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Es war früh am Abend, als sie an der Ecke der Pine Street auf dem Heimweg vom Bell Theater aus der Straßenbahn stiegen. Zuerst machten sie gemeinsam Einkäufe, und dann trennten sie sich an der Ecke – Saxon sollte heimgehen und das Abendessen bereiten, und Billy wollte nach den Kameraden, den streikenden Fuhrleuten, sehen, die in dem Monat, den er aus allem herausgewesen war, getreulich weitergekämpft hatten.
»Nimm dich in acht, Billy«, rief sie ihm nach.
»Gewiß«, sagte er und blickte zurück.
Ihr Herz klopfte heftig, als sie sein Lächeln sah. Das war das alte, unbefleckte, verliebte Lächeln, das sie stets auf seinem Gesicht zu sehen gewünscht, das Lächeln, das sich zu bewahren, sie – bewaffnet mit ihrem eigenen Wissen – bis zum äußersten kämpfen wollte. Der Gedanke hieran flog ihr durch den Kopf, und mit einem stolzen kleinen Lächeln erinnerte sie sich all der hübschen kleinen Dinge, die sie daheim im Toilettentisch und in der Kommode verwahrte.
Dreiviertel Stunden wartete Saxon, der Abendtisch war gedeckt, nur die Lammkotelette fehlten noch, die sie erst aufsetzen wollte, wenn sie Billy kommen hörte. Da wurde die Gartenpforte zugeschlagen, aber statt seiner hörte sie das wirre Durcheinander vieler Stimmen. Sie flog zur Tür. Es war Billy, der vor ihr stand, aber ein Billy weit verschieden von dem Billy, von dem sie sich erst vor kurzem verabschiedet hatte. Neben ihm ging ein kleiner Junge, der seinen Hut hielt. Sein Gesicht war frisch gewaschen oder vielmehr mit Wasser übergossen, denn sein Hemd und seine Schultern waren naß. Sein helles Haar war feucht und klebte am Kopf, hie und da sickerte Blut hindurch und machte es dunkel. Beide Arme hingen kraftlos herab, aber sein Gesicht war ruhig, und er lachte.
»Mach dir nichts daraus«, sagte er beruhigend zu Saxon. »Ich habe mich zum Narren gemacht. Ein bißchen beschädigt, aber immer noch bereit, es mit jedem aufzunehmen.« Er trat vorsichtig in die Stube. »Kommt, Kameraden, wir sind eine schöne Gesellschaft von Schwachköpfen.«
Hinter ihm her kamen der kleine Junge mit seinem Hut, Bud Strothers, noch ein Kutscher, den sie kannte, und zwei Fremde. Die Fremden waren große, barsche, dumm dreinschauende Männer, und sie starrten Saxon an, als ob sie sich vor ihr fürchteten.
»Hab keine Angst, Saxon«, sagte Billy wieder. Aber Bud Strothers unterbrach ihn.
»Zuerst müssen wir ihn ins Bett legen und ihm die Kleider abschneiden. Ihm sind beide Arme gebrochen, und hier sind die Idioten, die es getan haben.«
Er zeigte auf die beiden Fremden, die vor lauter Verlegenheit mit den Füßen scharrten und dümmer als je aussahen.
Billy setzte sich aufs Bett, und während Saxon die Lampe hielt, begannen Bud und die beiden Fremden, ihm Rock, Hemd und Unterjacke abzuschneiden.
»Er wollte nicht ins Krankenhaus«, sagte Bud zu Saxon.
»Nein, ich denke nicht daran«, erklärte Billy. »Ich ließ sie nach Doktor Hentley schicken. Er kann jeden Augenblick kommen. Diese beiden Arme sind alles, was ich auf der Welt habe.«
»Aber wie ist es denn zugegangen?« fragte Saxon und sah von Billy auf die beiden Fremden – offenbar außerstande, das freundschaftliche Verhältnis zwischen ihnen zu verstehen.
»Ach, es ist nicht ihre Schuld«, antwortete Billy schnell. »Sie meinten es gut. Sie sind Fuhrleute aus San Franzisko, die gekommen sind, um uns zu helfen.« Es sah aus, als belebten sich die beiden Kutscher bei dieser Bemerkung Billys ein wenig, und sie nickten.
»Ja«, sagte der eine mit tiefer, heiserer Stimme. »Wir haben uns geirrt – ja, wir haben uns schön blamiert.«
Saxon war nicht aufgeregt. Was geschehen war, hatte sie nur erwarten können. Es entsprach allem, was Oakland ihr und den Ihren schon angetan hatte, und außerdem war Billy nicht gefährlich verletzt. Armbrüche und ein Loch im Kopf waren Dinge, die bald heilten. Sie holte Stühle und bat alle, sich zu setzen.
»Aber jetzt erzählt mir, was geschehen ist«, bat sie. »Ich verstehe nicht ein Wort von der ganzen Geschichte. Wie hängt es zusammen, daß ihr großen Lümmel zuerst meinem Mann die Arme brecht und ihn hinterher in aller Freundschaft nach Hause bringt?«
»Ja, es ist nur Ihr gutes Recht, daß Sie das erfahren«, versicherte Bud Strothers. Es ging so zu –«
»Halt das Maul, Bud«, fiel Billy ihm ins Wort. »Du warst doch nicht dabei.«
Saxon sah die San-Franziskoer Fuhrleute an.
»Wir waren hergekommen, um zu helfen, denn die Fuhrleute in Oakland können ja nicht allein fertig werden«, sagte der eine, »und wir haben ihnen auch gut geholfen, die Streikbrecher zu lehren, daß es manch besseres Handwerk in der Welt gibt, als Kutscher zu spielen. Na ja, ich und Jackson hier – wir schnüffeln herum, um zu sehen, was wir entdecken können, als Ihr Mann ankommt. Als er sah –«
»Wart mal«, unterbrach Jackson ihn. »Du mußt alles von Anfang an erklären. Wir meinen doch alle dem Aussehen nach zu kennen. Aber Ihren Mann haben wir noch nie gesehen, weil er –«
»Weil er, wenn ich so sagen darf, für eine Weile aus dem Spiel gesetzt war«, fuhr der erste Kutscher fort. »Als wir also einen Kerl, den wir für einen Streikbrecher halten, durchschlüpfen und durch die Gasse abbiegen sehen –«
»Die Gasse hinter Campbells Krämerladen«, erläuterte Billy.
»Ja, hinter dem Krämerladen«, fuhr der erste Kutscher fort. »Sehen Sie, da waren wir ganz sicher, daß es einer von den verfluchten Streikbrechern war, die von Murray und Ready eingestellt sind, und die sich hinten herum in die Ställe einschleichen wollen.«
»Ja, da haben wir selber mal einen erwischt, Billy und ich«, warf Bud ein.
»Wir also gleich drauflos«, wandte Jackson sich zu Saxon. »Wir sind früher schon mit dabei gewesen und wissen Bescheid, und zwar gründlich. Und so fangen wir denn Ihren Mann direkt in der Gasse –«
»Ich guckte mich nach Bud um«, sagte Billy. »Die andern sagten, ich würde ihn am andern Ende der Gasse finden. Und da kommt dieser Jackson hier und fragt, ob ich ihm ein Streichholz geben kann.«
»Und dann verrichtete ich meine hübsche kleine Arbeit.«, nahm der erste Kutscher seinen Bericht wieder auf.
»Wie denn?« fragte Saxon.
