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VIII. Kapitel.
Krieg

I

»Der Monarch ging im Kriege den Dingen aus dem Wege, statt auf den Grund und verschanzte sich in Optimismus ... Der Abstand zwischen dem äußeren Schein einer starken Persönlichkeit, den er zu erwecken suchte und auch suchen mußte, und dem Fehlen der inneren Kraft wurde immer größer bis zum bitteren Ende. Es war sein und Deutschlands Unglück, daß sich nicht von ihm wie von seinem Großvater sagen ließ, daß er kein bloßer Kriegsherr, sondern ein wirklicher Kriegsmann gewesen« (Freytag-Lorringhoven, Menschen und Dinge, 276). Dies Urteil eines adligen Generals faßt die Stellung des Kaisers im Kriege zusammen.

Verantwortlich für die Auswahl seiner Heerführer war er. Dem ehrlichen Moltke hatte er damals die Leitung eines Millionenheeres aufgedrungen, die eiserne Nerven forderte und weder Platzangst noch Menschenliebe zuließ; beides war Moltkes Fall. Mit dem Amt hatte er ihm seinen eigenen Aufmarschplan oktroyiert, den schon Schlieffen ohne Widerspruch angenommen; er führte, wie oben nach Waldersees Aufzeichnungen dargestellt, im Unterschiede zu den Plänen des großen Moltke zu einer starken Schwächung des Ostheeres zugunsten des Westheeres. Einen Augenblick lang schien der Zufall das Ganze umzustoßen: ein Mißverständnis in London, wonach Frankreich unter englischer Garantie neutral bleiben könnte, hat die immanente Kraft solcher Pläne auch dem Laien enthüllt:

»Also«, sagte der Kaiser am 1. August zu Moltke nach dieser irrigen Nachricht, »wir marschieren einfach mit der ganzen Armee im Osten auf!«

Moltke: »Das ist unmöglich, Majestät. Ein Millionenheer läßt sich nicht improvisieren ... Das würde nur ein wüster Haufen ungeordneter bewaffneter Menschen ohne Verpflegung sein.«

Kaiser, scharf: »Ihr Onkel hätte mir eine andere Antwort gegeben!«

Moltke: »Es ist völlig unmöglich anders als planmäßig aufzumarschieren: stark gegen Westen, schwach gegen Osten.«

Daraufhin drahtet der Kaiser dem König von England: »Aus technischen Gründen muß meine heut nachmittag schon angeordnete Mobilmachung nach zwei Fronten, nach Osten und Westen vorbereitungsgemäß vor sich gehen. Gegenbefehl kann nicht gegeben werden. Ich hoffe, Frankreich wird nicht nervös werden.« Um diese unvermeidbare Drohung durch Aufmarsch an der Grenze zu mildern, befiehlt darauf der Kaiser auf Bethmanns Wunsch, ohne den dabeistehenden Moltke zu fragen, seinem Flügeladjutanten: »Die 16. Division in Trier soll nicht nach Luxemburg!«

Moltke, der diese Szene beschreibt, gesteht: »Mir war zumut, als ob mir das Herz brechen sollte. Abermals lag die Gefahr vor, daß unser Aufmarsch in Verwirrung gebracht werde. Zu Hause angekommen, war ich wie gebrochen und vergoß Tränen der Verzweiflung ... So saß ich in dumpfer Stimmung untätig in meinem Zimmer, bis ich um 11 Uhr abends wieder zu S.M. befohlen wurde.« Aufklärung, Irrtum, Krieg gegen Frankreich, Aufmarsch wie vorgesehen. »Ich habe die Eindrücke dieses Erlebnisses nicht überwinden können. Es war etwas in mir zerstört, das nicht wieder aufzubauen war, Zuversicht und Vertrauen waren erschüttert.«

An dieser Schilderung eines Irrtums ohne alle äußeren Folgen ist mehr zu lernen als an einem Schlachtbericht. Die Logik der Maschine erdrückt den Konstrukteur und macht ihn zu ihrem Sklaven: unweigerlich wäre der Krieg mit Frankreich, auch wenn er wirklich durch Englands Garantie gehemmt wurde, trotz des Friedenswillens beider Gegner ausgebrochen (wofern ein solcher in Paris bestand), nur weil das kunstvolle Uhrwerk des Aufmarsches nicht abzustellen war und eine Million Soldaten einer anderen Million an der Grenze ohne Flintenschuß und Zwischenfall unmöglich lange gegenüberstehen konnte. Zugleich wird das Wesen eines Feldherrn deutlich, der am entscheidenden Tage seines Lebens, beim Ausbruch des Krieges, auf den er sich und die Armee ein Jahrzehnt lang vorbereitet, stundenlang dumpf und untätig in seinem Zimmer sitzt, weil ihm aus weltpolitischer Notwendigkeit sein Aufmarsch zerstört wird, – und der doch nicht den Mut hat, bei offener Übergehung seiner Person sofort zu demissionieren.

Daneben steht ein Kaiser, der es zwar wagte, als junger Mann von sich aus den Grundgedanken dieses Aufmarsches umzuwerfen, also wohl Autorität in der Kriegswissenschaft sein muß, jetzt aber, da es losgeht, die Gesetze seiner Maschine völlig verkennt und ihr die plötzliche Drehung zumutet, die sie nicht leisten kann. Als aber alles sich als Irrtum auflöst, steht der Feldherr gebrochen, nicht weil der Krieg nun doch nach zwei Fronten beginnt, sondern weil er einen Augenblick lang nur nach einer Front zu beginnen drohte. Die Tränen seiner Verzweiflung gelten dem überrannten System, und wenn wir auch vor einem weinenden preußischen General mit einigem Befremden stehen, so begreifen wir doch seine Vorgefühle gegen eine Autokratie, die der Oberste Kriegsherr gleich dem Obersten Friedensherrn zu üben entschlossen scheint.

Es kam anders. Wer den Kaiser nur von außen kannte, war überrascht, wie es kam: also die ganze Nation.

Durch 26 Jahre hatte er sein Volk an Regis Voluntas gewöhnt, in alle Gebiete des Staatslebens übergegriffen, seinen Ehrgeiz in einer persönlichen Regierung gesucht, die die Verfassung sprengte. Jetzt, frei von den verhaßten Kammern, in allen Entschließungen dem Krieg allein gehorchend, begabt mit einer Macht wie niemand in Europa, denn Zar und Habsburger waren zu schwach oder zu alt, jetzt, im Augenblicke, wo Autokratie Gebot der Stunde war: jetzt eben versagte der Kaiser. Mit dieser Erkenntnis schließt sich die Kette der Schlüsse, die wir von seiner Kindheit an über alle seine Taten hin, von der Prinzenzeit bis über die November- und die Julitage aus den Grundlagen seines gebrechlichen Wesens zu knüpfen suchten. Im ernsten Augenblicke geforderter Tatkraft, so hatten es die Intimen vorausgesagt, sprang der Motor seines nervösen Charakters aus dem Stromkreis und blieb stehn.

»Der Kaiser«, schreibt Ludendorff (Kriegserinnerungen, 203), »war Oberster Kriegsherr. In ihm ruhte die höchste Kommandogewalt über Heer und Marine. Die Oberbefehlshaber der Armee und der Flotte unterstanden ihm. Der Chef des Generalstabes des Feldheeres leitete nach dem Willen S.M. die Operationen selbständig. Entscheidende Entschließungen bedurften der kaiserlichen Zustimmung, Kommandogewalt besaß der Chef des Generalstabes nicht.« Dasselbe konstatiert Falkenhayn, und Schwerdtfeger (S. 12), dessen meisterhaftem Gutachten wir die nächsten Dokumente entnehmen, statuiert wiederholt und ausdrücklich, daß »die Verantwortlichkeit des Monarchen, wie denn auch die ganze Tragweite etwaiger Mißerfolge oder sogar eines ganzen verlorenen Krieges in erster Linie auf ihm lasten mußte«. Desgleichen Hindenburg (Aus meinem Leben, 170): »Bei wichtigeren Entschlüssen übernahm ich selbst den Vortrag und erbat, sofern solches notwendig war, die kaiserliche Genehmigung unserer Pläne.«

Aus dieser Machtfülle konnte der Kaiser sein Meisterstück formen, Tag und Nacht gleich seinen besten Beratern das Wohl des Heeres bedenken, das zugleich des Volkes Wohl und sein eigenes Interesse war: mit einem Male konnte er die ewige Zerstreutheit seines Lebens gegen ein Ziel zusammenfassen, den Krieg vom Kriege lernen, Vater der Truppen werden. Doch es verging kein halbes Jahr, so war er der Gefangene seines Hauptquartiers, nach zwei Jahren war jede Entschlußkraft erloschen.

