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Vierzehntes Kapitel.
Entdeckungen

Vor seiner Abreise nach Europa hatte John Meyers an einen Kollegen in London geschrieben, um seinen Beistand in der Angelegenheit zu erbitten, die ihn nach England führte. Als der britische Advokat vier Jahre zuvor in Verfolgung einer Kriminalsache völlig fremd nach New-York gekommen war, hatte Meyers sich seiner in liebenswürdigster Weise angenommen und ihn mit Rat und Tat unterstützt. Aus Dankbarkeit hatte sich Wendell Haynes – so hieß der englische Advokat – zu jedem Gegendienst bereit erklärt und jetzt, nach vier Jahren, erinnerte Meyers ihn an dieses Versprechen.

»Ich komme demnächst nach England,« schrieb er dem Kollegen, »um Ermittelungen in einer Erbschaftsangelegenheit anzustellen, die mir als Fremden viel Zeit rauben würden. Ich bitte Sie daher in Erinnerung Ihres einstigen Versprechens um Ihren kollegialischen Beistand; Ihnen mit Ihrer Kenntnis des Landes dürften die betreffenden Nachforschungen gewiß wenig Mühe verursachen.

Ich habe nämlich Grund anzunehmen, daß bei Ihnen drüben die Erben für den Grundbesitz eines gewissen Prisley gesucht werden und daß dieselben durch Zeitungsaufruf aufgefordert worden sind, sich zu melden. Könnte ich nun näheres über den Stand dieser Sache sowie über die Personen erfahren, mit denen ich zu unterhandeln hätte, so wäre mir dies von großem Nutzen. Ich bitte Sie daher um freundliche Auskunft und hoffe im Vertrauen auf Ihre Bereitwilligkeit mir zu helfen, bei meinem Eintreffen in London eine Nachricht von Ihnen vorzufinden. Ich komme mit der ›Etruria‹ herüber und steige in Brown's Hotel ab.

Ihr
ergebener
John Meyers.«

Der Amerikaner hatte sich in seinem englischen Kollegen nicht getäuscht. Als er nach seiner Ankunft in London Brown's Hotel betrat, erwartete ihn bereits ein Brief von Wendell Haynes, der ihm mitteilte, daß er auf seine Erkundigung hin folgendes erfahren habe: Als Erben des großen Grundbesitzes der Prisleys of Illchester würden die Nachkommen von Hugo Prisley gesucht, der vor achtzig Jahren nach Amerika gegangen sei. Die Behörden hatten einen Aufruf erlassen, merkwürdigerweise habe sich aber niemand gemeldet.

»Sie sehen,« äußerte Wendell Haynes, als Meyers ihn zu einer näheren Besprechung aufgesucht hatte, »die Erbschaftsberechtigung der Nachkommen Hugo Prisleys ist zweifellos richtig und unantastbar, sofern sie imstande wären, sich als Erben zu legitimieren.«

»Und in England ist die Familie vollständig erloschen?« fragte Meyers.

»In direkter Linie, ja. Es mögen noch weitläufige Verwandte existieren, doch die kommen noch nicht in Betracht. Der Vater Hugo Prisleys hatte vier Kinder, drei Söhne und eine Tochter. Diese heiratete und starb kinderlos. Der älteste Sohn hatte zwar einen Erben, der aber in jungen Jahren starb. Nach dem Tode seines Bruders erbte der zweite Sohn Martin die Güter und dessen letzter Nachkomme, eine Witwe, starb vor zwei Jahren. So bleibt nur noch die des dritten Sohnes, jenes ausgewanderten Hugo Prisley.«

»Hat sich niemand für die Erbschaft gemeldet?«

»Niemand. Sie wurde hier und in Amerika ausgeschrieben, jedoch ohne Erfolg. Niemand hat Ansprüche erhoben.«

»Niemand?« Meyers machte ein enttäuschtes Gesicht, was seinem scharfsinnigen Kollegen nicht entging. »Meine Auskunft scheint Sie nicht zu befriedigen,« sagte er, »Sie hatten sicher erwartet, einen Reflektanten für die Erbschaft vorzufinden.«