»Das da.« Der Mann zeigte auf die Wunde, die Billy am Kopfe hatte. »Ich langte nach ihm aus. Er fiel um wie ein Stier, und dann kam er auf die Knie, taumelte und schwatzte etwas von einem, der wohl nicht richtig im Kopfe sei. Er war nicht recht bei sich. Und da taten wir es.«
Der Mann schwieg – er war jetzt mit seinem Bericht fertig.
»Sie brachen ihm beide Arme mit einem Brecheisen«, warf Bud ein.
»Ja, beide Arme«, bestätigte Billy. »Und da standen nun die beiden und erzählten mir was. ›Davon kannst du lange Nutzen und Freude haben‹, sagt Jackson. Und Anson sagt: ›Mit den Armen möcht ich dich kutschieren sehen.‹ Und dann sagt Jackson: ›Wir wollen ihm noch eine Kleinigkeit mit auf den Weg geben.‹ Und im selben Augenblick haut er mir eine runter.«
»Nein«, berichtigte Anson, »das war ich.«
»Na ja, und die schickte mich wieder ins Traumland«, seufzte Billy. »Und als ich wieder zu mir kam, standen Bud und Anson und Jackson da und begossen mich mit Wasser aus einem Trog. Und dann rissen wir einem Reporter aus und gingen alle zusammen her.«
Bud Strothers hob die Hand und zeigte frische Schrammen auf den Knöcheln.
»Der Idiot von Reporter wollte durchaus Bekanntschaft hiermit machen«, wandte er sich zu Billy, »deshalb holte ich euch erst in der Siebten ein.«
Ein paar Minuten darauf kam Doktor Hentley und warf die Männer hinaus. Sie warteten, bis er mit seiner Untersuchung fertig war, um sich zu vergewissern, daß es nichts Ernstes mit Billy war, und gingen dann. In der Küche wusch Doktor Hentley sich die Hände und gab Saxon die letzten Anweisungen. Während er sich abtrocknete, begann er herumzuschnüffeln und sah nach dem Herd, wo ein Topf kochte.
»Muscheln?« fragte er. »Wo haben Sie die gekauft?«
»Ich habe sie nicht gekauft«, sagte Saxon. »Ich habe sie selbst gesammelt.«
»Doch nicht im Sumpf?« fragte er gespannt.
»Doch.«
»Dann werfen Sie sie weg. Sie sind Tod und Verderben. Typhus – ich habe schon drei Fälle gehabt, und alle sind auf die Muscheln und den Sumpf zurückzuführen.«
Als er gegangen war, tat Saxon, wie er gesagt hatte. Das ist ein neues Übel an Oakland, dachte sie bei sich – Oakland, die Menschenfalle, die vergiftete, wen sie nicht aushungern konnte.
»Ja, ob das nicht genügte, einen zum Säufer zu machen«, stöhnte Billy, als Saxon wieder zu ihm kam. »Hast du je von einem solchen Pech gehört? Bei all meinem Boxen nie einen Knochen zerschlagen. Und jetzt – eins, zwei, drei – sind beide Arme kaputt.«
»Ach, es hätte noch schlimmer gehen können«, lächelte Saxon heiter.
»Da möchte ich schon wissen, wieso.«
»Na, wäre es nicht schlimmer gewesen, wenn du in Oakland hättest bleiben wollen, wo es jeden Augenblick wieder geschehen könnte?«
»Ich kann schon sehen, wie ich Bauer werde und mit einem Paar Pfeifenrohren, wie diesen hier, herumgehe und pflüge«, fuhr er fort.
»Doktor Hentley sagt, daß sie dort, wo sie gebrochen sind, stärker werden als je. Aber jetzt schließ die Augen und schlaf. Du bist schrecklich herunter und brauchst Ruhe. Laß das Denken.«
Er schloß gehorsam die Augen, und sie legte ihm ihre kühle Hand unter den Nacken.
»Das ist ein schönes Gefühl«, murmelte er. »Du bist so kühl, Saxon – deine Hand und deine ganze kleine Person. Bei dir zu sein ist, wie wenn man in die Nachtkühle hinauskommt, nachdem man in einem erhitzten Lokal getanzt hat.«
Als er ein paar Minuten stillgelegen hatte, begann er, leise zu lachen.
»Was gibt es?« fragte sie.
»Ach, nichts – ich dachte nur an die Idioten, die mich verprügelt haben, – mich, der ich mehr Streikbrecher verprügelt habe, als ich zählen kann.«
Am nächsten Morgen erwachte Billy in bedeutend besserer Stimmung. In der Küche konnte Saxon hören, wie er einige merkwürdige gesangliche Akrobatenkunststücke versuchte.
»Ich kann ein neues Lied, das du noch nie gehört hast«, erzählte er, als sie mit einer Tasse Kaffee kam. »Aber ich kann nur den Refrain. Der Alte redet mit einem Landstreicher von Tagelöhner, der seine Tochter heiraten will. Mamie – das war ein Mädel, mit dem Billy Murphy ging, ehe er heiratete – sang es oft. Es ist so schön rührselig. Mamie heulte immer dabei.«
Und mit großer Feierlichkeit und so falsch, daß es eine Qual war, ihm zuzuhören, sang Billy das Lied.
Aber sie fürchtete, daß der Kaffee kalt werden würde, und zwang Billy, ihn zu trinken. Hilflos, wie er mit seinen beiden gebrochenen Armen war, mußte er wie ein kleines Kind gefüttert werden, und während sie ihn fütterte, sprachen sie miteinander.
»Eines will ich dir sagen«, sagte Billy zwischen zwei Schlucken. »Sobald wir auf dem Lande zur Ruhe gekommen sind, sollst du das Pferd haben, das du dir dein ganzes Leben gewünscht hast. Und es soll dein eigenes Pferd sein, das du reiten oder fahren oder verkaufen – kurz, mit dem du machen kannst, was du willst.«
Dann wieder grübelte er: »Eines wird großartig sein, wenn wir auf dem Lande wohnen«, sagte er schließlich, »nämlich, daß ich so gut mit Pferden Bescheid weiß. Damit kann man gut in Gang kommen. Ich kann ja immer mit Pferden zu tun kriegen – wo es keine Gewerkschaftslöhne gibt. Und alles, was man sonst von der Bauernarbeit wissen muß, kann ich doch sicher schnell lernen.«
Saxon mußte sehr mit sich kämpfen, um die Tränen zurückzuhalten. Es war, als wollte ihr Herz vor Glück brechen und sie erinnerte sich vieler Dinge – der Verheißung eines ganzen Lebens mit Billy aus den Tagen, ehe die schwere Zeit begann. Jetzt kam diese Verheißung wieder. Und da das Leben ihnen keine Erfüllung der Verheißung gebracht hatte, so wollten sie jetzt selbst ausziehen und die Erfüllung suchen.
