daß es so etwas wie Rocklyn, Rockwood, Black Rock, Rockcastle oder Newcastle war. Wie sie nun auch heißen mochte, jedenfalls mußten wir eine kurze Strecke marschieren und wurden dann in einen Straßenbahnwagen gesetzt. Es war ein alter Wagen mit einer Bank an jeder Seite. Alle Fahrgäste, die auf der einen Seite saßen, wurden ersucht, sich auf die andere zu begeben, und wir nahmen mit vielem Kettenrasseln und ‑klirren ihre Plätze ein. Wir saßen, wie ich mich entsinne, ihnen gerade gegenüber, und ich erinnere mich auch noch, wie erschrocken einige Frauen aussahen, die uns zweifellos für Mörder und Bankräuber hielten. Ich versuchte, so grimmig wie möglich auszusehen, aber mein Kettenkamerad, der lustige Neger, rollte die Augen, wobei er lachte und immer wieder »Ogottogott!« sagte.
Als wir den Wagen verließen, mußten wir noch ein Stück laufen und wurden dann in das Bureau des Erie-County-Zuchthauses gebracht. Hier sollten wir wieder einregistriert werden, und im Register dort wird man also einen oder den andern meiner Namen finden können. Dann wurde uns gesagt, daß wir alle unsre Wertsachen im Bureau abgeben müßten: Geld, Tabak, Streichhölzer, Taschenmesser und so weiter.
Mein neuer Freund sah mich an und schüttelte den Kopf.
»Wenn ihr eure Sachen nicht hier laßt, so werden sie im Gefängnis selbst beschlagnahmt«, warnte der Beamte.
Aber mein Freund schüttelte immer noch den Kopf. Er hatte etwas mit seinen Händen vor, tat es aber hinter dem Rücken der andern Gefangenen, so daß der Beamte es nicht sehen konnte. Die Handeisen waren uns abgenommen. Ich betrachtete ihn aufmerksam, und seinem Beispiel folgend, knüpfte ich alles, was ich mit ins Gefängnis nehmen wollte, in mein Taschentuch. Das Bündel steckten wir dann ins Hemd. Ich bemerkte, daß keiner unsrer Mitgefangenen dem Manne im Bureau sein Eigentum übergab, mit Ausnahme von einigen, die Uhren hatten. Alle waren fest entschlossen, die Sachen auf irgendeine Weise einzuschmuggeln, und verließen sich auf ihr gutes Glück, waren aber nicht so klug wie mein Freund, denn sie knüpften die Sachen nicht zusammen.
Unsre bisherigen Wächter nahmen Handschellen und Ketten und fuhren nach Niagara Falls zurück, während wir, unter der Obhut neuer Wächter, ins Gefängnis geführt wurden. Wir waren noch im Bureau, als man schon ganze Schwadronen neuer Gefangener brachte, so daß wir eine Prozession von vierzig bis fünfzig Mann bildeten.
Euch, die ihr nicht im Gefängnis sitzt, sei gesagt, daß aller Verkehr in einem großen Gefängnis ebenso beschränkt ist wie der Handelsverkehr im Mittelalter. Alle paar Schritte stößt man auf schwere eiserne Türen und Tore, die immer verschlossen sind. Wir wurden jetzt in die Barbierstube gebracht, aber immer wieder stießen wir auf Hindernisse in Form von Türen, die erst aufgesperrt werden mußten. So wurden wir gleich in der ›Halle‹ aufgehalten. Eine ›Halle‹ ist kein Korridor. Stellt euch einen länglichen Kubus vor, der aus Mauerstein erbaut und ganze sechs Stockwerke hoch ist. Jedes Stockwerk enthält eine Reihe – sagen wir fünfzig – Zellen. Kurz, stellt euch einen mächtigen rechteckigen Bienenkorb vor. Setzt ihn auf den Boden und baut ein Haus herum mit einem Dach darüber und Mauern ringsum, und ihr habt eine ›Halle‹ des Erie-County-Zuchthauses. Um das Bild zu vervollständigen, denkt euch noch eine schmale Galerie mit eisernem Geländer, das an all diesen Zellenreihen entlang läuft, und stellt euch vor, daß alle diese Galerien an beiden Enden des Rechtecks durch ein System eiserner Feuerleitern verbunden sind.
