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Arbeit gab es auch in dem neuen Wirkungskreise mehr als genug, besonders in der ersten Zeit, und oft erstreckte sie sich nach beendetem Tagewerk in Besprechungen mit dem jungen Herrn der Fabrik noch bis tief in die Nacht.
Mancherlei war zu überwinden, was erst fast unbesieglich schien. Mißtrauen vor allem gegen den Neuling und so plötzlich hierher Versetzten, unschöne Versuche, ihm die Einarbeit zu erschweren und ihn zu verdrängen; Neid und Mißgunst, als man sehen mußte, daß es nicht gelang. Aber die ruhige Art, seinen Weg zu gehen, sich um nichts zu kümmern, als was ihn anging, und mehr als dies: sein Eintreten für die Arbeiter und ihre Interessen auch dann, wenn es dem Arbeitgeber zuwiderging; endlich das Selbstvertrauen, das er sich in seinem bisherigen, schweren Kampfe mit dem Leben dort draußen erworben, halfen dem jungen Manne bald, sich Achtung zu erzwingen und neue Freunde zu erwerben.
Was er an Erholung und Freude nötig brauchte, suchte und fand er an freien Tagen auf seinen Wanderungen. Wenn er am Wochenende, nachdem die Fabrik ihre Tore geschlossen, hinausfuhr auf Bahn und Schiff und am Sonntagabend aus der Einsamkeit der Berge und der Einkehr mit sich zurückkehrte, fühlte er sich frischgestärkt und fähig für die Arbeit der nächsten.
Einer dieser Ausflüge führte ihn zurück an die Stätte seiner frühesten Kindheit: zu dem kleinen Haus an dem stillen See, und schwankende Erinnerungen gewannen Gestalt in den ersten Freuden und dem ersten großen, dem unverwindbaren Schmerz seines Lebens. Ein anderer aber an die Ufer des großen Wassers, das die Länder trennte, zu dem rebenumsponnenen Haus auf der Höhe, längst wieder bewohnt, in dem in herbstlichen Wochen die Schatten dunkler Verzweiflung an den Menschen und an sich auch auf seinen Weg gefallen waren, Wochen, in denen er nie geglaubt zu finden, was er suchte und was er heute doch besaß – diesen furchtbaren Wochen, in denen er nicht mehr aus und nicht mehr ein gewußt mit sich.
Suchte er aber Gesellschaft, so war er stets gewiß, wenn er auf Stunden über den See hinüberfuhr in die Stadt, die er so liebgewonnen, sie dort zu finden bei einem Glase Wein und gutem Gespräch; und auch der Bereitwilligkeit seines jungen Chefs zu anderem, als nur geschäftlichem, durfte er immer gewiß sein, soweit ihre Ansichten auch darüber auseinandergingen, wo soziale Reformen einzusetzen, wo sie zu enden hatten und wo die letzten Gründe ihrer Notwendigkeit lagen.
In diesen Jahren wurde ihm mehr und mehr bewußt, wie sehr alle soziale Erkenntnis von der Betrachtung des Einzelnen, von dem konkreten Ich, ausgehen mußte, wollte sie auf dem Boden der Wirklichkeit stehen und zu greifbaren Resultaten führen, statt von so abstrakten Begriffen, wie denen der »Allgemeinheit«, der »Nation«, des »Volkes« und anderen.
War gewiß kein Ich der Mittelpunkt der Welt, so war doch jedes Ich der Mittelpunkt seiner Welt, und ein Trieb in ihm war stärker, als alle anderen Triebe: der der Selbsterhaltung.
Denn jedes Ich war eine Welt für sich: ein organisches Wesen, auf die Erde gesetzt, um sein Leben zu leben, bis seine Zeit erfüllt war. Sich zu behaupten, sich zu erhalten, sich durchzusetzen, mit einem Worte: zu leben, war daher die Triebfeder all seines Handelns und sein erster und letzter Beweggrund zu jeder Lebensäußerung.
Dieser Selbsterhaltungstrieb, sein Egoismus, war es, der das Individuum am Leben erhielt.
Den Egoismus leugnen hieß demnach das Leben leugnen. Alle Menschen waren Egoisten.
Alle, ob bewußt oder unbewußt, instinktiv oder berechnend, handelten immer und ausnahmslos nach der einen Maxime: mit jeder ihrer Handlungen das größtmögliche Maß an Glück für sich zu erlangen.
Ob sie dieses ihr Glück in sich oder in anderen suchen mochten, in Selbsterhöhung oder in Selbsterniedrigung, in Aufopferung oder in dem Opfern anderer, in Dienen oder Herrschen, oder in keinem von beiden (also vielmehr in dem Streben nach Harmonie mit sich durch die Achtung der Freiheit und der Liebe zu ihr) und wo und wie sie es fanden, blieb sich völlig gleich: immer waren und blieben sie »Egoisten«.
Denn die Menschen handeln nicht, wie sie wollen, sondern wie sie müssen. Sie tun, was sie tun können; und sie lassen, was sie lassen müssen, weil sie es nicht tun können. Alle unterliegen sie dem Gebot ihrer Natur, und was diese ihnen vorschreibt, dem haben sie sich zu beugen.
»Sünde« war daher ein Begriff, der nur in ihren Köpfen spukte, ein Gespenst, das vor der Wirklichkeit zerrann, und von der es eine »Erlösung« nicht geben konnte, weil es sie selbst nicht gab.
– »In sich oder in anderen«: »Egoisten« wurden die einen beschimpft, »Altruisten« die anderen belobt. Aber – Ernst Förster sah es jetzt mit zwingender Deutlichkeit – es gab in Wirklichkeit gar keine Altruisten, und das Wort »Altruismus« war nur ein anderes Wort für Egoismus, nicht sein Gegensatz.
Der Mensch, der sich für andere opferte, tat es aus demselben Gefühl heraus wie der, der andere sich opferte. Mochten ihre Mittel und Wege noch so verschieden sein, ihr Zweck war immer der gleiche: sich selbst das höchste erreichbare Maß an Glück zuzuführen. Er tat es, weil er nicht anders konnte.
Wer sich entäußert, will sich wiedergewinnen in anderer Form, und immer ist das letzte Endziel der eigene Vorteil. Der Künstler, der Erfinder, der Wahrheitforscher, sie alle, die sich in Qualen und Mühen um ihr Ideal verzehren und in den schwachen ihrer Stunden wohl einmal neidvoll auf die freche Selbstzufriedenheit der Mittelmäßigkeit blicken und ihrem Schicksal fluchen, sie tauschten doch nicht mit ihr, nicht weil sie es nicht wollten, sondern weil sie es nicht konnten: weil sie die Aufgabe, die sie sich selbst gesteckt, erfüllen müssen um jeden Preis, und weil deren Lösung ihnen allein das Glück bedeutet, ohne das sie nicht imstande wären weiterzuleben.
Wenn wir einem anderen helfen, so tun wir es, weil wir ihn nicht leiden sehen können; könnten wir es über uns bringen, ihn leiden zu sehen, so würden wir ihn am Wege lassen.
Es war so klar, und war so wenig begriffen! –
So wenig, daß der, dem diese letzte Einsicht jetzt täglich mit jeder neuen Betrachtung zu neuer, unerschütterlicher Wahrheit wurde, sie sich immer von neuem wiederholen mußte.
Es gab keine Ausnahme.
Der Mensch, der sich für den Sohn Gottes gehalten und gesandt glaubte, die Menschheit von ihren »Sünden« zu erlösen, der durch die Lehre seiner Menschwerdung und göttlichen Sendung mehr Unheil in die Welt und über diese Menschen gebracht, als irgendein anderer Mensch, obwohl er wähnte, sie zu lieben und sicherlich nicht wußte, was er tat, dieser Mensch war (wenn er überhaupt gelebt hatte) in seinen Todesqualen glücklicher, als er es gewesen wäre, wenn er nicht die Kreuzeslast auf sich genommen.
– Denn wir haben keine Wahl vor der unerbittlichen Notwendigkeit – uns in Einklang zu setzen mit uns selbst ist unser erstes und letztes Streben und zwischen dem Verlangen dieses, unseres heimlichsten Wunsches (unserer Unzufriedenheit) und seiner Erlangung (der Befriedigung) zerrinnt unser Leben.
Und nicht das war das Schlimme, daß die Menschen Egoisten waren (denn sie waren es alle), sondern das Schlimme war, daß sie nicht wahr haben wollten, Egoisten zu sein.
Einen »schrankenlosen Egoismus« gab es nicht; jeder Egoismus hat seine Schranke an dem Egoismus der anderen; und die einen taten nur, was die anderen ihnen erlaubten zu tun.
Wohl daher dem wahren Egoisten, der erkannt hatte, daß sein Glück das der anderen war, und der nicht versuchte, es auf dem Unglück dieser anderen aufzubauen.
So war es überall: im Leben des Einzelnen, wie in dem der Völker.
Er sah es überall, in jedem Verhältnis von Mensch zu Mensch – in jeder Freundschaft, jeder Ehe, jeder Beziehung geschäftlicher Natur, ja in jeder Liebe:
was sich der eine gefallen ließ, nahm sich der andere heraus; um so viel der eine zurückwich, um so viel drang der andere vor.
Er las es auf jedem Blatt der Geschichte:
was sich die Völker von ihren Unterdrückern bieten ließen, daß muteten diese ihnen zu; je williger sie sich beugten, um so mehr wurde ihnen auferlegt; je mehr sie sich erniedrigten, desto dreister erhöhten sich ihre Herrscher. Je feiger das Individuum, desto frecher der Staat.
Das Leben war ein Kampf, ein Kampf um die Freiheit, und ohne Kampf keine Freiheit, nicht bei den Einzelnen, nicht bei den Völkern.
Die völlige Belanglosigkeit der sogenannten Moralbegriffe – der Begriffe von »Gut« und »Böse« – und die Hinfälligkeit und Sinnlosigkeit aller sogenannten Sittengesetze ergab sich von selbst.
Was war Moral? – Das ungeschriebene Gesetz der Gesellschaft (oft ängstlicher befolgt, als irgendein geschriebenes), unter das sich die meisten Menschen sklavisch und gedankenlos, beugten.
Jedes Land, jede Zeit, jeder Stand, jede Gesellschaftsschicht hatte ihre besonderen, unter einander oft völlig verschiedenen, ja sich direkt widersprechenden Moralgegesetze. Diese Gesetze wurden nicht gewaltsam erzwungen und ihre Nichtbeachtung unter keine andere Strafe gestellt, als die der Verfemung. Um in »seinen Kreisen« geachtet und geehrt leben zu können, dafür nahm der Einzelne Ketten auf sich, die ihm unzerreißbar schienen und galten.
Ein Schritt über sie hinaus, und schon war er frei. Denn was hier als verboten galt, war dort erlaubt; was heute noch erlaubt war, konnte morgen schon unter strengster Acht stehen. Und Mode hieß der schlimmste aller Tyrannen, dem –ach! – so viele ihre Ruhe, ihr Behagen, ihr Glück opferten.
Gut und böse? – Konnte man überhaupt eine Handlung an sich gut und böse nennen? – Nach ihren Beweggründen so nennen? – Waren sie es vielmehr nicht nur immer in ihren Folgen? – Und war nicht das schließlich das beste und einzige Moralgesetz, das ausschlaggebend in allen Fällen und allgemein maßgebend sein sollte, das: Kümmere dich um deine Angelegenheiten und nicht um die der anderen, die dich nichts angehen! – dieses Gesetz, das heute von allen bestehenden Moralgesetzen am wenigsten befolgt wurde? –
Dem Zusammenleben der Menschen waren die Gesetze der Moral entsprungen.
Immer wieder galt es, sich vor Augen zu halten, daß der Einzelne nicht allein auf der Welt war, ein Robinson auf einsamer Insel. Er lebte mit anderen Individuen, seinen Mitmenschen, zusammen, war angewiesen auf sie, wie sie auf ihn, und konnte nicht daran denken, ohne sie ein zivilisiertes Leben zu führen.
Kurz gesagt: er stand zu ihnen in einem Verhältnis.
Diesem Verhältnis entsprangen die beiden, wie keine anderen so unablässig erörterten, und wie keine anderen so wenig (und daher so verschieden verstandenen) Begriffe von »Recht« und »Pflicht«.
