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Nun war er wieder in Paris, dieser geliebten Stadt, in der er glücklich gewesen war und in der er wieder glücklich sein wollte.
Wieder zog es ihn auf das linke Ufer des Flusses, an den Boul' Mich und in das Quartier Latin, und er fand nach langem Suchen eine kleine Wohnung, hoch oben im sechsten Stock, zwei Zimmer, von deren schmalem Balkon er gerade noch ein paar Bäume des Luxembourg mit seinem Grün heraufschimmern sah. Er richtete sich ein und diesmal nicht für einen vorübergehenden Aufenthalt.
Heimisch brauchte er nicht erst zu werden. Er war es hier längst.
Hier, in Paris, hatte er das große, das unaussprechliche Glück, zum ersten Male in seinem Leben einen Gesinnungsgenossen zu finden der, wenn auch auf anderen Wegen, zu der gleichen Lebensanschauung der Freiheit gelangt war, wie er.
Carrard Auban, Sohn dieser Stadt, gesäugt mit revolutionärer Milch, stand in der sozialen Bewegung seiner Zeit, solange er denken konnte; hatte erst der Partei angehört, war dann in die äußerste, die Taktik der Gewalt verteidigende Richtung des Kommunismus gerissen, verurteilt und eingekerkert worden, um sich dann endlich in diesen anderthalb Gefängnisjahren zu den Anschauungen durchzuringen, zu denen er sich jetzt bekannte. Um die Zeit der blutigen Tage von Chicago in London, wo die Diskussionen seiner Sonntagnachmittage unter den Anhängern der verschiedenen Richtungen eine gewisse Berühmtheit erlangten, lebte er nun seit Jahren wieder hier in seiner Vaterstadt, enttäuscht in vielem, aber unverbittert, und, obwohl nicht mehr jung, von der alten Lebendigkeit in der Verfechtung seiner Überzeugung und nach wie vor erfüllt von der großen Liebe seines Lebens zu allem, was frei war oder frei werden wollte. Nur, daß er jetzt gefunden, was er suchte; und wußte, was er gefunden.
In dieser Liebe begegnete er sich mit dem um so viel Jüngeren. Ein Zufall führte sie zusammen, gemeinsame Erinnerungen an London (wenn sie auch in eine andere Zeit fielen, denn Auban hatte die Stadt bereits verlassen, als Förster sein erstes halbes Jahr des Suchens dort verbrachte) und manche Persönlichkeiten (denen Auban allerdings oft weit nähergetreten war als Förster, der sie meist nur aus der Ferne gesehen und gehört) – gemeinsame Erinnerungen solcher Art brachten sie einander bald näher, und, trotz aller Verschiedenheit der Umstände, in vielem merkwürdig gleiche Lebensschicksale knüpften bald das Band fester. Der eine hatte seine Mutter kaum, der andere sie gar nicht gekannt; beide mußten sich ihr Brot mit literarischer Handlangerarbeit verdienen, und beide waren trotzdem so wenig Literaten, wie man es nur sein konnte; beiden war in ihrer ersten Jugend der ungestüme Drang zu eigen gewesen, das Leben zu erfassen und zu begreifen. Eine starke Gleichartigkeit im Fühlen und Denken, und damit eine oft überraschende Übereinstimmung im Urteil ließ sie so schnell vertraut werden, und die gleiche Liebe zur Freiheit, die ihnen beiden kein leeres Wort war, machte sie endlich zu Freunden.
Sie diskutierten nicht. Was sie auszutauschen hatten, waren keine Zweifel, sondern die Resultate langer und fruchtbarer Gedankenarbeit. Sie debattierten nicht. Sie besprachen sich, und neue Pläne und Hoffnungen erwuchsen aus solchen Gesprächen. Wenn sie sich auch nicht immer einig waren in jeder einzelnen ihrer Folgerungen, so waren sie doch völlig einig in allen Grundfragen. Sie konnten es nicht anders sein, da sie beide gelernt hatten, logisch und konsequent zu denken.
Für Förster wurde Auban ein unvergleichlicher Führer durch Paris. Er kannte jeden Stein in seiner Stadt und dessen Geschichte, und er verfolgte den Tag und des Tags Ereignisse mit der vollen Aufmerksamkeit seines scharfen und geprüften Blickes. Für Auban wiederum wurde der Verkehr mit dem Jüngeren zu einer Quelle neuen Lebensmutes und sein herber Ernst lernte bei ihm wieder das Lachen über menschliche Torheit und Eitelkeit.
Meist war Auban es, der Förster des Abends in seiner kleinen Wohnung am Mont Parnasse besuchte, und immer stieg es wie Freude in diesem auf, wenn er den schweren Schritt seines Freundes (denn Auban zog den linken Fuß leicht nach) auf der Treppe hörte und mit ihm ein Abend voll unerschöpflicher Anregung kam.
Vielleicht war in Auban die Lust, andere zu überzeugen, immer noch größer, als sie es bei Förster je gewesen war, dem es mehr genügte, eine Wahrheit erkannt zu haben und sie zu besitzen; vielleicht in jenem, natürlich bei seiner Herkunft und Entwickelung, die Ansicht stärker, daß ein Zustand der Freiheit aus einer Bewegung, wie der sozialen, hervorwachsen müsse, als bei diesem, der sie immer mehr und mehr in dem Erwachen des Einzelnen zu sich selbst erblickte, wie er selbst so zu ihr gelangt war; und vielleicht sah der Ältere, ungeduldig geworden in langem Kampfe mit seiner Zeit, einen Sieg näher als der Jüngere.
Wie dem auch war, sie waren so einig in ihren Zielen, wie es zwei Menschen hier nur sein konnten, denn es gab keine Verletzung der Freiheit, die sie entschuldigt oder gar gebilligt hätten; und einig waren sie sich auch über den Weg, der einzig zu diesen Zielen führen konnte.
Ihre besten Gespräche galten den Möglichkeiten dieses Weges, und viel lernte der bisher so ganz auf sein eigenes Denken Angewiesene von der reiferen Erfahrung des Freundes.
– Welches waren die Wege zur Freiheit?
In Waffen starrte der Staat. Auf Gewalt gegründet hielt er sich nur durch Gewalt. So fest verankert war heute noch diese Gewalt in der Einsichtslosigkeit und Trägheit der Massen, daß seine Macht fast unangreifbar schien und ganz unbesieglich.
Nur die großen Gewalten, die »Mächte«, vermochten sich scheinbar gegenseitig im Kriege zu besiegen. Wurde heute eine Staatsform durch eine stärkere Gewalt gestürzt, baute sich morgen eine neue mittels Gewalt auf ihren Trümmern auf, und im Grunde war nur ein Name geändert: was gestern Kaiserreich oder Monarchie geheißen, hieß heute Republik; und was heute noch Republik genannt wurde, war nicht sicher, schon morgen in Demokratie umgetauft zu werden. Im Wesen des Staates war damit nichts geändert, und unerschüttert blieb sein oberster Grundsatz: »Der Wille der Mehrheit ist absolut.«
– Wie nun konnte der Staat, jeder Staat, mit Aussicht auf Erfolg bekämpft werden, und von welchem Standpunkt aus hatte dies zu geschehen?
Einer Regierung gegenüber gab es drei Standpunkte: sie anerkennen – das hieß, sich ihr als einer göttlichen oder menschlichen Autorität bedingungslos unterwerfen; ihre Änderung wünschen und ihre Reform erstreben – das hieß, sie nur bedingungsweise anerkennen; oder aber sie verwerfen – das konnte nur heißen, ihre bedingungslose Abschaffung verlangen und erstreben.
Nur die Anarchisten erhoben diese letzte Forderung.
Sie negierten den Staat in jeder Form und konnten daher nur in der Hinwegräumung jeder Art von Regierung, die seine ausübende Macht darstellte, den Weg zu ihrem Ziele der Freiheit erblicken.
– Welche Mittel nun waren es, die sie anwenden konnten, um ihren Zweck zu erreichen?
Zweierlei nur: es konnten gewaltsame (blutige); und es konnten friedliche (unblutige) sein.
Der Staat war der Angreifer.
Einem Angreifer gegenüber ist zweifellos jedes Mittel erlaubt, um ihn unschädlich zu machen. Die Frage war daher einzig die: welches führte am besten zum Ziele. Konnte der Staat durch das blutige Mittel der Gewalt gegen Gewalt am ehesten und sichersten zu Boden geworfen werden, so durfte es kein Bedenken irgendeiner Art geben, dieses Mittel anzuwenden; war es indessen in seinem Erfolge zweifelhaft und daher nicht ratsam, so war jedes andere vorzuziehen.
Viele (und leider vor allem die, welche sich mit so großem Unrecht »Anarchisten« nannten) befürworteten es – sahen im gewaltsamen Umsturz des Staates, der Revolution, das einzige Mittel, sich seiner zu entledigen.
Sie irrten sich. Sie irrten sich durchaus. Ihr Mittel war unzulänglich und untauglich.