Gleich in der ersten Halle mußten wir haltmachen und auf einen Beamten warten, der die Tür aufschließen sollte. Hier und dort sahen wir Sträflinge mit kurzgeschorenem Haar, glattrasiertem Gesicht und in der gestreiften Anstaltskleidung. Mir fiel namentlich ein Gefangener auf, der oben auf der Galerie vor der dritten Zellenreihe stand. Er lehnte sich mit aufgestützten Armen über das Geländer, scheinbar ohne sich im geringsten um unsere Anwesenheit zu bekümmern. Es sah aus, als starrte er nur ins Leere. Mein Freund stieß einen gedämpften Zischlaut aus. Der Sträfling sah herunter. Die beiden machten sich Zeichen mit der Hand. Dann sah ich das Bündel meines Freundes durch die Luft sausen. Der Sträfling ergriff es, hatte es schnell wie der Blitz ins Hemd gesteckt und starrte nun wieder ins Leere. Mein Freund hatte gesagt, ich solle ihm alles nachmachen. Ich paßte einen Augenblick ab, als der Wärter mir den Rücken kehrte, und schon befand sich mein Bündel neben dem andern im Hemd des Sträflings.
Eine Minute später wurde die Tür geöffnet, und wir marschierten in einer langen Reihe in die Barbierstube. Hier befanden sich mehrere Leute in gestreifter Sträflingskleidung. Es waren die Gefängnisbarbiere. Hier gab es auch Badewannen, warmes Wasser, Seife und Bürsten. Wir erhielten Befehl, uns auszuziehen und zu baden, wobei einer immer den andern abschrubbte – eine unnötige Sicherheitsmaßregel, denn das Gefängnis wimmelte von Ungeziefer. Nach dem Bade erhielt jeder einen Leinensack für seine Kleider.
»Tut alle Kleider in die Säcke«, sagte der Aufseher. »Versucht nicht, etwas einzuschmuggeln. Ihr müßt euch nackt inspizieren lassen. Alle, die zu einem Monat oder weniger verurteilt sind, behalten ihre Schuhe und Hosenträger. Wer zu mehr als einem Monat verurteilt ist, behält nichts.«
Diese Mitteilung löste große Bestürzung aus. Wie konnte man nackt etwas an einem inspizierenden Aufseher vorbeischmuggeln? Nur mein Freund und ich waren sicher. Aber jetzt traten die Gefängnisbarbiere in Aktion. Sie gingen unter den Neuankömmlingen umher, erboten sich freundlich, all ihr teures Eigentum aufzubewahren und es ihnen später am Tage wiederzugeben. Die Barbiere waren die reinen Philanthropen – wenn man sie reden hörte. Sofort waren alle Taschen leer. Streichhölzer, Tabak, Zigarettenpapier, Pfeifen, Messer, Geld – alles verschwand in den geräumigen Hemden der Barbiere. Sie schwollen geradezu unter der Beute, und die Aufseher taten, als sähen sie nichts. Um kurz zu sein: es wurde nicht das geringste zurückgegeben. Die Barbiere hatten nie die Absicht gehabt, das, was sie genommen hatten, wiederzugeben. Das sahen sie als ihren berechtigten Gewinn an. Es war ein kleiner Nebenverdienst der Barbiere. Wie ich bald erfahren sollte, gab es mancherlei Nebeneinnahmen im Gefängnis, und – dank meinem neuen Freunde – lernte auch ich bald, wie man sie sich verschaffen konnte.
Es waren mehrere Stühle da, und die Barbiere arbeiteten schnell. Ich habe noch nie Leute so schnell rasiert und geschoren werden sehen. Die Gefangenen seiften sich selbst ein, und die Barbiere rasierten sie mit einer Geschwindigkeit von einer Minute pro Mann. Das Haarschneiden dauerte eine Kleinigkeit länger. In drei Minuten war mein Gesicht von den Daunen meiner achtzehn Jahre befreit und der Kopf so glatt wie eine Billardkugel, mit einer leichten Andeutung von Borsten. Vollbärte, Schnurrbärte, Kleider, alles verschwand. Auf mein Wort: wir boten einen schlimmen Anblick, als wir fertig waren. Ich merkte erst jetzt so recht, was für gottverlassene Menschen wir in Wirklichkeit waren.
