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IX. Kapitel.
Exit

Fünf Erdteile forderten den Abgang eines einzigen Mannes. Ein Krieg, der fälschlich als sein Wille galt, konnte auch dem ruhigsten unter den Siegern nur nach dem Opfer dieses Staatshauptes beendbar erscheinen, das große Volk im Mittelpunkte des Kampfes von seinem loyalsten Feinde Gerechtigkeit nur erwarten, wenn es sich von dem Manne trennte, der dreißig Jahre lang Europa durch Worte beunruhigt hatte. Ein System, als dessen Erfinder und Herr er galt, ohne ihm auch nur als Erbe gewachsen zu sein, sollte enden: das forderten die besten Köpfe draußen und drinnen, Volksgenossen, Verbündete, Neutrale, Feinde, alles vereinigte die Stimmen zum Chore: Der Mann muß fort! Auch jene Staatsmänner, die die Vielfalt der Kriegsursachen, ihren eigenen Anteil und auch die Schuldigsten mit Namen kannten, konnten vor der Welt Iswolski so wenig wie den Grafen Berchtold oder Herrn Nicholson nominieren: Der Mann auf der Straße hätte das nirgends verstanden. Den Kaiser wollte man entmachtet sehn, weil er es war, der mit klirrenden Worten einst durch Europa zog.

Niemand begehrte sein Haupt, man wollte nicht einmal seine Krone. Niemand forderte vom besiegten Deutschland die Republik, da mehrere Könige seine Feinde waren; nicht einmal die eigenen Sozialisten. Man wollte nur, daß er die Krone einem andern, vielleicht einem Verwandten gäbe, und grade die königstreuesten deutschen Männer waren es, die dies, in Sorge um ihre Dynastie, am innigsten wünschten. Im Innern des Landes war wenig Haß gegen den Kaiser, er wäre, neben Ludendorff, auf irgend welcher Straße schutzlos wandernd, auch jetzt noch in kleinerer Gefahr gewesen als sein General. Wie hätte auch ein Volk, das seinen Herrn durch dreißig Jahre verkannt und darum ertragen hatte, ihm Schuld an einem Kriege gegeben, den er nicht als Raubzug vom Zaune gebrochen, nie gewünscht, mehrmals verhindert und nur durch das jahrzehntelange Wirken seiner Natur den kriegerischen Führern in allen Ländern Europas erleichtert hatte! Im Herbst 18 kannten die Deutschen als Nation von ihrem Kaiser noch immer nur die Schale.

Vernunft, nicht Leidenschaft war es daher, die einen Teil der Nation zum Ruf nach Abdankung trieb, und der Gedanke eines Opfers, eines Martyriums für das Volk schmeichelte dabei dem ins Tragische verliebten Geiste der Deutschen. Auch war es nicht mehr schwer zu erlangen, zwei seiner Freunde, Ballin und Max von Baden, bestätigen es: er wäre im Grunde froh gewesen, die üblen Zeiten, die nun folgen mußten, nicht mehr zu verantworten.

Nach jener Glosse auf dem Zeitungsblatt vom Januar, nach seiner völligen Ausschaltung in den letzten zwei Jahren war es, trotz seiner früheren Autokratie, jetzt, da er Sechzig war und dreißig Jahre regiert hatte, psychologisch sogar das Wahrscheinliche, daß gerade er eine verlorene Sache mit großer Königsgeste vor der Welt verließ.

Mit dunklen Gedanken übernahm Prinz Max von Baden, einer der letzten Ritter, plötzlich herbeigezwungen, das furchtbare Amt. Als Freund und Vetter des Kaisers mußte er damit rechnen, ihn zu einem Rücktritt zu bewegen, für dessen Inszenierung gerade ihm alles verfügbar war. Der Prinz riskierte alles, denn er war Fürstensohn, Thronfolger und General, und sprang er in die Bresche, um einen leidlichen Frieden zu erbetteln, so konnte er nur auf die Wirkung einiger Reden hoffen, in denen er sich moderner als seine Kollegen geäußert. Zum erstenmal nach hundertfältiger Phrase machte dieser Prinz das Wort vom Opfer für das Vaterland, gerade weil er es nicht sprach, heim Antritte des vielbegehrten Amtes wahr. Dicht vor dem Untergang der deutschen regierenden Häuser bewies er vor der Geschichte, daß es noch wenigstens einen Fürsten gab, der rasch ans Steuer eines untergehenden Schiffes sprang, um wenigstens das Wrack in den Hafen zu retten. Im Vorgefühl des großen Undanks stellte sich dieser Zähringer noch einmal vor das preußische Königtum. Es war die Rolle Mirabeaus.

Erst hat er drei Tage lang die Forderung der Generale nach gleichzeitigem Frieden und Waffenstillstand, dann hat er fünf Wochen lang ihren verderblichen Einfluß auf den Kaiser bekämpft. Mit richtigem Blick erkannte er die letzten Möglichkeiten, des Kaisers Person gegen einen leidlichen Frieden, zugleich aber gegen die Dynastie einzutauschen. Leider verhinderte ihn die Loyalität, dies seinem Vetter sofort ins Gesicht zu sagen, obwohl es ihm die Mitarbeiter rieten; wäre Prinz Max innerlich noch unabhängiger gewesen, hätte er auch das Gefühl der Tradition im Dienste der Tradition überwunden, so hätte er, wie alle Akteure dieser Wochen bezeugen, den Kaiser zur Abdankung gebracht.