Eine Gewalt mochte die andere stürzen und sich an ihre Stelle setzen. Keine Gewalt der Erde konnte die Freiheit an Stelle der Gewalt setzen.
Denn Freiheit war eine Erkenntnis, die nur durch lange und mühevolle Erfahrung erworben werden konnte, und nur eine Revolution gab es, die mit Sicherheit zu ihr führen konnte: die Revolution in den Köpfen. War sie nicht vorhergegangen, blieb jede Revolution, auch die größte und siegreichste, nur Stückwerk, und man war am Tage nach ihr um keinen Schritt weiter, als man am Tage vor ihr gewesen war. Nicht die Zwingburgen der Gewalt mußten daher zunächst mit Gewalt niedergelegt werden, sondern die weitaus festeren und scheinbar uneinnehmbaren der Vorurteile hinter den Stirnen der Menschen. Waren sie gefallen, fielen jene von selbst.
Darum also, und nur darum allein, verwarfen die Anarchisten, welche es wirklich waren, diese Taktik der Gewalt. Sie hatten erkannt, daß es nicht ratsam sein konnte, sich mit einem an Stärke so überlegenen Feinde in einen offenen Kampf einzulassen; es mußte einen anderen Weg zu seiner Besiegung und Niederwerfung geben.
– Es gab ihn.
Es war der Weg des passiven Widerstandes.
Passiver Widerstand – das ist, nicht wie gesagt war, »der Widerstand, der nicht widersteht«, sondern vielmehr der einzige Widerstand, der, bewußt und überlegen angewandt, einem Stärkeren gegenüber auf die Dauer allein sich als wirksam erweist.
Ich werde der Stärkere einem Rowdy gegenüber, nicht, indem ich mich mit ihm in eine Rauferei einlasse, sondern indem ich ihm aus dem Wege gehe; ich bin es einem unerträglichen Schwachkopf von Schwätzer gegenüber, nicht, wenn ich ihn, der nicht zu denken vermag, zu überzeugen versuche, sondern indem ich schweige und ihm einfach nicht zuhöre.
Passiver Widerstand – der eine Menonit, der aus Glaubensüberzeugung den Waffendienst verweigerte, machte den Machthabern mehr Kopfzerbrechen, als es die Niederwerfung eines Aufstandes von Tausenden verursacht hätte. Passiver Widerstand – er ist die Waffe in der Hand des Schwächeren; die Schleuder des David; die Mauer, an der jeder Angriff des Gegners eines Tages erlahmen mußte und sich brach.
Passiver Widerstand dem Staate gegenüber – das hieß: Gehorsamverweigerung; Aufkündigung der Gefolgschaft; Unbotmäßigkeit gegen einen nicht oder nicht mehr anerkannten Herrn; kühle Verachtung seiner angemaßten Autorität.
Passiver Widerstand – es war der einzige, oder vielmehr der einstweilen einzig gangbare Weg.
Wie ihn anwenden, und zwar wirksam anwenden, diesen Widerstand? – war die nächste Frage.
Es kam darauf an, den Staat an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen und ihm dort den tödlichen Stoß zu versetzen. Diese Stelle war ohne Zweifel, wie bei anderen Sterblichen auch, der Geldpunkt.
Der Staat lebte von Raub. Wurde ihm dieser Raub entzogen, mußte er verhungern – er konnte die ungeheure Armee seiner Trabanten und Beamten, auf deren Willfährigkeit und Treue sich seine Macht stützte, nicht mehr besolden, würde sich eines Tages von ihnen verlassen sehen, und mußte, unproduktiv wie er war, eingehen.
– Steuern nannte er seinen Raub.
Da er unablässig Geld brauchte, stahl er unablässig.
Er hatte ein zweifaches System herausgebildet – er stahl direkt, und er stahl indirekt.
Direkt in der Form eines Abzugs vom Arbeitseinkommen; von Steuern, die er von jedem erpreßte, der in dem Bereiche seiner Macht lebte (ganz direkter Raub).
Indirekt in der Form von sogenannten indirekten Steuern, Zöllen und Tarifen – von Abgaben, die er auf alle möglichen Arten von Waren, vor allem auf Produkte des täglichen Bedarfes, erhob (eine Art Wegelagerei).
Wie er im Anfang seiner glorreichen Laufbahn auf Salz und Tee gestohlen hatte, so hatte er seitdem das Gebiet seiner Tätigkeit über Tabak und Streichhölzer hinaus bedeutend erweitert, und heute stahl er so ziemlich auf alles. Sicher vor ihm war nichts; er stahl auf Hunde und Affichen, auf Kontrakte und Theaterbillets, auf Lotterielose und Kartenspiele, und auf was sonst nicht noch, und nicht eher würde er zufrieden sein, bis er auch noch das letzte Hemd und das letzte Stück Brot besteuert hatte.
Was er aber, der große Räuber, noch übrig ließ, daß nahmen sicher die kleinen Diebe im großen Raubstaat, die Gemeinden.
Ihn aushungern also, indem man ihm die Zahlung der direkten Steuern einfach verweigerte, darauf also kam es an, und das war die Hauptaufgabe eines einstweiligen passiven Widerstandes.
Bisher war, soweit er, Ernst Förster, es wußte, Steuerverweigerung nie in größerem Umfang versucht worden, wie ja auch die Existenzberechtigung des Staates von einer größeren Anzahl Menschen auf demselben Fleck Erde nie ernstlich in Frage gezogen war. Wo aber hier und da Versuche in dieser Richtung zur Erlangung bestimmter, meist politischer Forderungen gemacht waren, waren sie stets, wie es auch gar nicht anders sein konnte, von vollem Erfolg begleitet gewesen.
Schon heute »bezahlte niemand seine Steuern gern«, und kein vernünftiger Mensch dachte daran, einen anderen deshalb scheel anzusehen oder gar für einen Betrüger zu halten, weil er sich »nicht richtig eingeschätzt hatte«; der also, wie es so schön hieß, ein »Steuerdefraudant« war.
Warum er nicht daran dachte? – Weil jeder die Eintreibung von Zwangssteuern (ganz instinktiv richtig) als einen Raub empfand, der ihn empörte, wenn er an ihm selbst verübt wurde und ihn nur – seltsame Logik! – kalt ließ, sobald er sich gegen andere wandte.
Es durfte fast mit Sicherheit angenommen werden, daß an dem Tage, an welchem man sich der Zahlung solcher Zwangssteuern ohne eigene Gefahr entziehen konnte, kein Mensch mehr auch nur einen Pfennig bezahlen würde, und in dieser frohen Zuversicht lag zweifellos die beste Hoffnung auf einen endlichen Sieg über den allmächtigen Feind, der heute noch so ungestraft sein schmutziges Handwerk betreiben durfte, in dessen Ausübung er in einer Weise, die an schamloser Dreistigkeit nicht überboten werden konnte, selbst in die privatesten Angelegenheiten des Einzelnen Einblick forderte und erzwang.
– Ein ernsthafter, wohl vorbereiteter und bis ins einzelne durchdachter Feldzugsplan einer systematischen Steuerverweigerung gegen den Staat als solchen konnte natürlich nur Aussicht auf Erfolg haben, wenn er nicht von wenigen Einzelnen oder einer verschwindenden Minderheit unternommen wurde (denn mit ihnen und ihr würde der Staat leicht fertig werden), sondern wenn er sich auf eine Minorität stützte, mit der gerechnet werden mußte, also etwa einem Viertel oder Fünftel der Bevölkerung. Vorstöße mochten versucht werden, gewissermaßen als Plänkeleien vor dem eigentlichen Kampf, aber erst wenn eine solche Minorität gewonnen war, konnte die Zeit des erfolgreichen Handelns gekommen sein.
Es war nicht unmöglich, ja wahrscheinlich, daß die ersten tastenden Versuche eines passiven Widerstandes gegen die Staatsgewalt folgendermaßen begannen und verliefen: Eines Tages würden, sagen wir, in einer Stadt von dreißigtausend Einwohnern dreißig ruhige, angesehene und allgemein als ehrenhaft bekannte Bürger die Zahlung ihrer Steuern verweigern: die ihnen zugehenden Veranlagungen und Einforderungen einfach in den Papierkorb werfen, wie Rechnungen über Waren, die sie weder bestellt, noch erhalten – überlegt, bewußt und ohne jede Verheimlichung die Zahlung von Steuern verweigern.
Man würde sie erst zu überreden versuchen, um sie von ihrer Absicht abzubringen; sie sodann belästigen auf jede Art und Weise; endlich zu Zwangsmitteln greifen, und – sie würden zahlen. Die anfängliche Verblüffung oder Entrüstung über den offenbaren »Wahnsinn« dieser Männer würde sich in ein befreites Gelächter über ihren »Mut« auflösen.