Anfangs, als er statt eines Soldatenwillens den leidenden Denker Moltke neben sich fühlte, suchte er noch zu befehlen. Zu Falkenhayns Zeit nahm seine Aktivität rasch ab. Schließlich stand er nicht über, sondern unter Hindenburg und Ludendorff, von denen einer durch seinen Namen im Volke, der andere durch seinen eisernen Willen ihn bannte.

Die Marneschlacht hat er mit entschieden: jene Schwächung des Ostheeres, die vom Kaiser, nicht von Schlieffen erfunden und schon fünfzehn Jahre vorher von Waldersee als gefährlich bezeichnet war, rächte sich jetzt durch den Einbruch der Russen, hilferufend kam der Oberpräsident von Ostpreußen ins Hauptquartier und erlangte vom Kaiser persönlich die Absendung von zwei Korps, die nun plötzlich im westlichen Vormarsch fehlten und die verhängnisvolle Lücke in der Flanke der Zweiten Armee schufen. Auch die zweite und tiefere Ursache dieser Niederlage, die ungenügende Befehlsübermittlung am entscheidenden 8. und 9. September, geht auf die Lage des Hauptquartiers zurück, das »auf Befehl des Kaisers« in Luxemburg und damit über 100 Kilometer zu weit zurückgehalten wurde, ausschließlich aus Gründen persönlicher Sicherheit vor Fliegerbomben, denn entschlossene Männer im Hauptquartier drängten nach vorn.

Unter seinen höchsten Offizieren setzte sich die Kritik des Kaisers gleich mit dem Kriegsausbruch verdoppelt fort. Schon im August nennt es Moltke »herzzerreißend, wie ahnungslos der hohe Herr über den Ernst der Lage ist; schon kommt eine gewisse Hurra-Stimmung auf, die mir bis in den Tod verhaßt ist«. Und in den Marnetagen: »Der Kaiser muß nach Frankreich hinein, näher an die Armee heran, er muß wie seine Truppen in Feindesland sein« (M. 388). Tirpitz, im ersten Winter: »Vom Kaiser ging ich ganz niedergedrückt nach Hause ... stelle Dir seinen Großvater vor in seiner Lage! ... Es ist eben seine Eigenart, er will keinen Entschluß fassen und keine Verantwortung tragen ... Gestern abend war es wieder sehr öde, die Unterhaltung schleppte sich langsam entlang. Der Kaiser sieht überall riesige Siege, ich glaube aber, um sich über seine Unruhe zu beschwichtigen ... Der Oberstabsarzt sagt, der Kaiser betete förmlich nach einer Erlösung durch Abschiebung der Verantwortlichkeit, aber dann stößt er auf die Mauer, mit der er sich selbst umgeben hat, und stößt auf sein Selbstgefühl.«

März 15 ist es schon so weit, daß Tirpitz einem General aus der Umgebung andeutet, zu einheitlicher Führung müsse der Kaiser »einmal seine Macht auf einige Zeit detachieren, z. B. auf Hindenburg«. Seine Sorgen steigen, bald schreibt der Admiral entschlossen: »Ich sehe nur ein Mittel, der Kaiser muß auf acht Wochen oder mehr sich krank melden: ... Er muß zunächst nach Berlin. Kessel ... war auch entsetzt über den Kaiser und meinte, der König von Bayern müßte bestimmt werden, ihn einzuladen, sich auf einige Zeit krank zu melden. Wenn irgend möglich, müßte es von ihm selbst kommen mit Hilfe der Kaiserin ... Es scheint, daß nur mit Hilfe eines größeren Zusammenbruches Änderung kommen kann, dann aber ist es zu spät.« Hätte sich nur Tirpitz England gegenüber als ein so großer Prophet bewährt wie hier!

So, zwischen Furcht und Übermut, passiv und doch nicht einsichtig genug, die Macht zu detachieren, in Furcht vor Verantwortung und vor jenen Frageblicken, die brennender als je im Frieden von allen auf ihn gerichtet werden: ein ganz ziviler Mensch an der Spitze der stärksten Armee, ohne die Tugenden, ja ohne die meisten Laster des Soldaten, von einer Tradition bedrückt, die seine Väter zwar nicht als Feldherren, doch aber als Männer im Felde sah: so lebt er ein Etappenleben, unkriegerisch, abgesperrt, fast untätig und hat am Ende nichts, was ihn stärkt, als ein beinahe religiöses Gefühl des Martyriums, daß ihn die Welt verkennt.

Denn wie sich nun ein Chor von hundert Millionen aus allen Teilen der Erde erhebt und diesen leichtsinnig friedlichen Menschen zum Attila erhöht, wie ganze Erdteile mit Zerrbildern und Schmähgedichten sich überdecken, von denen er in seinem wohlgeschützten Winkel doch wenigstens einen Hauch verspürt, wie er den Fluch der Welt an seine Mauern branden fühlt: da freilich muß ein so ungeheures Mißverständnis seiner Absichten ihn die Fehler vergessen machen, durch die er dies Mißverständnis großgezogen, und wenn er fühlt, er ist nicht Attila, so vergißt er doch, daß er einst seinen Truppen befahl, es den Hunnen gleichzutun.

Jetzt erst, im Angesichte dieser furchtbaren Wirkung seiner ewig knabenhaften Geste, beginnt der Kaiser in ein tragisches Licht zu tauchen, denn was ihm die Natur in erster Stunde angetan und was er zu verhüllen vom uniformierten Königsbegriffe seines Hauses ein Leben lang gedrängt wurde, ist Schicksal und nicht Schuld.

 

II

Schuld ist die selbstgefällige Erziehung seiner Umgebung zur Schmeichelei und Lüge; sie endet nicht mit der Gefahr, sie wächst. »Ein unverdächtiger Zeuge,« schreibt Tirpitz, »der Oberstabsarzt sagte neulich, alle drei Kabinettschefs täten blindlings, was der Kaiser sagte ... Ich habe diese Ziellosigkeit seit zwei Jahren miterlebt und gesehen, wie ... alles sich an »Ihn« drängt, dem man den Glauben beibringt, alles selbst zu machen und von dem so große Vorteile ausgehen. Byzanz! Und nun haben wir den furchtbaren Krieg und ... fast alles immer noch bestrebt, nach dem Kaiser zu schielen, der umgeben ist von weichen Leuten ... Der Kaiser saß voller Siegesnachrichten, andere dürfen an ihn nicht herangebracht werden, unter anderem »ist in Indien Riesenaufstand« ... und alles ruft Hosianna ... Es wäre möglich, daß er sich absichtlich betrügt.«

»Um diese Stimmung zu erhalten«, schreibt Graf Stürgkh, Conrads Vertreter im deutschen Hauptquartier und häufig Gast des Kaisers, »wurden ihm zahlreiche Graben-Anekdoten erzählt, in denen der deutsche Soldat seinem Feinde gegenüber stets im besten Licht erschien ... Wenn er zur Truppe fuhr, wurde dafür gesorgt, daß er nur möglichst gute Eindrücke empfinge.« Als Erzberger, März 15, aus Rom kommend, dem Kaiser berichten soll, ob Italien marschieren wird, sagt der Flügeladjutant vorher mit Nachdruck: »Sie werden doch S.M. nur gute Nachrichten bringen!« Das Buch seines eigenen Bibliothekars »Der Kaiser im Felde«, das nichts als Autofahrten, Frühstücke, Ansprachen, Orden und Augenleuchten verzeichnet, voll widerlicher Anbetung, schenkt der Kaiser dem Grafen Czernin und anderen Personen mit Widmung.