Vor Jahren schon war dem Sucher ihr wahrer Sinn aufgegangen, und heute wiederholte er sich:
Nur zweierlei Art konnte dieses Verhältnis des Menschen zum Menschen sein: ein freiwillig eingegangenes; oder aber ein gewaltsam auferzwungenes.
Es konnte daher nur freiwillig übernommene »Pflichten« und daraus entspringende »Rechte« geben; oder gewaltsam auferzwungene »Rechte« und aus ihnen hergeleitete »Pflichten«.
Wo Rechte nicht verlangt und nicht anerkannt wurden, fielen Verpflichtungen von selbst fort. Es gab die einen nicht mehr und nicht mehr die anderen.
– Heute gab es sie noch.
Da wurde noch von göttlichen (»ewigen«) und menschlichen (»zeitlichen«) Rechten geredet, von »angeborenen« und »Natur«-Rechten, die dem Menschen gewissermaßen mit in die Wiege gelegt waren, und ein jedes dieser »Rechte« sollte »unveräußerlich«, »heilig« und »unverletzlich« sein. Und da gab es Pflichten: »moralische« und »ethische«, Pflichten gegen Gott und die Menschheit, gegen die Allgemeinheit und das Vaterland, gegen die Gesellschaft, die Nation und gegen den Staat, ja, gegen den Staat vor allem, und alle diese »Pflichten« waren ebenfalls »heilig« und von altersher »anerkannt« und »verbrieft«.
In Wirklichkeit spukten alle diese Rechte und Pflichten, wie gesagt, nur in den verworrenen Köpfen der Menschen, standen alle nur auf dem Papier, und es wurden alle diese Rechte erst Rechte und alle diese Pflichten erst Pflichten, wenn hinter ihnen die Macht stand, sie zu verkörpern, das heißt: ihre Anerkennung und Befolgung zu erzwingen.
Ohne diese Macht blieben sie, was sie waren: Worte, gesprochen oder geschrieben, und jedes Sinnes bar.
In Wirklichkeit gab es und konnte es keine anderen Rechte und Pflichten zwischen den Menschen geben, als die, welche sich für sie aus dem einzigen Verhältnis, das zwischen ihnen bestand, ergaben: dem Vertrag.
Mit anderen Worten: keine anderen Rechte, als freiwillig anerkannte; und keine anderen Pflichten, als freiwillig übernommene. Denn recht- und pflichtenlos ist ursprünglich jedes Verhältnis der Menschen untereinander und bleibt es so lange, bis sie es direkt in irgendeiner Form unter sich festgelegt haben.
Der Einzelne hatte das Recht, welches er »hatte«, das heißt, das Recht, welches er in die Tat umzusetzen imstande war. Nur aus dem Boden gegenseitiger und freiwilliger Übereinkunft konnte daher diesen beiden Begriffen ein Sinn erwachsen.
Auf dem Gedanken freiwilliger Übereinkunft baut sich die Gesellschaft der Menschen auf; auf dem gegenseitiger Verpflichtung der Staat. Denn daraufhin lief letzten Endes dies ganze Geschwätz (im Grunde war es nichts anderes als Geschwätz) von moralischen Rechten und Pflichten hinaus: die Gutgläubigkeit der einen zu benutzen, um sie den anderen auf irgendeine Weise tributpflichtig zu machen.
Für ihn, Ernst Förster, hatten diese beiden Begriffe nur noch einen Sinn, und nur in diesem einen Sinne brauchte er sie noch und würde er sie weiter brauchen.
Aber, hörte er entgegnen, wenn diese Begriffe von Recht und Pflicht, die die Menschen zusammenhalten, wenn diese Begriffe zusammenfallen, oder vielmehr, wenn die Macht, diese Rechte und Pflichten fest- und durchzusetzen, fällt, was bindet sie, die Menschen, noch aneinander, was schützt sie noch voreinander? –
Das Interesse!
Das Interesse, diese geheime Triebfeder alles Handelns, war das Band, welches die Menschen zueinander führen, ihre wechselseitigen, so tausendfach verschiedenen Beziehungen regeln und sie zu jeder Art von Gemeinschaft vereinen würde, die ihnen nützlich und notwendig erschien, wie es das heute schon überall da tat, wo jene andere Macht, die äußerliche und grobe, sich nicht störend und hindernd dazwischen drängte.
Sein Interesse, sein wahres Interesse zu erkennen, war die ganze Aufgabe des Individuums; es aus der Hand zu geben und anderen anzuvertrauen, der Urgrund alles sozialen Übels.
Nicht auf einmal fielen diese letzten und tiefsten Erkenntnisse der Wahrheit Ernst Förster zu; nicht von gestern auf heute hielt er sie fertig in der Hand.
Langsam, nach und nach, mit jedem neuen Vergleich und jeder neuen Betrachtung rang er sich von einer zur anderen durch, und wurden sie Fleisch und Blut in ihm. Er wußte, daß er sich mit jeder weiter und weiter von den Menschen entfernte, mit denen er in derselben Zeit lebte, daß er mit jeder ihnen fremder und fremder werden mußte, wie sie ihm fremder und fremder wurden.
Aber er war nicht geschaffen zu lauen Kompromissen und weichlichem Nachgeben. Es war besser, seiner Zeit voraus zu sein, wenn man nicht mit ihr sein konnte, als hinter ihr zurück, und gänzlich kalt ließ ihn daher das Gezeter der allzu Zahlreichen über den kalten und leeren Egoismus, der »nur an sich dachte« und der endlich ausgerottet werden müsse, damit die Liebe, die allumfassende, die Welt befreien könne – das Geschrei dieser Schwätzer, die nie müde wurden zu behaupten, daß dieser Egoismus das »Grab der Liebe« sei.
Im Gegenteil: ihre Liebe war es, die diese Welt zu dem gemacht hatte, was sie war, und die Menschen würden sich nicht weniger lieben, wenn sie wüßten, warum sie sich liebten. Nicht die Mutterliebe, dieser wunderbare und unversiegliche Quell, würde versiegen, noch irgendeine, aus der das Leben schöpfte: nicht die Eltern- und nicht die Kindesliebe; nicht die der Freundschaft und nicht jene Liebe selbst, die in einem Augenblick Fremde zu Vertrauten, aus Bekannten Liebende und Geliebte machte, wenn sie nur lebendig war wie das Leben selbst. Nur jener wesenlose Begriff einer Liebe, die nicht von dieser Welt war und sie doch zu erobern trachtete, die sie in ein Narren- und Zuchthaus verwandelt hatte, diese Liebe »aller Menschen zu allen Menschen«, die Liebe von Menschen, die nicht fähig waren, wirklich zu lieben und in ihrer Liebe sich zu freuen und zu leiden, aber fähig, zu ihrer Mutter das furchtbare Wort des blindesten Fanatismus zu sprechen: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen! – diese Liebe der Christen und Kommunisten, der Moralisten und der Ethiker, nur dieser in Wahrheit kalte und leere Begriff würde in die Nacht des Wahnes zurücksinken müssen vor dem Licht einer schöneren und tieferen Erkenntnis. Denn die Menschen waren keine Brüder, sondern von recht weiter Verwandtschaft, und die Forderung, daß sie einander lieben sollten, wie sich selbst, war nicht nur ein unerfüllbares und ungerechtfertigtes Verlangen, sondern führte nur tiefer und tiefer hinein in den Sumpf des Kommunismus, in dem auch die letzte Freiheit unrettbar ersticken mußte, wie sie der Liebe der Hure zu allen Männern glich.
– Nicht weniger sich lieben, wenn sie wissen würden, warum sie sich liebten! – Warum liebte eine Mutter ihr Kind, der Freund den Freund, der Liebende die Geliebte! – Weil es ihre Freude war, sie zu lieben, und weil nur sie ihnen diese Freude geben konnten. Warum liebten sie so und nicht anders? – Weil sie nicht anders konnten! –
Nicht also die All-, die Menschheits-Liebe, dieses wesenlose und verschwommene Gefühl einer Liebe für alle und jeden, die in Wirklichkeit nichts war, als eine geistige Prostitution unseres edelsten und stärksten Empfindens, war der Verherrlichung wert, sondern allein die Liebe, die die Welt bewegt und trägt in so hundertfältiger Weise, wie es Arten ihres Ausdrucks gibt; und die nichts ist als der stärkste dieser Triebe nach Selbsterhaltung, ohne den wir zerfallen würden mit uns selbst.
In diesen ruhigen Jahren, so verschieden von früheren, an den vielen stillen Abenden nach des Tages streng geregelter Tätigkeit, wenn die Fabrik schlief und mit ihr der kleine Ort, vor allem in den langen Wintermonaten, wo alles rings in Schnee wie vergraben lag, war oft sein Licht hier allein noch wach.
An einem solchen gegen das Ende des dritten Jahres, in denen er wenige Menschen gesehen und gesprochen, außer denen, mit welchen er beruflich zu tun hatte, dem Streit des Tages und seinen Strömungen fremd geworden und nicht mehr umbrandet von seinem Wirbel, an einem solchen Abend faßte er noch einmal zusammen, was ihm sein bisheriges Leben an Erkenntnis der sozialen Lebensbedingungen geschenkt.
Er hatte in Berlin als erstes die Gewalt als Grundlage jedes Staatswesens wie alles sozialen Übels (und damit den Staat als größtes dieser Übel) erkannt und hassen gelernt; er hatte in Zürich, in jenem gesegneten Jahre des Findens, in der Freiheit den Gegensatz zu eben dieser Gewalt lieben gelernt; erkannt was Freiheit war und was sie bedeutete; und in der gleichen Freiheit aller die notwendige Grundlage der Gesellschaft (im stärksten Gegensatz zum Staate) gefunden; und er hatte endlich hier, in diesen letzten Jahren, indem Individuum, der durch keinerlei Gewalt in seiner Freiheit beschränkten Persönlichkeit, hinwiederum die Grundlage der menschlichen Gesellschaft erkannt und in seiner Unantastbarkeit die erste und einzige Forderung an eben diese Gesellschaft gesehen.
Er wußte jetzt, wo er stand, und nichts konnte ihn in diesen letzten Erkenntnissen mehr erschüttern.
Er hatte die Gründe für und wider die Notwendigkeit des Staates geprüft, und er war jederzeit bereit, sie aufs neue zu prüfen, wenn es ihm notwendig erschien.
Sie waren ohne Ausnahme hinfällig gewesen.
Nur ein Argument wäre ihm beweiskräftig erschienen, und es ließ sich in diese Frage zusammenfassen:
Gab es irgendeine Tätigkeit, die nur der Staat, als solcher, durch seine Angestellten, seine »Beamten«, auszuüben fähig war, und die die Gesellschaft als solche, in ihren Mitgliedern, zu leisten unfähig war? –
Lautete die Antwort auf diese Frage: Ja! – und konnte sie durch Tatsachen so begründet werden, daß jeder Zweifel verstummen mußte, so war die Berechtigung und Notwendigkeit des Staates an sich erwiesen, und es blieb wenig anderes mehr übrig, als sich ihm zu unterwerfen; lautete sie dagegen: Nein! – so war neben seiner Schädlichkeit auch seine Überflüssigkeit bewiesen, und er hatte so bald wie möglich zu verschwinden.
Die Antwort ergab sich von selbst und zwar aus der Tatsache, daß die Lenker und Leiter des Staates, die Regierung und die Verwaltung, keine Halbgötter oder Übermenschen waren (mochten sie sich auch noch so sehr so gebärden), sondern Menschen, wie andere Menschen auch; und wenn nicht angenommen wurde, daß es Menschen von einer ganz besonderen Art, mit nur ihnen eigentümlichen und ihnen allein von irgendeiner höheren und wunderbaren Macht verliehenen Fähigkeiten waren, so konnte diese Antwort nur lauten: Nein! – Der Staat war keine übermenschliche, sondern eine durchaus menschliche Einrichtung, und es gab daher keine Art menschlicher Tätigkeit, wie geartet sie auch sein und wie immer sie sich nennen mochte: Verwaltung und Verkehr, Industrie und Technik, Polizei und Rechtspflege, Handel und Gewerbe, Kirche und Schule, die nicht ebensogut von anderen, einzelnen oder mehreren, hätte ausgeübt werden können. Konnte der Staat daher durch eine andere Form, die der freien Vereinigung, ersetzt werden, so bestand für seine heutige, die des Zwanges, keinerlei Entschuldigung und Notwendigkeit mehr.