»Darin haben Sie recht,« gab Meyers zu. »Ich bin wirklich überrascht und diese Tatsache wirft alle meine Kombinationen über den Haufen. Ich wollte Ihnen die Geschichte auseinandersetzen, allein ich muß dies jetzt verschieben und erst das Resultat Ihrer Ermittlungen nach New-York berichten.«

Er verabschiedete sich hastig, nachdem er Haynes versprochen hatte, mit ihm zu Mittag zu speisen und kehrte in sein Hotel zurück, wo er ein Kabeltelegramm von Ferrars fand, dessen chiffrierter Inhalt lautete:

»Hilda hat Verdächtigen gesehen, der uns überwacht. Fahren erst ab, wenn keine Gefahr.«

Meyers sandte eine kurze Gegendepesche:

»Alles in Ordnung. Weg frei, kein Reflektant«.

Drei Tage später kreuzten sich auf dem Ozean zwei Briefe. Der eine lautete:

»Mein lieber Ferrars! Ich beeile mich, Ihnen in kurzen Worten den Tatbestand der Erbschaftsangelegenheit mitzuteilen, wie ich ihn durch Vermittlung meines hiesigen Kollegen Wendell Haynes erfahren habe.

1. Das Vermögen der Prisley ist keine Sinekure – es existiert wirklich und beträgt ungefähr eine Million Dollar. Außer einer bedeutenden Anlage in Wertpapieren ist noch ein prächtiger Landsitz, ein Stadthaus und eine Fabrik vorhanden.

2. Die englische Linie ist gänzlich erloschen. Unser Klient kann auf das ganze Vermögen Anspruch erheben.

3. Folgender Umstand wird Sie gewiß ebenso sehr überraschen als er mich in Erstaunen setzte. Es sind von keiner Seite Anstrengungen gemacht worden, die Erbschaft zu reklamieren oder an sich zu bringen. Dies vereitelt all' unsere Pläne. Wie soll ich nun vorgehen? Halten Sie noch an dem Aufrufsystem fest? Ich sehe Ihren diesbezüglichen Mitteilungen entgegen und benutze die Zwischenzeit, mir London gründlich anzusehen.

Ihr ergebener
J. Meyers.«

Der zweite Brief, von Chicago abgesandt, lautete:

»Lieber Freund! Wir sind jetzt alle in der Stadt, das Signal zur Abreise erwartend. Ich hatte mich die letzte Zeit, durch die Unsichtbarkeit des Feindes verleitet, in Sicherheit gewiegt, bin aber daraus aufgeschreckt worden. Gestern fuhren Fräulein Grant und Fräulein Glidden in die Stadt, Einkäufe zu machen. In einer engen Straße mußte ihr Wagen wegen des starken Verkehrs einen Augenblick halten. Fräulein Grant schaute achtlos auf die Passanten, als sie aus einem Pfandleihergeschäft einen Mann treten sah, der etwas in die Tasche steckte und sich rasch entfernte. Der Mann kam ihr bekannt vor; sie erinnerte sich, ihn zweimal in Glenville gesehen zu haben, wo er ihr und uns, die wir damals dort waren, heimlich nachspürte. Das ist sehr fatal – doppelt, weil ich ihn nicht kenne, er sich also bei seiner Spionage im Vorteil befindet.

Ich bin noch am selben Tag zu dem betreffenden Pfandverleiher gegangen, der mir erzählte, der Betreffende habe eine vor drei Tagen versetzte Uhr wieder ausgelöst. Er sei ganz glücklich gewesen, es tun zu können, da die Uhr ein Erbstück sei, das er von seinem verstorbenen Vater erhalten habe. Auf meine Frage beschrieb der Verleiher sie mir als ein ausländisches, sehr schönes Fabrikat. Der Name Charles Braily oder Brierly sei eingraviert gewesen. Ich glaube, daß dies die Uhr ist, die aus Charles Brierlys Zimmer gestohlen wurde; der Bursche hat sie erst versetzt, dann aber – vielleicht aus Furcht vor Entdeckung – wieder eingelöst. Doch das sind nur Vermutungen, unsere Beweise müssen wir in England suchen, wozu wir alle entschlossen sind.