Absperrung und Optimismus folgten aus einander. Nach dem Fall von Antwerpen schreibt Tirpitz: »Der Kaiser natürlich in rosigster Laune ... der Kernpunkt, daß nämlich die Besatzung sich nördlich hat drücken können, schien ihn weniger zu kümmern ... Er ist gänzlich unverändert, und es läßt sich gar nicht ernstlich mit ihm reden, obwohl ich das versuchte.« In dieser Stimmung werden die Bundesgenossen nicht anders als die Höflinge behandelt. Schon nach drei Kriegswochen tritt er dem Grafen Stürgkh (Im Deutschen Hauptquartier, 31) mit diesen Worten auf die Füße: »Nun macht aber endlich mal vorwärts, Kinder! Fritze (Erzherzog Friedrich) soll marschieren!« Später wiederholte er demselben amtlichen Vertreter der österreichischen Armee das Urteil, das sein jüngster Sohn von einem Besuch der österreichischen Front mitgebracht hat und das Kommandeure und Offiziere nach kurzer Rundfahrt aufs schärfste kritisierte. Obwohl der Österreicher leider nur erwidert, dem Prinzen sei die Eigenart dieser Offiziere wohl fremd, nimmt der Kaiser schon diese Antwort übel.

Alle diese Fehlurteile wurden im Krieg wie im Frieden durch fälschende Auswahl und Stilisierung der Nachrichten gezüchtet. »Die Hydra«: Plessen, Müller, Treutier, deren Porträts ihr Weltbild enthüllen, bewachten des Kaisers Schlaf. »Der Feldjäger aus der Türkei wollte sich bei S.M. melden, Plessen aber lehnte ab, es wäre nicht genehm, jetzt für S.M. noch mehr von der Türkei zu hören.« Dieser kleine Vorgang, den Tirpitz im März 15 notiert, spricht für hundert größere, denn eben in diesen Wochen hing das Schicksal der Türkei, die Absperrung des russischen Korns und Pulvers, es hing eine frühe Entscheidung des Weltkriegs an der Schlacht in den Dardanellen, und ein pflichtbewußter Kriegsherr mußte diesen Feldjäger, der ja Offizier war und manches gesehen hatte, in ein Kreuzverhör nehmen, um zu erfahren, wie es in der entscheidenden Ecke bis vorgestern stand.

Was tut er statt dessen? »Der Kaiser zeichnet an den Karten den Kriegsverlauf ein ... Die ganze Gesellschaft um ihn herum«, schreibt Tirpitz Juli 15, »ist so langsam eingeschlafen.« Seine Tätigkeit dauert täglich eine Stunde. Das deutsche Heer, das deutsche Volk, 60 Millionen steigern ihre Arbeitsleistung, Tausende brechen hinter der Front an Überarbeitung, Zehntausende nach und nach an steigender Erschöpfung zusammen; was an der Front geleistet und gelitten wird, hier anzudeuten, wäre frevelhaft. Nur der Kaiser verbringt – wie alle Memoiren gleichmäßig berichten – den Vormittag »meist mit Vorträgen und Unterhaltungen« im Garten, »auf den er sich wegen der nicht zu leugnenden Gefahr beschränken mußte.« Dann Vortrag des Chefs von 12-1, ja, Hindenburg bemerkt ausdrücklich (170): »Die Zeit des mittäglichen Vortrages vor dem Kaiser wurde vielfach auch zu Besprechungen mit Vertretern der Reichsleitung ausgenutzt,« den Feldherrn also auch von dieser Information ein Stück fürs Politische weggenommen, damit die Arbeit rascher erledigt sei. Über eine entscheidende Konferenz beim Kaiser in Pleß, August 15, wo es um die Frage ging: Amerika oder nicht, berichtet Tirpitz (T. 357): »Bei der Besprechung wurde keine Einigung erzielt, und so folgte alsbald beim Kaiser der Vortrag, der durch die im geöffneten Nebenzimmer wartende Frühstückstafel abgekürzt wurde.«

Bei Tisch, in einem Speisesaal für nur 16-20 Personen, ging es höchst einfach zu, in den Hungerjahren gab es »nur drei Gänge mit Weißwein oder Rotwein, nachher Zigarren und Bier.« Da Gäste, die die Not im Lande an sich erfahren, nicht zugelassen wurden, fiel dies den Tafelnden stets als besondere Einfachheit des kaiserlichen Kriegstisches auf; da er selber immer mäßig lebte, war auch hier nur Repräsentation das Motiv. Nach Tische schlafen, dann Spazierfahrt, »sei es, berichtet Stürgkh (74), um in hübscher Gegend einen Spaziergang zu machen, oder eine alte Burg zu besichtigen, wie es deren mehrere in der Nähe (von Charleville) gab, oder auf dem nahen Schlachtfeld von Sedan die großen Ereignisse von 1870 in der Vergangenheit zu verfolgen. Sache der Umgebung war es, für diese Ausflüge stets irgendein anregendes und seine Stimmung günstig beeinflussendes Ziel ausfindig zu machen.« Dann Souper, »so ziemlich jeden Abend Gäste«, Gesellschaft bis 11 Uhr.

Da in dieser Stunde der Tafelfreuden die wichtigsten Meldungen kamen, hatte sich Hindenburg für die Abendtafel ein für allemal entschuldigen lassen; der Kaiser aber las dann gern die neuesten Depeschen vor, er machte sie selber auf. »Die geringe Gebrauchsfähigkeit seiner linken Hand, welche bis zu einem gewissen Grade gelähmt und, wie der ganze linke Arm, verkümmert war, erschwerte ihm dies einigermaßen; so half er sich, indem er die Depesche erst mit der rechten entgegennahm, dann zwischen die Finger der linken Hand einklemmte, den Umschlag sodann mit der rechten Hand aufriß, die Depesche hervorzog und sie entfaltete.«

In diesen kleinen Szenen steckt das ganze Symbol dieses tragisch auf den Schein gestellten Soldatenlebens. Vorn überstürzen sich Taten und Untaten, Menschen und Dinge, fünf Millionen Deutsche kämpfen, um fünfundfünfzig zu retten. Hinten sitzt ihr Oberster Kriegsherr bei Tafel. Nachdem er sich auf alten Schlachtfeldern die Zeit vertrieben, in der sein Volk auf neuen verblutete, nun, nach des Tages Mühen, sitzt er heiter im zechenden Kreise, aufgeräumte Gemüter oder solche, die es affektieren, erzählen ihm Heldenmären von der Front, und wenn der Funke neue Meldung spendet, muß der arme, verkrüppelte Mann die Technik eines ganzen Lebens anwenden, um auch nur den Umschlag jener Meldungen zu öffnen, die ihn erfrischen sollen.

Während in Brüssel die deutschen Abbaukommandos jeden Türgriff und Hahn von Messing absägten und das kleinste Stück Kupfer konfiszierten, während Millionen deutscher Hausfrauen ihre Geräte plünderten, um alles abzuliefern, was als Urväter Hausrat in der Küche glänzte, ließ sich der Kaiser von belgischen Zivilarbeitern einen Badewagen aus reinem Kupfer zur Ergänzung seines Hofzuges in den Werkstätten der General-Eisenbahn-Direktion Brüssel bauen. Dergleichen war ohne seinen persönlichen Auftrag unmöglich, es war ja das privateste Utensil. Ja, sie war längst versunken, die Zeit des eisernen Feldbettes, in dem der alte Kaiser durch die Jahrzehnte nach meist sehr arbeitsreichen Tagen Ruhe gesucht und schließlich auch die letzte gefunden hatte. Der Enkel konnte nach 30 Kaisermanövern, in denen ihm und jedem Fürsten von Pionieren ihre Bäder »nachgeschoben« wurden, im Kriege nirgends mehr wohnen als in Villen und Schlössern; so geschieht es freilich, daß das Hauptquartier 200 Kilometer hinter der Spitze bleibt, und so verliert man Schlachten.