Eine Furcht, die jedoch nicht ganz echt war, ließ sie sich in das Schlafzimmer hinter der Küche schleichen, wo Bert gestorben war, und im Spiegel des Toilettentisches studierte sie ihr Gesicht. Nein, sie war nicht sehr verändert. Schön war sie nicht. Das wußte sie gut. Aber hatte Mercedes nicht gesagt, daß die großen Frauen in der Geschichte, die die Liebe der Männer errungen hatten, nicht schön gewesen waren? Und doch war sie alles eher als häßlich, wie Saxon sich sagte, als sie ihr Spiegelbild betrachtete. Sie sah ihre großen grauen Augen, die so tiefgrau waren und immer so lebendig blickten, und auf deren Oberfläche wie in deren grauer Tiefe immer unausgesprochene Gedanken schwammen, Gedanken, die zu Boden sanken und sich auflösten, um neuen Gedanken Platz zu machen. Die Brauen waren schön, darüber war sie sich ganz klar – fein gezeichnet, etwas dunkler als das hellbraune Haar, und sie paßten ausgezeichnet zu ihrer unregelmäßigen Nase, die ausgeprägt weiblich, aber nicht schwach, eher pikant war und ein bißchen keck wirkte. Sie konnte sehen, daß ihr Gesicht etwas mager war, und ihre Lippen waren nicht ganz so rot wie früher; sie hatten etwas von ihrer frischen Farbe verloren. Aber alles das konnte wiederkommen. Ihr Mund war keine Rosenknospe – wie man es in den Magazinen sah. Sie betrachtete ihn besonders aufmerksam. Es war ein lustiger Mund, ein Mund, geschaffen, froh zu sein, zu lachen und andere zum Lachen zu bringen. Und sie wußte, daß ihr Lächeln auch bei andern Lächeln zu erzeugen pflegte. Sie lachte mit den Augen allein – das war einer ihrer kleinen Tricks. Dann warf sie den Kopf zurück und lachte mit Augen und Mund zugleich, und zwischen den halbgeöffneten Lippen kamen die beiden Reihen starker weißer Zähne zum Vorschein.
Und sie erinnerte sich, wie Billy an dem Abend in der Germania-Halle, als er Charley Long abgefertigt hatte, ihre Zähne gelobt hatte. »Nicht groß und auch nicht dumme kleine Kinderzähne«, hatte Billy gesagt. »Gerade so, wie sie sein sollen, und sie passen zu Ihnen.«
Wieder ließ sie den Blick über ihr Spiegelbild schweifen. Ja, sie konnte es schon mit mancher aufnehmen. War Billy prachtvoll als Mann, so war sie ihm auf ihre Art ebenbürtig. Sie kannte genau ihren Wert und ebenso genau den seinen. Wenn er wie früher war, richtig der alte, nicht von Sorgen gequält, nicht von der Falle gepeinigt, nicht durch Trinken von Sinnen gebracht, wenn er er war, ihr junger Liebhaber, dann war er reichlich das wert, was sie ihm geben konnte.
Saxon warf sich einen letzten Blick im Spiegel zu. Nein, sie war nicht tot. So wenig, wie Billys Liebe und ihre Liebe tot war. Alles, was sie brauchten, war der rechte Boden – dann wuchs und blühte ihre Liebe wieder. Und jetzt kehrten sie Oakland den Rücken und wanderten fort, um den rechten Boden zu finden. »Ach, Billy!« rief sie durch die Wand hindurch, während sie immer noch auf dem Stuhl stand und mit der einen Hand den Spiegel hin- und herwippte, so daß sie den Blick von ihren Fußgelenken und Waden bis zu dem Gesicht mit der warmen Farbe und dem schelmischen Ausdruck schweifen lassen konnte.
»Nun, was gibt es?« hörte sie ihn antworten.
»Ich mache mir selbst den Hof«, rief sie zurück.
»Was sind das nun für Dummheiten?« fragte er verblüfft. »Warum bist du so verliebt in dich?«
»Weil du mich liebst«, antwortete sie »Ich liebe jedes bißchen von mir selbst, Billy, weil . . . weil . . . nun ja, weil du jedes bißchen von mir liebst.«
Die Tage flogen in Glück und Freude für Saxon dahin, die mehr als genug damit zu tun hatte, Billy zu essen zu geben und zu pflegen, ihre Hausarbeit zu verrichten, Pläne zu schmieden und ihren kleinen Vorrat an feinen Handarbeiten zu verkaufen. Es war schwer genug gewesen, Billys Einwilligung zum Verkauf all der hübschen Dinge zu erhalten. Schließlich aber glückte es ihr doch, sie ihm abzulisten.
»Es sind nur die Dinge, die ich selbst nicht brauche«, sagte sie eindringlich. »Und ich kann immer wieder neue machen, wenn wir uns irgendwo niedergelassen haben.«
Was sie nicht verkaufte, gab sie Tom zur Aufbewahrung, dazu die Hauswäsche und ihre und Billys überflüssige Garderobe.
»Mach nur zu«, sagte Billy. »Du verwaltest das Geschäft. Was du sagst, soll gelten. Hast du schon bestimmt, wohin wir reisen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder wie?«
Sie hob erst den einen Fuß, dann den andern mit den soliden Straßenschuhen, die sie an diesem Morgen in Gebrauch genommen hatte.
»Auf Schusters Rappen, nicht wahr?«
»So ist unser Geschlecht nach dem Westen gekommen«, sagte sie stolz.
»Ja, dann sind wir aber die reinen Vagabunden«, wandte er ein. »Und ich habe nie von einer wandernden Frau gehört.«
»Nun, dann hörst du jetzt davon. Und, Billy, es ist keine Schande zu wandern. Meine Mutter wanderte fast den ganzen Weg über die Prärie. Und beinahe alle andern Mütter sind in jenen Tagen gewandert. Mir ist es gleichgültig, was die Leute denken.«
Nach ein paar Tagen, als die Kopfwunde geheilt war, stand Billy auf und begann umherzugehen. Natürlich aber war er ganz hilflos, solange er noch beide Arme im Gipsverband trug.
Doktor Hentley ging nicht allein darauf ein, daß sie mit dem Bezahlen seiner Rechnung auf bessere Zeiten warten sollten, sondern schlug es ihnen direkt vor. Von Staatsboden erklärte er, auf Saxons eifrige Frage, nichts zu wissen, nur hätte er eine dunkle Vorstellung, daß die Tage, da man Boden vom Staate bekam, vorbei seien.
Tom hingegen war vollkommen überzeugt, daß der Staat eine Menge Boden hatte. Er sprach vom Honey Lake, von Shasta County und von Humboldt.
»Aber ihr könnt zu dieser Jahreszeit nicht daran denken. Der Winter steht vor der Tür«, sagte er zu Saxon. »Ihr müßt nach Süden wandern, bis ihr dorthin kommt, wo es wärmer ist, zum Beispiel an der Küste. Dort schneit es nicht. Ich will euch sagen, was ihr tun sollt. Ihr geht über San José und Salinas, bis ihr an die Küste bei Monterey kommt. Südlich davon werdet ihr zwischen geschütztem Wald und mexikanischen Bauernhöfen Staatsboden finden. Es ist ziemlich wild dort, und es gibt keine Wege. Sie züchten nur Vieh. Aber es gibt schöne Riesentannencanyons dort und guten Ackerboden, der direkt bis ans Meer reicht. Ich sprach voriges Jahr einen Mann, der das alles gesehen hat. Und ich würde auch hinziehen wie du und Billy, aber Sarah will durchaus nichts davon hören. Es gibt auch Gold dort. Eine ganze Menge Menschen gehen hin, um nach Gold zu suchen; es gibt jedenfalls ein paar gute Minen. Aber das ist weiter weg und ein Stück von der Küste entfernt. Ihr könnt euch ja immerhin danach umsehen.«
Saxon schüttelte den Kopf. »Wir suchen nicht Gold, sondern Hühner und Federvieh und ein Stück Land, wo wir Gemüse bauen können. Unsere Vorfahren konnten ja in der ersten Zeit Gold suchen, und ihr seht, was dabei herausgekommen ist.«
»Ja, da hast du sicher recht«, gab Tom zu. »Sie spielten zu hoch und ergriffen nicht die Tausende kleiner Chancen, die ihnen direkt vor der Nase lagen. Nimm zum Beispiel Onkel Will. Er hatte soviel Bauernhöfe, daß er nicht wußte, was er damit machen sollte. Aber war er zufrieden? Nein, gewiß nicht – er wollte durchaus ein großer Viehkönig sein, und er starb als Nachtwächter in Los Angeles mit vierzig Dollar monatlich. Es gibt etwas, das Verstand heißt, und der Zeitgeist hat sich verändert. Jetzt ist alles Großhandel, und wir sind die kleinen Leute. Früher konnte jedermann einen Hof bekommen. Er brauchte nur seine Ochsen ins Joch zu spannen und ihnen zu folgen, der Stille Ozean lag viele Meilen westlich, und all die Bauernhöfe warteten nur auf sie.