Aus Glenville liegt nichts neues vor; woher auch – jetzt? Trotzdem hoffe ich, daß wir unser Ziel nun bald erreichen werden.

Ihr ergebener
F. S. Ferrars.«

Bald nach Absendung dieses Briefes erhielt der Detektiv ein Schreiben Samuel Dorans, das ihn lebhaft interessierte. Es lautete:

»Geehrter Herr! Ich glaube, einen Glücksfang getan zu haben. Unsere Magd hat eine Freundin im Glenvillehotel, die gestern abend ein Weilchen zum Schwatzen zu ihr kam. Ich war grad' in der Nähe und so hörte ich unbemerkt, wie das Hausmädchen meiner Dore erzählte, der Portier im Hotel sei ganz versessen aufs Photographieren. Das Personal in der Küche spotte aber über seine Kunstwerke und so habe er im Aerger darüber geschworen, jeden Fremden, der im Hotel abstiege, in seinem Kodak festzuhalten, und daß die Gäste ihm dann sagen sollten, ob seine Bilder nicht ähnlich seien. Nun traf es sich, daß der Mann, den wir für einen Spion halten, den ich aber nie gesehen habe, wieder in Glenville auftauchte und zwei Tage das Hotel bewohnte. Natürlich fiel auch er dem Photographeneifer des Portiers zum Opfer.

Unter einem Vorwand habe ich mir das Bild verschafft, das recht ähnlich sein soll, und lege es Ihnen bei. Sonst nichts neues.

Samuel Doran.«

Mit gespanntem Interesse betrachtete Ferrars die Photographie und dann murmelte er leise vor sich hin: »Hm – dies Gesicht kommt mir so bekannt vor – wo habe ich's nur gesehen?«

Noch eine Weile studierte er den Kopf, dessen Augen durch eine Brille verdeckt waren, holte hierauf ein Vergrößerungsglas und legte das Bild darunter. »Aha!« rief er endlich. »Jetzt hab ich's! Der Mann ist in Verkleidung.«

Nach kurzer Überlegung begab er sich zu Hilda Grant. »Erkennen Sie dies?« fragte er, ihr das Porträt vorhaltend.

»O ja –« entgegnete sie zögernd. »Ist das nicht der Mann, den – –«

»Den Sie an der Türe des Pfandverleihers sahen?« half Ferrars nach.

»Ja.«

»Und im Glenvillehotel?«

»Ja.«

»War er groß, breitschultrig, kräftig gebaut?«

»Ja, das war er,« nickte Hilda. »Welch' ein abstoßendes Gesicht!« fügte sie hinzu, das Bild betrachtend.

»O, das ist nicht das wahre Gesicht des Mannes,« erklärte ihr Ferrars. »Er hat sich durch Bart und Perrücke unkenntlich gemacht; in Wirklichkeit sieht er so aus.« Er nahm ein Blatt Papier und zeichnete mit einigen Strichen den Kopf hin, jedoch ohne den Vollbart.

Als er am Abend in seinem Zimmer saß, beschäftigt einige Briefe zu schreiben, zog er die Photographie wieder hervor und betrachtete sie nochmals mit lebhaftem Interesse. »Eh, mein Freund,« murmelte er halblaut, »wenn Du der bist, den ich im Verdacht habe, so werde ich Dich schon finden. Hast Du den ersten Schlag getan, ist auch der zweite Dein Werk gewesen. Doch nur Geduld! Noch ist das Spiel nicht zu Ende und wenn mich nicht alles im Stich läßt, gehört der letzte Trumpf mir!«

Zehn Tage später stand Ferrars mit seiner kleinen Reisegesellschaft auf englischem Boden. John Meyers empfing die Freunde am Bahnhof und geleitete sie nach der hübsch gelegenen Vorstadt Londons Hampton Court, wo er eine möblierte Wohnung gemietet hatte.

Nachdem alle behaglich eingerichtet waren, machte sich Ferrars in sorgfältiger Verkleidung auf den Weg nach der City. Wie vertraut erschien ihm hier jeder Stein, wie viele Menschen kannte er hier, zu denen er teils in freundschaftlichen, teils in gegnerischen Beziehungen gestanden hatte.