Gemach. Denn dieses Gelächter würde kaum verhallt sein, als die Autoritäten dieser guten Stadt (bei dem nächsten Termin) sehen mußten, daß aus diesen dreißig Steuerverweigerern hundert geworden waren, die, wieder in die Enge getrieben, zwar wieder bezahlten, was ihnen mit Gewalt abgenommen wurde, aber sich doch nicht so leicht, wie es schien, zufrieden gaben; und man würde die unliebsame Entdeckung machen, daß nicht nur hier, sondern auch in anderen Städten und Städtchen des Reiches Versuche ähnlicher umstürzlerischer Art im Gange waren und daß das böse Beispiel anfing, die bisher so guten Sitten merklich zu verderben.
Immerhin: die Regierung war auch diesmal Sieger geblieben und atmete wiederum auf.
Nur bis zum nächsten Mal.
Denn unterdessen war der Stein ins Rollen gekommen.
Viele von denen, die bisher ihre Steuern, wenn auch ungern und widerwillig, so doch notgedrungen bezahlt hatten, stellten sich die Frage: Was sind eigentlich Zwangssteuern ? – Wer hat ein Recht, sie zu erheben? – Wer die Pflicht, sie zu entrichten? – Und die weitere, sich daraus ergebende Frage von der Notwendigkeit und der Berechtigung des Staates wurde zu der des Tages, die in den Zeitungen, in den Gesellschaften, überall da, wo Menschen zusammenkamen, leidenschaftlich erörtert wurde, und zwar mit dem Resultat, daß die Streitenden mehr und mehr in zwei große Heerlager, »Für« und »Wider«, zerfielen, so daß der Staat eines anderen Tages einer Minorität bewußter Steuerverweigerer gegenüberstand, die so stark war, daß es ihm nicht möglich war, ihr mit den bisherigen Mitteln beizukommen, und er neue, drakonische Gesetze gegen sie aufrufen mußte, um ihrer Herr zu werden.
Das aber war der Anfang seines Endes, und der Tag nicht mehr fern, an dem ihm die Eintreibung seines Raubes mehr kostete, als dieser Raub einbrachte, und an dem ihm nichts weiter übrigblieb, als seinen Bankerott zu erklären. Natürlich würde sich der Staat nicht kampflos ergeben, sondern bis zum letzten Atemzuge um seine Existenz kämpfen und kein Mittel unversucht lassen, die Abtrünnigen zu ihrer »Pflicht« zurückzuführen – von dem sanften der Überredung und Beschwörung an, bis zu dem brutalen des Zwanges und der Bestrafung.
Ein unermeßliches Geschrei würde sich zunächst erheben über diese »Verräter am Volke«, die »Diebe am allgemeinen Gut«, diese »Schädiger des Gemeinwohls«, diese Egoisten, die »nur an sich dachten« und »ihr eigenes, kleines, schmutziges Interesse über das große der Allgemeinheit stellten«, statt eingedenk dessen zu sein, was sie der Nation, dem Vaterlande, dem – Staate schuldeten. Keine Beschimpfung gegen sie würde stark genug sein, und ein Lustmörder ein Lamm an Unschuld im Vergleich zu ihnen; keine Strafe zu hoch und zu schwer für diese »wahren Feinde der Menschheit« – alles Wutausbrüche des Verbrechers, der sich außerstande sieht, seine Opfer länger auszuplündern.
Aber diese Tiraden würden auf die Dauer ihren Zweck völlig verfehlen. Allmählich würden auch die lautesten verstummen, allmählich, ganz allmählich würde sich ein Umschwung in der öffentlichen Meinung vollziehen, und der Staat erkannt werden als das, was er war – ein Räuber und Dieb, und feiger und hinterlistiger, verlogener und niedriger als der Wegelagerer, der seine Opfer überfällt und beraubt, ohne seine Gewalttat mit schönrednerischen Phrasen zu entschuldigen.
Keine Gewalt also gegen die Gewalt des Staates, sondern Entziehung, Gehorsamverweigerung, Unbotmäßigkeit – Aufkündigung des Zwangsverhältnisses mit allen Mitteln und in jeder Form. Und Aufklärung, geistige Aufklärung, unablässig, immer und immer wieder.
Allerdings, war diese Aufklärung unmöglich gemacht, waren Wort und Schrift erdrosselt und die Presse nur ein willenloses Werkzeug in den Händen der Machthaber und nur noch ihr Sprachrohr, dann mußte die Bombe das letzte Wort sprechen, und wenige Revolutionäre wohl würde es geben, die diesem äußersten Kampfe um die Freiheit so kaltblütig zugesehen, ja, wenn für ratsam befunden, an ihm teilgenommen hätten, wie Ernst Förster.
Dann, aber auch nur dann.
So weit war es aber noch nicht, wenigstens nicht in den Ländern des Westens.
Noch konnte die Wahrheit geschrieben, wenn auch nicht überall gesagt werden; noch gab es Bücher (wenn auch nur einige), die in letzter Konsequenz die Forderungen der Freiheit stellten und die ungehindert ihren Weg gingen; noch Zeitschriften, die ihre Aufgabe der Aufklärung erfüllen konnten; und noch ging das Wort von Mund zu Ohr.
Fort daher endlich mit allen ebenso zwecklosen, wie schädlichen Mitteln der Gewalt, den Versammlungen hinter geschlossenen Türen und den öffentlichen Zusammenrottungen; fort mit den unterirdischen Klubs und den überlebten Verschwörungen; fort mit den Geheimbünden und Laboratorien zur Anfertigung von Gift und Dynamit! – Keine Regierung gab es, die nicht mit ihnen allen fertig wurde, ja, die sie nicht lieber gesehen hätte, als die langsame, um so sicherere Zersetzung des Autoritätsbegriffes in den Köpfen ihrer Untertanen; und keine, die sie, um sich selbst zu retten, nicht gewähren ließ und durch ihre Spitzel zu Gewalttaten ermutigte. Und genug, endlich genug der Opfer so vieler mutiger und fähiger Jünglinge und Männer, dieser zahllosen, verlorenen und so unendlich beklagenswerten Blutzeugen in diesem großen Kampfe!
Denn Blut ist ein kostbarer Saft, der nie unnütz vergossen werden sollte, und der Boden der Zeit brauchte nicht länger mit ihm gedüngt zu werden, um aufnahmefähig zu werden für den Samen der Erkenntnis. Er war es.
Friedlich und unblutig also, wie das Ziel selbst, war auch der Weg zu diesem Ziele.
Keiner, der die Freiheit liebte, brauchte seine Hand mit dem Blute seiner Mitmenschen zu beflecken, um sie zu erlangen. Ohne daß irgendeinem Menschen auch nur ein Haar gekrümmt wurde; ohne daß er auf irgendeine seiner Freiheiten, bis auf die eine: die Freiheit auf Kosten anderer, zu verzichten brauchte oder sie ihm beschränkt wurde; und ohne daß ihm ein Pfennig und ein Halm seines Eigentums genommen wurde, ließ sie sich erobern. Und ohne irgendwelche Expropriationen und Beschlagnahmungen, die doch im Grunde nur bedeuten, anderen das wieder zu entreißen, was man ihnen vorher erlaubt hatte zu nehmen.
Nichts war nötig, als der Fortfall der Gewalt, die sich über diesen Weg als Hindernis legte. Nichts brauchten die Menschen zu tun, als dieses Hindernis fortzuräumen und dann ihren Weg auf eigene Faust zu gehen.
Schön das Ziel, und grade und eben der Weg zu ihm; reinlich und ehrlich.
– Aber die Menschen schienen diesen Weg, den einzigen, den es gab, nicht zu sehen. Denn sie gingen ihn nicht.
Sie türmten neue Hindernisse auf die alten, und statt vorwärts zu blicken, schauten sie allein nach oben, als ob nur von dort her Rettung kommen könne.
Und doch konnte nie von oben herab – nicht oft genug konnte es gesagt werden –, sondern einzig von unten herauf die soziale Frage ihre Antwort finden.
Nicht verbieten, sondern unmöglich machen – das war es, worauf es ankam.
Die Lehre der Anarchie kannte das Wort »Sollen« nicht. Sie erließ keine Vorschriften. Sie gab keine Befehle.
Sie sagte nicht: du sollst nicht stehlen! – du sollst nicht töten! – du sollst nicht müßig gehen! – –
Sie schrieb nicht vor, wie die Menschen zu leben hatten; sie war kein Vademekum der Glückseligkeit; sie »verbot« nichts. Sie war eine rein negative Forderung, welche lautet: Laß andere in Frieden, damit du selbst in Frieden gelassen wirst! – Sie verspottete alle Systeme, mittels welcher die Menschheitsbeglücker ihre Opfer um jeden Preis selig machen wollten, und verlachte die Narren, welche eine neue Zukunft, ein »drittes Reich« aufzubauen versuchten und die Zukunft so malten, wie sie sich in ihren wirren Köpfen spiegelte.
Sie schlug die Mauern des Gefängnisses ein, und ihre ganze Bedeutung lag darin, erkannt zu haben, wie sich dieses Gefängnis nannte.
Ihm entronnen, mußte jeder sein eigenes Leben bauen, und wie er es sich baute, das war allein seine Sache.