Das war der Geist jener Zeit – Land umsonst und in großen Mengen. Als wir aber zum Stillen Ozean kamen, da war die Zeit auch vorbei. Da begann der Großhandel. Und mit dem Großhandel kamen große Geschäftsleute. Und jeder große Geschäftsmann bedeutet Tausende kleiner Leute, die kein Geschäft haben und nur für die Großen arbeiten. Und wenn es ihnen nicht paßt, dann können sie es lassen, aber davon haben sie auch keine Freude. Sie können ihren Ochsen nicht das Joch auflegen und auswandern, denn sie können nirgends hinwandern.«
»Ja, aber die großen Leute waren tüchtiger«, warf Saxon ein.
»Sie hatten mehr Glück«, behauptete Tom. »Einige gewannen, aber viele verloren, und die Männer, die verloren, waren ebensogut, wie die andern. Nun, es gab auch welche, die weit in die Zukunft schauten. Sieh, wenn dein Vater ein Herz- oder ein Nierenleiden oder die Gicht bekommen hätte, so hätte er nicht Expeditionen und Kriegszüge in der ganzen Welt unternehmen können, ja, dann würde er sich natürlich in San Franzisko niedergelassen haben – dazu wäre er gezwungen gewesen –, Grundstücke gekauft, Dampfschiffsreedereien gegründet, an der Börse gespielt und Eisenbahnen und Tunnels gebaut haben und dergleichen mehr.
Ja, er wäre selbst ein großer Geschäftsmann geworden. Ich kannte ihn. Er war der energischste Mann, den ich je getroffen habe, er dachte so schnell wie der Blitz, so kalt wie ein Eiszapfen und so wild wie ein Tiger. Aber er war so erfüllt vom Zeitgeist, daß er fast platzte, er war lauter Feuer und Flamme und konnte nirgends bleiben. Dein Vater bekam im richtigen Augenblick keine Gicht – das ist alles.«
Saxon seufzte, lächelte dann aber wieder.
»Aber deshalb habe ich doch etwas, das die andern nicht haben«, sagte sie. »Sie können keine Boxer heiraten, und das habe ich getan.«
Tom sah sie an, als wüßte er nicht recht, was er glauben sollte, dann aber begann sein Gesicht vor Bewunderung zu leuchten.
»Ja, ich will dir nur eines sagen«, erklärte er mit großer Feierlichkeit, »nämlich, daß Billy Glück hat, und daß er selber gar nicht weiß, wieviel.«
Erst als Doktor Hentley es erlaubte, wurde der Gipsverband von Billys Armen genommen, und Saxon drang darauf, daß sie noch vierzehn Tage warten sollten, um ganz sicher zu gehen. Mit den vierzehn Tagen wurden es zwei Monate Miete, und der Wirt hatte versprochen, sich zu gedulden, bis Billy wieder zu Geld kam.
Salingers warteten bis zu dem mit Saxon vereinbarten Tag mit dem Abholen der Möbel, und dann zahlten sie Billy noch fünfundsiebzig Dollar zurück. »Den Rest betrachten wir als Miete«, sagte der Einkassierer zu Saxon, »und die Möbel sind jetzt ja auch gebraucht. Es ist ein Verlust für Salingers, und sie brauchten es eigentlich nicht zu tun – das wissen Sie wohl. Aber denken Sie daran, daß wir kulant gegen Sie gewesen sind, und gehen Sie nicht an unserer Tür vorbei, wenn Sie sich wieder einrichten.«
Mit diesem Geld und mit dem, welches Saxon für ihre feinen Dinge erzielte, konnten sie all ihre kleinen Rechnungen bezahlen und hatten sogar noch ein paar Dollar übrig.
»Ich hasse es, Geld zu schulden – ich hasse es wie die Pest«, sagte Billy zu Saxon. »Und jetzt sind wir doch keinem Menschen etwas schuldig – außer dem Wirt und Doktor Hentley.«
»Und keiner von ihnen soll länger warten als durchaus notwendig«, sagte sie.
»Das sollen sie auch nicht«, antwortete Billy ruhig.
Saxon lächelte beifällig, denn sie teilte Billys Schrecken vor Schulden, und in dieser Beziehung hatten sie beide dieselbe strenge Moral wie die ersten Pioniere, die sich im Westen niedergelassen hatten.
Als Billy einmal ausgegangen war, benutzte Saxon die Gelegenheit, die Kommode, die mit dem Segelschiff über den Atlantischen Ozean und mit Ochsenkarren über die Prärie befördert worden war, zu packen. Sie betrachtete noch einmal den Holzschnitt von den Wikingern, die mit dem Schwert in der Hand auf den englischen Strand sprangen. Und wieder glaubte sie, in einem der Wikinger Billy zu sehen, und eine Weile saß sie da und dachte, wie wunderbar weit die Saat verstreut war, von der sie stammte. Sie dachte an die Erzählung ihrer Mutter, wie das verheißene Land vor ihren Augen erschien, als ihre mitgenommenen Karren und müden Ochsen über die Sierra mit dem frühen Winterschnee in das prächtige Sonnenland Kalifornien mit all seinen Blumen kamen. Sie sah in Gedanken von den schneebedeckten Höhen herab, wie ihre Mutter als neunjähriges Mädchen von ihnen hinabgesehen haben mußte.
Dann seufzte sie glücklich und wischte sich die Augen. Vielleicht waren die schweren Zeiten jetzt überstanden. Vielleicht war es ihre »Prärie« gewesen, und vielleicht waren sie und Billy jetzt gut hinübergekommen und kletterten in eben diesem Augenblick über die Sierra, von wo sie in den herrlichen Talstrich gelangten.
Neugierige Nachbarn guckten hinter den Gardinen, als Billy und Saxon die Straße hinabschritten, und die Kinder gafften ihnen überrascht nach. Billy trug ihr Bettzeug in einem bemalten Segeltuchüberzug auf dem Rücken. In diesem Packen hatte er auch ihre reine Wäsche und verschiedene andere notwendige Dinge. Obendrauf waren eine Bratpfanne und eine Kasserolle gebunden. In der Hand trug er die Kaffeekanne. Saxon hatte in der einen Hand einen Rucksack und auf dem Rücken die Ukulélé im Futteral.
»Wir müssen gefährlich aussehen«, brummte Billy, der zusammenfuhr, sooft ihn jemand ansah.
»Wenn wir nur eine große Fußwanderung machten, wäre nicht das geringste Lächerliche dabei«, tröstete Saxon ihn.
»Aber wir machen ja keine.«
»Sie wissen es jedenfalls nicht«, fuhr sie fort. »Nur du weißt es, und was du glaubst, daß sie denken, das denken sie gar nicht. Sie denken vermutlich, daß wir eine Fußwanderung machen. Und das beste ist, daß es ja auch stimmt. Wir tun es! Wir tun es!«
Das erheiterte Billy ein Weilchen, wenn er auch etwas murmelte, daß er jedem, der unverschämt gegen sie zu sein wagte, den Kopf zerschlagen würde. Dann warf er einen Blick auf Saxon. Ihre Wangen waren rot, und ihre Augen leuchteten.