Der wollte zuerst weniger kämpfen als der Kanzler. Als am 2. Oktober der zurückgekehrte Kaiser neben Hindenburg (ohne Ludendorff) im Kanzlerhause saß und die dringliche Vorstellung seines Vetters hörte, um keinen Preis den überstürzten Waffenstillstand zu fordern, bevor eine Reichstagsrede den Friedenswillen politisch vor der Welt vorbereitet hätte, verkannte er vollkommen die Wirkung eines plötzlichen drahtlichen Hilferufes an Wilson und entschied damit sein eigenes Schicksal. »Mit aller Bestimmtheit erklärte er (S., 298), daß man in dieser Frage der Obersten Heeresleitung keine Schwierigkeiten machen dürfe. Damit übernahm er als Kriegsherr in dieser entscheidenden Frage die volle persönliche Verantwortung für die Absendung des Waffenstillstands-Angebotes.«

Trotzdem kämpfte der neue Kanzler weiter und wagte es anderen Tags, als der erste zivile Beamte, dem Feldmarschall mit fünf scharf gestellten Fragen entgegenzutreten und dessen Antworten ausdrücklich auf die militärische Lage zu beschränken; Hindenburg blieb bei der Forderung sofortigen Waffenstillstandes. Am 3. übernahm der Prinz im Reichstag sogar die fromme Lüge, der Welt zu sagen, die Front sei ungebrochen, so daß er im Volke das Odium auf sich nahm, nach eigenen friedlicheren Anschauungen, nicht nach Kriegsnotwendigkeiten zu verfahren. Während er in diesen Oktoberwochen gegen die Generale, die Sozialisten und gegen Wilson zu kämpfen hatte, war ihm zugleich die Aufgabe zugefallen, den Kaiser zur Abdankung zu bewegen. Er durfte glauben, diesen labilen Charakter in seiner gegenwärtigen Depression zu bezwingen, und hatte schon die Rede entworfen, mit der er im Reichstag für das historische Opfer des Kaisers dem Volke die Stichworte reichen wollte.

Denn Wilson schrieb: »Wenn mit den militärischen Herren und monarchischen Autokraten Deutschlands jetzt verhandelt werden soll, so werden wir später mit ihnen auch bei der Regelung der internationalen Verpflichtungen des Deutschen Reiches zu tun haben. Dann kann Deutschland über keine Friedensbedingungen verhandeln, sondern muß sich ergeben. Diese wesentlichen Dinge können nicht unausgesprochen bleiben« (23. Oktober). Kapitulation oder Verhandlung, das sollten die Deutschen daraus erkennen, hing also an des Kaisers Person; das war schon nach Wilsons erster Note vom 14. und durch vertrauliche Mitteilung aus allen Hauptstädten der deutschen Regierung bekannt, und nur die Oberste Heeresleitung erklärte empört, um ihre Offiziersehre weiterkämpfen zu wollen, obwohl sie schon im September 17 die gleichen Bedingungen aus England und Amerika erfahren hatte (Kommentare zum Waffenstillstand Nr. 76c und 86c).

Aus Brüssel riet der deutsche Gesandte zur sofortigen Abdankung, sonst mache man gegen Wilson das Spiel der Franzosen und Engländer, die in Deutschland eindringen wollten; dasselbe drahtete der Gesandte aus Bern und stützte sich dabei sogar auf Aufforderungen aus dem Bundesrat. Prinz Max und die Seinen wollten, der abgehende Kaiser sollte seinen Enkel der Treue des Volkes und der Armee, der Obhut des Feldmarschalls und im übrigen Gott empfehlen, um so die Sozialisten bei der Regierung zu halten, den Spartakisten aber ihr stärkstes Argument zu nehmen. Mit jedem Tage wurden die Depeschen der deutschen Vertreter aus dem Auslande dringender: Man gefährde Wilsons Stellung gegen die Chauvinisten im eigenen Land und in Europa, wenn man nicht rasch handle, so meldete der Gesandte aus Bern, der Stimmen aller Länder hörte. Am 25. drahtete der preußische Gesandte aus München das nämliche.

Aber der Kaiser, dem sein Abgang mit drohender Verantwortung vielleicht zu suggerieren war, mußte nach seiner Natur jeden Zwang von außen als Schlag empfinden und wurde durch Wilsons erste Note genau so störrisch wie zehn Jahre vorher, als man ihm den Wunsch der Konservativen nach Rücktritt nahelegte: »Sehn Sie!« rief er wütend dem Adjutanten Niemann zu. »Das zielt geradeswegs auf den Sturz meines Hauses, auf die Beseitigung der Monarchie!« Bei der zweiten Note löste sich nach Niemanns Bericht »die Empörung des Kaiserpaares allmählich in namenloser Verachtung«. Solf, der neue Staatssekretär, sagte dem Kaiser, als dieser Schutz gegen die Presse forderte, von der Abdankung sprächen die besten Kreise längst ungeniert, und wenn der Kaiser an die Novembertage vor zehn Jahren dachte, so mußte er sich erinnern, wie er damals auf einen weit leiseren und ganz internen Ruf hin abdanken wollte. Keineswegs war, wie er in seinen Erinnerungen erzählt, »durch das Aufrollen der Abdankungsfrage das Tischtuch mit dem Kabinett zerschnitten« worden; die alte Freundschaft mit dem Kanzler, der freilich persönlich schwieg, erleichterte vielmehr den amtlichen Verkehr.

Als der nach allen Seiten entmachtete Kaiser in diesen Wochen im Neuen Palais saß, war, nach dem Zeugnis eines Hauptakteurs, nur ein entschiedenes Gefühl in ihm: Langeweile. Politica hieß er links liegen, mit den neuen Ministern sprach er beim Empfang über ihre Heimatstädte und ihre Söhne an der Front. Nur seinem ersten sozialistischen Minister hatte er beim Antritt erklärt: »Auch mit Herrn Ebert würde ich gern zusammenarbeiten ... Ich habe gar nichts gegen die Sozialdemokratie, nur der Name, wissen Sie, der Name müßte geändert werden.« Schritt vor Schritt, auf Kosten jeder Würde: das war sein Weg.

Aber eben diese steigende Verständigung mit den Bürgern, diese Ermattung war es gerade, die die Generale veranlaßte, ihn zu entführen.