Zuweilen nähert er sich seinem kämpfenden Volke. »Der Kaiser selbst«, schreibt Stürgkh (114) nicht ohne Bewunderung, »war in der Lage gewesen, durch das Fernrohr das Gefecht bei Soissons verfolgen zu können. Er vermochte die Wirkungen seiner Artillerie wahrzunehmen, er sah den Gegner fliehen und sah seine braven Soldaten siegreich vordringen; er konnte ihnen und ihren Führern Lob spenden und ihre Brust mit dem Eisernen Kreuze schmücken.« Auch dabei kommt Serenissimus nicht zu kurz, und selbst dieser Graf, der ihn stets mit Sternen geschmückt schildert, nennt das Vergnügen, »das jede ihm verliehene Ordensauszeichnung bereitete, fast kindisch.«

Sein Haß war England. Die rein dynastische Art, in der er den Krieg und seine Ursachen begriff, drückte sich gleich anfangs, auf der Fahrt nach Westen, in der Wut aus, daß er so vergebens seinen beiden Vettern Frieden angedrahtet hätte, wobei er »mehrmals dröhnend auf den Speisetisch schlug.« (Stürgkh, 20). Für ihn, schreibt Ballin (Huldermann, 297), liegt die Sache so, »daß er von seinen englischen Verwandten verraten worden sei, und darum den Krieg mit England bis zum bitteren Ende durchfechten müsse.« Selbst die recht friedliche Kaiserin sah Ballin später »mit aufgehobenen, geballten Händen ausrufen: Ein Friede mit England? Niemals!« Diese dynastische Auffassung ging bis zur Schonung des Gegners: dem Kaiser galt als ungeschriebenes Gesetz, daß Könige von Gottes Gnaden einander nicht beschießen; als trotzdem in Charleville die ersten Fliegerbomben fielen, war der Kaiser, nach Tirpitz, wütend: »Jetzt wird auch Buckingham Palace freigegeben. Er glaubt wirklich an eine stillschweigende Einigkeit der Häupter, sich selbst zu schonen, eine merkwürdige Denkungsweise.«

Aus diesem Gefühl gegen England entwickelt er entscheidende Beschlüsse. Wer es im Ablauf seiner Regierung nicht erkannt hat, der müßte das stets eifersüchtige, beleidigte, dies tiefe Gefühl verletzter Neigung mit seinen europäischen Folgen jetzt aus der Führung der Flotte durch ihren Kriegsherrn erkennen. Ein feuriger Haß, genährt von dem Gefühl, überfallen zu sein und betrogen, würde sich in raschem Angriff Genüge tun; des Kaisers Eifersucht fürchtet das Risiko, seine heimliche Bewunderung hält einen Sieg über die größte Seemacht für unmöglich, aus unbewußten Tiefen steigt ein Wunsch zu jener Verständigung nach dem Kriege hervor, die er vorher sich immer wieder verbaut hatte, er setzt im Krieg den Preis nicht ein, um den er im Frieden sich England zum Feinde machte: die Flotte bleibt im Hafen.

Da steht Tirpitz, ihr Schöpfer, und muß erleben, daß wirklich eintritt, was er als Zweck seiner Flotte immer vorgegeben: sie soll nicht kämpfen, sondern Machtmittel der Verhandlung, der Weltkrieg soll für sie nur ein Intermezzo bedeuten. So rächt sich Tirpitz' Lüge, denn daß er nun mit seinen Truppen und Torpedos, seinen Kanonen und Panzerplatten endlich losgehen und zeigen will, was seine Waffe kann, das wird dem Soldaten niemand verübeln. Da steht er, versucht den Kaiser zu bewegen, gibt es am Ende auf und geht.

»Zufolge Nachrichten ... halte ich vorläufig defensives Verhalten der Hochseeflotte für geboten,« befahl der Kaiser dem Admiral von Pohl am 5. Mobilmachungstage. Entsetzt wenden sich Pohl, Tirpitz, Ingenohl gegen diesen Befehl; aber neben dem Kaiser sitzt als Kabinettschef der Admiral von Müher, ein windiger Hofmann, Abstinenzler, Gesundbeter, artistisch, weich, hierin ein anderer Eulenburg, und redet zur Vorsicht, ja zur Schonung. »Engländern gegenüber müssen die Kommandanten ruhiges Abwarten an den Tag legen. Kein Vorstoß, ehe ich es nicht befehle. W.« Dies teilt Pohl am 30. August als Befehl des Kaisers mit, während es Moltke »für unmöglich« hält. Am 4. September: »Admiral von Tirpitz teilt mit, daß er S.M. nicht dazu zu bestimmen vermochte, von seinem Befehl Abstand zu nehmen, und daß der Flottenchef nur auf seinen Befehl zu entscheidendem Angriffe vorgehen dürfe.« Zugleich schreibt Tirpitz: »Es ist der Kaiser, der Ingenohl bremst. Er will nichts mit der Flotte riskieren. Er will zurückhalten bis Winter, wenn nicht überhaupt ... Es ginge alles gut, wenn wir einen eisernen Kanzler und einen ›alten Kaiser‹ hätten.« So sprechen die Paladine.

Gegen seine Passivität im Kommando des Landkrieges, dessen Führer, Pläne und Lage er täglich sieht, setzt er den eigenen Trotz, Führer im Seekriege zu sein, dessen Basis er ferne bleibt, dessen täglich wechselnde Umstände durch keinen Vortrag, nur unvollkommen durch Depeschen ihm bekannt werden. So lähmt er die Aktion zur See aus der Ferne, während er aus der Nähe die Aktion zu Lande nicht zu beflügeln weiß. Für beides hegen die Gründe in den Stimmungen seiner Seele; die Folgen werden deutsches Schicksal.

»Ich werde nicht zwischen mich und meine Marine einen anderen setzen,« sagte der Kaiser, und zu Müller: »Ich brauche keinen Oberkommandierenden, das kann ich selber machen.« Mit diesen wiederholten Ablehnungen beweist er bis in den Wortlaut hinein, wie er die Flotte als seine Schöpfung, sein Reservat ansieht. Daß ihn die schmeichelnde Clique darin bestärkt, darf Tirpitz freilich beseufzen: »Für die Illusion, daß der Oberste Kriegsherr selber mit der Flotte operierte, waren Naturen am Platze, welche den Kaiser auch gern bei kleineren Unternehmungen bis in die Einzelheiten hinein um Weisung befragten.« Mit dieser ängstlich gehüteten Kommandogewalt entscheidet er bald auch Lebensfragen des Kriegs und der Nation: Tirpitz' Antrag vom November 14, England durch U-Boote zu blockieren, lehnt der Kaiser ab, hat aber vielleicht nach dem Kriege Admiral Scotts englische Berichte gelesen, damals hätte die Blockade »den Zusammenbruch Englands in kürzester Zeit herbeigeführt. Wir waren in Scapa-Flow keinen Tag sicher, ob wir am anderen Morgen noch erwachten.«

Wie mußte die Stimmung in der Marine sinken, wenn Ingenohl im Dezember 14 vor einem feindlichen Geschwader, trotz günstiger Gefechtsbedingungen, abzudrehen und nach Wilhelmshaven zurückzukehren gezwungen wurde: »Der Eindruck«, schreibt Admiral Scheer, »eine selten günstige Gelegenheit versäumt zu haben, blieb haften, die Wiederkehr einer solchen war schwerlich zu erwarten.« Und Tirpitz sagt direkt: »Am 16. Dezember hatte Ingenohl das Schicksal Deutschlands in der Hand.«

Als später am Skagerrak Admiral Scheer am zweiten Schlachttage wieder herauswollte und günstig stand, verbot der Kaiser jeden neuen Vorstoß. Wären die Stimmungen von Kaiser und Admiral umgekehrt gewesen, so hätte man diesen vor ein Kriegsgericht gestellt. Ja selbst als Falkenhayn, um diese Zeit bei Verdun durch englische Artillerie bedrängt, den U-Bootkrieg als Abwehr forderte, lehnte der Kaiser ihn ab. Damals nahm Tirpitz seinen Abschied. Ein paar Monate später wurde der U-Bootkrieg dennoch beschlossen: Bethmann blieb im Amte, statt zu gehen, Tirpitz aber, statt grade jetzt wiederzukommen, blieb draußen.

Mit diesen Chassez-Croisez seiner Berater schloß des Kaisers erste Kriegsepoche. In der zweiten hat er sich vollends entmachtet.

 

III

Die Heraufkunft Hindenburgs und Ludendorffs in der Mitte des Krieges setzte die politische Leitung des Reiches matt. Hätte der Kaiser im Sinne der Verfassung beide Gewalten in Personal-Union vereinigt, so war das Gleichgewicht der Kräfte stabiliert; da er, zum Reden, nicht zum Handeln fähig, dort ausfiel, wo es galt, bekämpften sich diese beiden, in jedem Krieg verfeindeten Kräfte, ohne von einem übergeordneten Willen versöhnt zu werden. Vom Thron, vor den jetzt Kanzler und Generale wie vor eine Gottheit traten, die letzte Entscheidungen treffen sollte, dröhnte das Schweigen nieder.