»Weißt du«, sagte er plötzlich, »ich habe einmal eine Oper gehört, in der die Burschen mit Gitarren auf dem Rücken durch das ganze Land wanderten – genau so gehst du mit deinem Klimperding. Sie sangen die ganze Zeit im Gehen.«
Dazu hab ich sie auch mitgenommen«, antwortete Saxon. »Und wenn wir auf der Landstraße sind, will ich singen, und auch beim Lagerfeuer wollen wir singen. Wir machen eine Fußwanderung – das ist alles. Wir haben uns Ferien genommen und wollen uns umsehen Warum sollten wir es uns nicht gut sein lassen? Wir wissen ja nicht einmal, wo wir heute nacht und im übrigen auch alle andern Nächte schlafen sollen. Ist das nicht lustig?«
»Ja, es ist wirklich sehr komisch«, sagte Billy nachdenklich. »Aber ich möchte dir doch vorschlagen, daß wir durch die Nebenstraßen gehen. An der nächsten Ecke stehen ein paar Burschen, die ich kenne, und ich möchte ihnen nicht gern die Köpfe zerschlagen.«
Saxon und Billy waren mehrere Wochen auf ihrer Wanderung nach dem Süden unterwegs, und dann kamen sie nach Carmel zurück. Sie hatten bei dem Dichter Hafler im Marmorhaus gewohnt, das er mit eigenen Händen errichtet hatte. Das ganze merkwürdige Gebäude bestand aus einem einzigen Zimmer, das fast ausschließlich aus weißem Marmor gebaut war. Hafler kochte sich sein Essen, wie am Lagerfeuer, auf dem mächtigen Marmorkamin, der ihm überhaupt als Küche diente. Es gab eine Reihe von Bücherregalen, und das massive Mobiliar hatte er aus Rotholz verfertigt, ebenso die Deckenbalken. Durch eine in einer Ecke aufgespannte Decke wurde Saxon ein kleiner Raum abgeteilt. Der Dichter war im Begriff, nach San Franzisko und New York zu reisen, aber er blieb noch einen Tag länger zu Hause, um ihnen das Land ein wenig zu zeigen und mit Billy einen Ausflug rings um die Staatsländereien zu machen. Saxon wäre gern mitgegangen, aber Hafler hatte sie etwas überlegen beiseite gewinkt und gesagt, daß ihre Beine zu kurz seien. Als die Männer abends zurückkamen, war Billy vollkommen erschöpft, er erklärte ehrlich, daß Hafler ihn beinahe totgelaufen hätte, und daß ihm nach der ersten Meile schon die Zunge zum Hals herausgehangen hätte. Hafler veranschlagte ihren Ausflug auf ungefähr fünfundfünfzig Meilen.
»Aber was für Meilen!« hatte Billy gerufen. »Den halben Weg ging es auf und ab, und fast die ganze Zeit war es ungebahnter Weg. Und was für ein Tempo! Er hatte wahrhaftig recht, als er von deinen kurzen Beinen sprach, Saxon. Du hättest es nicht fertigbringen können – nicht einmal die erste Meile. Und welch Land! So etwas haben wir noch nie gesehen.«
Hafler verließ sie am nächsten Tage, um den Zug in Monterey zu erreichen. Er erlaubte ihnen im Marmorhaus zu wohnen und sagte, sie könnten den ganzen Winter bleiben, wenn sie wollten. Billy ruhte sich an diesem Tage aus. Alle Glieder waren steif und schmerzten ihn. Außerdem war er vollkommen gelähmt von der Leistung des Dichters.
»Alle Menschen können irgend etwas – in ganz großem Stil – hier im Lande«, sagte er bewundernd. »Sieh dir Hafler an! Er ist größer als ich und schwerer – und das Gewicht ist etwas Schlimmes für einen Fußgänger. Aber für ihn hat das keine Geltung. Er ist einmal siebzig Meilen in vierundzwanzig Stunden gegangen, erzählte er mir, und einmal hundertundsiebzig Meilen in drei Tagen. Er machte mich direkt lächerlich, und ich war verlegen wie ein kleines Kind.«
»Vergiß nicht, Billy«, sagte Saxon beruhigend, »daß jeder seine Spezialität hat. Und hier bist du der große Stil – auf deinem Gebiet. Nicht einer von ihnen kann mit einem Paar Boxhandschuhen umgehen wie du.«
»Das stimmt vielleicht«, gab er zu. »Aber deshalb ist es doch nicht schön, in Grund und Boden gelaufen zu werden – von einem Dichter, denk dir – von einem Dichter!«
Viele Tage verbrachten sie damit, den Boden zu untersuchen, und zuletzt beschlossen sie widerstrebend, den Plan, ihn zu pachten, aufzugeben. Die Riesentannen-Canyons und die großen Felsen bei den Santa-Lucia-Bergen bezauberten Saxon; aber sie dachte daran, was Hafler ihr von den Sommernebeln erzählt hatte, die zuweilen die Sonne eine oder zwei Wochen hintereinander versteckten und monatelang andauern konnten. Dazu war auch kein Markt in der Nähe. Es waren viele Meilen bis zu dem Ort, wo der nächste Fahrweg begann, und von dort an Sur vorbei bis nach Carmel war der Weg schmal und beschwerlich. Billy, der sich gut auf Fahrwege verstand, gab zu, daß er alles eher als gut war, wenn es auf schwere Fuhren ankam. Auf Haflers Boden befand sich der Marmorbruch. Er hatte gesagt, er würde ein Vermögen wert sein, wenn er in der Nähe einer Eisenbahn läge, aber wie die Verhältnisse wären, könnten sie ihn umsonst bekommen, wenn sie sich etwas daraus machten.
Billy sah im Geist die mit Gras bewachsenen Hänge als Weiden für seine Pferde und sein Vieh, und es erschien ihm schwer, seinen Plan aufzugeben, aber er hörte Saxons Gründe für einen richtigen Bauernhof, wie der, den sie im Kino in Oakland gesehen hatten. Ja, gab er zu, was sie haben müßten, sei ein richtiger, gewöhnlicher Bauernhof und einen solchen richtigen, gewöhnlichen Bauernhof sollten sie auch schon kriegen, und wenn sie vierzig Jahre herumlaufen müßten, um ihn zu finden.