Dem Laster seinen Gegenstand nehmen; die Fruchtbarkeit des Kapitals untergraben und brechen; den allgemeinen Kredit ermöglichen; der Arbeit ihren vollen Ertrag sichern; den Diebstahl so erschweren, daß Arbeit einträglicher und bequemer war – das waren weit bessere und sicherere Wege als ganze Heere von Gesetzen und Verordnungen.
Nach der einzigen Hilfe endlich zu greifen, die wirklich half, der Selbsthilfe – um wieviel würdiger und aussichtsreicher war das nicht, als immer und immer nur auf die Hilfe von oben her, auf die eines Staates zu bauen, der doch nur (auch das konnte nicht oft genug wiederholt werden) – unproduktiv, wie er war – geben konnte, was er zuvor genommen.
Fürwahr, weit richtiger, als es hieß: Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk dieser Klasse selbst sein, sollte es heißen: Die Befreiung des Einzelnen und seiner Arbeit kann nur das Werk dieses Einzelnen selbst sein!
Weder gewaltsame Umsturzbestrebungen, noch irgendwelche Reformen von oben herab, innerhalb des Staates, konnten also nützen, und nicht auf politischem Wege ließ sich die soziale Frage lösen, sondern einzig durch die Erkenntnis von der Notwendigkeit wirtschaftlicher Freiheit, erreichbar allein durch private Initiative.
Nicht von heute auf morgen würde der Staat fallen; nicht von heute auf morgen die Freiheit da sein.
Langsam, nach und nach, mit unendlicher Geduld in zäher Arbeit, mittels immer neuer Erfahrungen mußte sie erobert werden, durch stetig weitere Zurückdrängung der Machtsphäre des Staates in immer engere Grenzen, bis zu seiner endlichen Unschädlichkeit und Machtlosigkeit.
Diese Zurückdrängung würde sich kennzeichnen durch einen allmählichen Umschwung aller Lebensverhältnisse. Je mehr der Staat in die Gesellschaft, also der politische in den sozialen Organismus aufgehen würde, um so mehr würde sich unter der Freiheit des Geldes und des Kredits Armut in Auskömmlichkeit und Auskömmlichkeit in Wohlstand wandeln, und gleichermaßen der Luxus zurück in Wohlstand; große Vermögen, unfähig, sich länger aus sich heraus von selbst zu vermehren, würden sich aufzehren; die Besitzer weiter Ländereien sich beeilen, sie schnell und möglichst billig zu veräußern, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, sich eines Tages im Besitz derer, die sie nicht selbst hielten und benutzten, nicht länger geschützt zu sehen und ihrer ohne Entschädigung verlustig zu gehen, machtlos, sie noch länger als ihr Eigentum zu behaupten.
Und mit diesem zunehmenden Wohlstand – der Möglichkeit für die Arbeit, sich mehr und mehr und endlich restlos ihres vollen Ertrages zu erfreuen, dieser »Lösung der sozialen Frage«; mit dem allmählichen Übergang alles »öffentlichen« Eigentums in private Hände oder in die freier, nicht aggressiver Vereinigungen zu bestimmten Zwecken; mit dem Schwinden der Monopole und der Klassengegensätze; mit dem allmählichen Verschwinden und endlichem Fortfall aller künstlichen Grenzen zwischen Mensch und Mensch, wie zwischen Volk und Volk – würde Hand in Hand die immer weiter um sich greifende Erkenntnis von der Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit völliger gegenseitiger Freiheit gehen, und mit dem stetig größer werdenden Verständnis der sozialen Fragen sich ein immer stärkeres Abflauen des Interesses an politischen Fragen bemerkbar machen, bis die heute noch alles und alle beherrschenden Kämpfe um die Gewalt gegenstandslos wurden, da man sah, wie die Mächte, um die sie gingen, nach und nach in sich zerfielen.
So würde denn eines Tages auch die Stunde des Staates geschlagen haben, und er sich selbst nicht mehr verhehlen können, daß es mit ihm zu Ende ging.
Früher war nur von ihm, und immer nur von ihm die Rede gewesen, von ihm, um den sich alles drehte und von dem alles abhing; ohne den nichts unternommen werden und ohne den kein Schritt getan werden durfte.
Frech und breit hatte er überall im Vordergrund des öffentlichen Interesses gestanden und mit der Wucht seines ungeheuren Leibes alles bei Seite geschoben und zermalmt, was ihm hinderlich oder im Wege war.
Er hatte nur zu winken brauchen, und alles war geflogen. Jetzt war das alles ganz anders geworden.
Immer saurer und saurer wurde ihm das Regieren gemacht. Eines nach dem anderen seiner teuren Privilegien sah er sinken, schwinden und fallen, und sich selbst unfähig, sie noch aufrecht zu halten.
Verhaßt und verflucht von allen Einsichtigen war er immer gewesen und wußte es, aber solange er die große Masse und ihre Dummheit noch hinter sich hatte, war das zu ertragen gewesen und nichts im Vergleich mit der schweigenden Ablehnung, der er jetzt überall begegnete. Mied man ihn nicht schon wie einen Aussätzigen? –
Seine treuesten und ältesten Anhänger verließen ihn, und es war ihnen offenbar keine Ehre mehr, ihm zu dienen. Er hatte keine gehorsamen Untertanen mehr, und weder Bitten noch Drohungen brachten die Abtrünnigen zu ihm zurück. Seine Zahlungsschwierigkeiten wurden immer größer, und immer schwerer wurde es ihm gemacht, seinen Tribut einzutreiben. Dazu schien er jeden Kredit verloren zu haben, und nirgends genoß er mehr Achtung und Vertrauen.
Denn überall wurde jetzt, anstatt von ihm, von der Freiheit, dieser seiner schrecklichsten Feindin, geredet. Ihre Möglichkeiten und Vorzüge wurden erörtert; ihre Grenzen gezogen, und ein Ton der Gleichheit war unter den Menschen aufgekommen, die weit entfernt war von der, mit welcher er sie beglücken wollte.
Dieses neue, ruchlose Geschlecht glaubte an keine Autorität mehr, und seit er, der Staat, sich nicht mehr auf die seines alten Genossen stützen konnte, war es auch mit der seinen dahin. Es gab keinen Zweifel mehr – sie waren beide abgesetzt.
Vorüber, ach vorüber die herrlichen Zeiten der Majoritätsbeschlüsse und der Zwangsgesetze, des Militarismus und der uneingeschränkten Polizeigewalt, des Rassen- und Klassenhasses, der Bruderliebe und der frischen, fröhlichen Kriege, und selbst die erprobtesten Künste seiner Politik – wenn er sich auch nur als Vater und Berater aufdrängte – verfingen nicht mehr, da jeder durch sich selbst und nicht durch ihn glücklich werden wollte.
Man brauchte ihn nicht mehr! – Und das war es gerade, was ihn mit so ohnmächtiger Wut erfüllte, daß man ihn nicht einmal mehr bekämpfte, sondern ihn einfach beiseite schob und am Wege liegen ließ.
Und ihn obendrein noch auslachte! – Denn, wahrhaftig, man lachte ihn aus! – Man lachte bei seinen krampfhaften Versuchen, sich am Leben zu erhalten, man lachte und schien glücklich zu sein! –
Das aber war mehr, als er vertragen konnte: die Menschen glücklich – ohne ihn!
Da beschloß er zu sterben.
Eines Tages war er tot. Er war gar nicht eigentlich gestorben, sondern er war aufgelöst worden, zerfallen in sich, nicht mehr da ...
Kein Mensch weinte dem alten Sünder eine Träne nach, und er wäre bald vergessen gewesen, wenn man sich nicht noch zuweilen von ihm erzählt hätte – von den dunklen und schrecklichen Zeiten unter ihm, den unbegreiflichen: den Zeiten des Wahnes und der Vorurteile, der Knechtschaft und der Bevormundung, den Zeiten der Kriege und der Tyrannei, Zeiten, von denen man sich keinen rechten Begriff mehr machen konnte, heute, wo man in glücklicheren lebte; und schöneren, weil freieren ...
Auch der Weg zum Ziele war also gefunden.
Einen Blick nur noch auf dieses Ziel.
Aber war die Freiheit ein Ziel? – Konnte sie so genannt werden?
– Ein Ziel, das, erreicht, nun ein Ausruhen bedeutete für alle Zeiten?
Gewiß nicht. Denn sie war kein Ende des Kampfes. Sie war der freigewordene Kampfplatz.
Es würde kein Kampf der einen mehr gegen die andern sein, sondern der Kampf aller gegen alle, der friedliche, unblutige und – schöne Kampf des Lebens.
Der Kampf des Einzelnen um sein Leben. Und sein Sieg: der ewige Sieg der Vernunft an Stelle des Unterliegens im Kampf mit der Dummheit. –
So war die Freiheit kein absolut vollkommener Zustand, wie es einen solchen, wo Menschen zusammenlebten, überhaupt nie geben konnte.