Dann mußten wir vierzig bis fünfzig Mann uns aufstellen, so nackt wie Kiplings Helden, als sie Lungtungpen stürmten. Es war nicht schwer, uns zu visitieren. Es waren nur unsre Schuhe und wir selber. Zwei, drei unbesonnene Geister, die der Redlichkeit der Barbiere mißtraut hatten, trugen ihre Sachen bei sich – und diese Sachen, nämlich Tabak, Pfeifen, Streichhölzer und Kleingeld, wurden sofort konfisziert. Als das besorgt war, wurden uns unsre Kleider ausgeliefert: solide Sträflingshemden nebst Jacken und Hosen mit sehr auffallenden Streifen. Ich hatte immer geglaubt, daß man erst, wenn man wegen eines schweren Verbrechens verurteilt sei, die gestreifte Sträflingstracht tragen müsse. Jetzt wußte ich besser Bescheid, und nachdem ich die Insignien der Schande angelegt hatte, bekam ich den ersten Vorgeschmack von einem ›Kettenmarsch‹.
Einzeln, dicht hintereinander, jeder die Hände auf den Schultern seines Vordermannes, marschierten wir in eine andre große Halle. Hier wurden wir in einer langen Reihe an die Mauer gestellt und erhielten Befehl, den linken Arm zu entblößen. Ein junger Mann, Student der Medizin, der sich an solchem Viehzeug wie wir üben sollte, schritt die Reihe entlang. Er impfte ungefähr viermal so schnell, wie die Barbiere rasiert hatten. Mit einer letzten Ermahnung, daß wir uns nicht kratzen und daß wir das Blut eintrocknen lassen sollten, so daß eine Kruste entstände, wurden wir in unsre Zellen geführt. Jetzt wurde ich von meinem Freunde getrennt, aber vorher konnte er mir noch zuflüstern: »Saug' es aus.«
Sobald ich eingesperrt war, sog ich die Impfstelle aus. Und hinterher sah ich Leute, die es nicht getan und nun furchtbare Löcher im Arm hatten, Löcher, in die ich die geballte Faust hineinstecken konnte. Es war ihre eigene Schuld. Sie hätten es aussaugen können.
Die Zelle hatte außer mir noch einen Bewohner, einen jungen, kräftigen Burschen, der nicht sehr gesprächig, aber sehr tüchtig war. Ja, er war ein so netter Bursche, wie man ihn sich an einem solchen Orte nur wünschen kann, und das, obgleich er eben erst seine zwei Jahre im Zuchthaus von Ohio abgesessen hatte.
Wir waren kaum eine halbe Stunde in der Zelle, als ein Sträfling die Galerie herabgeschlendert kam und hereinguckte. Es war mein Freund. Er durfte sich, wie er erklärte, frei in der Halle bewegen. Morgens um sechs wurde er aus seiner Zelle gelassen und erst abends wieder eingesperrt. Er hatte sich mit dem Oberaufseher der Halle befreundet und war zum Vertrauensmann, wie man im Gefängnis sagte, ernannt worden. Der Mann, der ihn ernannt hatte, war ebenfalls Sträfling und erster Vertrauensmann. Es gab dreizehn derartige Vertrauensmänner in der Halle. Zehn von ihnen hatten die Aufsicht über je eine Galerie, und über ihnen stand der erste, zweite und dritte Vertrauensmann.
Wir Neuankömmlinge sollten den Rest des Tages über in unsern Zellen bleiben, wie mein Freund mir sagte, damit die geimpften Stellen aufgehen konnten. Am nächsten Morgen sollten wir dann an die schwere Arbeit im Gefängnishof gehen.
»Aber ich werde dich von der Arbeit freimachen, sobald ich kann«, versprach er. »Ich werde es schon kriegen, daß einer der Vertrauensmänner rausgeschmissen wird, und dann kannst du seine Stelle bekommen.«
Er steckte die Hand ins Hemd, zog das Taschentuch, das mein teures Eigentum enthielt, heraus, reichte es mir durch die Eisenstangen und ging weiter die Galerie hinunter.
Ich knüpfte das Bündel auf. Es war alles da. Nicht ein Streichholz fehlte. Ich teilte eine Zigarette mit meinem Zellengenossen. Als ich ein Streichholz anstecken wollte, um Feuer zu erhalten, hinderte er mich daran. Auf jeder der bloßen Pritschen lag eine dünne, dreckige, baumwollene Decke – das war alles Bettzeug, das uns zustand. Er riß einen schmalen Streifen von dem dünnen Stoff und drehte ihn zu einer langen dünnen Rolle zusammen. Die zündete er mit einem unsrer teuren Streichhölzer an. Die dicht zusammengedrehte Stoffrolle flammte nicht auf, sondern glimmte langsam an dem einen Ende, und die schwache Glut schwelte weiter. Es konnte mehrere Stunden anhalten, und mein Kamerad nannte es eine Lunte. Wenn sie aufgebrannt war, brauchten wir nur eine neue Lunte zu machen, das Ende an die alte halten, darauf zu blasen und die Glut auf diese Weise von einer auf die andre Rolle zu übertragen. Wirklich, wir hätten Prometheus einen guten Rat über die Bewahrung des Feuers erteilen können.