Der Beweis für seine Unersetzlichkeit, und damit für seine Notwendigkeit, konnte also nicht erbracht werden; der für seine Nützlichkeit und Ratsamkeit nur durch den Nachweis, daß er seine Tätigkeit besser und vorteilhafter auszuüben verstand, als andere Vereinigungen der Menschen dies vermochten.
Aber diesen Nachweis mußte er erbringen, indem er sich auf gleichen Fuß mit der Gesellschaft, nicht indem er sich über sie stellte.
Klar und deutlich mußte ihm gesagt werden: Wenn du den Nachweis erbringen kannst, gut, so erbringe ihn! – Aber erbringe ihn nicht, indem du dich als aggressives Institut der Konkurrenz entziehst und vermittels der dir verliehenen Machtmittel die unsere unterbindest und lahmlegst, sondern indem du dich mit der nichtaggressiven Gesellschaft, die jede Konkurrenz – und wie du siehst, auch die deine – befürwortet und erlaubt, auf gleichen Boden stellst und ehrlich kämpfst! Wir wollen nichts weiter von dir als das! – Also sei fair und zeige deine Überlegenheit und Unentbehrlichkeit im freien Wettkampf mit uns! – Bleibst du Sieger, und sei es auch nur auf einem Gebiet, so wollen wir vieles zurücknehmen und dich ebenso achten, wie wir dich jetzt verachten! ...
Der Staat dachte natürlich gar nicht daran, auf eine solche Frage auch nur zu antworten und sich dieser gerechten Forderung zu unterwerfen. Er wäre von vornherein verloren gewesen und hätte seine Rolle nur zu bald ausgespielt. Er wußte das auch ganz genau und hielt sich nur dadurch, daß er sich mit Gewalt auf dem angemaßten Platze behauptete und jede Konkurrenz auf allen Gebieten, die er monopolisiert hatte, niederzwang und unterdrückte.
Er kannte keine Argumente. Sein einziges Argument war: Ich bin der Herr, und weil ich die Macht habe, tue ich, was mir beliebt. Du aber hast zu gehorchen, oder ...
Seine Eifersucht auf alles von privater Seite Kommende ging so weit, daß er eine Konkurrenz nicht einmal auf verhältnismäßig so nebensächlichen Gebieten, wie denen des Verkehrswesens, erlaubte, deren ausschließliche Verwaltung von fast allen modernen Staaten in die Hand genommen war: der Post und der Eisenbahn.
Gerade hier, bei diesen öffentlichen Einrichtungen, mit denen jeder Einzelne täglich zu tun hatte und die daher der allgemeinen Beurteilung und somit der unbeeinflußten Kritik so viel näher waren, als zum Beispiel die so viel versteckter liegenden und schwieriger zu durchschauenden Monopole des Geldwesens, hätte sich ihre Minderwertigkeit auch dem Blindesten offenbaren müssen. Statt dessen fand der Staat auch hier fast überall nur die kritikloseste Billigung und Bewunderung, und das Publikum ließ sich alles, auch das Unmöglichste, bieten.
Welche Überschüsse hätte eine Privatgesellschaft, mit einem solchen Privileg belehnt, hier nicht erzielt, während die mit ihm Begünstigten auch noch klagten und ihren Beschützer um Subventionen angingen, wenn ihre ungeschäftsmäßige und durch einen weltfremden Bürokratismus an allen Ecken und Enden behinderte Leitung ihnen, statt der ungeheuersten Gewinne, nur Verluste einbrachte! – Und welchen Aufschwung hätten nicht Post wie Eisenbahn nehmen können, wären sie der freien Konkurrenz unterstellt worden, die die Interessen des Publikums schon deshalb hätte wahrnehmen müssen, weil ihre Vernachlässigung den eigenen geschadet hätte! –
Aber nichts fürchteten der Staat und die ihm unterstellten Verwaltungen so sehr, wie die private Konkurrenz und den durch diese herausgeforderten Vergleich. Als Förster noch in Berlin war, hatte er es an einem kleinen Beispiel gesehen, das ihm schon damals viel zu denken gab. Einer kleinen Privatpost war gnädigst die Beförderung der Stadtpost in gewissen Grenzen »bewilligt« worden. Sie machte ihre Sache bald so weitaus besser, billiger und in jeder Beziehung zufriedenstellender als die staatliche Post und gewann die Gunst des Publikums dadurch bald in einem solchen Maße, daß jene, die große, mächtige Reichspost, es mit der Angst bekam und sich alsbald hilfeflehend an ihren allmächtigen Beschützer wandte, der dem jungen blühenden Unternehmen darauf den Hals abdrehte.
Wo keine Konkurrenz möglich war, blieb natürlich das Privilegium in jedem Falle unbesehen Sieger.
Die gedankenlosen Lobredner staatlicher Einrichtungen, die nach Beweisen riefen, sollten daher lieber bedenken, daß einstweilen fast keine Vergleichsmöglichkeiten gegeben waren, um zu zeigen, wie schlecht diese Einrichtungen waren und wie gut sie hätten sein können.
Denn so wie hier, überall ! –
Überall, wo der Staat eine Sache in die Hand nahm, durfte man gewiß sein, daß sie umständlicher, zeitraubender, teurer und letzten Endes schlechter erledigt wurde, als wenn die private Initiative sich ihrer bemächtigte. Wie hätte es auch anders sein können – fehlte doch die Haupttriebfeder: das Interesse!
So herrschten denn in fast allen Zweigen, auf die der große Wichtigtuer seine beglückende Tätigkeit erstreckte – und welcher war vor ihm sicher? – jene unglaublichen und jeder Beschreibung spottenden Zustände, bei denen dem geschulten Kaufmann und dem rechnenden Unternehmer die Haare zu Berge standen und die er mit dem Wort: »Beamtenwirtschaft« abtat.
Natürlich waren nicht alle Beamten unfähige Tröpfe. Viele setzten sogar ihren Stolz darin, sich als »Diener am Gemeinwohl« um einen elenden Sold und einen Orden letzter Klasse für ihren Götzen aufzureiben. Aber die wirkliche Begabung wußte ein Lied zu singen von der verzweifelnden Ohnmacht, gegen ein System anzukämpfen, das die besten Kräfte lahmlegte und auf den falschen Platz stellte; von dem erbärmlichen Strebertum, das sich nach oben duckte und nach unten trat; und von ihrem eigenen freudlosen Zermalmtwerden in dieser Mühle des Teufels.
Denn wirkliche Freude vermochte nur die Arbeit zu geben, die man für sich (oder, was dasselbe war, für die Seinen) tat, für die man sich den Acker selbst aussuchen und den man dann selbst bestellen durfte; die Arbeit welche – »aus Interesse« geschah.
Welches andere Interesse aber hatte ein Beamter an seiner Arbeit, als daß sie seinem Vorgesetzten gefiel? – Wehe, wenn sie ihm nicht gefiel!
Welches Interesse hatte er an den anderen, mit denen er in Berührung kam, dem Publikum? ...
Du betrittst einen Laden. Du wirst höflich gefragt und zuvorkommend bedient. Denn der Verkäufer hat ein Interesse daran, daß du bei ihm kaufst. Er braucht dich. Er weiß, daß, wenn er nicht höflich und zuvorkommend ist, du einfach eine Tür weiter, zu seinem Konkurrenten, gehst ...
Du machst dich mit Bangen im Herzen und einem Seufzer auf den Weg zu einer Behörde. Der erste Ton zeigt dir, wie gleichgültig, wie wenig erwünscht, wie nur geduldet du hier bist. Du wirst hier nicht gebraucht. Aber hier kannst du dem Flegel, der dich behandelt, als seist du sein Angestellter und nicht er der deine, nicht den Krempel vor die Füße werfen und ihm deine Meinung sagen, wie er sie verdient hätte (siehe Kapitel: »Beamtenbeleidigung«). Du bist auf ihn angewiesen und hast dir daher alles gefallen zu lassen ...
Das Interesse war es, das alles Unternehmen und Wagen am schnellsten und besten zu seinem Ziele führte, und immer wieder und wieder mußte daher allen denen, die sich nicht genug darin tun konnten, darauf hinzuweisen, was der Staat Großes geschaffen habe und was durch ihn erreicht sei, entgegnet werden:
die Frage ist nicht die, wie weit wir, trotz des Staates und gegen ihn gekommen sind, sondern wie weit wir ohne ihn, den großen Hemmer allen Fortschritts und aller Kultur, wären; und wohin wir gelangen können ohne ihn.
Er war bereit, alle Einwände wieder und wieder zu prüfen. Zwei waren es vor allem, auf die er immer von neuem traf. Der eine war der, daß »der Anarchismus das Individuum isoliere«, es außerhalb aller menschlichen Beziehungen stelle und von jeder Art von Vereinigung ausschließe, so daß ein Anarchist zwar auf der berühmten einsamen Insel, nicht aber in Gemeinschaft seiner Mitmenschen zu existieren imstande sei.
Die Freiheit, sich jederzeit, zu welchem Zwecke und mit wem auch immer auf Grund freier Vereinbarung zu jeder Art von Vereinigung, nur zu der einen nicht: der Vergewaltigung anderer, zusammenzuschließen, war sicherlich eine der wichtigsten Freiheiten, die es gab, und kein Anarchist hätte je daran gedacht, sie auch nur einen Augenblick zu verneinen. Dieser Einwand konnte daher nur von solchen erhoben werden, die sich keine andere Art von Vereinigung denken konnten, als eine durch Gewalt geschaffene und durch Zwang zusammengehaltene, wie der Staat sie darstellte (obwohl ein jeder, obwohl sie sicher selbst, in freien Vereinigungen aller und jeder Art standen, ihnen angehörten und sie somit selbst bildeten; und obwohl sie daher den fundamentalen Unterschied zwischen den einen und den anderen kennen mußten).
Also nochmals: die anarchistische Gesellschaft schließt jede Art von Vereinigung in sich ein, einerlei von wem, von wievielen und zu welchem Zwecke gebildet, solange diese Vereinigungen nicht aggressiv werden; und nur eine aus: die andere zwingt, ihr anzugehören und in ihr zu verbleiben. Folgerichtig war daher für den Staat in ihr kein Platz. Dieser erste Einwand fiel also in sich, in seiner Prämisse, zusammen.
Der Einwand von der Unentbehrlichkeit staatlichen Schutzes war der zweite und erforderte eine eingehendere und besondere Betrachtung.
– Die Kritik am Staate war heute schon so weit vorgeschritten, daß die Zahl derer, die ihm keine andere Berechtigung mehr zugestehen wollten, als die eines Beschützers seiner Bürger, die sich aber zugleich einen Zustand der menschlichen Gesellschaft ohne einen solchen staatlichen Schutz nicht denken konnten, keine geringe mehr und ständig im Wachsen war.
Die Frage des Schutzes würde sich in der Freiheit lösen, wie jede andere: die Individuen würden sich, solange sie glaubten, eines Schutzes zu bedürfen, diesen Schutz selbst schaffen.
Wie heute schon die private Bewachung von Leben und Eigentum vielerorts, als sicherer, der der Polizei vorgezozogen wurde, obwohl die Polizei »umsonst« zu haben war, so würde man sich den Schutz, den man brauchte, wie jede andere Ware dort kaufen, wo man ihn am besten und billigsten erhielt –bei Schutzgesellschaften, die sich auf die Nachfrage nach ihnen hin bilden und ihn anbieten würden; und die Gesellschaft würde sich des größten Vertrauens und Zuspruchs beim Publikum erfreuen (und so ihre Konkurrenten am ehesten aus dem Felde schlagen), die sich des geschenkten am würdigsten erwies. Oder man würde sich mit anderen, etwa mit seinen Nachbarn, zu gegenseitiger Beschützung gegen Angreifer zusammentun, falls man sich allein zu schützen nicht mehr genügend imstande war.
– Aber würde ein solcher Schutz, wenigstens in umfassenderer Weise, wirklich noch nötig sein? –
Ein Blick auf die Art der Verbrechen mußte hier die Antwort geben.