Wieder werden die Gründe auf dem Grunde dieser merkwürdigen Seele sichtbar. Furcht vor dem übermächtigen Gegner, die ihn seit der Einschließung, seit etwa 09 beherrschte, zugleich das Ausweichen vor Entscheidungen, ein dämmeriges Vorgefühl vor inneren Revolten nach äußeren Niederlagen erzeugten in ihm die Stimmung der Defensive. Da er aber ein Leben lang Aktivität mit offensivem Wesen gleichgesetzt und dadurch die Welt beunruhigt hat, vermag er in der Defensive nur passiv zu bleiben und tritt vom Handeln ganz zurück, wenn es Schonen und Warten bedeutet. So wird aus einer politisch richtigen Grundstimmung ein völliges Verlöschen, und die starken Männer haben leichtes Spiel.

Kanzler und Vizekanzler, Bethmann und Helfferich, die an der Hand von Bernstorffs schlagenden Berichten aus dem unbeschränkten U-Bootkrieg den Eintritt Amerikas und damit die Niederlage kommen sahen, traten dennoch dem Entschlusse bei, den die verzweifelten Generale erzwangen. Sie taten es mit der kläglichen Begründung aber gesinnungslos Ehrgeizigen, das Vaterland brauche ihre Dienste; weil sie niemand bat zu bleiben, auch nicht der Monarch, attestierten sie sich ihre Unentbehrlichkeit selber. In Pleß, am 10. Januar 17, lieferte der Kanzler die ganze politische Macht des Reiches zwei nicht verantwortlichen Generalen aus.

Von der Suprematie des Soldaten im Kriege war der Kaiser durchdrungen. Bismarck (2. Bd., 23. Kap.) hatte geschrieben: »Die Feststellung und Abgrenzung der Ziele, die durch den Krieg erreicht werden sollen, die Beratung des Monarchen in betreff derselben ist und bleibt während des Krieges, wie vor demselben, eine politische Aufgabe, und die Art ihrer Lösung kann nicht ohne Einfluß auf die Art der Kriegführung sein.« Der Kaiser schrieb auf eine ähnliche Darlegung der »Frankfurter Zeitung« wütend: »Machwerk ist sofort von der Wilhelmstraße coram publico zu vernichten ... Politik hält im Kriege den Mund, bis Strategie ihr das Reden wieder gestattet!«

Jetzt aber, seit Ludendorff Heer und Reich regierte, begann der Kaiser unter der selbstgewählten Fessel zu leiden: der Mann, über dessen »Feldwebelgesicht« er sich vertraulich beschwerte, erschien ihm mehr und mehr als sein Dompteur, er war es auch; der Kaiser flüchtete sich unter die milderen Augen des Feldmarschalls, ohne dessen Abhängigkeit vom General zu verkennen. Rasch mußte unter solchem Druck der Rest seiner Autorität schwinden. »S.M. begnügten sich,« schreibt vorsichtig Hindenburg, »bei Vorschlägen allermeist mit der Entgegennahme meiner Begründung. Ich erinnere mich keines Gegensatzes, der nicht schon während des Vortrages durch meinen Kriegsherrn ausgeglichen wurde«, und der Kronprinz (Erinnerungen, 94) sagt noch deutlicher: »Im Kriege führte ihn die Selbstbescheidenheit fast bis zur völligen Ausschaltung seiner Person gegenüber den ... Maßnahmen des Chefs des Generalstabs.«

Zugleich stieg immer mehr die Angst, Peinliches zu hören; so setzte er dem Grafen Czernin (Im Weltkriege, 75), der ihm im Hofzuge wichtige Dinge vortragen sollte, passive Resistenz entgegen: »Er lud mich in den Speisewagen zum ersten Frühstück ein, und dort saßen wir in Gesellschaft von ungefähr zehn Herren, so daß keine Möglichkeit war, die sachliche Konversation zu beginnen. Das Frühstück war längst beendet, und der Kaiser erhob sich nicht. Ich mußte ihn mehrmals und das letztemal sehr ausdrücklich ersuchen, mir einen privaten Vortrag zu ermöglichen, bis er endlich aufstand, – dann aber noch einen Herrn des Auswärtigen Amtes beizog, wie um bei diesem Schutz gegen erwartete Vorstöße zu finden.« In dieser Szene des Jahres 17 tritt der Zusammenbruch seines Nervensystems zutage, der dem Zusammenbruch seines politischen Systems vorausging.

Als sich's denn nicht mehr vermeiden ließ, daß der Monarch die Vertreter seines kämpfenden Volkes mit Augen sähe, lud man im Juli 17 die Parteiführer mit ihm zusammen. An diesem Abend sah Wilhelm der Zweite zum erstenmal im Leben einen sozialdemokratischen Abgeordneten; niemand, am wenigsten Ebert, hätte bei dieser Vorstellung geglaubt, er werde so bald sein Nachfolger sein. Bethmann war endlich beseitigt. Die Heeresleitung hatte durch Oberst Bauer, der es selbst beschreibt, im Augenblick der drohenden Demokratisierung den Kanzler gestürzt, Erzberger hatte zugleich die Mehrheit zu einem Frieden der Verständigung gefunden, aber einen »Frieden des Ausgleichs«, wie Ludendorff ihn formuliert wünschte, entschieden abgelehnt. Unter diesem Eindruck sollten sich Volk und Krone begegnen. Doch was geschah?

»Es ist sehr gut, sagte der Kaiser zu den versammelten Herren, daß der Reichstag einen Frieden des Ausgleichs wünscht! Das Wort Ausgleich ist ausgezeichnet ... Der Ausgleich besteht eben darin, daß wir den Feinden Geld, Rohstoffe, Baumwolle, Öl wegnehmen und aus ihrer Tasche in unsere fließen lassen. Das ist ein ganz famoses Wort.« »Die Zuhörer«, schreibt Erzberger (Erinnerungen, 52), »sahen mit Schrecken, daß der Kaiser nicht nur nicht informiert war über das, was sie wollten, sondern sie fühlten sich durch diese Ausführungen sogar verhöhnt.«

Hierauf entwickelte der Kaiser weiter seine Kriegsziele: »In zwei bis drei Monaten ist England erledigt ... Meine Offiziere melden mir, daß sie überhaupt kein feindliches Schiff auf hoher See mehr antreffen ... Die untere Donau muß später nach dem Schwarzen Meer abgeleitet werden, dann sitzt die Donau-Kommission auf dem Trockenen. Das ist die verdiente Strafe für Rumäniens Treubruch ... Am Schluß des Krieges wird eine große Verständigung mit Frankreich kommen, dann wird ganz Europa unter meiner Führung den eigentlichen Krieg gegen England beginnen, den Zweiten Punischen.« Noch ein Witz über die Balkanvölker, und auf einen Sieg der Garde das Aperçu: »Wo die Garde auftritt, da gibt's keine Demokratie.«

Damit schloß er lachend die Unterhaltung, deren Kosten er allein bezahlt hatte. »Das Entsetzen unter uns Abgeordneten«, schreibt Erzberger, »steigerte sich ... Ergraute Abgeordnete, die vom parlamentarischen System bisher nichts wissen wollten, sprachen es an diesem Abend offen aus.«

Während ihm jedes Organ und jeder Wille für die Volksvertreter fehlte, fühlte er sich doch auch den mächtigen Gegnern des Reichstages, den beiden Generalen in keinem Sinn verwandt, und stand, in heimlicher Trauer über den ihm abgezwungenen Sturz Bethmanns, nun völlig einsam zwischen den Gewalten. Den Grafen Bernstorff zu berufen, widerrieten ihm, da er geeignet war, seine Vertrauten, Bülow aber, den die Generale wollten, war auch jetzt noch, acht Jahre nach seinem Abgang, »der Hochverräter«; so machte der Kaiser, nach ausdrücklicher Genehmigung durch die Heeresleitung, irgendeinen Beamten zum Kanzler und zwang nach dessen raschem Abgang dem alten Grafen Hertling die Nachfolge auf. »Die einzige Lösung«, schreibt Schwerdfeger (S. 88), »hätte es bedeutet, wenn der Kaiser jetzt in den Vordergrund trat und die oberste Leitung in scharfer Zügelführung selbst übernahm; die Entwicklung der Dinge schrie gradezu nach einer derartig tatkräftigen Zusammenfassung der obersten Gewalt. Aber dazu fühlte sich der Monarch nicht imstande ... Er blieb im Hintergrunde, gewährte den Männern der Heeresleitung breitesten Spielraum und begab sich in steigendem Maße seines persönlichen Einflusses ... Nicht Schuld, sondern Schicksal ist es gewesen, daß das deutsche Volk bei seinem schwersten Waffengange nicht einen Mann an seiner Spitze fand, der die Eigenschaften Friedrichs des Großen besaß.«