Um zwölf wurde das Mittagessen serviert. In der Tür unseres Käfigs befand sich unten am Boden eine kleine Luke, wie die Schiebetür eines Hühnerstalles. Durch diese Oeffnung wurden zwei tüchtige Stücke trockenen Brotes und zwei Krüge Suppe hereingeschoben. Eine Portion Suppe bestand aus etwa einem Liter warmen Wassers, auf dessen Oberfläche ein einsames Fettauge schwamm. Und dann war übrigens auch noch etwas Salz im Wasser.
Wir tranken die Suppe, aßen aber nicht das Brot. Das taten wir nicht etwa, weil wir keinen Hunger hatten oder das Brot ungenießbar war. Es war in Wirklichkeit ganz gutes Brot. Aber wir hatten unsre Gründe. Mein Kamerad hatte nämlich entdeckt, daß die ganze Zelle von Wanzen wimmelte. In allen Spalten und Fugen zwischen den Mauersteinen, wo der Kalk herausgefallen war, gediehen große Kolonien, ja, sie wagten sich sogar bei vollem Tageslicht heraus und schwärmten zu Hunderten über Wände und Decke. Mein Kamerad wußte gut Bescheid mit der Lebensweise dieser Tiere. Er kämpfte wie ein rasender Roland. Eine solche Schlacht war noch nicht dagewesen. Sie dauerte mehrere Stunden. Es war die wildeste Metzelei, und als die letzten Überlebenden in ihre feste Burg von Stein und Kalk geflohen waren, war die Arbeit erst halb getan. Wir kauten unser Brot, bis es fest und klebrig wie Kitt war. Jedesmal, wenn einer unsrer Feinde in eine Mauerritze entkam, vermauerten wir sie gleich mit dem Brotmörtel. Wir arbeiteten, bis es dunkel wurde und jedes Loch, jeder Winkel und jede Ritze geschlossen war. Mich schaudert bei dem Gedanken an die furchtbaren Tragödien mit Hungertod und Kannibalismus, die sich hinter den mit Brot verkleisterten Mauern abgespielt haben müssen.
Dann warfen wir uns ermattet und hungrig auf unsre Pritschen und warteten auf unser Abendessen. Wir hatten ein sehr befriedigendes Tagewerk auf besonders befriedigende Weise ausgeführt. In den kommenden Wochen hatten wir nicht von diesen Heerscharen von Ungeziefer zu leiden. Wir hatten unser Mittagessen geopfert, hatten unsre Haut auf Kosten unsrer hungrigen Magen gerettet und waren zufrieden. Aber ach, wie müßig sind alle menschlichen Bemühungen! Kaum war unsre große Arbeit beendet, als ein Gefängniswärter die Tür öffnete. Die Gefangenen wurden neu verteilt, man führte uns zwei Galerien höher in eine andre Zelle und sperrte uns dort ein. Früh am nächsten Morgen wurden unsre Zellen geöffnet und im Kettenmarsch mußten wir – mehrere hundert Gefangene – in die Halle hinuntertraben, von wo wir in den Gefängnishof marschierten, um an unsre Arbeit zu gehen. Gerade im hinteren Hof des Erie-County-Zuchthauses läuft der Erie-Kanal vorbei. Unsre Arbeit bestand darin, Kanalboote zu lotsen und schwere Ankerbolzen, ähnlich wie Eisenbahnschienen, auf unsern Schultern ins Gefängnis zu tragen.
Während der Arbeit erwog ich dann meine Lage und berechnete die Möglichkeit einer Flucht. Es gab nicht die geringste Möglichkeit. Auf dem obersten Rande der Mauer marschierten Gefängniswärter mit Repetiergewehren, and ich erfuhr außerdem, daß in den Wachttürmen Maschinengewehre aufgestellt waren.
Ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf darüber. Ein Monat war keine Ewigkeit. Ich blieb eben den Monat da und sammelte noch mehr Material gegen die Harpyien der Gerechtigkeit, mit denen ich abrechnen wollte, wenn ich wieder herauskam. Ich wollte zeigen, was ein junger Amerikaner vermochte, wenn seine Rechte und Privilegien mit Füßen getreten wurden, wie es mir geschehen war. Es war mir verwehrt worden, von einer Jury abgeurteilt zu werden; mein Recht, mich schuldig zu bekennen oder zu leugnen, war mir verweigert worden, ja, man hatte mir nicht einmal nach Gesetz und Recht mein Urteil gesprochen – denn das, was ich in Niagara Falls erlebt hatte, konnte ich nicht Gesetz und Recht nennen. Ich hatte nicht Erlaubnis erhalten, mich mit einem Anwalt in Verbindung zu setzen, und darum war mir auch mein Recht auf die Habeaskorpusakte versagt worden. Ich war rasiert, das Haar war mir bis auf die Haut abgeschoren worden, man hatte mir die gestreifte Sträflingstracht angezogen. Ich wurde zu schwerer Arbeit gezwungen, ohne etwas anderes als Wasser und Brot für meinen Lebensunterhalt zu bekommen, und mußte im Kettenmarsch unter Aufsicht bewaffneter Wächter gehen – und warum? Was hatte ich getan? Welches Verbrechen hatte ich an den guten Bürgern in Niagara Falls begangen, daß ich eine solche Strafe erdulden mußte? Ich hatte nicht einmal ihr Verbot, auf ihrem Boden zu schlafen, verletzt. Ich hatte die Nacht außerhalb der Stadt, ganz draußen auf dem Lande geschlafen. Ich hatte nicht einmal um ein Mittagessen gefochten oder jemand in ihren Straßen um einen Pfennig angebettelt. Alles, was ich getan hatte, war, daß ich den Bürgersteig entlang spaziert war und mir ihren blöden Wasserfall angesehen hatte. War das eine Sünde? Nein, ich hatte mich keines Verbrechens schuldig gemacht. Aber das wollte ich ihnen schon zeigen, wenn ich herauskam!
Am nächsten Tage sprach ich mit einem Wärter. Ich verlangte, daß nach einem Rechtsanwalt geschickt würde. Der Wärter lachte mich aus, und das taten die andern Wärter auch. Ich war tatsächlich ohne die geringste Verbindung mit der Außenwelt. Ich versuchte einen Brief zu schreiben, erfuhr aber, daß alle Briefe von den Gefängnisbeamten gelesen und zensuriert oder konfisziert wurden, und daß Leute, die zu kürzerer Gefängnisstrafe verurteilt waren, unter keinen Umständen Briefe schreiben durften. Kurz darauf versuchte ich, Briefe durch entlassene Sträflinge hinauszuschmuggeln, erfuhr aber, daß sie untersucht worden waren, und daß man die Briefe gefunden und vernichtet hatte. Nun ja, auch das war gleichgültig. Um so schlimmer für die Behörden, wenn ich herauskam.
Aber mit den Tagen – im folgenden Kapitel werde ich einen ganzen Monat im Gefängnis beschreiben – lernte ich mancherlei. Ich hörte Geschichten von der Polizei, von Gerichten und Anwälten, die einfach unglaublich und haarsträubend waren. Gefangene erzählten mir von persönlichen Erlebnissen mit der Polizei in großen Städten, die geradezu fürchterlich waren. Und noch fürchterlicher waren die Erzählungen, die sie von andern gehört hatten über Leute, die geradezu von der Polizei ermordet worden waren und daher nicht selber Zeugnis ablegen konnten. Viele Jahre später sollte ich im Bericht der Lexow-Kommission Geschichten lesen, die vollkommen wahr und noch entsetzlicher waren als die, die meine Mitgefangenen mir erzählten. Aber in den ersten Tagen meines Aufenthaltes im Gefängnis lachte ich über das, was ich hörte.
Mit der Zeit begann ich indessen überzeugt zu werden. Ich sah mit eigenen Augen hier im Gefängnis einfach unglaubliche und haarsträubende Dinge. Und je überzeugter ich wurde, desto tiefer wurde mein Respekt vor den Bluthunden des Gesetzes und der ganzen Einrichtung, die sich mit Leuten beschäftigt, welche sich gegen die Gesetze vergangen haben.
Meine Erbitterung schwand langsam, und eine Flut von Angst ergoß sich über mich. Ich sah plötzlich klar und deutlich, welcher Macht ich gegenüberstand. Ich wurde demütig und bescheiden. Mit jedem Tag wurde mein Entschluß, keinen Spektakel zu machen, wenn ich herauskam, fester und sicherer. Alles, was ich verlangte, war eine Möglichkeit, aus der Gegend zu verschwinden, sobald ich wieder in Freiheit war. Ich hielt den Mund und schlich mich, klüger und demütiger als ich gewesen war, vorsichtig aus Pennsylvanien hinaus.