Sie war kein fleckenloses Ideal. Ja, sie mochte den einen oder anderen Nachteil im Gefolge haben, den die Knechtschaft nicht hatte. Ernst Förster war gern bereit, es zuzugeben. Aber verglichen mit dieser Knechtschaft waren die Vorteile der Freiheit so große, so unvergleichlich große, daß eine Wahl nicht zweifelhaft sein konnte.
Sie war keine Lösung aller Fragen. Sie war einfach die beste Beantwortung der sozialen Frage, der die Beziehungen der Menschen untereinander betreffenden Frage.
Und sicherlich war sie kein Zustand, der, einmal erreicht, nun unentreißbarer Besitz geworden war, sondern ein Zustand, der von jedem Einzelnen immer von neuem erworben und verteidigt werden mußte, ein Zustand unausgesetzter Wachsamkeit gegen jeden Eingriff von außen.
– Ein Kampf, wie das Leben ein Kampf war; und der Siegerpreis in diesem Kampfe sie selbst.
Es gab Menschen, die, wie sie sagten, die Freiheit so fanatisch liebten, daß sie diese nur in absoluter Vollkommenheit besitzen wollten oder gar nicht; und die sagten: kann ich die Freiheit so, wie ich sie mir denke, nicht haben, will ich sie lieber gar nicht haben ...
Sehr gefährliche Freunde der Freiheit auch sie!
Denn nichts auf der Welt war absolut vollkommen, und jede absolute Forderung vom Übel.
Es gab keine absolute Freiheit in sozialem Sinne; es konnte keine geben.
Absolut frei bin ich, wenn ich mit mir allein bin; schon die Gegenwart eines Zweiten schränkt sie ein: ich unterlasse Dinge, die ich tun würde, wäre ich allein; und ich erwarte von ihm, daß er sie gleichermaßen unterläßt. Eine Grenze ist entstanden: die Grenze der gleichen Freiheit des anderen, an der meine absolute endet.
– Auch er, Ernst Förster, hatte, jung und ungeduldig, zu Höhen gewollt, die jenseits des Lebens lagen.
Hineingerissen in die große Bewegung, die der Befreiung der Arbeit galt, erkannte er dann ihren ersten Irrtum – aus dem grenzenlosen Jammer und dem ungeheuren Elend bestehender Verhältnisse hinein zu wollen in einen idealen Zustand; an Stelle einer trostlosen Wirklichkeit das Paradies der Vollkommenheit zu setzen – erkannte diesen Irrtum, zweifelte lange und war verzweifelt für eine kurze Zeit.
Dann war die Erkenntnis gekommen: daß es nicht galt, den Himmel auf die Erde zu zwingen, der in den Träumen der Toren nur lebte, sondern die Erde, diese Erde, der Freiheit zu erobern. Und es hatte ihn fortgedrängt von allen Richtungen und Parteien, von allen Massen- und Klassenbestrebungen, und mehr und mehr hin zu dem Einzelnen, bei dem alles Heil der Befreiung, das kommen konnte, allein lag – auf dem Boden einer harten Wirklichkeit das allein Mögliche, das einzig Erreichbare: eine gleiche Freiheit für Alle.
Je mehr er sie kennen lernte, diese Freiheit, je tiefer er in ihr Wesen eindrang und in ihre Gesetze, um so mehr hatte er sie lieben gelernt.
Aber sie war ihm weder zu einem Fetisch geworden, vor dem er kniete, noch zu einer Göttin, zu der er betete. Sie war ihm eine Freundin, eine gute und verläßliche, der er vertraute.
Sie war seiner Erkenntnis einfach der beste Zustand der menschlichen Gesellschaft, der möglich war. Fand er einen besseren, so würde er auch heute noch keinen Augenblick zögern, sie für diesen besseren aufzugeben.
Denn er war kein Fanatiker, auch kein Fanatiker der Freiheit. Immer und immer hatte ihn alles, was Fanatismus hieß, mit Unlust, mit Mitleid und oft mit einem geheimen Grauen erfüllt, das zum Abscheu werden konnte; und er sah in ihm den trübäugigen und gefährlichen Bruder jenes Absolutismus, dem er als der größten Gefahr auf dem Wege zu rechter Erkenntnis so oft begegnet war.
Der beste Zustand, der möglich war. Nicht mehr, nicht weniger.
Denn so vieles sie gab, alles würde die Freiheit nicht geben können; und so viele Wunden sie heilte, die die Menschen sich gegenseitig schlugen, ein Allheilmittel war sie nicht. Sie nahm die Last der Knechtschaft von unseren Schultern; Berge versetzte sie nicht.
Manches würde bleiben, was untrennbar war vom Leben: Krankheit und Altern und Tod; enttäuschte Hoffnungen und unerwiderte Neigung; und die letzte Unbefriedigung alles menschlichen Strebens.
Sie würden bleiben, diese natürlichen Leiden, wie die Leidenschaften nicht verschwinden würden und der Kampf mit ihnen.
Aber die Leiden, die wir uns selbst schufen in unnützer Grausamkeit und blinder Torheit, dies ungeheure Meer großer wie kleiner (und ausnahmslos unnötiger) Leiden, würde weiter und weiter zurückweichen müssen vor der langsamen Entwickelung zur Freiheit und endlich versanden.
Aber wann, wann endlich würde sie kommen, die Freiheit? – Bange Frage, die in so vielen Herzen zitterte, auf so viele Lippen sich drängte! – Unzufriedene und Verbitterte fragten sie ungeduldig, Enttäuschte und Verzweifelte, hier und überall ...
Und die Antwort war doch so schwer, fast unmöglich zu geben!
Geistige Aufklärung brauchte ihre Zeit, um wirken zu können. Jahrtausende hatten Vorurteile auf Vorurteile, Irrtümer auf Irrtümer in die Köpfe der Menschen gesät, sie verdummt und verstopft. Da mochte es vielleicht einem Jahrhundert erst gelingen, sie zu lüften und zu reinigen; und kaum mehr als ein halbes erst war vergangen, seit der erste Ansturm gegen das Bollwerk des Staates, den schlimmsten Feind der Aufklärung, unternommen war.
Oft, wenn er sah, wie weit die Menschen um ihn her, in allen Ländern, die er nun schon durchwandert, in ihrem Denken noch von dem Begriff wahrer Freiheit entfernt waren, wie unendlich weit alle die noch, für die es noch Unterschiede der Nationen, der Rassen, der Religionen, der Geschlechter bei ihren sozialen Forderungen gab: noch Deutsche, Engländer und Franzosen; noch Weiße und Schwarze; noch Christen und Juden; und noch Männer und Frauen statt einzig Individuen; und wie überall diese Forderungen und Bestrebungen dahin gingen, die Folgen von Ursachen zu bessern oder zu beseitigen, statt endlich diese Ursachen selbst zu ergründen, oft dann dachte er: nicht ein Jahrhundert, ein Jahrtausend kann es dauern, bis dieses stumpfe Denken sich aufrafft, diese blinden Augen sehend werden.
Wie er sie hassen gelernt, diese seichten Verallgemeinerungen, die überall die Menschen erst zusammenfaßten und dann einteilten, und überall Gleichartigkeit sahen, wo es nur Verschiedenheiten gab!
Ein Beispiel nur. Was hieß das: die Juden? – Er hatte unter den Juden die feinsten Köpfe und die zartfühlendsten Herzen (mit Freude gedachte er noch oft seiner Bekanntschaft von der Universität her) gefunden, und unter ihnen zugleich die dreisteste Unverschämtheit und schlimmste Unehrlichkeit – was konnten diese »Stammesgenossen« wohl noch miteinander gemeinsam haben, und was hieß das also: die Juden? – – nichts.
Langsam, unendlich langsam ging es vorwärts, und wie war das anders möglich, solange noch solche Allgemeinbegriffe die Gehirne verkleisterten und jedes ruhige Sehen und Urteilen unmöglich machten?
Einige, verhältnismäßig wenige erst waren ganz geklärt und erkannten, worauf es ankam; in anderen begann es zu dämmern, ohne daß sie schon klar sahen; in vielen gewiß war die bisherige Ordnung in Unordnung geraten und der Zweifel eingezogen; aber in den meisten – wie sah es noch in den meisten aus! – Nicht nur in den »breiten Massen«, sondern auch in der »geistigen Elite« war der Glaube an die Notwendigkeit des Staates als eines unvermeidlichen Übels, das ertragen werden mußte, weil es ohne ihn keine Ordnung, keine Ruhe und keinen Frieden geben könne, ganz unerschüttert; und noch immer wurden die, welche eine Ordnung ohne den Staat als die einzig mögliche zu verteidigen wagten, als halb Irrsinnige, und wenn das nicht, was schlimmer war, als Phantasten und Träumer angesehen und hingestellt, während sie es doch waren, die in dem Chaos, dem politischen und wirtschaftlichen ringsumher, allein als Erste den Boden der Wirklichkeit erreicht hatten.