Anfang 18 beriet man, wie Oberst Bauer mitteilt, in der Operations-Abteilung bereits über die Verhaftung des Kaisers. Selbst Hindenburg, formell immer loyal, stellte in einer Eingabe vom 7. Januar schon dieses drohende Ultimatum: »E. M. hohes Recht ist es zu entscheiden, aber E. M. werden nicht befehlen, daß aufrichtige Männer, die E. M. und dem Vaterlande treu gedient haben, sich mit ihrer Autorität und ihrem Namen an Handlungen beteiligen, die sie aus innerster Überzeugung als schädlich für Krone und Reich erkannt haben ... E. M. bitte ich ... sich grundlegend zu entscheiden.« Da es sich hier um den Frieden von Brest-Litowsk handelte, war seine Autorität in keinem Sinn gefährdet: ein Feldmarschall stellte die Kabinettsfrage um eines politischen Problems willen, das nur den Kanzler anging. In seiner Antwort nahm der Kaiser bei Konflikten zwischen Militär und Politik ausdrücklich die Entscheidung und damit nicht bloß staatsrechtlich, auch persönlich die ganze Verantwortung für die Ereignisse des letzten Kriegsjahres auf sich.

Trotzdem zwangen ihn zu gleicher Zeit die beiden Generale, seinen langjährigen Freund und Kabinettschef von heut auf morgen zu entlassen, da er »ein freudiges und sicheres Arbeiten der Heeresleitung verhindert« und durch Verständigungswillen das Ansehen der Krone in schwerste Gefahr gebracht habe. Seine ganze Willenlosigkeit zeigt der Kaiser in einem Marginale, das er in diesen Tagen neben einen Berliner Artikel schrieb: »Durch den bei uns herrschenden Zustand«, hieß es in diesem, »ist es aber gekommen, daß das Gleichgewicht der politischen und militärischen Kräfte sich verschiebt, und daß von dem an sich natürlichen Übergewicht des Auswärtigen Amtes in politischen Fragen kaum noch die Rede sein kann.« Daneben schrieb der Kaiser: »Weil von beiden Seiten der Kaiser ignoriert wird!«

Mit abertausend Befehlen und Drohungen, mit Worten des Spottes, des Grimms und cäsarischem Willen hatte er dreißig Jahre lang Akten und Ausschnitte bedeckt, immer fordernd, treibend, stechend, und nun, welch ein Zusammenbruch in acht Worten! War das nicht schon die Abdankung? Er, der im Mittelpunkte seines Volkes, Europas stand, gescholten viel, doch mehr gepriesen, er, der den Erdkreis zu beunruhigen nicht müde geworden, der »Regis Voluntas« geschrieben, »Hier gibt es nur Einen Herrn, und der bin Ich!« gerufen, ohne den keine große Entscheidung in der Welt mehr fallen, vor dem der russische Minister strammstehen sollte, er, Wilhelm der Zweite, ignoriert? Ausgeschaltet von seinen Ministern und seinen Generalen, zur Entlassung seiner nächsten Vertrauten gezwungen, zur Dekoration erniedrigt, der nur noch Dekorationen verteilt?

So war's. Als die große Märzschlacht im Westen noch unentschieden war, in der Übereilung seiner Langenweile verlieh der Monarch an Hindenburg das Eiserne Kreuz mit Goldenen Strahlen, das nur einmal, und zwar für Blücher gestiftet, zum Dank für den Sieg bei Belle-Alliance ihm überreicht worden war, als er Napoleon nach zwanzigjähriger Herrschaft stürzen half. Drei Tage später war der deutsche Sturm abgeschlagen. Doch erst, nachdem man neue Tausende geopfert, erst nach dem letzten Rückschlag am 8. August erkannte der Kaiser die Lage. »Ich sehe ein,« sagte er nach Ludendorffs Vortrag (Niemann, Kaiser und Revolution, 43), »wir müssen die Bilanz ziehen ... Der Krieg muß beendet werden ... Ich erwarte die Herren also in den nächsten Tagen in Spa.«

In der Sitzung vom 14. August in Spa, an der auch Kronprinz, Kanzler und der neue Staatssekretär Hintze teilnahmen und in der man dieselben Schritte für nötig erklärte, um deren Forderung willen Kühlmann ein paar Wochen zuvor von der Heeresleitung gestürzt war, sagte der Kaiser (Weißbuch, Vorgeschichte des Waffenstillstandes): »Im Innern herrscht nicht genug Ordnung ... Ferner fehlt besserer Ersatz aus der Heimat ... Eine Propaganda-Kommission zur Schwächung der Siegeszuversicht des Feindes ist zu bilden, zur Hebung der Zuversicht des deutschen Volkes. Von angesehenen Privatpersonen, wie Ballin, aber auch von Staatsmännern sollten flammende Reden gehalten werden. In diese Kommission sind Männer von entsprechenden Fähigkeiten zu berufen, nicht Beamte.«

Jetzt, da es galt, da der König eines mit Todesmut kämpfenden Volkes seine Rednergabe durch alle seine Städte von Markt zu Markt hätte tragen sollen, um mit denselben Worten zu entflammen, mit denen er bisher die Friedenszeiten beunruhigt hatte, jetzt und überdies vier Jahre zu spät ist plötzlich von Kommissionen die Rede, die wie Kräne die gesunkene Zuversicht wieder heben sollen. Die »begeisterte Sprache«, die er Anno 90 von Bismarck für seine Erlasse gefordert hatte, statt sie zu sprechen, wird jetzt als flammende Rede einigen Unbekannten befohlen, die man bis heut verachtet hatte.

Immerhin beginnt mit dieser Rede die »neue Ära«. Zwar, mit den üblichen Forderungen nach Staatsgewalt gegen die Untertanen, nach Heranführung besserer Blutopfer begann der Kaiser auch diesmal; dann aber fordert er Privatpersonen auf, anstatt Beamte, statt von Titeln oder Ahnen ist hier das erstemal von Fähigkeiten die Rede. Ist es verächtlich oder ergreifend, einen haltlos irrenden Geist an der Schwelle einer neuen Epoche, jetzt, als er schon die großen Tore knarren hört, sich auf geschmeidige Art den Eintritt erzwingen zu sehn? Am Ende gleicht dieser Antidemokrat einem Geizigen, der vor dem Sterben noch mit kleinen Gaben den Himmel zu erobern trachtet.

Was tut ein Kriegsherr, wenn er das Ende kommen sieht? Rasch verläßt er das Hauptquartier, geht, während Tag und Nacht die schwersten Entscheidungen zu treffen sind, nach Wilhelmshöhe; dort empfängt er Ballin. Als niemand sich mehr zu helfen weiß, schicken sie den klugen Juden vor; vielleicht sagt er's dem Kaiser. Dieser hing an ihm seit langem und hatte früher seinen entschiedenen Antisemitismus damit besänftigt, daß er einem Herrn seines Hofes (der es selber erzählt) auf den Einwand: »Aber Ballin –!« mit den Worten abschlug: »Ballin Jude? Keine Rede! Ballin ist Christ!«

Heut aber, anstatt sich wie früher vertraulich auszusprechen, sieht dieser mit Befremden sein Kommen als »Vortrag« bezeichnet, damit der neue Kabinettschef dabei sein und aufpassen kann. Denn noch immer maskieren diese Schranzen das Blickfeld ihres Herrn mit papiernen Rosenketten. »Es war unendlich schwer,« schreibt Niemann im Eulenburgschen Stile, »dem Kaiser ein wahres Bild der Lage zu geben, ohne sein seelisches Gleichgewicht aus dem Gleis zu bringen«, und als Ballin zur Vermittlung durch Wilson rät, greift »Herr von Berg geschickt ein und erklärte mir, als der Kaiser gegangen war, man dürfe ihn nicht zu pessimistisch machen ... Der Kaiser sprach vom Zweiten Punischen Krieg ... Ich fand ihn sehr mißorientiert und in gehobener Stimmung, die er gern in Gegenwart eines Dritten zeigt ... Alles wird dem armen Monarchen so serviert, daß er das Katastrophale gar nicht merkt.«