Denn eine Art Entführung war es, als der Kaiser mit seinen Generaladjutanten am 29. Oktober Berlin verließ. Den heimlich vorbereiteten Entschluß erfuhr der Kanzler erst abends um 6, erbot sich, obwohl krank zu Bette liegend, sofort nach Potsdam zu kommen, entsandte Solf zum Hausminister, zum Prinzen August Wilhelm, zu Delbrück, dem neuen Chef des Zivilkabinetts, die alle Drei sich hinter Ressorts und anderen Gründen versteckten, um nicht zu handeln. Hier hat der Kanzler seine Abstammung mit einem schweren Fehler bezahlt: jetzt war der Augenblick, den Kaiser, und sei es mit Gewalt, zurückzuhalten. Sollte er der Gefangene des Hauptquartiers werden, warum nicht der Gefangene der Regierung? Die Nation hätte das eine so wenig wie das andere erfahren.

Inzwischen hatte man ihm Mißtrauen gegen die »süddeutschen« Absichten des Prinzen suggeriert; er versteckte sich hinter bitteren Bemerkungen, man brauche ihn hier ja nicht, an der Front aber müsse er jetzt nach Ludendorffs Abgang zum Rechten sehen. Verhängnisvoll! Die Hauptstadt, der Revolution entgegenwankend, glaubte, der Kaiser suche bei seinen Truppen Gewaltmittel gegen Berlin, andere schrieben, er fliehe wie Ludwig XVI. In Wahrheit war das keine Flucht, weil jede Entschlußkraft ihm fehlte; es war die Gefangensetzung des Obersten Kriegsherrn durch seine Generale.

Vergeblich bat der Kanzler andern Tages um Rückkehr nach Berlin. Nun entschloß man sich, die Abdankung ihm amtlich vorzustellen. Nachdem ein Großherzog und ein Graf ihre Bereitschaft zu dieser Mission wieder zurückgenommen, fuhr im Auftrage des Kabinetts schließlich der Bürger Drews, Minister des Innern, am 1. November allein nach Spa. Der Kaiser empfing ihn im Garten seiner Villa, fridericianisch auf einen Krückstock gestützt, und fährt ihn gleich beim ersten Worte an: »Sie hätten einen solchen Auftrag nach Ihrem Eide ablehnen müssen!«

Minister: »Als Minister habe ich die Pflicht, meinen Herrn auch in unangenehmen Dingen zu informieren.«

Kaiser: »Das brauche ich nicht! Ich bin vollkommen im Bilde!«

Minister: »Darf ich danach meinen Auftrag als erledigt ansehen oder soll ich reden, Majestät?«

Kaiser: »Sprechen Sie!«

Dieser Gartendialog war Wilhelm dem Zweiten neu. Auch diesmal hatte er geglaubt, seinen Gegner durch den Schein von Energie zu schlagen, stand aber hier einem aufrechten Manne gegenüber, der zu antworten wußte. So geschah, was Eulenburg und Moltke erfahren; sogleich gab der Kaiser nach und hörte zu; für alle Fälle ließ er seinen Plessen folgen, immer auf und ab, drei Schritt Abstand, ein bißchen beiseit', aber nicht gar zu weit. Während der Minister sprach, eine halbe Stunde lang, wurde er ruhiger, stellte Zwischenfragen, dann blieb er stehn und sagte: »Meine sämtlichen Söhne haben mir in die Hand versprochen, niemals eine Regentschaft zu übernehmen ... Als preußischer König und Nachfolger Friedrichs des Großen habe ich die Pflicht, auf meinem Posten zu bleiben.«

Mit diesen Worten, die die Furcht vor den eigenen Söhnen preisgaben, ließ er seinen Minister stehn und ging. Weniger sachliche Gründe wie Rücksicht auf Armee, Rückmarsch, Verworrenheit im Volke, weit mehr entschieden Tradition und Königsgeste, gestützt auf seinen Ahnherrn und dessen Krückstock. Trotzdem ließ er sich diesmal den Abgang verderben: der Mann hier wußte mehr, als er gesagt. Deshalb trat er bald darauf wieder an ihn heran, als er mit den Generalen verhandelte, und fragte: »Sind gewaltsame Putsche zu erwarten?«

Minister: »Zweifellos. Ihr Erfolg hängt ab von der Zuverlässigkeit der Truppen.«

Darauf glatte Ablehnung jedes Zweifels durch alle Drei: man habe sechs tüchtige Regimentskommandeure nach Berlin geschickt, und wo die Garde auftritt, da gibt's keine Demokratie. Nach heftigem Streit zwischen Drews und Gröner, der zur größten Freude des Kaisers die Regierung angreift, bittet Drews um seinen Abschied.

Kaiser, jovial: »Durchaus nicht, bleiben Sie nur! Diese gründliche Aussprache ist sehr gesund gewesen. Wollen Sie nicht bei mir essen?«

Mit dieser kordialen Einladung, vor der den Minister nur sofortige Heimfahrt rettete, schloß die im Hoftheaterstil begonnene Unterhaltung, in der der Minister den König mangels fortdauernden Vertrauens ersuchte zu gehen, der König den Minister seines fortdauernden Vertrauens versicherte und blieb.

Inzwischen fielen die letzten Bundesgenossen am Schluß eines Krieges ab, an dessen Anfang die ersten abgefallen waren, suchten Separatfrieden; Polen, Elsässer erklärten im Reichstag ihren Abfall vom Reiche, an jedem Tage ging die Front zurück, in Kiel erhob sich Meuterei, weil sich die Truppe zu einem Prestigekampf der Flotte zwecklos nicht opfern lassen wollte, in München und Stuttgart forderte man den Abgang der Könige, und am 6. wurden die deutschen Vertreter im Wald von Compiegne von Foch mit den verächtlichen Worten empfangen: »Was wünschen Sie?« Am 7. forderten die Sozialisten die Abdankung in Form eines Ultimatums, nach dessen Ablauf sie aus der Regierung austreten, d. h. die Revolution leiten würden.