Ein Jahrhundert – vielleicht; ein anderes – möglicherweise. Aber ein Trost blieb: was früher lange gedauert hatte, ging heute schnell. An die Stelle der Postkutsche war der Dampf getreten, und ein neues Schiff eroberte die Luft. Stärker und stärker wurde die Kluft zwischen Generation und Generation. Der Vater hatte dem Großvater näher gestanden, als heute der Sohn dem Vater stand, und wer konnte sagen, wie sehr der Boden, auf dem die Staaten ihre Zwingburgen errichtet hatten, bereits unterwühlt war? – Wer, was sie eines Tages ins Wanken und dann zu einem schnellen Fall bringen konnte? –
Denn eines war sicher: war der Glaube an den Staat einmal erschüttert, zeigten sich die ersten Segnungen wahrer Freiheit, dann brachten auch die verzweifeltesten Anstrengungen der Gewalt ihm nicht mehr in seine frühere Machtstellung zurück, und der Fortschritt zu dieser Freiheit war ein unaufhaltsamer und voraussichtlich ein rapider.
Bis dahin allerdings würde wohl noch manche Staatsidee (und die utopischen Versuche) ihr Schicksal erleiden müssen: zu entstehen und zu vergehen; und wenn schon alle dynastischen und absoluten Formen dahingeschwunden waren, würden republikanische und demokratische auf sozialistischer Basis ihre Unmöglichkeit erst erweisen, würde das ganze wirtschaftliche und geistige Elend sozialistischer Gleichheitsbestrebungen bis auf den letzten Tropfen durchgekostet werden müssen, ehe die Anarchie als einzig mögliche und einzig noch verbleibende Form der Gesellschaft als letzte und rettende Hilfe begrüßt wurde.
Wann? – Frage, schwer, fast unmöglich, genau zu beantworten.
Je eher aber, desto besser.
Die unendliche Trägheit und die unendliche Feigheit der meisten Menschen, ihre stumpfe Ergebenheit und ihre dumpfe Glaubensseligkeit waren schuld daran.
Der Arbeiter verbrachte lieber sein ganzes Leben im Elend, als daß er auch nur eine Stunde über die Gründe dieses seines Elends wirklich nachgedacht hätte. Eltern ließen sich lieber ihre Kinder entreißen, als daß sie ihre Bequemlichkeit einem Widerstände gegen die Räuber oder einer Auseinandersetzung mit ihnen geopfert hätten. Statt des Mutes zur Selbständigkeit in den einfachsten und selbstverständlichsten Dingen herrschte überall nur die Besorgnis, nicht aufzufallen, nicht anzustoßen, sich nicht zu unterscheiden: in Sitte, Kleidung, in den tausend Gewohnheiten des täglichen Lebens; und überall eine Angst vor dem eigenen Denken und Urteilen, die ebenso groß war wie der blinde Glaube an die Autorität.
Und doch konnte einzig das eigene Denken dem Menschen helfen.
Große und tiefgehende Umwälzungen hatten sich in seinen Anschauungen zu vollziehen. Eine alte Weltanschauung sollte durch eine neue ersetzt werden. Festgewurzelte Begriffe mußten ausgerodet; ererbte und liebgewonnene Anschauungen preisgegeben; treulich gehegte Vorurteile zerstört werden.
Ungeduldige verzweifelten.
Aber so wenig es möglich war, einen tief eingeschlagenen Nagel mit den bloßen Fingern aus einem Balken zu ziehen, so unmöglich war es, die in den Köpfen eingeschmiedete Idee der Autorität von heute auf morgen zu entfernen. Nur die Zeit konnte sie lockern; nur die Zeit sie endlich brechen.
Man sagte, daß sich die Menschen erst verstehen müßten. »Alles verstehen, heißt alles verzeihen«. Nun, es war gewiß besser, wenn sich die Menschen verstanden, als wenn sie sich nicht verstanden, aber darauf warten, daß sie sich verstanden, hieß ewig warten. Denn wer verstand einen andern je ganz? – Wer auch nur sich selbst? – Es kam auch in erster Linie gar nicht darauf an, daß sich die Menschen verstanden, sondern daß sie sich in Ruhe ließen, und zu verzeihen hatten sie nichts, solange sie sich nicht zu nahe traten. Ihr Verzeihen schmeckte daher nur allzusehr nach Überheblichkeit und Pharisäertum.
– Im Lichte einer gemeinsamen Freiheit mußten sich die Begriffe langsam modeln.
Sittlich sollte nicht der Mensch heißen, der die Moralgesetze seiner Umgebung sklavisch befolgte, sondern der die Freiheit seiner Nebenmenschen achtete gleich der eigenen; unsittlich der, der sie willkürlich und fortgesetzt mit Füßen trat. Ehrlich und anständig, wer seine eingegangenen Verpflichtungen erfüllte; und vornehm nicht, wer sich im Besitz großer Namen und Titel und Orden befand, sondern wer seine Blicke zu erheben vermochte über den kleinen Streit des Tages.
Warum ging es so langsam?
Oft dachte Ernst Förster: Wenn alle die, welche behaupteten, »die ganze Freiheit« (jede, bis auf die eine, vor der ihr Vorurteil haltmachte) zu wollen, auch noch diese eine, die letzte, die ihnen unbequem, gefährlich, unmöglich erschien, wirklich wollten; wenn alle, welche ewig die alte Phrase: »Das Volk ist noch nicht reif ...« wiederkäuten, dieses Volk nur endlich reifen lassen wollten und bedenken, daß ein Kind nicht gehen lernen kann, dem man die Füße bindet; wenn alle, die sagten: Es geht nicht! – sagen würden: Es geht! – ; und wenn alle, die an Freiheit als ein endliches Ziel der Menschheitsentwickelung zwar zu glauben vorgaben, aber in dem Mittel zu diesem Ziel nur die Gewalt zu sehen vermochten, wenn alle diese erkennen wollten, daß Freiheit nur Zweck und Mittel zugleich sein konnte, oft dachte er, daß wir sie morgen, nein, heute hätten – die Freiheit, nach der alle riefen!
Wann? – Unbeantwortbare Frage.
Fest stand nur, daß die Antwort auf sie nie von den Massen kommen konnte, um die sich alle, die die Gewalt befürworteten, so laut und so verzweifelt bewarben, weil sie, jene Massen, ihnen allein diese Gewalt verschaffen konnten; daß sie nie von diesen betörten, hin- und herschwankenden, von ihren Führern mißleiteten und in ihrer Liebe wie in ihrem Haß gleich blinden Massen ohne Urteil, ohne Überlegenheit und Einsicht, kommen konnte, sondern einzig und allein von den Einzelnen.
Diese Einzelnen aber würden kommen; und eines Tages, stark genug, die Antwort geben. Kommen von überall her: aus der Intelligenz der Arbeiterschaft, wie aus der geistigen Aristokratie und aus den Kreisen des Bürgertums, die sich wirklicher Aufklärung nicht länger verschlossen. Je größer ihre Zahl wurde, um so näher rückte der Tag der endlichen Befreiung.
Sie waren heute bereits überall – der Ältere, der es noch vermochte, sich von seinen Vorurteilen zu befreien, reichte dem Jüngeren, der sich in Trotz und Ungestüm gegen diese Vorurteile auflehnte, die Hand; überall begannen sich die Brücken zwischen Ländern und Völkern, Rassen und Klassen, über vermorschende Grenzen hin zu spannen, und auf ihnen kamen und gingen die befreienden Gedanken, um sich zu finden und sich nicht mehr zu lassen. So würden sie in den Tagen des Handelns auch überall zur Stelle sein: wenn in den Ländern, wo heute schon die Idee der persönlichen Freiheit am höchsten stand, in England und den Staaten von Amerika, diese Idee sich zur Tat wandeln würde, würden auch aus ihnen, in welchen diese Idee heute noch am tiefsten stand, einem Preußen, einem Rußland, Stimmen über Stimmen antworten und antworten.
Wer vermochte mit Sicherheit zu sagen, wie viele Anarchisten heute die Erde nicht schon trug? –
Die es waren, die wußten, weshalb sie es waren, und die sich mit Recht daher so nannten, waren gewiß zu zählen.
Aber die, die es waren, ohne es zu wissen, wer zählte sie? Wer konnte sie zählen?
Denn alle, die nichts vom Leben begehrten, als ehrlich ihre Arbeit zu tun und sich des Ertrages ihrer Arbeit zu erfreuen; alle, die in Wirklichkeit nicht daran dachten, ihre Mitmenschen bestehlen und berauben zu wollen und die dennoch keine Ahnung hatten, daß sie es taten und wie sie es taten; alle, die in Ruhe leben und andere in Ruhe lassen wollten, um selbst in Ruhe gelassen zu werden, waren Anarchisten, mochten sie sich nun so nennen oder nicht. Auf die Massen daher, ihre Gunst und ihre Mißgunst, verzichten und ihr Urteil verachten, aber diese Einzelnen suchen, überall und unermüdet, das war die Aufgabe; waren diese Einzelnen gefunden, war die Aufgabe gelöst und das Ziel erreicht – der Weg zur Freiheit frei über die Leiche des Staates, dieses Staates, der sich überall schon so verhaßt gemacht hatte, daß es schier unbegreiflich erschien, wie er noch geduldet werden und noch weiterbestehen konnte.