Eine ganze Nation ist aus dem Gleichgewicht gebracht und hat Gründe, pessimistisch zu fühlen; aber ihr Kaiser braucht Sonne, auch jetzt noch, nachdem sie längst untergegangen, vor dem Grollen der Kanonen muß er behütet, er darf nicht um sein Gleichgewicht gebracht, mit Wahrheiten beunruhigt werden, und als der unabhängige Privatmann kommt, der Fähigkeit und auch Vertrauen besitzt und zum schleunigen Abschluß drängen will, da greift geschickt der Hofmann ein und läßt seinen König wieder vom Zweiten Punischen Kriege reden, auf den er seit vier Jahren setzt. Vielleicht hat er recht, denn als am 2. September englische Tankangriffe gefährliche Folgen naherücken, erschüttert den Kaiser die Nachricht so sehr, daß er »nicht unbedenklich« erkrankt, und die Seinen fürchten, es könne »der Erregungs- und Erschöpfungszustand zum seelischen und körperlichen Zusammenbruch führen«. Alles wie anno Eulenburg, nur weniger wichtig, weil inzwischen der Erregungs- und Erschöpfungszustand von 60 Millionen diese Unschuldigen längst zum Zusammenbruch geführt hat.

Während an der Front ein Volk mit sagenhafter Hingabe den letzten Kampf kämpft, sitzt sein Kaiser im schönen Hinterlande, wo nach Bericht seines Adjutanten (Niemann, 65), »alle Beteiligten ihr Bestes taten, um die Gedanken des Monarchen von den schweren Sorgen des Tages abzulenken und einen Meinungsaustausch über bedeutungsvolle Fragen der Kunst, der Wissenschaft oder Technik in Gang zu bringen. Griff der Kaiser ein solches Thema auf und gelang es, wie das nicht selten geschah, ihm Impulse zu geben, aus dem schier unerschöpflichen Born eigenen Erlebens zu schöpfen, dann verrannen die langen Stunden wie im Fluge und wurden zu einer wirklichen Erholung.« So geht es am Ende, wie seit dreißig Jahren, er redet wieder »unter einer traulichen Stehlampe«. Damals in Wilhelmshöhe schien ihm der Augenblick gekommen, einen deutschen Prinzen, seinen Schwager, als König von Finnland kandidieren zu lassen. Erst nach dreiwochenlangen Ferien, auf dringenden Ruf kehrt der Kaiser ins Hauptquartier zurück.

Auf der Reise dorthin, am 9. September, hält er in Essen eine Rede, wie er sie nie gehalten: er spricht zu den Kruppschen Arbeitern. Da stehen sie im Kreis um ihn, 1500 Mann in einer Halle, die Feinde seiner langen Königsbahn, sie, die er heftiger haßte als sie ihn, weil er sie fürchten mußte, sie nicht ihn. Da steht der feldgraue Kaiser vor ihnen, leicht verwundbar, doch noch unverwundet, nun spricht er vom deutschen Volke. Stickige Luft ringsum, kein Thron, ein Rednerpult, wie für einen Demagogen. Er spricht eine halbe Stunde. Wird er, ein neuer Koriolan, ihre Stimmen fangen?

»Meine lieben Freunde von den Kruppschen Werken!« (Freunde? denken die Arbeiter, seit wann denn Freunde?) »Meine Freunde: wer haßt? Der Germane kennt keinen Haß. Der Haß zeigt sich nur bei den Völkern, die sich unterlegen fühlen. Wer den Charakter der Angelsachsen kennt, weiß, wie zäh sie sind.« (Germanen? Was für Sachen? denken die Arbeiter.) »Voriges Jahr habe ich gesagt: Kinder, seid euch darüber klar, das ist kein Krieg wie früher, das ist ein langwieriger Kampf ums Leben!« (Weihnachten sind wir zu Hause: hat er das nicht vor vier Jahren versprochen? denken die Arbeiter. Jetzt will er alles vorher gewußt haben.) »Ihr habt gelesen, was kürzlich in Moskau passiert ist: die parlamentarischen Engländer haben die ultra-demokratische Regierung, die sich das russische Volk jetzt zu formulieren begonnen hat, zu stürzen gesucht, weil diese Regierung, in Wahrung der Interessen ihres Vaterlandes, dem Volk den Frieden erhalten möchte, nach dem es schreit, der Angelsachse aber noch keinen Frieden will.« (Seit wann ist denn Wilhelm für die Kommunisten begeistert? denken die Arbeiter und schmunzeln.)

»Weil es jetzt ums Ganze geht und unsere Feinde den größten Respekt vor dem deutschen Heere haben, deshalb versuchen sie's mit Zersetzung im Innern, um uns mürbe zu machen durch Gerücht und Flaumacherei.« (Zersetzung im Innern? grollen die Arbeiter. Das geht ja gegen uns!) »Jeder, der auf solche Gerüchte hört, der ist ein Verräter und herber Strafe verfallen, ganz gleich, ob er Graf ist oder Arbeiter ... Jeder von uns bekommt von außen seine Aufgabe zugeteilt, du mit deinem Hammer, du an deiner Drehbank und ich auf meinem Thron!« (Na na, denken die Arbeiter und lächeln.) »Jetzt haben wir Frieden mit Rußland und Rumänien, Serbien und Montenegro sind erledigt; nur im Westen kämpfen wir noch, und da sollte der liebe Gott uns im letzten Augenblicke verlassen? ... Gott helfe uns, und nun lebt wohl, Leute!«

Dumpfe Stille. Eine halbe Stunde dauerte die Rede, aber sie erzeugt nur Groll, Kritik und heimliches Gelächter. Des Redners Adjutant und Anbeter, Niemann, schreibt als Zeuge (S. 80): »Der innere Kontakt, den der Beginn der Ansprache hergestellt hatte, ging mehr und mehr verloren. Die Mienen erstarrten, und je mehr der Kaiser sich steigerte, um so offenkundiger wurde die Ablehnung ... Wir hatten alle das Gefühl, daß der Wurf mißlungen war.« Ein einziges Mal hing etwas an seiner Rede, und dieses eine Mal versagte der Mann. Warum? Wilhelm der Zweite lebt ferne seinem Volke. Die Arbeiter spüren die Kälte seines Herzens, er spürt den Groll der ihrigen kaum.

Unruhe treibt ihn schon nach ein paar Tagen wieder aus dem Hauptquartier, Besichtigungen, Orden, Colmar, Kiel, Ostsee. Plötzlich kommt die Meldung von Bulgariens Abfall. Rückkehr ins Hauptquartier.

Spa, 29. September. Seit der letzten politischen Sitzung in diesem Zimmer sind sechs volle Wochen vergangen, sie sind, trotz des Kaisers Erkenntnis, daß man am Ende sei, verschleudert worden, ihr Wert ist nicht mehr einzubringen. Nachdem man vier Jahre lang auf allen Seiten die Zeit verschwendet, mußte man sie am Schlusse sparsam hüten, wo jeder Tag zählt, wie am Beginn. Denn wie mit jedem Tage dieser sechs Wochen Zahl und Wucht der jungen Truppen Amerikas wuchs, die an die Festung klopften, so schwand mit jedem Tage die Hoffnung, den Gegner durch ein noch stehendes Heer zu täuschen, und wie der Ansturm zunahm, mußte zugleich der Geist in der Festung schwinden. Der gänzlich ausgehöhlte Körper dieser Nation bedurfte keiner Stöße von innen, er fiel von selber zusammen.

Zu spät wie immer, doch mit verborgenem Zittern blickt der Kaiser auf die höfisch klausulierten ersten Berichte von Unruhen an der Front. Was sonst seit einem Jahre draußen an langsam steigendem Widerstande nutzlos geopferter Menschen sich zugetragen, wußte er nicht; von der Revolte im Januar 18 hatte er nur wenig gehört. Jetzt erfuhr er von seinen Generalen nur, daß irgendwo verbrauchte Truppen die nachrückenden mit dem Rufe Streikbrecher! empfangen hatten: ein paar Meldungen genügten, um seine Seele mit einem Schrecken zu verdunkeln, den ihm eine drohend gepanzerte Welt bisher nicht eingejagt hatte.