»Aber es müssen Riesentannen darauf stehen«, bedang Saxon sich schnell aus. »In die Bäume bin ich ganz verliebt. Aber wir können ohne Nebel fertig werden. Und es müssen gute Fahrwege und nicht allzu fern muß eine Eisenbahn sein.«
Zwei Wochen lang waren sie durch schwere Regenschauer an das Marmorhaus gefesselt. Saxon machte Streifzüge durch Haflers Bücher, wenn auch die meisten hoffnungslos über ihrem Horizont lagen, und Billy ging mit Haflers Büchsen auf die Jagd. Aber er war ein schlechter Schütze und ein noch schlechterer Jäger. Das einzige, womit er Glück hatte, waren die Kaninchen, die zu töten ihm hin und wieder glückte, wenn sie still saßen. Mit der Büchse konnte er nichts bekommen, obwohl er auf ein Dutzend verschiedene Tiere schoß und einmal auch auf ein mächtiges Geschöpf aus dem Katzengeschlecht mit einem langen Schwanz, das seiner Ansicht nach ein Berglöwe war. Obwohl er aber beständig über sich murrte, konnte Saxon doch gut sehen, welche Freude ihm dieses ganze Leben machte. Dieses späte Erwachen des Jägerinstinkts machte ihn beinahe zu einem andern Menschen. Er war früh und spät draußen, unternahm mächtige Klettertouren und Spaziergänge, und einmal kam er ganz bis zu den Goldminen, von denen Tom gesprochen hatte, und blieb zwei Tage lang fort. »Rede mir nicht davon, sich in der Stadt abzurackern, ins Kino und Sonntags in den Park zu gehen – wenn man sich richtig freuen will«, konnte er manchmal ausrufen: »Ich begreife nicht, daß ich mir je das Hundeleben habe gefallen lassen. So ein Ort wie hier – hier hätte ich mein ganzes Leben verbringen sollen.« Die neue Lebensweise erfüllte ihn ganz und rief ihm beständig die alten Jagdgeschichten seines Vaters ins Gedächtnis zurück, die er Saxon erzählte.
»Weißt du, jetzt werden mir die Glieder nicht mehr steif, wenn ich einen ganzen Tag lang trabe«, sagte er triumphierend. »Jetzt bin ich es gewohnt. Und eines Tages, wenn ich diesen Hafler treffe, werde ich ihn zu einem Spaziergang herausfordern, daß ihm die Luft ausgeht.«
»Du dummer Junge, immer willst du allen andern die Luft wegnehmen – auf ihrem eigenen Gebiet«, sagte Saxon mit heiterem Lachen.
»Ja, und das ist sehr richtig«, brummte er. »Hafler wird immer ein besserer Fußgänger bleiben als ich. So ist er nun einmal. Wenn ich ihn aber je wiedersehe, werde ich ihn doch zu einem kleinen Boxkampf herausfordern – wenn ich auch nicht so gemein sein werde, ihn so schlimm zu mißhandeln, wie er mich mißhandelt hat.«
Auf dem Rückwege nach Carmel zeigte der Zustand der Wege ihnen hinreichend, daß sie klug getan hatten, den Plan mit dem Staatsboden aufzugeben. Sie kamen an einem Bauernwagen vorbei, der umgestürzt war, an einem andern Wagen, dessen Achse gebrochen war, und an der Post, die hundert Meter weiter abwärts mit Passagieren, Pferden und allem auf dem Hange lag.
»Ich glaube schon, daß sie im Winter den Weg nicht versuchen«, sagte Billy. »Das ist der reine Menschen- und Tiermörder, und ich möchte wissen, wie sie den Marmor hier transportieren wollen.«
Das Bleiben in Carmel wurde ihnen leicht gemacht. Hall ließ Billy auf dem Kartoffelfeld arbeiten – ein Feld von sechzig Morgen, das der Dichter zur großen Freude der ganzen Gesellschaft gelegentlich bebaute. Er legte Kartoffeln, wann es ihm einfiel; unter den andern war allgemein die Meinung verbreitet, daß das, was nicht verfaulte, zu gleichen Teilen zwischen Wühlmäusen und verirrten Kühen geteilt wurde. Sie liehen vom Nachbar einen Pflug und mieteten ein paar Pferde, und dann machte Billy sich an die Arbeit. Er zäunte das Feld auch ein, und nachher mußte er das Schindeldach der Villa anstreichen. Hall kam auf den First geklettert, um Billy daran zu erinnern, daß er sich nicht an seinem Brennholzstapel vergreifen dürfte. Eines Morgens kam er und sah Billy zu, der Brennholz für Saxon hackte. Der Dichter beobachtete ihn mit gierigen Blicken, zuletzt aber konnte er sich nicht länger halten.
»Sie haben offenbar keine Ahnung, wie man eine Axt gebraucht«, spottete er. »Kommen Sie, ich will es Ihnen zeigen.«
Er arbeitete getrost eine ganze Stunde und lieferte während der Arbeit eine lange Erklärung über die Kunst des Holzhackens.
»Sagen Sie«, wandte Billy ein, »darf ich jetzt einen Armvoll von Ihrem Brennholz hacken – damit ich nichts schuldig zu bleiben brauche?«
Hall übergab ihm widerstrebend die Axt.
»Ich rate Ihnen nur, sich von meinem Brennholzstapel wegzuhalten, das ist alles, was ich Ihnen sage«, drohte er. »Mein Brennholzstapel ist mein Schloß, das sage ich Ihnen.«
In materieller Beziehung war alles außerordentlich befriedigend. Saxon und Billy sparten viel Geld. Sie bezahlten keine Miete, ihre einfache Lebensart kostete nicht viel, und Billy hatte soviel Arbeit, wie er wollte. Die verschiedenen Mitglieder der Kolonie schienen sich einfach verschworen zu haben, ihn in Bewegung zu halten. Es war alles Gelegenheitsarbeit, aber ihm gefiel es, denn es setzte ihn instand, seine Zeit nach der Jim Hazards einzurichten. Jeden Tag boxten sie und schwammen lange durch die Brandung. Wenn Hazard mit seiner Morgenarbeit fertig war, stieß er ein Geheul aus, das in den Kiefern widerhallte, und Billy warf die Arbeit weg, die er gerade in den Händen hatte. Nach dem Schwimmen nahmen sie zu Hause bei Hazard ein Sturzbad, rieben sich tüchtig ab und waren zum Mittagessen bereit. Am Nachmittag kehrte Hazard an seinen Schreibtisch und Billy an seine Arbeit im Freien zurück, aber oft trafen sie sich später noch einmal zu einem raschen kleinen Lauf über die Hügel. Für beide war Training eine reine Gewohnheit. Als Hazard sein Fußballspiel aufgab, was er vor sieben Jahren getan, hatte ihn das Bewußtsein des traurigen Todes – der des Athleten mit den schweren Muskeln wartet, wenn er plötzlich aufhört zu trainieren – gezwungen, in Übung zu bleiben. Das war nicht nur eine Notwendigkeit, er hatte Gefallen daran gefunden. Billy gefiel es auch, denn er war stolz auf seinen gesunden, starken Körper.
Oft wanderte er in früher Morgenstunde mit der Büchse in der Hand hinaus, in Gesellschaft Mark Halls, der ihn Schießen und Jagen lehrte. Hall war seit den Tagen, da er noch in kurzen Hosen ging, mit der Büchse umgegangen, und seine scharfe Beobachtungsgabe und Kenntnis von den Gewohnheiten der wilden Tiere war Billy eine Offenbarung. Dieser Teil des Landes war zu bewohnt, als daß sie Großwild hier gefunden hätten, aber Billy versorgte Saxon beständig mit Eichhörnchen und Wachteln, Schnepfen und Wildenten. Und sie lernten auch, Wildenten und Kanevasenten, auf die alte kalifornische Art in 16 Minuten in einem sehr warmen Ofen gebraten, zu essen. Als er allmählich Übung im Gebrauch von Büchse und Flinte bekam, begannen ihn die Hirsche und der Berglöwe, der ihm hinter Sur entgangen war, zu ärgern; und zu den Bedingungen, die er an den Hof knüpfte, den er und Saxon suchten, fügte er jetzt die, daß es dort eine Menge Wild geben müßte.