Aber inzwischen? – Was läßt sich inzwischen tun gegenüber dieser so festgegründeten, nach allen Richtungen hin ausgebauten und scheinbar so unbezwinglichen Gewalt des Staates?
Viel. – Unendlich viel.
Vor allem dies: sich selbst dieser Gewalt entziehen; nicht mitmachen; beiseitestehen.
Denn nicht nur auf das, was ein Mensch tut, kommt es an, sondern oft noch weit mehr auf das, was er unterläßt.
Sich nicht an die Krippe des Staates drängen, als sei sie die einzige Futterstelle; keine »Ehre« darin suchen, einer so verächtlichen Institution, wie er, der Staat, es ist, zu dienen, sondern es als eine Schande betrachten, seine Kraft und Hilfe in den Dienst einer so schlechten Sache zu stellen; auf jede solche, nur mit der eigenen Entwürdigung erkaufte, sogenannte »gesicherte Lebensstellung« verzichten, wie auf alle diese lächerlichen Titel, Orden und Auszeichnungen; vor der Obrigkeit und ihren Organen nicht bei jeder Gelegenheit kriechen und betteln, um sie so in ihrem Hochmutsdünkel auch noch zu bestärken, sondern ihnen entgegentreten, wie anderen Menschen auch, und von ihnen verlangen, anständig behandelt zu werden; nicht in der Ehe, sondern in freien Bündnissen, in gesonderten Haushaltungen und daher unangreifbar gegen jede freche Einmischung von außen, sein Glück suchen und finden; seine Kinder selbst unterrichten oder von selbstgewählten und selbstbezahlten Kräften unterrichten lassen, statt sie fremden Händen auszuliefern, und ihnen von früh auf zeigen, in welcher Welt sie lebten und in welcher sie leben sollten; dem Staat und ebenso der Gemeinde ihre Steuern nicht hintragen, sondern sie sich holen lassen und erst im äußersten Notfall (und dann auch noch unter immer wiederholtem Protest) bezahlen; die Existenz dieses Staates und dieser Gemeinden negieren und sie nur in Anspruch nehmen, wenn das eigene Interesse es gebieterisch erforderte – mit einem Wort: dem Angreifer und seinen Helfershelfern bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Leben so sauer wie nur möglich machen, ihn ärgern, ermüden, enervieren durch Sabotage und passive Resistenz, wo es nur ging – so durch das eigene Leben ein stilles, und eindringliches Beispiel geben, daß es ging, wenn man nur wollte; das und noch manches andere konnte jeder tun, und konnte es schon heute!
Aber der Arbeiter, wurde er gefragt, was konnte der Arbeiter tun, der keine Steuern zahlte, weil er kein Einkommen hatte, das der Besteuerung wert gewesen wäre, und der daher auch keine Steuern verweigern konnte?
Ebenfalls viel.
Alles, was Politik hieß, perhorreszieren; keine politische Partei durch seinen Beitritt stärken; keiner wie immer gearteten Führerschaft Gefolge leisten; sich jeder Wahl enthalten und unter Protest gegen den ganzen Wahlschwindel; die eigene Lage und das, worauf es allein ankam, endlich begreifen lernen – begreifen, daß es besser war, statt darüber zu reden, ob statt zehn nur acht Stunden gearbeitet werden solle, einen Zustand zu erkennen, in dem nur zwei oder drei Stunden gearbeitet zu werden brauchte, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen – mit einem Wort: begreifen, daß die soziale Frage keine politische, sondern eine soziale Frage war und daß sie deshalb so hieß; und daß er, der Arbeiter, eine Waffe besaß, die an der rechten Stelle und zur rechten Zeit, überlegen und klug angewandt, ihn unbesiegbar machte – den Streik.
Dies alles und vieles andere konnte getan werden, wenn es nur getan werden wollte: die Bücher und Flugschriften der Literatur dieser Weltanschauung des individualistischen Anarchismus – (und welche Weltanschauung hatte in den drei Kultursprachen, der französischen, der englischen, der deutschen eine solche Literatur!) – diese in die Ecke gedrückte, überall totgeschwiegene, verfemte Literatur, konnte verbreitet werden, unablässig und überallhin, wo es nur ging; wer reden konnte, mochte reden; wer schreiben, schreiben; und wer nicht selbst bauen konnte, sollte wenigstens helfen, Steine zum Bau herbeizutragen, um so die Mittel zu schaffen, ihn zu vollenden. Und der Einzelne bei allem immer neue Kraft aus dem Gedanken schöpfen, daß die Sache der Freiheit seine Freiheit war und die eigene Befreiung der Lohn für alle Mühen. Würde so, dort wie hier, gehandelt werden, – wahrlich! – der Tag konnte nicht mehr fern sein, wo das soziale Problem seiner tatsächlichen Lösung entgegenging, statt, wie heute, nur erst als Forderung auf dem Papier zu stehen.
Denn wenn es eine Utopie gab, so war es die Utopie der Gewalt. »Utopisten« schalten die Feinde der Freiheit deren Freunde.
Aber nicht die Freiheit, sondern die Gewalt war eine Utopie – ein auf die Dauer unhaltbarer und unmöglicher Zustand der menschlichen Gesellschaft.
Die paar Jahrtausende der Menschheitsgeschichte, die sich übersehen ließen, von ihren barbarischen Urzuständen an bis herauf zu den, leider in vielem noch ebenso barbarischen Zuständen unserer Tage – was waren sie anders, als ein unausgesetzter Kampf um die Gewalt? – als ein ewiger Wechsel dieser Gewalt zu immer neuen Formen ohne die Möglichkeit, sich in einer von ihnen ständig zu behaupten – was waren sie anders als ein vergeblicher Kampf? –
Was waren sie anders, als ein Kampf der Freiheit eben gegen diese Gewalt, der Kampf der einen um ihre Freiheit gegen die Unterdrückungsversuche der anderen? –
Und was waren sie anders, als ein steter, wenn auch langsamer Sieg der Freiheit und ein immer neues Unterliegen der Gewalt? –
Denn die Freiheit war die Siegerin und mußte es sein, weil sie der natürliche Zustand der Gesellschaft war, der einzige, der endlich nach den endlosen Kämpfen von Dauer sein würde.
Die Gewalt war die Utopie, und alle Versuche, ihren Zustand zu einem dauernden zu machen, ein immer neuer Fehlschlag der Feinde der Freiheit, und diese ihre Feinde, nicht ihre Freunde, in Wahrheit – Utopisten!
Jahrtausendelang von dem einen an dem anderen Teil der Menschen verübtes Unrecht ließ sich nicht von heute auf morgen auslöschen, als sei es nicht gewesen.
Furchtbare Kämpfe würden noch ausgefochten werden müssen. Eine unterdrückte Klasse, ein vierter Stand, begehrte aus der Nacht herauf zum Licht. Um die Herrschaft dieses Lichtes zu erringen, würden die bislang Entrechteten, blind und töricht, nach demselben Mittel greifen, durch das sie bisher dort unten gehalten waren: nach der Gewalt, und vor allem würden sie an die Stelle der bisherigen Diktaturen eine neue setzen wollen, ihre eigene, die »Diktatur des Proletariats«.
Rache würden sie zunächst einmal nehmen wollen an ihren gehaßten Feinden und die Erde unter ihrem Schlachtruf: Nieder mit dem Kapital! – Nieder mit der Bourgeoisie! – erzittern lassen.
Verständlich von menschlichem Standpunkt aus, aber so unheilvoll, wie sinn- und zwecklos. Nichts als ein neues, wirtschaftliches Chaos würde die Folge dieser Expropriationen, dieser Sozialisierungen und Kommunalisierungen, dieses roten Terrors sein, und (wenn auch nur zeitweilig) eine Herrschaft erstehen, furchtbarer und schreckenvoller in ihren Wirkungen, als es je eine gewesen, um, während die Freiheit ihr Haupt verhüllte, in neuen Strömen von Blut und Tinte eine gemarterte Menschheit zu ersticken.
Mußte es wirklich bis zu diesem Äußersten und Letzten kommen? – der Leidensweg der Menschheit bis zu seiner letzten Station durchgangen werden? ...
Es lag einzig und allein an diesen Menschen selbst: ob sie sich in letzter Stunde noch für den einzigen Weg entscheiden würden, der sie vor dem eigenen Untergang bewahren konnte; oder ob sie weiter versuchen würden, einen Orkan mit Gewalt zu beschwören, dessen Ausbruch nur eine Macht auf Erden verhindern konnte – die Macht der Freiheit.
Taten sie es nicht, erkannten sie nicht den Weg, der sie allein noch herausführen konnte aus dem zusammenstürzenden Hause, dann geschah das Unabwendbare: rollte die blutige Welle vom Osten heran über einen in seinen Grundfesten erschütterten Westen, begrub seine Kultur und ersäufte den letzten Schrei nach Freiheit auf unübersehbare Zeit! ...