Neun Zehntel aller heute begangenen Verbrechen waren, wie statistisch feststand, Vergehen gegen das Eigentum. Indem der Staat auf der einen Seite künstlich Armut und Elend, auf der anderen einen herausfordernden Luxus schuf, schuf er zugleich Diebe hier und Diebe dort, nur mit dem Unterschied, daß er die einen unter seine Fittiche nahm, die anderen aber verfolgte.
Mit dem Fall des Staates und der von ihm geschaffenen und geschützten Monopole würde die Arbeit in den Stand gesetzt sein, sich ihren vollen Ertrag zu sichern, und jedes arbeitslose Einkommen unmöglich werden. Als Folge hiervon – einem allmählichen größtmöglichen Ausgleich in den Eigentumsverhältnissen – mußten die Eigentumsvergehen von selbst verschwinden (oder sich doch auf Einzelfälle beschränken ), da ihnen der Boden entzogen war. Denn ein allgemeiner Wohlstand – statt der bisherigen Not und Arbeitslosigkeit – war sicherlich die beste Garantie für Ruhe und Ordnung. Es würde, um es anders auszudrücken, einfach unbequemer und unvorteilhafter sein zu stehlen als zu arbeiten (während heute das Umgekehrte der Fall war).
Immerhin mochten Diebstähle und Betrügereien, auch Raubüberfälle zu bestimmten Zwecken, hier und da, vor allem in der Übergangszeit, noch vorkommen. In diesen Fällen würde es nur recht und billig sein, den Dieb und Betrüger anzuhalten, den angerichteten Schaden durch seine Arbeit zu ersetzen, und ihn so lange in Gewahrsam zu halten, bis er ihn auf diese oder eine andere Weise wiedergutgemacht hatte.
Aber auch das verbleibende Zehntel der heutigen Verbrechen schmolz zusammen, wenn die Tatsachen erkannt und beseitigt waren, die sie zeitigten. Entweder es waren Verbrechen, die überhaupt keine waren, das heißt nicht aggressive, und daher keiner Verfolgung mehr ausgesetzt; oder sie hatten ihre Ursachen in der Unfreiheit der Verhältnisse und in Vorurteilen (wie, um nur eine der nächstliegenden zu nennen, die aus Eifersucht begangenen, zu denen die überlebte Idee von der Hörigkeit der Frau den Anlaß gab, ferner wie die auf den ebenso veralteten Begriffen von Ehre und Sitte beruhenden).
Die mit der Freiheit des Denkens zunehmende Erkenntnis von der Lächerlichkeit moralischer Beurteilung und Verurteilung, von der Sinnlosigkeit einer Besserung durch Strafe, und nicht zum mindesten die erzieherische Wirkung dieser Erkenntnis selbst: die zunehmende Achtung vor dem Leben und dem Eigentum des Nächsten, würde mehr und mehr die weitere nach sich ziehen, als erste Frage bei jedem Vergehen und Verbrechen die zu stellen: Wer ist der Angegriffene und Geschädigte? – wie groß ist der ihm zugefügte Schaden? – Und als zweite: Welches waren die Ursachen, aus denen heraus Verbrechen begangen wurden?
Wo aber trotzdem als Überbleibsel unserer gesegneten Kultur noch schwere Verbrechen, wie Mord und Totschlag, sich ereignen sollten, hatten der Einzelne, wie die Gesellschaft, ganz zweifellos das Recht, sich gegen solche gewalttätigen Angriffe auf jede ihnen zweckmäßig erscheinende Art und Weise zu schützen und ihrer Wiederholung vorzubeugen, und nur Gründe moralischer oder sentimentaler Natur, also unangebrachte, konnten daran hindern, ein in seinen Angriffen das Leben anderer fortgesetzt bedrohendes und gemeingefährliches Individuum für immer unschädlich zu machen, wenn alle anderen Mittel sich als aussichtslos erwiesen. Denn Toleranz gegen einen solchen Schuldigen hätte nichts anderes bedeutet als Intoleranz gegen seine unschuldigen Opfer.
Bei jedem Eingriff aber: jedem Vergehen oder Verbrechen gegen Leben oder Eigentum würde das Urteil von Fall zu Fall unter genauester Prüfung aller Nebenumstände gesprochen werden müssen, vor einem Gerichtshof unabhängiger, durch das Los bestimmter Männer, vielleicht zwölfen, der Gemeinde, und der Angreifer würde, wie gesagt, gehalten sein, sein Unrecht wiedergutzumachen, oder, wenn dies nicht oder nicht mehr möglich war, die verdiente Strafe dafür erleiden müssen, die Freiheit anderer verletzt zu haben, und so lernen, sie in Zukunft besser zu achten.
Gegen einen Angreifer allerdings mußte die Gesellschaft sich entschließen, sich endlich und so schnell wie nur möglich, gründlich zu schützen: gegen den größten aller Verbrecher, der zugleich die Ursache und der Urgrund aller Verbrechen war, ihr wahrer Anstifter und ihr treuester Beschützer – gegen den Staat! – und ihn unschädlich zu machen für alle Zeiten, mußte ihre vornehmste und nächste Aufgabe sein. Und nur eine Strafe gab es, die über ihn gesprochen werden durfte, die ihn ereilen mußte – die des Todes!
Damit waren die hauptsächlichsten Einwände gegen einen Zustand der Gesellschaft, der in der gleichen Freiheit Aller die einzige und zugleich beste Lösung des sozialen Problems sah, widerlegt. Denn es war wohl kaum noch nötig, denen, die die Unentbehrlichkeit des Staates dadurch zu beweisen suchten, daß sie behaupteten, ohne ihn werde keine Straße mehr beleuchtet, keine Stadt mehr kanalisiert und kein Weg mehr gebaut werden, und die fragten, von wem das geschehen sollte, wenn er nicht mehr wäre, –es war kaum nötig, ihnen zu antworten: daß die Straße von denen kanalisiert, beleuchtet und gebaut werden würden, die ein Interesse daran hatten, daß es geschah; und daß die Kosten hierfür von ihnen getragen werden mußten, den Auftraggebern, statt von anderen, Uninteressierten und Unbeteiligten.
Und ebenso widerlegte sich ein dritter Einwand – der öfters, und besonders von kommunistischer Seite her erhoben wurde – von selbst: Was würde aus den Erwerbsunfähigen und Krüppeln, den von Natur Zurückgesetzten, den natürlich Schwachen, werden, wenn sie keinen Vater Staat mehr hatten, der aus den Taschen der anderen für sie sorgte? Die Antwort konnte nur lauten: Es würde in einem anarchischen Zustand der Gesellschaft, einem allgemeinen Wohlstand, bei seinen ins Ungemessene gesteigerten und nirgends mehr beschränkten Erwerbsmöglichkeiten, sich selbst für den Schwächsten eine solche finden. Auch das größte Stiefkind der Natur würde Waffen zu seiner Erhaltung besitzen oder finden können, und verhungern würde keiner müssen, wie keiner mehr auf öffentliche Mildtätigkeit angewiesen zu sein brauchte. Selbst wer keine ihm Nahestehenden besaß, würde freiwillige Hilfe schon aus dem Grunde finden, weil eine solche Gesellschaft seine unverschuldete Not sowenig dulden würde, wie ein reinlicher Mensch einen Flecken auf seinem Kleide.
Um aber nicht in den Verdacht zu geraten, auszuweichen, sagte er sich und jedem, der es hören wollte, wieder und auch hier: Die Gesellschaft hat keinerlei Verpflichtungen gegen ihre Mitglieder, und keines dieser Mitglieder hat einen Anspruch oder ein Anrecht an sie, solange zwischen ihnen beiden keine Vereinbarungen getroffen sind.
Diese Frage gehörte also nicht zu den klugen, wie kluge Fragen überhaupt sehr, sehr selten waren.
Es gab sie indessen hier und da – kluge Fragen.
Wäre er gefragt worden (er war es noch nie): »Aber was tust du anders als stehlen, wenn du die Zinsen erhebst von dem, was du dir erspart hast?« – so würde er geantwortet haben: »Ja, ich stehle, wie wir alle stehlen, die wir Geld zinstragend anlegen: der Arbeiter und der Kleinbürger, die ihre armseligen Spargroschen, wie ich, auf die Sparkasse tragen, im kleinen; und der Kapitalist und der Großkaufmann, die an der Börse spekulieren, im großen.« Aber er würde hinzugefügt haben: »Der Unterschied zwischen mir und euch ist nur der, daß ich jeden Augenblick bereit bin, diese Vergünstigung aufzugeben, um sie einzutauschen gegen die so unverhältnismäßig viel größeren der Freiheit, während ihr, Kurzsichtige, die ihr seid, sie verteidigt und entschuldigt, wie ihr das ganze System verteidigt, das diese Vergünstigung schafft und hält.«
Und wurde er gefragt (er wurde es zuweilen): »Wenn du den Staat negierst und die Zahlung deiner Steuern, die ihn unterhalten, verweigerst, darfst du auch seinen Schutz und die übrigen Vorteile, die er dir bietet, nicht annehmen und genießen ...«, so antwortete er: »Als Egoist, der ich bin, nehme ich, was ich kriegen kann, und ich benutze den Staat so lange, wie er besteht, und wo es mir nützlich scheint, mich seiner zu bedienen.« – Und wieder fügte er hinzu: »Aber als derselbe Egoist verzichte ich jederzeit auf die zweifelhaften Vorteile, die mir der Staat gibt (um mir dafür alles zu nehmen, was mir das Leben lebenswert macht), verzichte auf sie und ihn, seinen Schutz und seine Hilfe, um dafür die Freiheit zu haben, die mir nichts nimmt und alles gibt.«
Aber es gab solche, die keine Antwort, auch die klarste und unzweideutigste nicht, befriedigte – Skeptiker und (wie sie sich selbst so gerne nannten) »Objektive«, die nicht lernen und nicht belehrt sein wollten.
Ihre Einwände waren stets dieselben, und immer hatten sie eine Anzahl von Schlagworten bereit, um ihre Gegner abzufertigen. Es waren die, die immer davon sprachen, daß »das Volk noch nicht reif« und daß die Freiheit »nur unter hochentwickelten Menschen denkbar und möglich sei« (zu denen wohl sie und der, mit dem sie gerade sprachen, nimmermehr aber die anderen gehörten), und die behaupteten, daß sie in ihrem Urteil weit über den Dingen stünden, und keinerlei »Tendenz« zu kennen vorgaben, wie auch allen ... ismen abhold zu sein.
Er hatte sich im Anfang durch diese abgestandenen, aber mit so viel Aplomb vorgetragenen Redensarten verblüffen lassen und zu antworten gesucht. Dann sah er mehr und mehr, wie sich hinter ihnen nur die Unfähigkeit zu denken verbarg, eine vollständige Gleichgültigkeit gegenüber allem Leben und ein reichliches Maß an Frechheit. Oder aber ein großer Haß gegen die Freiheit selbst, jene versteckte Wut über die Bilderstürmer, die ihre vermorschten Heiligen herunterholten, und wie »objektiv« sie sich auch gebärdeten, es waren im Grunde die alten, so wohl vertrauten Philister, die um ihre schmutzigen Privilegien zitterten und deren »Tendenz« es war, hinter jeder Gewalt zu stehen, die gerade am Ruder war und die diese ihre Privilegien verteidigte.
Und es gab endlich immer Ungläubige, die sich weder durch Gründe, noch durch Tatsachen bekehren ließen, die ewig unbelehrbar blieben, weil sie alles negierten, und für die es keine andere Rettung gab, als – auszusterben.
Denn wer glaubte, daß in dem Augenblick, wo es keinen Staat, keine »Staatsgewalt« und keine »Gesetze« mehr gab, das allgemeine Chaos hereinbrechen, die Menschen aufeinander losstürzen und sich gegenseitig zerfleischen würden; wer glaubte, daß, wenn die Kinder bis zu ihrer Selbständigwerdung ihren Müttern gehören, wenn sie das Eigentum dieser Mütter sein würden – (ja, das Eigentum ihrer Mütter!) –, dort diese Mütter nichts Besseres mit ihnen anzufangen wüßten, als sie zu foltern und ins Feuer zu werfen; wer nirgends Entwickelung und Fortschritt, sondern überall nur Stagnation und Rückgang sah; wer jeden Einfluß: den der Erziehung, des Beispiels, der Umgebung, des Boykotts, selbst den der Erfahrung rundweg leugnete; und nur ein Argument kannte: »Es ist immer so gewesen, also wird es immer so bleiben ...« –
der war allerdings von dem Verständnis der Freiheit noch weit entfernt und wußte nichts von ihrer stillen und zwingenden Macht und sehr wenig von – den Menschen.