Mit dieser Meldung nach Spa verbindet der Kanzler sein Abschiedsgesuch, warnt vor Gefahr einer Militär-Diktatur, die kommen und zum Bürgerkriege führen müsse. Auf alle Arten sucht er den Rücktritt dem Kaiser annehmbar zu machen: erst Neuwahlen, Nationalversammlung, dann Abdankung, die jetzt nur zu versprechen sei, bis dahin Stellvertretung, Kampf in den Wahllokalen statt auf der Straße, Rettung des monarchischen Gedankens durch eine demokratische Lösung. Bayern und Württemberg seien heut oder morgen Republik. Antwort aus Spa am 8.: »S. M. haben es völlig abgelehnt, auf die Vorschläge Eurer Großherzoglichen Hoheit in der Thronfrage einzugehen, und halten es nach wie vor für ihre Pflicht, auf ihrem Posten zu bleiben.«

Am 8. abends Kriegsrat in Spa zwischen Hindenburg, Gröner, Plessen über den Marsch auf Berlin. Plessen dafür, die beiden andern dagegen. Nach der amtlichen Denkschrift hatte die Heeresleitung schon am 8. Beweise für Ungehorsam von Formationen, »die als Kerntruppen galten und denen die Aufgabe zugewiesen war, den Rücken des Großen Hauptquartiers gegen die Aufrührer zu decken.« Alle höheren Offiziere, die man von der Front zum Bericht geholt, bestätigten diese Stimmung. Trotzdem wagt keiner von beiden Generalen, dem Kaiser diese Wahrheit zu sagen: schweigend nehmen sie seinen Befehl entgegen, »eine Operation gegen die Heimat einzuleiten«. Es klingt, als machte sich ein Operateur daran, sich selbst am Krebs zu operieren. Bei dieser Stimmung des Kaisers, der weder seine Macht noch seine Person opfern, sondern gegen die revolutionäre Hauptstadt marschieren wollte, lag alle Verantwortung in den Händen des Feldmarschalls, der ihn zwei Jahre lang beraten und nun ins Hauptquartier zurückgeführt hatte. Obwohl er »die Operation gegen die Heimat« für unausführbar hielt, widerriet er sie nicht; obwohl er alles verloren gab, riet er doch nicht zur Abdankung. Im schwierigen Konflikt seiner Gefühle als kaisertreuer General, als Führer einer geschlagenen Armee und als Deutscher, der nicht auf Deutsche schießen lassen mochte, schwieg er den ganzen Tag über abwartend und mißtraute den Rufen des ertrinkenden Kanzlers.

Dieser ließ sich am selben Abend mit dem Kaiser telephonisch verbinden, sie sprachen 20 Minuten.

Prinz Max (Der 9. November, S. 7.):

»Die Abdankung ist nötig geworden, um den Bürgerkrieg zu vermeiden, um also die Mission des Friedenskaisers bis zum Schlusse durchzuführen. Gelingt dies, so wird E. M. Name in der Geschichte gesegnet werden. Erfolgt nichts, so wird die Forderung im Reichstag gestellt und bewilligt werden. Die Truppe ist nicht mehr sicher, Köln ist in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte, auf dem Braunschweiger Schloß von E. M. Tochter weht die rote Fahne, München ist Republik, in Schwerin tagt ein Soldatenrat. Ich sehe zwei Möglichkeiten: Abdankung, Thron verzieht des Kronprinzen und Regentschaft für den Enkel, oder Abdankung, Ernennung eines Stellvertreters, Nationalversammlung: das fordert der Ausschuß des Reichstages, scheint mir auch das Bessere, weil es noch alle Chancen für die Monarchie bietet. Was geschieht, müßte sofort geschehn, nach dem ersten Blutvergießen verlöre es die Wirkung. Mit Hilfe der Sozialisten wäre die Lage auf diese Art noch zu retten, sonst kommt die Republik. Freiwillig muß das Opfer sein, um E. M. Namen in der Geschichte zu erhalten.«

So wird der Geist der Geschichte, es werden Politik und Pathos, Regimentsnummern und historische Rettungen von einem Fürstensohn zum anderen durchs Telephon gerufen, damit im letzten Augenblick der Hörer drüben auf die Macht verzichte, mit deren Vertretung er den Warnenden bekleidet hat. Der Wunsch von 60 Millionen sammelt sich in diesem einen Munde, der zum Kaiser als zu seinem Vetter reden kann. Doch auf der anderen Seite sitzt der Kaiser, bleich, die Lippen nagend, wie ihn Eulenburg bei geringeren Störungen schilderte, und ruft zurück: »Unsinn! Die Truppe steht zu mir! Morgen marschieren wir gegen die Heimat!« Noch an diesem letzten Königsabend macht Wilhelm der Zweite das Falsche, weil er die Seinigen zur Beschönigung erzogen hat. »Hätte die Oberste Heeresleitung« – schreibt Prinz Max – »am 8. November dem Kaiser die Wahrheit über die Armee gesagt, die sie ihm endlich am 9. früh mitteilte, so zweifle ich nicht daran, daß der Kaiser am 8. abends den Thronverzicht ausgesprochen hätte.«

Während der Nacht schildern vier Mitglieder der Reichsregierung durch den Draht der Heeresleitung die Erwartungen für morgen: ist die Abdankung früh nicht in Berlin bekannt, so können die Führer die Arbeiter in den Fabriken nicht länger halten. Dies alles wird aber in Spa zum Teil nicht geglaubt, zum Teil persönlich genommen, Prinz Max als Gegner der Hohenzollern und Thronanwärter verdächtigt, sein »schlappes Kabinett« verlacht.