Von jetzt ab, die letzten sechs Wochen lang, ist sein Bück nur noch auf Land und Untertanen gerichtet, nicht mehr auf Front und Feind. Der Sturz des Zaren hatte seinem Weltbild, seinem Glauben selbst einen Stoß versetzt, er wußte ihn im Innern nur gegen diese französische Republik zu parieren, mit der sich trotz seiner jahrelangen Warnungen der Vetter eingelassen. Das alles war in Deutschland unmöglich! Hatte er sich nicht eben noch bei Krupp den Arbeitern verbrüdert? Ein paar hundert mißleiteter Individuen konnten über Millionen königstreuer Untertanen nun und nimmer die Oberhand gewinnen! So mußte der Kaiser fühlen, der in diesen vier Jahren weder den Geist der Truppe noch den der Heimat, der überall nur den offiziellen Ersatz kennenlernen durfte und dessen egozentrisches Wesen sich in das Fühlen Anderer nie versenken konnte.

Und doch, sehr ferne hört er's dröhnen. Nun galt es vorzubeugen. Die Sitzung am Vormittage dieses 29. beginnt mit der Forderung beider Generale, Waffenstillstand und Frieden gleichzeitig und zwar sofort vom Feinde zu erbitten, »jede Stunde Verzug bedeutet Gefahr«. Dieser Entschluß, nur durch die Lage an der Front, weder durch Bulgarien noch durch innere Unruhen bedingt, dieser Schlag der morgen oder übermorgen auf die Nation niederstürzen soll, kommt heute den Ministern, er kommt dem Kaiser selbst »völlig überraschend«, wie der Kronprinz bezeugt. Aber er schreckt ihn nicht. Nur ins Innere seines Reiches bohrt sich sein Auge, darum fordert er den Staatssekretär des Äußern auf, die innere Lage zu schildern (Hintzes Bericht vor dem Untersuchungsausschuß, S. 409f.).

Hintze, erst seit zwei Monaten in Deutschland, verweist auf den Vortrag des heut erwarteten Kanzlers. Der Kaiser beharrt auf seinem Befehl, denn dies allein, die Frage nach der Revolte bewegt ihn. Jetzt trägt Hintze vor, was er weiß, rät »die drohende Revolution zu kanalisieren«, der eine Weg dahin sei Diktatur. »Diktatur ist Unsinn!« ruft der Kaiser dazwischen. Darauf verweist Hintze auf den zweiten Weg rascher Demokratisierung, um dem Volke die Verantwortung für einen bösen Frieden mit aufzuerlegen, den es nicht verschuldet hatte. »S.M. hörten den Vortrag in beherrschter Bewegung, in königlicher Würde an und erklärten sich mit dem entwickelten Programm einverstanden.«

Logische Haltung: am Ende seiner Bahn zerbricht der geschlagene König den Grundbegriff seines Ranges und Wirkens, verzichtet auf die Diktatur, die er immer zu haschen suchte, im Augenblick der ersten, echten Möglichkeit und läßt an die Regierung Männer, deren Anspruch er immer verachtet hatte, leibhaftige Sozialisten: alles aus Furcht vor den Massen, die es nun doch zu wagen scheinen, sich zu rühren. Ein halbes Jahrhundert zurück: da stand in ähnlicher Lage sein Großvater, doch was folgerte er? »Ich nehme meinen Abschied und abdiziere«, sagte er zu Herrn von Bismarck-Schönhausen, es war September, wie jetzt, und im Babelsberger Parke wurden die Blätter gelb, wie hier in Spa. Auch dieser wollte nicht kämpfen, aber er wollte gehn, und hatte doch keinen Krieg hinter sich und hatte die Macht kaum zwei Jahre genossen, auf die er dreißig Jahre warten mußte. Der Enkel, der dreißig Jahre lang mit hundert Prozent seines Wesens regiert und schließlich den Weltkrieg verloren hatte, dachte in seiner Schwäche nur an einen Rückzug Schritt für Schritt; von Schwertern und Kanonen umgeben, ließ er sich zum todesmutigen Ritte doch nicht locken, wie ihn Bismarck damals dem Großvater abgewann; es war auch niemand da, der ihm aus umbuschten Augen Blitze zuwarf.

Schritt für Schritt nach rückwärts, das war sein Programm. Als nachmittags Hertling, Berg und Rödern kommen, doch an der Beratung über das Schicksal des Reiches der Staatssekretär des Äußern nicht teilnimmt, da ihn »niemand aufforderte, gleichfalls hineinzugehen« (Hintze, S. 410), beruhigen sie ihn wieder, legen ihm aber einen auf morgen datierten Erlaß vor, in dem es heißt: »Ich wünsche, daß das deutsche Volk wirksamer als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlandes mitarbeite. Es ist daher Mein Wille, daß Männer, die von dem Vertrauen des Volkes getragen sind, in weiterem Umfange teilnehmen an den Rechten und Pflichten der Regierung.« Zwei Jahre vorher herausgegeben, hätte dies Dokument den Krieg leidlich liquidieren, die Dynastie retten können. Doch auch heut scheint es dem Kaiser noch verfrüht, denn nach anderthalb Stunden läßt er den wartenden Staatssekretär rufen, sichtlich erleichtert:

»Die Sache mit der Revolution ist gar nicht so schlimm, sagt mir der Kanzler. Mit der neuen Regierung und mit dem Frieden können wir also warten! Wir werden uns erst mal ruhig vierzehn Tage in Spa hinsetzen und die Sache überlegen.«

Hintze, erschrocken, erinnert an die Forderung der beiden Heerführer nach sofortigem Waffenstillstand, an ihre Sorge vor plötzlichem Niederbruch. »S.M. hörten mich ruhig an, schienen aber eine Entscheidung nicht recht treffen zu wollen und wandten sich zur Tür. Auf dem Tisch lag der von der Reichskanzlei entworfene Allerhöchste Erlaß vom 30. Ich folgte S.M. zur Tür und wiederholte, daß die Bildung einer neuen Regierung Vorbedingung für das Waffenstillstands – und Friedensangebot wäre. Der Kaiser wandte sich um, trat an den Tisch und unterzeichnete den Erlaß.«

So wurde zwischen Tür und Angel die deutsche Demokratie vom Kaiser gegründet. In keiner Szene seines Lebens wird sein Wesen derart transparent. Vier Jahre hat ein Krieg gewütet, heut haben ihn die zähen Führer zum erstenmal verloren genannt und von der Reichsleitung Waffenruhe gefordert, die keinen Tag Verzögerung ertrage. Vier Jahre haben die Untertanen, in Preußen und in Deutschland, nach Rechten zur Mitbestimmung gerufen. Vier Jahre lang hat man's verweigert. Heut soll das Volk zur Mitregierung zugelassen werden, nicht weil es reif, nur weil die herrschende Klasse bankrott ist und allen Grund hat zu glauben, durch ein demokratisches Deutschland mehr zu erreichen als durch die Generale, die bis heut auch die Politik kommandierten. Ein neues Kabinett mit Sozialisten ist also Bedingung einer erfolgreichen Friedensbitte. Ein Volk in Waffen mußte kämpfen, stehen oder fallen, um am furchtbaren Ende einen Zipfel des Purpurmantels zu erhaschen, der die Macht in diesem Staate bedeutet. Der Mann im Purpurmantel mußte bewilligen, was er durch dreißig Jahre verweigert hatte. Wie tut er dies?

»Die Sache mit der Revolution ist nicht so schlimm, mit der neuen Regierung können wir warten, das Ganze zunächst vierzehn Tage überlegen.« Ist er entschlüpft? Dort ist ja die Tür, wer will ihn zwingen, den Akt zu unterzeichnen, auch ist es nach den endlosen Sitzungen schon bald sieben, und man ist noch nicht umgekleidet. Der Staatssekretär vertritt ihm den Weg, höfisch zwar, doch er läßt ihn nicht aus dem Zimmer. Er mahnt noch einmal, ja, er beschwört die angstvollen Worte der Heerführer von heut mittag herauf, die dem Monarchen wohl entfallen scheinen. Was tun? Eine Zwangslage – und vielleicht bannt man die Gefahr von innen, wenn man die Kerls an die Krippe läßt, denn das allein ist ihr Bestreben.

So dreht er sich um und unterschreibt das neue Deutschland noch rasch vor dem Souper.


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