Der hatte nie den Menschenstrom in den Hauptstraßen einer Großstadt beobachtet, wie er sich tagsüber durch sie hinwälzte, in bewundernswerter Ordnung, ohne daß es zu anderen als gelegentlichen, gleichgültigen und verschwindend geringen Zusammenstößen kam, und sich nie gefragt, was es war, das unter diesen Hundert- und Aberhunderttausenden eine so bewundernswerte Ordnung schuf – die paar Polizisten an den Ecken oder das Interesse, das sie alle hatten, vorwärtszukommen: nicht aufzuhalten, um selbst nicht aufgehalten zu werden; der wußte nicht, daß es im Zusammenleben der Menschen ungeschriebene Gesetze gab, hervorgegangen aus Sitte und Gewohnheit, Anpassung und stillschweigender Übereinkunft, deren Verletzung an und für sich straffrei war, und die doch eiserner gehalten wurden, als je geschriebene Gesetze es wurden, oft auf Vorurteilen beruhend und überlebt, oft aber auch die natürlichen Ergebnisse der Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit, und als solche die reifsten Früchte unseres langsamen Aufstiegs zur Freiheit ... Gesetze der Gegenseitigkeit, mit einem Wort: des Interesses.
Der kannte nicht die geheime Triebfeder, die dieses wunderbare menschliche Uhrwerk – den Verkehr – in Gang hielt, kannte sie nicht einmal dem Namen nach ...
Der wußte wenig vom Leben und nichts von der Freiheit.
Und der war ihr Feind, mochte er es auch noch so sehr leugnen! – Denn wenn er es nicht gewesen wäre, hätte er wenigstens versucht, sie zu verstehen – ihre Forderungen, ihre Wege, ihr Ziel.
Jedoch auch aus den Reihen derer, die sich ihre Freunde, Freunde der Freiheit, nannten und vorgaben, seine Genossen zu sein (und die er trotzdem als solche weit von sich wies), kamen Einwände. Vor allem der:
Was du sagst, trifft zwar den heutigen Staat, den Klassenstaat, nicht aber den neuen, den kommenden und wahren, den »Volksstaat«.
In ihm; dem »freien«, werden, ganz wie du willst, alle Menschen gleichberechtigt sein.
»Gleiche Rechte, gleiche Pflichten«, würde sein Losungswort lauten; wie es seine Aufgabe sein würde, diese Gleichheit vor dem Gesetz zu schaffen und durchzuführen.
Gleichheit würde unter den Menschen herrschen. Alle Menschen würden gleich sein und daher alle frei ...
Von dem anderen Ufer der sozialen Bewegung, jenem äußersten rechten Flügel, hallte der Ruf zu ihm herüber, zu ihm, der diesseits stand, auf dem äußersten linken.
Ihnen hatte er zu sagen, was Gleichheit war und welche Gleichheit er wollte.
Gleichheit? – Wann waren die Menschen je gleich? – Von Natur aus gleich? –
Nicht einer dem anderen, nicht zwei sich ganz.
Ein einziger Blick zeigte es.
Länder und Völker, Zonen und Himmelsstriche gebaren völlig verschiedene Rassen, schufen für jede ihre besonderen Lebensbedingungen und machten die Menschen von Natur aus verschieden, wie sie selbst es ethnographisch und geographisch waren.
Verschieden waren die Geschlechter; verschieden die Altersstufen. Ja, verschieden war der Einzelne selbst in sich – wer konnte von sich selbst sagen, daß er sich selbst stets gleich war?
Aus dem Schoße derselben Familie, derselben Art gingen Individuen hervor, so ungleich einander, daß sie nichts gemein hatten, als die Überlieferung eines Namens.
Ungleich, nicht gleich waren die Triebe, die Leidenschaften, die Hoffnungen und Wünsche der Menschen; ungleich wie die Zwecke, die sie verfolgten, und die Ziele, nach denen sie strebten.
Wie im Kleinen, so im Großen.
Wie unendlich verschieden waren nicht allein schon die Liebesneigungen der Menschen! – Der war monogam veranlagt und fand im Hafen der Ehe Schutz für sein Lebensschiff vor allen Gefahren der Liebe (und zeterte, statt sich seiner glücklichen Veranlagung zu freuen, über die Unmoralität der anderen); der fuhr hinaus aufs offene Meer und kaperte, was es zu kapern gab, und der Wechsel allein schien ihm wahre Beständigkeit; und dieser dritte gar liebte nicht das andere, sondern das eigene Geschlecht und wurde verfolgt und geächtet, weil er liebte, wie seine Natur es ihm vorschrieb.
Was der eine für gut hielt, galt dem anderen für schlecht.
Was diesen begeisterte und entzückte, ließ jenen kalt und langweilte ihn zu Tode.
Der fühlte sich nur wohl auf dem Lande; der konnte ohne die große Stadt nicht existieren.
Der suchte sein Glück allein in Ruhe und Frieden; und für den bedeutete Kampf und ewige Unrast allein Leben.
Eine Arbeit, die dem einen eine Last war, war dem anderen eine Lust; hier möglich, dort unmöglich.
Der hier klammerte sich an das Leben, trank es in vollen Zügen, und es war ihm ein Freudenbecher, der nur zu schnell zur Neige ging; und der hinwieder ersehnte den Tod als den Befreier und Erlöser von aller irdischen Qual.
– Wo anfangen, wo auf hören mit der Aufzählung dieser Gegensätze, die überall klafften und unüberbrückbar schienen? Gleichheit? – Wie verstanden die Menschen das Wort?
Was ihrer eigenen Wesensart entsprach, das verstanden die meisten allein und hielten es daher für allgemeingültig. »Ich bin auf die und die Art und Weise glücklich, also mußt du es auf die gleiche Art und Weise auch sein können« – so urteilten und verurteilten sie von diesem engsten aller Standpunkte aus, über den hinaus es für sie kein Begreifen mehr gab, und hörten da auf, wo sie beginnen sollten zu verstehen. Denn nach ihrem Bilde sollte sich die Welt gestalten und eine neue – die des allgemeinen Glückes, wie sie wähnten – sich aufbauen: eine Welt der Gleichheit, einer absoluten, einer unmöglichen, einer in ihren letzten Wirkungen nicht einmal ausdenkbaren Gleichheit.
– Nein, um verstehen zu können, galt es, tiefer zu blicken und von einer höheren Warte aus.
Gleichheit? – Es konnte nur eine Gleichheit geben: die Gleichheit in der Freiheit – die gleiche Freiheit aller!
Unter der Gleichheit konnte es keine Freiheit geben; es gab nur eine Gleichheit unter der Freiheit.
Daher: Gleichheit unter der Gewalt – das Ideal der Demokratie; Gleichheit in der Freiheit – das Ideal der Anarchie.
Die erstere eine Utopie; die letztere eine Notwendigkeit.
Denn gerade in der Ungleichheit der Individuen lag die Notwendigkeit der Freiheit begründet; und Verschiedenheit, nicht Gleichheit, hieß das Wort, das über ihren Toren stand.
Verschiedenheit also, nicht Gleichheit. –
Aber der Ruf nach Gleichheit wollte nicht verstummen, und nie war er lauter ertönt als in diesen Zeiten.
Unter dem Einfluß der sozialen Parteien in den Parlamenten war dieser neue Staat der Gleichheit bereits im Werden, und überall wurde heftig in ihrem Sinne regiert.
Denn Gleichheit, die künstliche Gleichheit zu schaffen, an Stelle der natürlichen Ungleichheit, war ja seine Aufgabe; und Gewalt, ein anderes Heilmittel schien es nicht zu geben, wenn man sie hörte, die unablässig nach ihr schrien.
Immer wieder sah er es und überall: sowie irgend jemandem irgend etwas nicht paßte, nicht gefiel, nicht genehm war, gleich sollte es abgeschafft, beseitigt, unterdrückt werden; und das dritte Wort jedes Schwachkopfes war heute sicherlich: »Das müßte verboten werden!« – Denn immer war einer empört, verletzt, beleidigt – in »seinen Rechten gekränkt«.
Der arme Staat! – Willens, aber unfähig, es allen recht zu machen, überschlug er sich in krampfhaften Versuchen: bat und drohte; beschnitt und hemmte; gebot und verbot; verfolgte und bestrafte; lavierte zwischen Interessengruppen und Parteien hin und her; suchte es jedem recht zu machen und machte es keinem recht; und wurde zwischen dem »jedem« und dem »keinem« zerdrückt. Und erließ Gesetze über Gesetze, bis er selbst mit allen seinen Untertanen in ihrer Flut ertrank und kein Mensch mehr wußte, auch er selbst nicht mehr, was eigentlich noch erlaubt und was verboten war.
Der arme Staat! – Jeder wollte ihn haben. Und jeder wollte ihn so haben, wie er sich ihn dachte! ...
Ein völliger Sieg des demokratischen, des »Gleichheits-Prinzips«, konnte nichts anderes bedeuten als den völligen Untergang des Individuums.
Je mehr die Menschen künstlich gleich gemacht wurden, um so unfreier wurden sie.
Alle glücklich machen wollen, hieß keinen glücklich machen, und seine letzten Ziele würde der neue, der vielgepriesene, der lautverkündete »Zukunftsstaat« doch niemals erreichen.
Er konnte das geistige Leben lahmlegen; den Handel und Wandel unterbinden; monopolisieren, was irgend noch zu monopolisieren war; jede Unternehmungslust brachlegen; neben den Produktionsmitteln auch noch die Produkte selbst, so weit sie ihm irgend erreichbar waren, beschlagnahmen und dann »von oben her« wieder »verteilen«; mit dem letzten Hemde auch noch das letzte Stück Brot besteuern; ein Volksheer schaffen und Heere von Beamten; die Sinne seiner Untertanen, die sowieso fast nirgends mehr zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden wußten, völlig verwirren; die furchtbarsten wirtschaftlichen Krisen heraufbeschwören; alles in Grund und Boden hinein sozialisieren und ganze Völker der Verelendung preisgeben – er konnte alles dies tun und vielleicht noch einiges mehr, wenn eine vollkommen verblödete Majorität ihm mittels ihrer albernen Stimmzettel die Macht dazu in die Hände gab; und er mochte sich obendrein auch noch Hort der Freiheit und Beschützer der Gerechtigkeit nennen lassen, aber immer konnte er nur geben, was er zuvor genommen, wie alle seine Vorgänger vor ihm; immer würde er in seinem Schoß eine Minorität tragen, bereit, ihn zu bekämpfen und bei erster Gelegenheit zu stürzen; und nie würde es ihm gelingen, die Freiheit ganz zu erdrosseln ...
Denn wenn er es als seine Aufgabe ansah, die künstliche Gleichheit der Menschen zu erzwingen, so war es die Aufgabe der intelligenten Minorität, die natürliche Ungleichheit unter ihnen zu schützen.
Und wenn er, der Staat, noch so sehr an der Arbeit war, sie, die Minorität, – lebte!
Einen schnellen Blick warf er noch auf die bestehenden Staatsformen.
Er sah die Staaten von heute: die absoluten Monarchien, in denen von dem autokratischen Willen eines einzigen das Wohl und Wehe eines ganzen Volkes abhing; die noch den Namen von Monarchien tragenden, in denen aber dieser Wille durch eine »Verfassung« und ihre Gesetze in bestimmte Grenzen zurückgebannt war und nur die Willkür dieser Gesetze selbst herrschte; und die Republiken und Demokratien, in denen der Wille der Mehrheit alleiniges und oberstes Gesetz war, wenn auch oft diese Mehrheit in Wirklichkeit von einer Minderheit gelenkt wurde.