Am 9. November, 10 Uhr morgens, erfährt die Reichsregierung: Alexander-Regiment, Jüterboger Artillerie sind zu den Arbeitern übergegangen, selbst die Naumburger Jäger, die man eben eigens zum Schutz nach Berlin gezogen. In fortlaufenden Berichten gehen diese Meldungen nach Spa, wo freilich in der Kaiservilla »das eine Telephon ständig besetzt, das andere abgehängt war«. Dieser abgehängte Hörer stellte den letzten falschen Dienst eines stumpfen Hofes für seinen Herrn dar. Leise wankte das groteske Symbol einer abgehängten Macht hin und her, der kaiserliche Apparat widersetzte sich einfach der Kenntnis des 9. November.

Zur gleichen Stunde waren beim Kaiser Hindenburg, Gröner, Plessen, der rasch herbeizitierte Graf Schulenburg und zwei Offiziere versammelt. Gegenstand der Beratung: »Vortrag über die vom Kaiser befohlene Operation gegen die Heimat.« Gartensaal, Kamin mit Holzscheiten, wo der Kaiser (Niemann, 134) »fröstelnd eine Rückenlehne sucht.« Sternenreiche Uniformen, straffe gehaltene Mienen, sachlicher Ernst, Listen mit Zahlen, eine Sitzung wie hundert Sitzungen, denen der Kaiser im Kriege präsidiert hat; nur soll diesmal die Front nach Osten gedreht werden, obwohl man im Westen steht. Während in Berlin Soldaten, die Arbeiter sind, sich mit Arbeitern verbrüdern, die morgen Soldaten werden sollen, während ein allgemeiner, mehr dumpfer als gellender Rausch die Männer, die seit vier Jahren Granaten werfen, mit denen verbindet, die sie drehen, nur von dem Wunsch getrieben, den Frieden wiederzusehen, beraten die Herren, von denen bis gestern ihr Leben abhing, wie man am besten diese Rotte niederschießen könne. Hier geht es streng gemessen zu. Keiner erhebt die Stimme lauter als sonst. Niemand erhebt sie für die Einheit der Nation, die sich nach allem nun auch noch zerfleischen sollte. Niemand! Draußen schwankt das abgehängte Telephon.

Nur im Urteil über die Mittel ist man uneins. Hindenburg bittet ihn vom Vortrage zu entbinden, da es ihm »namenlos schwer fällt, seinem Kriegsherrn von einem Entschluß abraten zu müssen, den er dem Herzen nach freudig begrüßt, dessen Ausführung er aber nach reiflicher Überlegung als unmöglich bezeichnen muß«. Weniger herzlich, doch im gleichen Sinn spricht General Grüner. Plessen dagegen ist, auch diesmal, wie schon zu Eulenburgs Zeiten, für Schießen, mit ihm Schulenburg, während von 16 Vertretern seiner Heeresgruppe 12 die Frage auf Zuverlässigkeit der Truppe noch gestern verneint, keiner direkt bejaht hat. Schulenburg skizziert seinen Aufmarschplan am Rhein und als Motiv: »Dem Heer soll gesagt werden, daß ihm seine Schwesterwaffe, die Marine, mit jüdischen Kriegsgewinnlern und Drückebergern in den Rücken gefallen sei und die Verpflegung sperre.« Der Kaiser, erst für Krieg, wird bei Hindenburgs Darstellung unsicher und sucht nach seiner Natur einen Kompromiß: »Ich will dem Vaterlande den Bürgerkrieg ersparen, aber nach dem Waffenstillstand friedlich an der Spitze der Armee in die Heimat zurückkehren.«

Ist nicht allen geholfen? Kein Blutvergießen, keine Gefahr für das Reich und keine für den Kaiser, dafür Einzug durchs Brandenburger Tor. Aber da steht gelassen Gruner auf, den der Kaiser noch dieser Tage als »braven Schwab« gerühmt und väterlich geklopft hat; der sagt nun endlich die Wahrheit: »Unter seinen Führern und Generalen wird das Heer in Ruhe und Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, nicht aber unter dem Befehl Eurer Majestät. Es steht nicht mehr hinter Ihnen!«

Furchtbarer Augenblick! Dringt die Revolte bis an des Königs Tisch? Er machte einige Schritte auf General Gröner zu: »Exzellenz, diese Erklärung verlange ich von Ihnen schriftlich! Schwarz auf weiß will ich die Meldung aller kommandierenden Generale haben, daß das Heer nicht mehr hinter seinem Obersten Kriegsherrn steht. Hat es mir nicht den Fahneneid geschworen?!«

Gröner: »Der ist in solcher Lage eine Fiktion.«

Da er die Wahrheit dieses Satzes erkennen muß, bricht des Kaisers Welt in seinem Herzen zusammen. Dreißig Jahre hatte er versucht die eiserne Wehr um sich zu kräftigen; in dreißig Tagen ist sie zerbrochen. Von Abdankung ist in dieser Sitzung mit keinem Worte die Rede gewesen, obwohl sie Voraussetzung des Waffenstillstandes war.

Inzwischen wird die Sitzung unterbrochen, da die Berliner drahtlichen Meldungen bei der Heeresleitung sich häufen. Befragung der Offiziere, aus drei Heeresgruppen ausgewählt, ergibt das erwartete Negativum. Ein Oberst teilt dies dem Kaiser mit. Zugleich meldet der Gouverneur von Berlin: Alles übergelaufen, keine Truppen mehr in der Hand. Es ist 11 Uhr.

Da steht er, eingeklemmt zwischen Berliner Nachrichten, die sich überstürzen, und diesem kalten Nein seiner Offiziere.