Aber es war nicht alles Spiel in Carmel. Der Teil der Kolonie, mit dem Saxon und Billy in Berührung kam, arbeitete recht schwer. Einige arbeiteten regelmäßig morgens oder spät abends. Andere arbeiteten stoßweise, wie der verrückte irische Dramatiker, der sich eine ganze Woche hintereinander einschließen konnte, um dann blaß und mitgenommen wieder aufzutauchen und sich ebenso wütend zu amüsieren, bis er sich wieder in seine Einsamkeit zurückzog. Der blasse, jugendliche Familienvater, der ein Gesicht wie Shelley hatte, Lustspiele schrieb, weil er leben mußte, und Versdramen und Sonnettenzyklen zur Verzweiflung von Theaterdirektoren und Verlegern verfaßte, versteckte sich in einer Betonzelle mit Wänden, die drei Fuß dick waren, und einem Wasserrohrsystem, das so eingerichtet war, daß er durch Drehen eines Hebels jedem Eindringling ein Sturzbad bescheren konnte. Aber im großen ganzen respektierte einer die Arbeitszeit des andern. Sie besuchten einander, wann es sie dazu zog, fanden sie aber einen Mann in seine Arbeit vertieft, so gingen sie wieder. Das galt von allen mit Ausnahme Mark Halls, der nicht zu arbeiten brauchte, um zu leben, und der in die Bäume kletterte, um seinem großen Freundeskreis zu entgehen und in Frieden arbeiten zu dürfen.
Die ganze kleine Gesellschaft war vollkommen einzigartig in bezug auf den gesunden solidarischen Geist, der unter den einzelnen Mitgliedern herrschte, und sie pflogen sehr wenig Verkehr mit dem gesetzteren und korrekteren Teil von den Bewohnern Carmels. Diese Clique bildete eine Künstler- und Schriftstelleraristokratie, und die andern lachten über sie und nannten sie Snobs. Dafür wieder sahen die Snobs Mark Hall und seine Freunde wegen ihrer lärmenden Bohèmemanieren scheel an. Ihre Boykottierung erstreckte sich auch auf Billy und Saxon. Billy machte gemeinsame Sache mit dem Clan, suchte keine Arbeit im andern Lager, und sie wurde ihm auch nicht angeboten.
Hall hielt offenes Haus. Die große Wohnstube mit dem mächtigen Kamin, die Diwane, Regale und die vielen Tische mit Büchern und Zeitschriften waren der Mittelpunkt für das ganze Leben in der Kolonie. Saxon und Billy waren ebenso willkommen wie alle andern, und sie merkten, daß sie sich in Wirklichkeit hier ebenso zu Hause fühlten wie die übrige Gesellschaft. Wenn nicht heftige Diskussionen über alle möglichen Themen unter der Sonne geführt wurden, spielten sie allerhand Spiele, an denen Billy sich beteiligte. Saxon, die unter den jungen Frauen sehr beliebt war, nähte mit ihnen, unterwies sie in der Anfertigung hübscher Dinge und lernte dafür manches andere von ihnen.
Sie waren noch keine Woche in Carmel, als Billy eines Tages fast verschämt zu Saxon sagte:
»Du weißt gar nicht, wie ich all deine hübschen Dinge entbehre. Warum kannst du nicht an Tom schreiben und sie dir schicken lassen? Wenn wir weiterwandern, können wir sie ja immer zurückschicken.«
Saxon schrieb den Brief, und den ganzen Tag klang ein Jubellied in ihrem Herzen. Ihr Mann war immer noch ihr Anbeter, und in seinen Augen war wieder das alte Spiel des Lichts, das in der unheimlichen Zeit des Streikes verlöscht war.
»Sie haben sehr hübsche Wäsche hier, aber du schlägst sie alle – soweit ich mich darauf verstehe«, sagte er zu ihr. Und bei einer andern Gelegenheit rief er: »Ach, ich liebe dich bis in den Tod, wie es auch gehen mag. Wenn aber die Sachen nicht bald geschickt werden, dann gibt es einen toten Mann in der Gegend!«
Hall und seine Frau hatten jeder ein Reitpferd, das bei einem Fuhrmann in Pflege gegeben war, der Wagen vermietete, und dieser Stall übte natürlich eine große Anziehungskraft auf Billy aus. Dem Fuhrmann gehörte auch die Kutsche, die die Post von Carmel nach Monterey beförderte, und ferner vermietete er Wagen und große Fuhrwerke für Gebirgstouren mit Platz für neun Personen. Zu jedem Wagen stellte er einen Kutscher, und da man gewöhnlich vier Kutscher brauchte, wurde oft nach Billy geschickt, der auf diese Weise Ersatzmann im Stall wurde. Bei solchen Gelegenheiten erhielt er drei Dollar den Tag, und er fuhr viele Gesellschaften den siebzehn Meilen langen Weg durch das Carmeltal und die Küste entlang nach den verschiedenen Aussichtspunkten und Strandplätzen.
»Aber es ist fast alles ein großschnauziges Pack«, sagte er zu Saxon über die Leute, die er fuhr. »Es heißt immer Herr Roberts hier und Herr Roberts da – und ich werde nicht vergessen, daß sie sich für besser halten als mich. Ich bin zwar nicht ihr Diener, aber ich bin ihnen doch nicht gut genug. Ich bin ihr Kutscher – ein Mittelding zwischen Tagelöhner und Chauffeur! Wenn sie essen, geben sie mir mein Frühstück für mich – oder hinterher. Keine Freundschaft wie bei Hall und seiner Gesellschaft. Und die Leute heute – die gaben mir überhaupt kein Frühstück. In Zukunft mußt du mir immer mein eigenes Frühstück mitgeben. Ich will ihnen nichts schulden, den verdammten Idioten. Und du wärest vor Lachen gestorben, wenn du gesehen hättest, wie einer von ihnen mir ein Trinkgeld geben wollte. Ich sagte nichts. Ich blickte ihn nur an, als hätte ich ihn noch nie gesehen, und dann wandte ich mich wie zufällig ab, und er war verlegen wie der Teufel.«
Aber das Fahren machte Billy doch Spaß, namentlich wenn er nicht vier schwere Arbeitspferde, sondern vier rassige, feurige Tiere zügelte und, den Fuß auf der kräftig wirkenden Bremse, um Kurven bog oder an steilen Felshängen vorbeifuhr, während die weiblichen Passagiere laut vor Schreck schrien. Und wenn man einen Mann brauchte, der sich auf Pferde verstand und kranke oder zu Schaden gekommene Pferde zu behandeln wußte, dann machte selbst der Besitzer des Stalles Billy Platz.