Er sah die, in welchen Raub und Diebstahl nicht versteckt, sondern ganz öffentlich betrieben wurden, und wo Korruption und Bestechlichkeit den ganzen Beamtenkörper durchfressen hatten; und die, in denen dieser Raub und Diebstahl in »gesetzliche Formen« gedrängt war und beides gewissermaßen in äußerlich ehrbaren Formen vor sich ging. Aber überall sah er, wie mit dem Vertrauen und dem Vermögen des Volkes der heilloseste Mißbrauch getrieben wurde, und er, der auf so viele Fragen nun die Antwort erhalten, gab es auf, die auf diese letzte zu finden: Was weiter ging – die Frechheit, die Schamlosigkeit und die Anmaßung der Regierenden; oder die Geduld, die Feigheit und die Langmut der von ihnen in den Staub gezwungenen und dort von ihnen zertretenen Völker? ...
Aber je tiefer er in das wahre Wesen dieses kalten Ungeheuers, das sich Staat nannte, eindrang und es durchschaute, um so höher wuchs seine Erbitterung, um so größer wurde sein Abscheu und um so tiefer sein Haß gegen diesen größten aller Verbrecher an dem Glück der menschlichen Gesellschaft.
Seine Untersuchung ging dem Ende zu, und noch einmal faßte er ihre Resultate zusammen:
Einer nur konnte der Verbrecher sein: der Staat oder das Individuum. Ein drittes gab es nicht.
Entweder war der Staat heilig – dann war der, der sich gegen seine Heiligkeit verging, ein Tempelschänder.
Oder er war eine Institution, wie jede andere menschliche Institution auch, und dann war er der Verbrecher, der sich an der Unverletzlichkeit des Individuums vergriff.
Wer also war der Verbrecher? –
Die Frage hatte ihre Antwort in der Antwort auf jene andere Frage gefunden:
Wer war der Angreifer?
Es war bewiesen, daß der Staat es war.
Der Staat war der Verbrecher.
Denn wer wagte noch, zu sagen, daß der Staat nicht aggressiv, daß er nur ein Schutzbündnis gegen die Angriffe von Verbrechern sei? –
Wer den Grund und Boden nicht zu erkennen vermochte, auf dem der Staat stand, der mußte wenigstens die täglichen, zahllosen Ein- und Übergriffe sehen und zugeben, mit denen er in dem unausgesetzten Bestreben, die Grenzen seiner Macht weiter und immer weiter auszudehnen, frech und schamlos in das private Gebiet des Einzellebens eindrang, um es möglichst bis in seine letzten Winkel hinein unter seine Kontrolle und damit in seine Gewalt zu bekommen.
Überall und ständig griff er in Handlungen ein, mit denen keinem Menschen zu nahegetreten wurde, deren Folge der Einzelne allein mit sich abzumachen hatte und für die dieser Einzelne die Verantwortung allein zu tragen hatte.
Nur diese, ersten besten Beispiele, wie sie ihm gerade einfielen:
Werdende Mütter wurden bestraft, weil sie ihre Leibesfrucht »abtrieben«; Eltern, weil sie ihre Kinder selbst erziehen wollten, statt sie fremden Händen auszuliefern; Lehrer, weil sie lehrten, ohne »zum Lehrberuf zugelassen« zu sein; Kaufleute, weil sie Waren und Güter ohne Erlaubnis ausführten; Schriftsteller, Verleger und Drucker, weil sie Bücher schrieben, verlegten und druckten, die anderen nicht gefielen; Händler, weil sie Dinge auf der Straße oder in ihrem Laden verkauften, die sie »nicht sollten« ; Redner, weil sie sprachen, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, und Versammlungsleiter, weil sie ihre Versammlung nicht vorher »polizeilich angemeldet« hatten und um die Erlaubnis zu ihrer Abhaltung nicht »eingekommen waren«; Ehefrauen, weil ihnen andere Männer, Ehemänner, weil ihnen andere Frauen als der oder die eigene besser gefielen, und zwar so viel besser, daß sie »die Ehe brachen«; Trinker, weil sie tranken, und Raucher, weil sie rauchten; Reisende, weil sie nicht angemeldet waren oder sich nicht »ausweisen« konnten oder weil sie bei Überschreitung der Grenzen in dem Besitz von Dingen waren, die zu stehlen, der Staat sich das Recht vorbehielt; ja, sogar die Selbstmörder sollten bestraft werden, falls sie so unglücklich waren, mit dem Leben davonzukommen; und immer wurden diese und hundert andere Verfolgungen damit entschuldigt, daß das Interesse »eines geordneten Staatswesens« es so erfordere ...
Und für alle diese Unterdrückungen, die ihm als Schutz aufgenötigt wurden, als ein Schutz, nach dem er nie verlangt, hatte das unglückliche Opfer auch noch zu bezahlen, unablässig zu bezahlen, zu bezahlen, zu bezahlen ...
Der Staat, der Angreifer, war also der Verbrecher. Und was für ein Verbrecher! –
Keiner, der ihm hier den Rang streitig machen konnte! –
Wo Ernst Förster hinsah, ob er die durch Meere von Blut gezogenen Bücher der Geschichte aufschlug oder die von Schmutz triefenden Blätter des Tages zur Hand nahm, überall stieß er auf ihn als den eigentlichen Urheber der scheußlichsten Verbrechen.
Keine Missetat gab es, die er nicht begangen, keine, die er nicht wieder beging, und alles war er in einem: Dieb und Mörder, Räuber und Betrüger, Spieler und Zuhälter in einer Person.
Im Kriege: Raub, Plünderung und unausgesetztes Morden; Willkür jeder Art und Schändung jedes menschlichen Empfindens.
Im Frieden (dem sogenannten »Frieden«): die systematische und sanktionierte Ausraubung und Vergewaltigung unter dem Deckmantel des »Schutzes« und der »Ordnung«. Der größte aller Verbrecher, der größte und der feigste!
Wie aber war es möglich, auch das fragte er sich immer wieder, daß so wenige erst sein wahres Gesicht erkannten? –
Weil er, der Staat, sooft man es zu erforschen versuchte, ein Schild vorhielt, ein Schild, auf dem das Wort stand: »Das Wohl der Allgemeinheit ...«
Mit diesem Schilde deckte er alle seine Verbrechen. Wenn Herrscher in fremde Länder einbrachen, um sie zu unterjochen und zu erobern, hieß es: das Wohl des Vaterlandes steht auf dem Spiel (und immer war es, wie fanatisierte oder bezahlte Lohnschreiber bewiesen, der andere, »der angefangen hatte«). Wenn eine durch ihr Geld und ihren politischen Einfluß mächtige Interessengruppe ihre unlauteren Wünsche durchsetzen wollte, gleich wurde verkündet: das Wohl der Allgemeinheit erfordere es so; (und immer wußten es vorgeschobene Kreaturen so zu drehen und zu wenden, als würde aus den reinsten und uneigennützigsten Motiven gehandelt). Sobald irgendein neuer Raubzug auf die ausgeplünderten Taschen des Volkes unternommen werden sollte, um die des Staates aufs neue zu füllen, »verlangte es das Interesse dieses Volkes« selbst so, hinter dem das des Einzelnen »zurückzutreten habe«. Wo irgend wer durch irgend etwas, das ihn nicht das geringste anging und dem er nur aus dem Wege zu gehen brauchte, geärgert, gestört oder, wie er so schön sagte, in seinem sittlichem Empfinden verletzt wurde, gleich rief er im Namen der beleidigten Allgemeinheit nach Schutz und Unterdrückung, auf daß die öffentliche Sicherheit nicht länger gefährdet werde. Und so weiter! – Und so weiter! ...
Das Allgemeinwohl! –
Was war es anders, als das des Einzelnen? – Wenn es dem Einzelnen gut ging, mußte es doch notwendigerweise auch der Allgemeinheit gut gehen! – Und wie konnte dieses Allgemeinwohl besser gesichert werden, als indem man es dem Einzelnen überließ, für sein eigenes Wohl zu sorgen? – In Ruhe gelassen, würde er schon verstehen, es sich zu sichern; und wenn er es nicht verstand, würde er es – vom Leben – lernen müssen und nur zu bald lernen.
Wenn die Menschen angefangen haben würden, jeden, der das magische Wort salbadernd brauchte, aufs äußerste zu mißtrauen, statt sich von ihm hypnotisieren zu lassen, so würden sie finden, daß neun unter zehn Malen unter seinem Schutze sich irgendeine Gaunerei, eine Irreführung oder ein Betrug zu ihrem Schaden vorbereitete, und daß es im zehnten Male nichts als eine hohle Phrase war, bei der sich nichts denken ließ. Und dann, dann würde zugleich der erste Schritt zu Erlangung eines wirklichen Allgemeinwohles getan sein, eines Wohles, das untrennbar von dem ihren und auf ihm gegründet war.
Viel wurde endlich neben der Rolle des Staates als Beschützer und Erhalter des allgemeinen Wohles auch von seiner »historischen Notwendigkeit« gesprochen und geschrieben. Daß der Staat notwendig gewesen war, war nicht zu bezweifeln, denn alles Gewesene war notwendigerweise gewesen.
Die Frage war nur: ob er noch notwendig war. Nun, er war so lange notwendig, als die Menschen ihn brauchten. Wenn die Menschen ihn nicht mehr brauchten, würde er nicht mehr notwendig sein; und sie brauchten ihn dann nicht mehr, wenn sie eingesehen harten, wie unnütz und schädlich er war.
Nicht das Recht des Staates wurde daher angezweifelt.
Es war das Recht des Staates, zu bestehen, solange er sich halten konnte, und lächerlich war es, von ihm zu verlangen oder zu erwarten, daß er freiwillig abtrete. Er war im Recht, solange er in der Macht war. Es würde ihn so lange geben, als es Untertanen gab, die ihm gehorchten. Eines Tages würde es keine mehr geben und somit auch keinen Staat mehr. Denn ein Staat ohne Untertanen war ein Unding. Es würde Herren geben, solange es Knechte gab; Ausbeuter so lange, als Arbeiter sich ausbeuten ließen; und Starke, solange Schwache sie zu solchen machten.
Von den Herren und Ausbeutern, den Starken, verlangen, daß sie auf ihre Stärke und Überlegenheit freiwillig verzichten sollten, konnte nur Moralisten und Ethikern in den Sinn kommen.
Das Recht zur Knechtschaft war ebenso unbezweifelbar wie das Recht zur Herrschaft.
Wer sich viel gefallen läßt, dem wird viel geboten.
Je mehr der eine zurückweicht, um so weiter dringt der andere vor.
Je mehr sich der eine erniedrigt, um so mehr erhöht sich der andere.
Einem schwachen und willfährigen Volke setzen bald die Monarchen und ihre Trabanten den Fuß in den Nacken; gegenüber einem stolzen Volke, das sich gegen ihre Tyrannei auflehnt, versagt ihre Macht und stürzt in sich zusammen, indem sie jene mit sich reißt.
»Es wird immer Herren und Knechte geben, immer Arme und Reiche, immer Starke und Schwache.« Einer plärrte es dem anderen nach.
Nein. Es würde so lange Starke geben, als die Schwachen glaubten, ihre Schwäche sei unheilbar; so lange Reiche, als die Armen nicht begriffen, warum sie arm waren; und so lange Herren, als Sklaven ihren Übermut und ihre Willkür duldeten.
Aber Überhebungswahnwitz und Sklavensinn; Ausbeutergelüste und Selbsterniedrigung; der künstlich genährte Hochmut und die so mit Recht verfluchte Geduld – sie alle mußten eines Tages zerschellen zu den Füßen des souveränen, des freien Ich.
Die Untersuchung war beendet, der letzte Einwand gegen die Freiheit beseitigt und der letzte Entschuldigungsgrund für die Gewalt zurückgewiesen.
Denn für die, welche sagten: Wir sind eins mit dir in allen deinen Forderungen der Freiheit; auch wir wollen sie ganz und uneingeschränkt und verwerfen den Staat in jeder aggressiven Form, in jeder, außer der einer Verwaltung der öffentlichen Einrichtungen ... was hast du gegen uns einzuwenden? – für sie gab es nur die Antwort:
Nichts! – Solange ihr uns wirklich in Frieden laßt, tut, was ihr wollt; nennt euch, wie ihr mögt; und, wenn eure Logik vor dem Widersinn des Wortes nicht zurückschreckt, sogar »freier Staat«.