Sein erster Gang war nach Scotland Yard, wo man den berühmten Detektiv, der sich dem Vaterland so lange ferngehalten, mit Freuden begrüßte und ihm bereitwillig jeden Beistand versprach. Er verteilte dort eine Anzahl Abdrücke der ihm durch Samuel Doran übermittelten Photographie des Unbekannten, hatte eine längere Unterredung mit dem Polizeichef und begab sich dann nach der Oxford Street, an deren prächtigen Läden er achtlos vorüberschritt, bis er das Viertel Bloomsbury erreichte. Anfang des vorigen Jahrhunderts wohnten hier die Reichen, die Exklusiven; jetzt hat sich der wohlhabende Bürgerstand in dieser Gegend festgesetzt.

Nach kurzem Mustern der Straßennummern blieb Ferrars vor einem kleinen Hause stehen, das einen bescheidenen aber sehr anständigen Eindruck machte. Wohl eine halbe Stunde betrachtete er das Gebäude, auf der gegenüberliegenden Seite des Trottoirs hin und hergehend. Endlich, es begann bereits zu dunkeln – trat er, den Hut ins Gesicht gedrückt, an die Haustüre. In der einen Hand hielt er eine Visitenkarte, unter dem anderen Arm ein Päckchen. Auf sein Klingeln öffnete ein mittelalterliches Fräulein, das mit saurer Miene nach seinem Begehr fragte.

»Ah, entschuldigen Sie, meine junge Dame,« entgegnete Ferrars, »können Sie mir freundlichst sagen, ob hier eine Frau – Frau –«

Er hielt die Visitenkarte, wie Kurzsichtige es tun, dicht an seine Augen und sprach einen Namen aus.

Das mittelalterliche Fräulein, durch die Anrede geschmeichelt, schaute jetzt weniger mürrisch drein. »Bedaure, mein Herr,« sagte sie achselzuckend, »Sie sind hier nicht an der richtigen Türe.«

»Wohnt die Dame dieses Namens wirklich nicht in diesem Haus?« fragte Ferrars sichtlich enttäuscht. »Man sagte mir die Straße, vergaß jedoch die Hausnummer beizufügen. Vielleicht ist die Dame, die ich suche, nur zu Gast oder in Pension hier?«

Wieder verneinte das Fräulein, im Hause wohne nur ihre Herrin, deren Namen sie angab, und eine Nichte derselben.

Eine Entschuldigung murmelnd, entfernte sich der Detektiv, schlenderte langsam die Straße hinunter, tauchte aber schon nach wenigen Minuten wieder unter den Fenstern des betreffenden Hauses auf. Von seinem Standort aus konnte er geradeswegs in ein geräumiges Eßzimmer sehen, das von einer Gaslampe erleuchtet wurde. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt; ein Mädchen legte eben die letzte Hand daran. Gleich darauf trat eine Dame in einem lilaseidenen Kleid mit langer Schleppe ein. Sie war klein, hatte ein hübsches aber blasses Gesicht und üppiges, mattblondes Haar. Der Detektiv draußen am Fenster verschlang die Gestalt der Dame förmlich mit den Augen; lange war es ihm jedoch nicht vergönnt, sie zu beobachten, denn das Mädchen schloß auf ihr Geheiß die Vorhänge. Es eilte sich nicht damit und so hatte er eben noch Gelegenheit, durch eine Seitentüre einen hochgewachsenen, brünetten Mann eintreten zu sehen.

Leise vor sich hinpfeifend schritt Ferrars an dem Hause vorüber die Straße entlang. Er war mit seinem Gang zufrieden, hatte er doch die Frau wiedergesehen, die ihm, nach seiner eigenen Aussage, ein so besonderes Interesse einflößte. Und wen hatte er noch gesehen? Einen Bruder, einen Liebhaber? Vielleicht gar einen – Rivalen?

Nach einer Weile winkte er sich einen Wagen heran, um nach Hause zu fahren, und während er sich unterwegs seinen Gedanken hingab, entfuhr ihm die Äußerung: »Also meine kleine Dame ist jetzt nicht mehr in Trauer. Wenn ich nur wüßte, was das zu bedeuten hat?«

*

 


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