»Ich könnte jeden Tag eine feste Anstellung bekommen«, prahlte er vor Saxon. »Ich sage dir, das ganze Land wimmelt von Chancen, wenn man nur einigermaßen tüchtig ist. Ich möchte wetten, wenn ich in diesem Augenblick dem Alten sagte, daß ich eine feste Stellung für sechzig Dollar bei ihm annehmen wollte, so würde er mit beiden Händen zugreifen. Er hat es mir auch vorgeschlagen. – Und sag mal, bist du dir eigentlich klar darüber, daß Unterzeichneter jetzt ein neues Handwerk gelernt hat? Nun, er weiß es jedenfalls. Er kann eine Kutsche fahren oben bei den Seen – und mit sechs Pferden. Wenn wir je dort hinkommen, werde ich mich mit einem Kutscher befreunden – nur um einmal versuchen zu dürfen, mit sechs Pferden zu fahren. Und du sollst neben mir auf dem Bock sitzen. Das soll flutschen! Ach, das soll flutschen!« Billy interessierte sich nur wenig für die vielen Gespräche, die in Halls großer Wohnstube geführt wurden. Für ihn war es nur eine Vergeudung der kostbaren Zeit, die zum Kartenspielen oder zum Schwimmen oder Ringen im Sand gebraucht werden konnte. Saxon dagegen war entzückt von diesen Aussprachen, wenn sie auch nicht viel davon verstand, sondern ihnen mehr gefühlsmäßig folgte und nur hin und wieder blitzhaft erfaßte, um was es sich handelte. Was sie jedoch nie verstand, war der Pessimismus, der so oft auftauchte. Der verrückte irische Dramatiker war zeitweise schrecklich niedergeschlagen. Shelley, der Lustspiele in einer Zementzelle schrieb, war ein chronischer Pessimist. St. John, ein junger Schriftsteller, der für Magazine schrieb, war Anarchist und eifriger Nietzscheaner. Masson, ein Maler, hatte sich die Theorie gebildet, daß es immer wieder dasselbe war, was geschah, und diese Theorie wirkte lähmend. Und Freund Hall, der meistens heiter war, konnte schlimmer als jeder andere sein, wenn er anfing, von dem kosmischen Pathos der Religion und ihrem Anthropomorphismus, der nicht sterben wollte, zu reden. Bei solchen Gelegenheiten wurde Saxon ganz schwermütig, wenn sie den betrübten Kindern der Kunst zuhörte. Es war unfaßbar, daß gerade sie das Leben so hoffnungslos sehen sollten.
Eines Abends wandte Hall sich plötzlich zu Billy, der nur eine unklare Vorstellung von dem, was sie sagten, besaß und nichts anderes verstanden hatte, als daß das ganze Leben ihnen als etwas Verfluchtes und Sinnloses erschien.
»Sagen Sie mal, Sie Heide, Sie unerschütterlicher erdgebundener Ochse, Sie Monstrum von überströmender und ewiger Gesundheit und Lebensfreude, was meinen Sie dazu?« fragte er.
»Ach, ich habe wohl auch meine Sorgen gehabt«, antwortete Billy in seiner gewöhnlichen, bedachten Art. »Ich habe Not gelitten, und ich habe einen Streik mitgemacht, der zu nichts führte, und ich habe meine Uhr versetzt und konnte doch nicht die Miete bezahlen und Essen kaufen, und ich habe Streikbrecher verprügelt und bin selbst verprügelt worden, und ich habe im Gefängnis gesessen, weil ich mich wie ein Idiot benommen habe. Wenn ich Sie recht verstehe, so ist es besser, ein feines Schwein zu sein, das gemästet und auf dem Markt verkauft wird, und sich über nichts zu ärgern hat, als ein Bursche, der Leibschmerzen hat, weil er nicht in seinen Kopf hineinkriegen kann, wie die Welt gemacht ist, und immer darüber nachdenken muß, welchen Zweck alles hat.«
»Das ist gut – Prämienschwein!« lachte der Dichter. »Der geringste Reibungswiderstand, die geringste Anstrengung – das ist der ideelle Zustand, eine Qualle, die im ruhigen, lauen, halbdunklen Meere treibt.«
»Aber ihr bekommt ja gar nicht all die guten Dinge mit«, wandte Billy ein.
»Nennen Sie sie«, sagte der andere herausfordernd.
Billy saß einen Augenblick schweigend da. Ihm war, als sei das Leben etwas Großes, Freigebiges. Er hatte das Gefühl, daß die Arme förmlich schmerzten, weil er nicht alles fassen konnte, und er begann zögernd und mit vielen Pausen, seine Gefühle in Worten auszudrücken.
»Wenn Sie je einen Boxkampf mitgemacht und mit einem Mann, der ebenso gut war wie Sie selber, gekämpft und zwanzig Runden lang gestanden haben, dann werden Sie verstehen, was ich meine. Jim Hazard und ich kennen das, wenn wir durch die Brandung schwimmen und den größten Wellen, die je gegen den Strand schlugen, ins Gesicht lachen, und wenn wir warm und angekleidet, mit Haut und Muskeln wie Seide und Körpern und Hirnen wie lauter knisternde Seide, aus dem Sturzbad kommen.«
Er hielt inne, weil er vollkommen außerstande war, die Gedanken auszudrücken, die bestenfalls doch nur verschwommen waren und in Wirklichkeit eher wie wieder zurückgerufene Eindrücke waren.
»Seide im Körper – verstehen Sie das?« schloß er still, denn er fühlte, daß er nicht gesagt hatte, was er sagen wollte, und der große Zuhörerkreis machte ihn verlegen.
»Das wissen wir alles«, antwortete Hall. »Lügen des Fleisches. Hinterher kommen Gicht und Zuckerkrankheit. Der Wein des Lebens ist berauschend, aber er verwandelt sich nur zu bald in –«
»Harnsäure!« warf der verrückte irische Dramatiker ein.
»Es gibt massenhaft andere gute Dinge in der Welt«, fiel Billy ihnen mit plötzlichem Eifer und Zungenfertigkeit ins Wort. »Gute Dinge durch und durch, von leckerem, saftigem Ochsenfleisch bis zu solchem Kaffee, wie Frau Hall ihn kocht, bis –«, er zögerte ein wenig, ehe er fortfuhr, dann aber faßte er Mut, »bis zu einer Frau, die man lieben kann, und die einen liebt. Sehen Sie Saxon, die hier mit der Ukulélé auf dem Schoß dasitzt. Da ist es für mich aus mit der Qualle im Aufwaschwasser und dem Prämienschwein.«
Die jungen Frauen brachen in laute Beifallsrufe aus und klatschten in die Hände, und man sah Billy an, daß er sich furchtbar genierte.
»Aber gesetzt, die Seide ginge aus Ihrem Körper heraus, daß Sie wie ein rostiger Bohrer knirschten?« fuhr Hall fort. »Gesetzt, ich sage nur gesetzt, Saxon ginge mit einem anderen Manne durch? Was dann?«
Billy bedachte sich einen Augenblick.
»Ja, dann würde es mir sicher ebenso ergehen wie dem Aufwaschwasser und der Qualle.« Er richtete sich auf und drückte unbewußt die Schultern zurück, als ließe er die Hand über die Muskeln des Oberarms gleiten und spürte ihr Schwellen. Dann sah er wieder auf Saxon. »Aber Gott sei Dank, daß ich immer noch Kraft genug in meinen Armen zu einer tüchtigen Ohrfeige und eine liebe kleine Frau habe, um die sich die Arme schließen können.«
Wieder gaben die jungen Frauen laut ihren Beifall kund, und Frau Hall rief:
»Seht Saxon! Wie sie errötet, was haben Sie dazu zu sagen?«
»Daß keine Frau glücklicher sein könnte«, stammelte sie, »und keine Königin stolzer. Und dann –« Sie beendete den Gedanken, indem sie in die Saiten der Ukulélé griff, und sang:
»Wenn Gott mal einen Fehler begeht,
Macht er gute Miene dazu.«
»Ich gebe mich besiegt«, sagte Hall lachend zu Billy.
»Ach, das weiß ich nicht«, sagte Billy bescheiden. »Sie haben so viel gelesen, daß Sie natürlich viel mehr wissen als ich.«
»Nein, nein, Verräter, wollen Sie das zurücknehmen«, riefen die jungen Frauen.
Billy faßte Mut und antwortete langsam und mit einem beruhigenden Lächeln:
»Aber deshalb bleibe ich doch lieber der alte, als daß ich mir an all den Büchern den Magen verderbe. Und was Saxon betrifft, so ist mir ein einziger Kuß von ihren Lippen mehr wert als alle Bibliotheken der Welt.«