Verwaltet alle Angelegenheiten, aber, bitte, nicht die unseren.
Und erlaubt uns nur die bescheidene Gegenfrage:
Zwingt ihr uns, an euren Verwaltungsbetrieben teilzunehmen und für ihre Kosten mit aufzukommen oder nicht? –
Tut ihr es nicht, dann seid ihr einfach eine Vereinigung, wie jede andere, und ihr geht uns so lange nichts an, als wir euch nicht freiwillig um unseren Beitritt ersuchen (den ihr das Recht habt, abzulehnen). Wir kümmern uns nicht um euch so lange, wie ihr euch nicht um uns kümmert. – Geht also eure Wege und verwaltet, was ihr wollt: euere Angelegenheiten; und laßt uns die unseren gehen und die unseren verwalten.
Tut ihr es aber: zwingt ihr uns, an euren Absichten und Unternehmungen teilzunehmen, indem ihr uns einen Tribut auferlegt und diesen Tribut gewaltsam eintreibt, dann seid ihr in unseren Augen nichts anderes als Vertreter und Verteidiger eines Staates, der als solcher unser geschworener Feind ist, und – wie ihr euch auch nennen mögt – seine Helfershelfer: eines Staates in der Form einer Verwaltung.
Denn begreift:
Es gibt nur eine Grenze zwischen Gewalt und Freiheit, zwischen dem Staat und dem Individuum, zwischen der Gesellschaft und dem Ich: die Grenze gleicher Freiheit.
Sie liegt dort, wo die Passivität aufhört und die Aggressivität beginnt. In der Feststellung dieser Demarkationslinie liegt die ganze Aufgabe, die wir uns gesetzt haben.
Um in dem einzelnen Falle feststellen zu können, ob die Freiheit verletzt war, mußte man zunächst diese Grenze feststellen.
Die Erkenntnis dessen, was aggressiv (Angriff, Eingriff); und was passiv (Verteidigung, Abwehr) war, war die Erkenntnis der Freiheit.
Aggressiv war jede Gewalt. Abwehr gegen die Gewalt, auch wenn solche bei ihr angewandt wurde, konnte also nicht unter diesen Begriff fallen.
Es gab Fälle, wo kein Zweifel möglich war: der Räuber und der Mörder, der mich überfällt, um mir mein Eigentum und mein Leben zu nehmen, ist zweifellos aggressiv; entledige ich mich seiner, und sei es mit Gewalt, handele ich in der Notwehr, in Abwehr; und bin nicht aggressiv. Aber es gab Fälle, die nicht so grob und deutlich waren. Es war am besten, sich an Beispielen, Beispielen aus dem täglichen Leben, möglichst klar zu werden über diese beiden, in der öffentlichen Meinung so heillos verwirrten, kaum erst zur Debatte gestellten und noch nirgends bestimmt erkannten Begriffe.
Wieder einige Beispiele daher, und wieder die nächstliegenden:
Aggressiv war es nicht, Waffen zu tragen, aber aggressiv war es, sie zu anderen Zwecken als zu denen der Verteidigung zu gebrauchen; aggressiv war somit das Verbot des Waffentragens und ihres Besitzes, oder vielmehr, die Durchführung dieses Verbotes.
Aggressiv war es nicht, Grund und Boden in persönlichen Besitz zu nehmen und zu benutzen, der nicht schon vorher von einem anderen in Besitz genommen und benutzt wurde. Aggressiv dagegen war es, von mir für die Benutzung dieses Grund und Bodens, auch die seines natürlichen Reichtums, Steuer zu erheben, einerlei in welcher Form und einerlei zu welchem Zweck.
Aggressiv war es nicht, Geld zu schaffen und an die zu verausgaben, welche es unter den angebotenen Bedingungen und auf ihre eigene Gefahr hin annehmen wollten. Aber aggressiv war es, Verbote zur Schaffung und Inumlaufsetzung von Geld zu erlassen und ihre Durchführung zu erzwingen – einen Wertmesser, eine Währung als alleingültige zu erklären, unter dem Vorwande, das alleinige Recht zur Schaffung und Verausgabung von Geld zu haben. Aggressiv war es nicht, nicht zu arbeiten, wenn man keine Lust oder andere triftige oder nicht triftige Gründe hatte, nicht arbeiten zu wollen. Aber aggressiv war es, andere an der Arbeit zu hindern, die sie tun wollten.
Aggressiv war es nicht, an den lieben Gott, an die unbefleckte Empfängnis und an den Heiligen Geist, an Hexen, Geister und die vierte Dimension zu glauben, aber aggressiv war es, andere zu verfolgen, weil sie nicht an denselben Unsinn glaubten.
Aggressiv war es nicht, zwangsweise auferlegte Steuern nicht zu bezahlen, den Heeresdienst zu verweigern, sich nicht impfen und taufen zu lassen, seinen Körper zu verkaufen, in freier Liebe zu leben, zu spielen, zu huren und zu trinken; sondern aggressiv war es, anderen zwangsweise Steuern aufzuerlegen und ihre Eintreibung zu erpressen, sie zur Übung und zum Gebrauch von Waffen zu zwingen, sie zu impfen und zu taufen gegen ihren oder ihrer Eltern Willen, die Prostitution zu »regeln« und unter Gesetze zu stellen, in freier Liebe Lebende zu verfolgen; und aggressiv war jede gewaltsame Unterdrückung des Lasters.
Nicht aggressiv war es, den ärztlichen oder irgendeinen anderen Beruf auszuüben. Es mußte jedem unbenommen bleiben, Krankheiten heilen zu wollen, wenn er glaubte, sie heilen zu können; und jedem, sich den Arzt zu suchen, zu dem er das größte Vertrauen hatte. Aber aggressiv war es, den ärztlichen Beruf nur »approbierten« Ärzten zugänglich zu machen und andere, die ihn ohne solche Approbation ausübten, zu bestrafen.
Aggressiv genannt werden durften Fälle groben Betruges, lügnerischer Täuschung, gewaltsamer Verführung. Aber inwieweit sie es waren, ließ sich nur in jedem einzelnen Falle entscheiden und nur auf Grund der jeweiligen Tatsachen.
Denn, wie gesagt, es gab sicher Fälle, wo die Grenzen zwischen Aggressivität und Passivität so fein gezogen waren, daß sie sich erst nach genauer Prüfung feststellen ließen und nur mit Hilfe einer langen und reichen Erfahrung, einer Erfahrung, von der wir heute, wo selbst über die offensichtlichsten Verletzungen dieser Grenze die naivste Unkenntnis herrschte, noch weit entfernt waren.
Abermals, aber diesmal in anderer Form, faßte er zusammen:
Wenn man, um einen Vergleich zu gebrauchen (der, wie alle Vergleiche, nicht zu ernst genommen sein durfte und nur ein Bild geben wollte), die Erde mit einer Wiese und die Menschen mit Blumen und Halmen auf ihr verglich, so zeigten sich die drei sozialen Weltanschauungen, die es gab, und zu deren einer sich jeder bekennen mußte, der überhaupt eine solche Weltanschauung besaß, in diesem Bilde so:
Die einen riefen: alles muß gleich sein. Es darf keine höheren und keine niederen Gewächse auf dieser Wiese geben. Daher müssen die zu hoch strebenden beschnitten und die zurückgebliebenen künstlich heraufgezüchtet werden. Herunter mit den Starken und herauf mit den Schwachen! Die so sprachen, waren die Sozialisten der staatlich-demokratischen, der kommunistischen Richtung.
Die anderen behaupteten:
Nur auf die Auserlesenen, die Bevorzugten, die das Salz der Erde sind, kommt es an. Um sie zu erzeugen, sind die anderen nur der Dünger und gerade gut genug, um als solcher zu dienen. Herauf daher mir jenen und herunter mit diesen. Die Starken auf Kosten der Schwachen, eben, weil sie die Stärkeren sind.
Die Individualisten sprachen so.
Die Dritten aber sagten:
Laßt alles wachsen, wie es wachsen will: hoch die hohen und die niederen am Boden bleibend – es gibt Platz genug, und allen scheint die befruchtende Sonne des Lebens. Und wenn auch Unkraut wuchert zwischen der Saat, es hat sein Recht. Weil sie so ungleichmäßig ist, darum ist die Wiese so bunt und so schön. Keiner auf Kosten des anderen!
Die so dachten und sprachen, waren die Anarchisten, die, welche es wirklich waren.
So dachte und sprach auch Ernst Förster.
Und ein Menschenleben stieg vor ihm auf, wie es war – heute unter der »Gleichheit« und dem »Schutze« des Staates; und ein anderes, wie es sein sollte –unter der Freiheit. Welches war das bessere ? – das erstrebenswertere ? – Welches das einzig lebenswerte? – Ein Vergleich würde es zeigen.
Ein Leben von heute wie es war:
Vom ersten bis zum letzten Tage in die Hand seines schlimmsten Feindes gegeben, der seinen mörderischen Griff erst von ihm läßt, wenn es im Grabe ausruht von dem ungleichen Kampfe mit ihm, wird es von ihm bewacht, bevormundet, gelenkt und geleitet.
Nein, nicht vom ersten Tage an: denn schon vor seiner Geburt legt er Beschlag auf dieses Leben seines künftigen Untertanen und Bürgers. Nicht deiner Mutter, die dich noch trägt, sondern ihm bereits gehörst du.
Bist du dann geboren, steckt er dich zunächst in seine Bücher: numeriert, registriert und katalogisiert dich.
Er zwingt dich in seine Schule, in der du lernen mußt, nicht was du lernen willst, sondern was er will, daß du lernen sollst. Vor allem: ein »guter« Bürger zu werden und seinen Geboten zu gehorchen.
Spät, endlich, bist du nach diesen Gesetzen »mündig« geworden. Vor deinen Eltern. Denn vor ihm bleibst du immer unmündig, dein ganzes Leben lang.
Du kannst keinen Beruf ergreifen (wenigstens nicht jeden, den du willst), kein Geschäft eröffnen, keinen Handel treiben, dich nicht ansiedeln, dir kein Haus bauen, keine Familie gründen, kannst kaum einen Kontrakt abschließen, ohne daß er, der Staat, sich nicht hineinmischt, dir Vorschriften macht, dich hindert und belästigt, und dir für all das noch irgendeinen Tribut erpreßt.
Ein, zwei, drei Jahre zwingt er dich völlig – mit Leib und Seele – in seinen Dienst: du hast seine Uniform zu tragen, wirst von ihm im Gebrauch von Waffen gedrillt, die du zu seiner Verteidigung stets, wenn er es fordert, zu gebrauchen hast, und gegen jeden, den er dir als seinen Feind bezeichnet. Tiefer kannst du nicht mehr erniedrigt werden – in diesen Jahren bist du kein Mensch mehr, sondern nur noch ein willenloser Sklave.
Zurückgesandt in das Leben, geht dieselbe alte, unaufhörliche Bevormundung und Bewachung von neuem los.
Was er dir aber an armseliger Freiheit etwa noch läßt, das vergällt er dir sicher durch seine angeblich zu deinem Schutze bestellte Polizei, die, weit entfernt davon, ein ernster und treuer Wächter zu sein, vielmehr ein bissiger und heimtückischer Köter ist, der dich überfällt und belästigt, wo du stehst und gehst: die bestimmt, wie lange und an welchen Tagen du arbeiten sollst, und an welchen nicht; wo du dein Bier trinken darfst und wo nicht, und wann du nach Hause zu gehen hast; und die dich, auch gegen deinen Willen, »beschützt« (nur dann nicht, wenn du wirklich Schutz brauchst) ...
So, in tausend und aber tausend sinnlose Regeln und Verordnungen, wie in ebenso viele Stricke, eingeengt; gegängelt wie ein Kind, wo du nicht geleitet; beschützt, wo du nicht beschützt sein willst; ermahnt und beraten, wo du keine Ermahnungen und Ratschläge brauchen kannst und willst; kontrolliert, beobachtet und beaufsichtigt; vergewaltigt in deinem Denken und Handeln –: fließt dein Leben hin, dein um seine beste Arbeit und seine wertvollste Zeit bestohlenes und erniedrigtes Leben ohne Stolz und ohne Schönheit, von seinem ersten bis zu seinem letzten Tage. Bis zu seinem letzten Tage ? – Nein, über ihn hinaus. Denn selbst sterben und begraben werden kannst du nicht, ohne daß er dabei sein muß, wie er überall dabei sein mußte, dein größter, dein mächtigster, dein einziger wirklicher Feind!