Die hundertfach gefürchtete, mit allen Mitteln der Rhetorik weggedrängte Stunde ist da: die Paladine wanken, den Fürsten auf steiler Höh' schützt kein Soldat mehr vor den meuternden Untertanen. Schwebt dort nicht Bismarcks Geist? Es war seine letzte Mahnung an den Kaiser, jetzt sind es 20 Jahre: »Solange Sie dies Offizierkorps haben, können Sie sich alles erlauben. Ohne das – wäre freilich alles anders.« Es war beim Sekt, und nach der Tafel sahen sie sich nicht wieder. Jetzt erst, in diesem letzten, unwürdigen Augenblicke, entschließt sich der Kaiser, umstellt, die Waffen zu strecken:

»S. M. war durch diese Meldungen aufs tiefste beeindruckt und scheinbar entschlossen, seine Person zum Opfer zu bringen, um den Bruderkrieg zu vermeiden.« Aber Graf Schulenburg will die Monarchie auf seine Weise retten: jetzt kommt er auf den unsinnigen Gedanken, der Monarch soll als Deutscher Kaiser abdanken, nicht aber als König von Preußen. Da Hindenburg und auch der eben eintreffende Kronprinz den grotesken Vorschlag unterstützen, ergreift der Kaiser diese weder kaiserliche noch königliche Rettung und glaubt, als Spieler, mit dem letzten Einsatz noch einmal das Ganze zu gewinnen.

Der Kanzler ruft aus Berlin aufs neue, er müsse seine Entlassung nehmen, die Monarchie ist nicht mehr zu retten, wenn die Abdankung nicht im Augenblick eintrifft. Der Kaiser befiehlt Hintze, seine halbe Abdankung als Antwort zu erklären. Wieder springt Schulenburg dazwischen, regt die Formulierung dieses wichtigen Schrittes vorerst an, die der Kaiser unterschreiben müsse. Inzwischen steigt in Berlin die Bewegung, niemand weiß in der Wilhelmstraße, ob nicht in 10 Minuten die Menge mit Maschinengewehren anrückt. Neue Angstschreie nach Spa: »Es handelt sich um Minuten!« Schulenburgs Antwort: »Eine so wichtige Entschließung kann nicht in wenigen Minuten gefaßt werden. S. M. hat den Entschluß gefaßt, er wird im Augenblicke schriftlich formuliert und in einer halben Stunde in den Händen der Reichsregierung sein.« Mit keinem Wort erwähnt der Graf die von ihm selbst erfundene Zerstörung jeder Wirkung durch die Halbierung der Macht! »Von einer Abdankung nur als Kaiser und nicht als König von Preußen,« schreibt Prinz Max, »war in den Telephongesprächen vom 9. November und auch vorher mit keiner Silbe die Rede gewesen.« Auch konnte niemand in Berlin auf den Gedanken einer mutwilligen Sprengung des deutschen Bundes kommen, die den Sinn der Verfassung und den Grundgedanken der Abdankung aufhob; denn es war nicht der deutsche Kaiser, den man loswerden wollte, es war Wilhelm der Zweite;

Mit den Resten des Kabinetts sitzt der Kanzler in seinem Haus und wartet auf die Formulierung; die Sozialisten sind ausgeschieden, sie führen die Massen. Jeden Augenblick werden sie die Republik Unter den Linden ausrufen. Die Erklärung kommt nicht; für drei Generale, einen Minister und einen König ist es in der Tat zu schwer, diese drei Sätze zusammenzustellen. Jetzt steht der Kanzler nur noch vor der Wahl, der Straße den Vortritt zu lassen oder die ihm als Entschluß amtlich mitgeteilte Absicht der Abdankung selber zu formulieren, zu seinem einzigen Zwecke: der Rettung der Dynastie. So tut er, was er als Kanzler, als Fürst und auch als Freund tun muß: er formuliert die amtlich erklärte Absicht seines Herrn als einen vollendeten Entschluß und überschreitet auch formell nur darin seine Befugnis, daß er, in Zwangslage, zugleich den Thronverzicht des Kronprinzen ausspricht:

»Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Thron zu entsagen. Der Reichskanzler bleibt noch so lange im Amte, bis die mit der Abdankung ... verbundenen Fragen unter Einsetzung einer Regentschaft geregelt sind. Er beabsichtigt, dem Regenten die Ernennung des Abgeordneten Ebert zum Reichskanzler und die Vorlage eines Gesetzentwurfes wegen der sofortigen Ausschreibung allgemeiner Wahlen für die verfassunggebende deutsche Nationalversammlung vorzuschlagen, der es obliegen würde, die künftige Staatsform des deutschen Volkes ... endgültig festzustellen.«

Mit dieser Kundgebung konnte Prinz Max der Dynastie nicht mehr nützen, sie kam um vier Wochen, um vier Tage, ja um vier Stunden zu spät. Scheidemann hatte gleichzeitig die Republik verkündigt. Einem Einzigen leistete der Prinz dennoch damit den größten Dienst, dem Kaiser. Da alles ihn verließ, war nur noch dieser Kanzler, der ihn stützte: hier endlich war der Sündenbock gefunden, den er für jeden seiner Mißgriffe brauchte. Prinz Max hat dem Kaiser einen ruhigen Lebensabend bereitet.