So war es, ein Leben von heute – ein Leben im Staat.
So war es, ein Leben von heute.
Wie aber sollte es sein? –
In der Lust der Liebe empfangen und in den Schmerzen der Liebe geboren, sollte es so lange der gehören, die diese Schmerzen um sein Dasein gelitten, der Mutter; und ihr, seiner Mutter, allein so lange, bis es sich selbst gehören konnte.
Dann aber sollte dieser Mensch frei sein, frei von dem Augenblicke an, in dem er durch Wahl seine Zusammengehörigkeit mit anderen, seinen Mitmenschen, und sei es auch nur in der einfachsten Form, kundzugeben fähig war.
Er sollte lernen können, was er selbst wollte; den Beruf ergreifen können, zu dem es ihn zog; ihn ausüben können, wann, wo und wie immer es ihm beliebte; ihn jederzeit aufgeben oder mit einem anderen vertauschen können, der ihm besser oder passender zu sein dünkte; und sich den Ertrag, den vollen Ertrag seiner Arbeit jederzeit und überall sichern können, im Austausch und Vertrag, und mit den Mitteln des Tausches, die er sich selbst in Übereinkunft mit anderen hierzu schuf.
Er sollte gehen und kommen können, wohin es ihm beliebte; sich sein Haus bauen dürfen auf dem Platz, auf dem noch kein anderer das seine gebaut; sich in Liebe vereinen dürfen mit jedem anderen Wesen, zu dem es ihn zog, wenn er bei ihm auf Gegenliebe traf; und sich von diesem anderen Wesen jederzeit trennen können, wenn Neigung nicht mehr bestand. Und all dies, ohne andere um ihren Rat, ihre Einwilligung oder gar um ihre Erlaubnis befragen zu müssen.
Er sollte denken, glauben, reden und schreiben dürfen, was er wollte, einerlei ob es klug oder dumm, falsch oder wahr, harmlos oder »gefährlich« war.
So sollte ein Leben sein: die unablässige, durch nichts gehemmte Entwickelung des Einzelnen zu sich selbst und zu seiner vollen Höhe (oder, wenn er es vorzog: zu seiner tiefsten Erniedrigung) – zu seinem Glück und damit zu dem der anderen.
Eine Grenze nur sollte es für ihn geben, immer und überall: die gleiche Freiheit aller anderen Menschen, ebenso zu leben, wie er.
Und so würde es sein, das Leben von morgen – das Leben gegen und endlich ohne den Staat.
Die Jahre vergingen in Arbeit und Tätigkeit. Ernst Förster war nun kein Jüngling mehr, sondern ging dem Mittag seines Lebens zu. Da zog es ihn wieder hinaus. Nicht, wie damals, um das Leben kennen zu lernen, sondern um es zu leben, in einem weiteren Rahmen, als es ihm hier möglich war.
Er war nicht mehr unentbehrlich hier, wie er es eine Zeitlang gewesen. Die Fabrik ging auch ohne ihn, und so freundlich das auf gegenseitige Achtung und Zuneigung gegründete Verhältnis zu ihrem Herrn auch war und blieb, im letzten stimmten sie doch nicht zusammen, und Denken wie Empfinden trennte sie hier. Denn jener blieb im Grunde doch immer der Bürger seines Landes, seiner Sitten und Anschauungen, und seine Ideale waren Reformen, die nicht an die Wurzel der Dinge griffen. Ernst Förster aber war ein Bürger der Welt geworden, nicht mehr beengt und gehemmt von Überlieferungen und Gewohnheiten. Und Heimat hieß ihm das Land, wo er frei war.
Deutlich zeigte sich diese Verschiedenheit in ihren Gesprächen, nicht mehr so häufig wie einst: der eine kam stets nur bis zu einem gewissen Punkt und drehte sich dann um sich selbst; der andere ging den Weg bis zu Ende und sah, wie sein Partner zurückgeblieben war und nicht weiter konnte. Der suchte sich noch immer in den anderen und wollte, daß die Menschen sich änderten; dieser hatte sich gefunden und wünschte nur, daß sich die Verhältnisse änderten, worauf sich die Menschen schon von selbst ändern würden. Er lächelte, wenn er sah, welches stumme Entsetzen er so oft mit dem, was er sagte, erregte, mit dem, was ihm selbst als das Natürlichste und Einfachste von der Welt erschien; und wenn sein Brotherr ihm seinen »extremen Radikalismus« vorwarf, so bewies er ihm seine eigene Rückständigkeit.
Persönlich aber waren sie trotzdem die alten, guten Bekannten aus den ersten Tagen ihres Zusammentreffens geblieben, und sie schieden in bestem Einvernehmen. Denn sie waren beide Ehrenmänner und wußten es von sich wie von einander.
Bevor Ernst Förster aber dieses Land verließ, tat er einen Schritt, der in scheinbarem Widerspruch zu seinen Anschauungen stand – er ließ sich in ihm naturalisieren: wurde sein Bürger aus freiem Willen.
Er wußte genau, was er tat. Er war ein Egoist, und er benutzte den Staat und seine Einrichtungen, solange er sie brauchen konnte und sie ihm nützlich waren.
Das schweizer Bürgerrecht erlaubte ihm jetzt wieder nach Deutschland zurückzukehren, ohne die Gefahr einer Verhaftung wegen »Fahnenflucht« befürchten zu müssen; es behob die, im Falle eines Krieges ausgeliefert zu werden; und es erleichterte endlich auch seinen Aufenthalt in anderen Ländern, der ohne die Papiere zu einer Staatsangehörigkeit immer schwierig und mißlich, unter Umständen unmöglich gewesen wäre. Nun hielt ihn nichts mehr.
Er hatte einfach gelebt in diesen Jahren seiner Anstellung, noch einfacher als früher, und seine Ersparnisse waren vermehrt worden durch die regelmäßigen Einkünfte aus einer kleinen Verbesserung, die ihm an einer der Maschinen geglückt war und die er, ohne sie einstweilen patentieren zu lassen, der Fabrik zur ersten Ausnützung überlassen hatte. Diese Erträgnisse waren ihm auch in den nächsten Jahren sicher und konnten sich unter Umständen bei Aufstellung neuer Maschinen nicht unbedeutend heben. So durfte er ohne besondere Sorge der Zukunft entgegensehen, um so ruhiger, als ihm sein Platz hier aufgehoben blieb und er zudem seine alte Tätigkeit als Mitarbeiter an Zeitungen jederzeit und überall wieder ausüben konnte.
Wohin er wollte? – Auch diesmal war er über das nächste Ziel seiner Wanderung nicht im Zweifel.
Als Sieger ging der Zweifler, der Verzweifler, ging der Sucher und endliche Finder hervor aus dem Kampfe.
Denn mit Recht durfte er sich so nennen. Er wußte, daß er es war: ein Sieger über das Leben. So genoß er seines Sieges: es erkannt zu haben und es zu leben.
Wo war das Tor, an dessen Klinke er einst die junge und heiße Hand gelegt, zitternd vor Erwartung und gebannt von einem heimlichen Grauen? – Er sah den Raum kaum mehr, in den es führte, und das Gebilde, das ihn erschreckt und beunruhigt, war Staub geworden unter seinen Gedanken, seit die Begriffe, auf denen es sich auf baute, gefallen, und der Koloß in Trümmern über sie hin ...
Er war Sieger geblieben, weil er die Menschen besiegt hatte, indem er sich gefunden. –
Was immer er tat, wie immer er lebte – er wußte es: solange er keinem von ihnen zu nahe trat, solange er nicht in eines anderen Rechte eingriff, durfte und würde er vor sich und mit sich leben, wie er wollte. Denn an die Stelle ihrer Gesetze war für ihn ein Gesetz getreten, das Gesetz der gleichen Freiheit.
Der Finder war Sieger.
Sein Leben war ein Kampf gewesen, und der Siegerpreis das eigene Selbst.
Er hatte sich suchen müssen in dieser schlimmen und verworrenen Zeit, in der er lebte, mit ihrem Widerstreit der Meinungen und in dem wüsten Geheul ihrer Tage.
Er suchte sich nicht länger. Denn er hatte sich. Wer sich aber hatte, war jenseits allen Suchens angelangt – war Sieger!
Er war sich selbst kein Ziel mehr. Er war sich selbst zum Ausgangspunkt geworden.
Einmal würden sich auch die anderen nicht mehr zu suchen brauchen – wenn ihnen gelehrt wurde von allem Anfang an, daß sie sich besaßen und daß sie nichts zu tun hatten, als sich nicht aufzugeben. Dann würde der Kampf schweigen, dieser furchtbare und blutige Kampf um die Ideen, diese Urfeinde der Menschheit; schweigen der Streit um Macht und Gewalt, und schweigen auch der Kampf um die Freiheit, weil er – ausgekämpft war.
»Ich bin die Wahrheit«, hieß es irgendwo.
»Ich bin mir selbst die Wahrheit, und habe ich mich, so habe ich die ganze Wahrheit, die ich brauche«, sollte es besser heißen.
Er liebte die Freiheit wie sich selbst. Er liebte sie, weil er sich selbst liebte. Solange er sich lieben würde, würde er die Freiheit lieben. Nur wenn er sich selbst aufgab, konnte er sie verlieren.
Aber was sich so schwer gefunden, war gefeit davor, leicht wieder preisgegeben zu werden.
Nun war die Erfüllung Wirklichkeit – er selbst der Herr seiner Freiheit, und ihm war, als sei ihre Stimme zu seiner eigenen geworden.
In sich vernahm er sie jetzt; dort erklang sie rein und hell. Sich selbst zu erfüllen in ihr, der Freiheit – alles erschien ihm nichts gegen dieses höchste Gebot des Lebens. Gegen dies einzige Gebot, das er sich selbst gegeben.
Zwei Weltanschauungen standen sich gegenüber: eine alte und eine neue.
Wie tief der Riß durch sie hinging und wie unüberbrückbar der Abgrund war, der zwischen ihnen klaffte, das begriffen zu haben, war die Erkenntnis des Siegers.
Stärker als je zuvor empfand er jetzt, was ihn von der einen fort- und zu der anderen hingetrieben hatte – aus der Atmosphäre des Kranken und Faulenden, des Stickigen und Stagnierenden hinaus und hinauf zu Gesundheit und Klarheit, zu Reinheit und zu Frische. Wie er es lieben gelernt, stellte er die Gegensätze scharf gegeneinander:
Dort die Idee der gegenseitigen Verpflichtung; hier die der gegenseitigen Freiheit.
Dort die Vergänglichkeit: die Gewalt in ihren immer wechselnden Formen; hier die Unvergänglichkeit des Individuums in seinem immer neuen Werden.
Dort der abstrakte Begriff; hier das konkrete Einzelwesen. Dort die »Wir«; hier das »Ich«.
Dort die auf die Macht gestellte Masse; hier der auf sich gestellte Einzelne.
Dort der Angriff; hier die Abwehr.
Dort ein Phantom, dem die Menschen nachjagten wie einem unerfüllbaren Traume; hier die unzerstörbare Wirklichkeit des Lebens.
Dort die Vergangenheit; hier die Gegenwart und Zukunft. Mit einem Wort: dort die Knechtschaft; hier die Freiheit.
– In diesem ewigen Kampfe zwischen jenem »Dort« und diesem »Hier«, des Gesunden gegen das Kranke, des Egoismus gegen den Altruismus, in diesem unaufhörlichen Widerstreit zwischen wirklichen und eingebildeten Interessen vollzog sich, ein ungeheures Schauspiel voll tragischer Größe, der Kampf seiner Zeit.
Zweifellos, wer endlicher Sieger bleiben würde: aus einer kranken und sterbenden Welt gebar sich in furchtbaren Wehen eine neue, eine heitere, eine schöne, eine – freie.
Wie Leuchten stand es in den Augen des Siegers, den kühlen, grauen, wenn er dieses – ach! noch so fernen – Sieges dachte.