Kaum hatte er den Erlaß vernommen, so erfüllte ihn bei aller Ohnmacht ein neuer, minutenlanger Kampfesmut: »Verrat! Schamloser, empörender Verrat!« ruft er aus, denn nun ist Fünfter Akt (Niemann als Zeuge, S. 140). Darauf »bedeckt der Monarch in fiebernder Hast ein Telegramm-Formular nach dem andern mit der Kundgebung seines Protestes«. Die Formulare verlassen ihn nicht, sie sind die letzten Getreuen. Er erklärte, er bleibe König von Preußen. Admiral Scheer und Kontreadmiral von Levetzow bezeugen die Szene, die ihre eigene Ironie verkündet (Südd. Monatsh., Mai 24):

»Vor dem Kaiser stand der Generalfeldmarschall, etwas abseits General Gröner und General von Marschall. Bei unserem Eintritt in das Zimmer sagte der Kaiser: »Herr Feldmarschall, wiederholen Sie bitte Exzellenz Scheer, was Sie mir soeben gesagt haben!«

Hindenburg: »Das Heer hält nicht mehr, die Truppen stehen nicht mehr zu S. M. Es gibt keine treuen Truppen mehr. Wollte Gott, E. M., es stünde anders!«

Kaiser: »Wenn es so ist, wie der Feldmarschall meldet, so kann ich mich doch nicht arretieren lassen! Es bleibt nichts übrig, als abzudanken als Kaiser. Ich bleibe König von Preußen. Aber damit die Herren erfahren, wie ich vom Kanzler bedient worden bin: Prinz Max von Baden hat bereits heut vormittag ohne mein Wissen und ohne meine Ermächtigung meine Abdankung proklamiert, als Kaiser und als König. So bin ich von meinem letzten Kanzler bedient worden!«

Scheer: »Die Folgen für die Marine sind unabsehbar, wenn sie keinen höchsten Kriegsherrn mehr hat.«

Kaiser, düster: »Ich habe keine Marine mehr!«

Händedruck an alle, er geht, von Abreise kein Wort, er will bei der Truppe bleiben.

Die ganze Szene, so verworren wie pathetisch, mit ihrem Theaterschlusse, müßte nun mit einem Schuß hinter der Bühne oder mit dem Abritt zur Front enden, denn zwischen dem 9. und dem 11. sind noch Hunderte draußen gefallen. Delbrück kam eigens angefahren um an der Seite seines Herrn zu sterben, pommersche Junker ließen die gleiche Absicht an diesem Tage die Kaiserin wissen, und Solf glaubte schon vorher, auf einen solchen Plan des Kaisers schließen zu sollen. Wenn der Kaiser später, im Gespräch mit Niemann, Gott versuchen und Selbstmord moralisch verwirft, so sind das. Privata, von niemand zu kritisieren; sein zweites Argument aber ist von höchstem Interesse: »Welchen Nutzen sollte eine solche inszenierte Heldenrolle bringen? Wir leben nicht mehr in einer Zeit, wo der königliche Feldherr mit dem Degen in der Rechten seine Triarier in den Entscheidungskampf führte.«

Ist das der nämliche Mund, der durch Jahrzehnte von diesem Kampf, den Degen in der Rechten, geprahlt, der diese Heldenrolle in der Zukunft verheißen, der sie nun vier Jahre lang von seinen Untertanen gefordert hat, die sich zu Hekatomben türmten? Hat er sich nicht noch eben auf den Großen Friedrich berufen? Der trug immer Gift bei sich.

Jeder seiner Untertanen durfte das Leben dem Heldentode vorziehen, nur nicht Er, nicht heut: nur nicht am 9. November Wilhelm der Zweite.

Ratlos steht er vor der Wirklichkeit: ein schlechter Abgang oder das Leben, das war die Wahl. Während Hindenburg und Hintze vor den Gefahren beim Heere warnen, hält er sich noch an ein angeblich zuverlässiges Sturmbataillon, man erwägt eine Schutztruppe aus Offizieren. »Bis zum äußersten will ich kämpfen,« sagt er gegen Abend, »wenn mir noch einige Herren treu bleiben, – und wenn wir alle totgeschlagen werden!« Ganz primitiv, so wie er es auf der Bühne gesehn, läßt er jetzt Munition und Waffen in seine Villa bringen, als wolle er sich darin verschanzen. Auf Nachricht von der Kaiserin ruft er aus: »Meine Frau hält sich, und man will mich überreden, nach Holland zu gehn? Das tue ich nicht! Das wäre wie ein Kapitän, der sein sinkendes Schiff verläßt!« (Niemann, S. 143.)

Plötzlich, noch während er seine kleine Festung verproviantiert, sieht er den Hofzug draußen stehn, oder er denkt an ihn. Hat er ihn nicht durch alle Länder getragen, ein immer gehorsames Pferd? Da steht er, blendend, weiß und golden, gewaschen, geölt, mit Kohle versehn, elastisch federnd, immer geräuschlos, immer bereit: die wahre Heimat des Kaisers. Nur wenn Bewegung rauscht und rollt, im Fahren ist das Leben schön. Jetzt gibt er alles auf, geht in den Zug zum Schlafen, sagt Hintze, er führe morgen nach Holland hinüber. Um 9 Uhr läßt er vom Zuge aus Hindenburg wieder melden, er reise nicht, dasselbe sagt er dem Kronprinzen, morgen früh will er ihn sprechen.

Als Niemann, den Plessen zur möglichen Abfahrt »noch heut abend« in den Zug gerufen, mit Gepäck ankommt, – wie findet er seinen Kriegsherrn? »Im Hofzuge finde ich den Kaiser im Kreise seines Gefolges bereits bei Tafel. Ich habe gefürchtet, die Erregung der vorhergegangenen Stunden würde bei ihm eine Lethargie auslösen. Das ist jedoch nicht der Fall. Voller Lebensenergie blickt er mich an; ruhige Entschlossenheit liegt auf dem Antlitz. Man sagt mir, der Kaiser habe das Ansinnen, nach Holland abzureisen, ganz entschieden zurückgewiesen.«

Um diese Zeit, d. h. seit 24 Stunden weiß die ganze Umgebung längst, daß er fliehen wird; aber das Dekorum wird gewahrt. Als dann abends um 10 Grünau »im Auftrage des Feldmarschalls« gemeinsam mit Plessen und Marschall bittet: sofort nach Holland, heißt es plötzlich und ohne Übergang: »Nach kurzer Überlegung willigte der Kaiser ein«. Um aber auch jetzt noch den Meister zu zeigen, damit man ihm nicht etwa »Todesfurcht nachsage«, findet er die Wendung:

»Wenn es denn sein muß! – Aber nicht vor morgen früh!«

Was konnte auch sonst der Feldmarschall, der den Kaiser liebte, raten, da alles vorüber war? Nach schrittweis schmählichem Rückzug von der Macht war jetzt nur noch die schmale Gasse zur Flucht. Wird aber nicht im letzten Augenblicke der Geist der Uniform, die er seit 50 Jahren am Leibe trägt, wird nicht der Geist der Väter ihn durchbrechen, um das unsinnig Schöne, das Ritterliche als Hohenzoller zu wagen? Nach soviel tausend Reden jetzt eine einzige Rede, zehn Sätze an die versammelten Offiziere: An die Front! In den Kampf! – und mit altpreußischem Hurra umringte ihn plötzlich eine Menschenmauer, ein kämpfender Fürst ehrte die Toten und rettete die Lebenden!

Aber er nahm nur einen Bogen und schrieb dem Sohn, dem er zu bleiben versprochen: »Lieber Junge,« er hätte sich doch entschlossen fortzugehen, einfach, nüchtern; nur als er an die Unterschrift kam, dachte er noch einmal an die historische Szene und schrieb mit formelhafter Kälte darunter: »Dein tiefgebeugter Vater.« Als der Sohn den Vater andern morgens aufsucht, ist er verschwunden. Niemand hielt den Kaiser zurück, als er sein Land verließ: das ist der schlimmste aller Epiloge.

Im Morgengrauen war er mit einigen Getreuen in Autos nach Westen gefahren, zur Vorbereitung war nicht Zeit, auch durfte man nicht wagen, den schon überall bewachten Draht zu benutzen: so war's im Grunde der erste und letzte Husarenstreich seines Lebens. Die Grenze ist nicht weit. Die Autos halten. Der Grenzsoldat in holländischer Uniform verweigert deutschen Offizieren den Eintritt. Sein Offizier, herbeigeholt, glaubt erst, er träumt, dann besinnt er sich auf seine Vorschrift. Telephon nach dem Haag. Vorläufig bringt er die Herren in einem kleinen eisernen Warteraum unter. Doch bis man im Haag sich schlüssig macht, Minister und die Königin, vergehen 6 Stunden.

Noch nie hat der Kaiser 6 Minuten gewartet. Vielleicht, daß sich der Zug mit einem gekrönten Gast ein paar Augenblicke verspätete, oder daß eine Meldung im Manöver nicht auf die Minute klappte. Jetzt ist er 6 Stunden in dem Kasten gefangen, und wenn er manches abzubüßen hat, so wird der Pilger in diesen 6 Stunden eines Teils seiner Sünden ledig.

Aus dem kleinen Warteraume weist das Fenster nach Osten, gleich dahinter sieht er die holländischen Farben, den Grenzpfahl, vier Fuß weiter sieht er Schwarz-Weiß-Rot. Der Kaiser blickt auf den Pfahl, nun blickt er zurück auf sein Land, auf sein Leben.

Hier, hinter diesem Grenzpfahl, stöhnt ein großes Volk. Das sind die Deutschen, Kaiser Wilhelm, die du so lange regiertest. Friedlich und stark, gedankenvoll und voll Musik, so war immer ihr Wesen, so ist ihr Inneres geblieben. Aber darüber hat sich ein glänzender Schleier gelegt, der Schein von Gold und Edelsteinen, Ehrgeiz nach Geltung, Eifersucht auf ältere Völker hat ihre Festigkeit verwirrt in diesen 30 Jahren. Zu rasch sind sie ihrem jungen Kaiser ähnlich geworden, zu gut gefiel er ihnen, so trieben sie einander vorwärts, immer weiter, immer reicher, bis zur Hybris. Schmeichelnd umrauschte es den Thron seines Herrn, jeder wollte beim raschen Gewinne sein. Den Leichtsinn hat es bezahlen müssen, der Hochmut hatte Europa gereizt.

Nun stöhnt das Land. Mehr als eine Million seiner Söhne, die halbe Jugend biegt hingestreckt und fault in fremder Erde. Wie die Mütter weinen, wie die Väter grollen, wie sich dies tapfere, hungernde Volk unter der Geißel des Siegers windet!

Sind dies die herrlichen Zeiten, denen du dein Volk entgegenzuführen gelobtest? Welchen hast du gehalten von deinen Eiden? Wenn dich Natur und Erziehung bedrückten, so hast du doch aus deinen Gaben nichts gemacht in diesem festlichen Leben. Um deiner Worte, deiner Eitelkeiten willen verwirrte sich dies starke Volk, und als es dich ein einziges Mal verwarnte, hast du's verhöhnt.

Nach vier tatenlosen Jahren, während alles opferte außer dir, hast du dem Volk den letzten Dienst versagt, der dich in der Geschichte retten konnte; und um dein bloßes Leben brichst du jetzt auch noch den Soldateneid, den du dem Großvater geschworen und Tausenden als heilig eingehämmert hast. In höchster Not läßt du alle im Stich: Frau, Kinder, Untertanen, aus Furcht vergeudest du die Ehre deiner Väter! Das Chaos stürzt zusammen über deinem Lande, und während Millionen der Not und Sklaverei entgegenstarren, schwingt sich der Einzige, der sie vertritt, in seinen elastischen Wagen und fährt davon, um drüben den Wohlstand eines friedlichen Landes zu genießen!

Endlich! Grüßend tritt der Offizier in den Raum: »Die Herren dürfen passieren.« Mit einem Herzen wie von Blei steigt der Kaiser ein; heut vergißt er sogar, den kurzen Arm unter der Pelerine zu verstecken. Vom sitzt ein Soldat, der eskortiert den hohen Gefangenen. Der Motor rasselt: nun geht es in die Fremde, aus der es keine Heimkehr gibt.

Immer leiser hört der Kaiser hinter sich das Stöhnen seines Landes.

 


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