Dann, wenn aus diesem Kampfe die Gewalt unbezähmbarer und nicht mehr aufzuhaltender Massen als Siegerin hervorgehen sollte und die Allmacht des Staates in den von fanatisierten Gehirnen ausgeklügelten Systemen eines unmöglichen Kommunismus auf der ganzen Linie obsiegte; wenn keiner sich mehr um seine Angelegenheiten kümmern durfte, oder vielmehr: sich nicht zu kümmern brauchte, da es keine »privaten« Angelegenheiten mehr gab, sondern nur noch »öffentliche«;
wenn alle zu besoldeten Angestellten des Staates geworden waren, es also nur noch Beamte gab und das ganze Land eine große Kaserne geworden war;
wenn es nur noch ein Hospital, eine Schule, eine Kirche, eine Familie mehr gab und der ganze Staat ein großes Narrenhaus geworden war, in dem die fixeste Idee die Anwartschaft auf die größte Anerkennung hatte;
wenn die »Aufteilung« aller Vermögen und des Grundbesitzes »zu allgemeiner Zufriedenheit« stattgefunden hatte und keiner irgendetwas tatsächlich sein eigen nennen konnte – es nur noch ein Eigentum gab, an dem alle teilhatten; wenn jeder die ihm festgesetzte Zeit arbeitete, nicht mehr und nicht weniger, und nur, was ihm vorgeschrieben war; wenn Handel und Wandel, die Fabriken und die Bergwerke, die Banken und die Kaufhäuser, alle Transportmittel zu Wasser, zu Lande und in der Luft und der gesamte Verkehr, kurz, die ganze Industrie und alle ihre Betriebe unter Zwangswirtschaft gestellt waren;
wenn das Kinderzeugen, das doch immerhin bisher unter Umständen noch ein Vergnügen gewesen war, der staatlichen Erlaubnis bedurfte und an Stelle der freien Auslese nur noch Zwangsehen vorgeschrieben waren, in denen die Zahl der in die Welt zu setzenden Kinder gemäß der Statistik des für die Allgemeinheit notwendigen Bevölkerungszuwachses normiert war;
wenn Bücher erst geschrieben und veröffentlicht werden durften, nachdem ihr Entwurf eingereicht und dieser »gebilligt« war, und selbst die Dichter nicht mehr ohne vorherige Erlaubnis singen durften (es seien denn Hymnen auf den Staat);
wenn alle Wissenschaft der Kontrolle von »anerkannten Autoritäten« unterstellt und genau vorgeschrieben war, was gelehrt, gelernt, gedacht und erfunden werden durfte;
wenn die Kunst nur noch in Akademien unter der Aufsicht staatlich angestellter Professoren ausgeübt wurde –
wenn so der Staat, der Idealstaat, der Volksstaat, für eine, und sei es noch so kurze Zeit, unmögliche Wirklichkeit geworden, wenn alles, aber auch alles verstaatlicht oder kommunalisiert war;
wenn die gegenseitige Bevormundung ihren Höhepunkt erreicht haben würde – jedes Wort, jeder Blick, jeder Schritt und Tritt beobachtet, bewacht, belauert und kontrolliert wurde;
wenn alle Menschen gleich geworden waren, gleich im Denken und Fühlen, Trachten und Streben, Reden und Handeln, so gleich, daß nur eine Numerierung noch sie voneinander zu unterscheiden vermochte;
wenn die Eintönigkeit und Langeweile dieses endlich erreichten Paradieses auf Erden auch den Stumpfsten zur Verzweiflung getrieben haben würde (während alle anderen längst diese Hölle des Glücks freiwillig verlassen oder sich aufgehängt hatten);
wenn – – –
Aber hier wurde er unterbrochen.
Nein, so weit würde es nicht kommen. So weit gehen wir denn doch nicht mit! –
Als ob es dann noch darauf ankäme, wie weit die dann noch mitwollten, die nun mitgerissen wurden!
Ja, ganz so weit würde es wohl nicht kommen. Aber an dem guten Willen der Gleichheitsfanatiker, die den Stein herabgewälzt und ins Rollen gebracht, lag es sicherlich nicht, wenn ein solcher oder ähnlicher Idealzustand eines sozialistischen Staatswesens, einer Menschheitskommune, eines dritten Reiches nicht erreicht und furchtbare Wirklichkeit wurde, denn jede Gewalt ging immer so weit, wie sie eben gehen konnte, und schreckte vor keiner noch so absurden Zwangsmaßregel zurück, wenn es ihr nur gelang, ihre »Idee« durchzusetzen.
– Was uns von diesem Äußersten bewahrte und allein bewahren würde, war das Maß an Freiheit, das wir uns in dem langen und schweren Kampf der Kultur in diesen letzten Jahrhunderten, nach und nach, aber unentwindbar erworben hatten. Und daß dieser Weg der Kultur aufwärts ging, »in Spiralen« zwar, aber aufwärts, das war unsere beste und letzte Hoffnung.
Aber auch wenn sich die Menschen besinnen würden – und was blieb ihnen schließlich übrig, als sich auf sich selbst zu besinnen? – auch wenn sie sich langsam, und so unbegreiflich widerwillig der Freiheit zugewandt haben und deren stille und doch so zwingende Segnungen offensichtlich eingesetzt haben würden:
wenn der letzte große Kampf, der Kampf zwischen Staat und Individuum, ausgefochten war und mit dem Siege des letzteren über seinen mächtigen Feind geendet hatte;
wenn die gesunde Vernunft den Worten wieder zu dem ihnen innewohnenden Sinn verholfen haben und gegenseitiges Verständnis aus der wahren Erkenntnis der Begriffe wieder ermöglicht sein würde;
wenn die Menschen sich endlich daran gewöhnt haben würden, ihre eigensten Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, statt mit ihnen andere, die sie nichts angingen, zu belästigen, und sich so gezwungen sahen, die Verantwortung für diese ihre Handlungen selbst zu tragen, statt sie jenen anderen aufzubürden;
wenn nach und nach der furchtbare Druck des Staates von ihnen wich und sie sahen, wie schön, reich, sorgenlos und glücklich das Leben sein konnte und wie arm, elend und entwürdigend es gewesen war;
wenn der mißhandelte Begriff der Gleichheit wieder einen Sinn erhalten hatte, den einzigen, den er haben konnte – den der gleichen Freiheit aller;
wenn es keine andere Einkommensquelle mehr gab, als die der Arbeit, und es jede Freiheit gab, außer einer nicht: der auf Kosten anderer;
wenn mehr und mehr erkannt wurde, daß nicht der Wert, sondern allein die Kosten das gerechte Maß des Preises bilden sollten und daß die, welche dieses Prinzip nicht anerkannten, mehr und mehr als Unehrliche und Betrüger gebrandmarkt wurden;
wenn die Nachfrage nach Arbeit das Angebot nach ihr übersteigen und somit der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer nachlaufen würde, statt wie heute der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber, so daß der Arbeiter den Lohn seiner Arbeit selbst zu bestimmen in der Lage war und ihn natürlich nicht unter ihrem vollen Ertrage festsetzen würde;
wenn mit dem Fortfall aller künstlichen Grenzen und Schranken und der Erschließung der natürlichen Reichtümer der Länder deren unerschöpfliche Schätze in ungehindertem und unbelastetem Austausch einander zuströmten;
wenn eine schrankenlose Konkurrenz auf allen Gebieten fortgesetzt die besten Waren zum billigsten Preise auf den Markt warf;
wenn Handel und Wandel blühen, der Austausch einen ungeahnten Aufschwung nehmen, der Unternehmungsgeist beflügelt sein würde;
wenn die Höhlen der Armut und die Schlupfwinkel der Verbrechen allmählich gesunden Eigenheimen auf eigener Scholle weichen mußten;
wenn so der Wohlstand sich langsam, aber stetig heben, die Volksgesundheit sich bessern und die Sterblichkeit sich verringern würde;
wenn ein von Lasten und Abgaben, Steuern und Tributen hundertfacher Art bis zum Ersticken belastetes Volk endlich aufatmen durfte;
wenn jeder nur die Schulden hatte, die er selbst machte, und nicht mehr die zu bezahlen gezwungen war, die andere für ihn machten, und jeder daher über sein Einkommen uneingeschränkt disponieren konnte;
wenn die Menschen, ohne diese ständige Furcht vor Kriegen, Seuchen und wirtschaftlichen Krisen leben durften, selbst ihre eigene Freiheit bewachend und eifersüchtig gegen jeden Eingriff in die endlich als ihr höchstes Gut erkannte;
wenn nicht mehr privilegiertes, sondern freies Geld, statt sich zurückzuhalten, sich überall, gleich jeder anderen Ware anbot und keinem, der wirklich arbeiten wollte, Kredit verweigert wurde;
wenn die Möglichkeit, selbst Maß und Grenze seiner Arbeit zu bestimmen, dem einzelnen Zeit und Muße ließ für Liebhabereien und Neigungen, und so eine gesunde und vernünftige Lebensführung garantierte;
wenn alle Kronen und Szepter, Talare und Rüstungen, Uniformen und Orden nur in den Museen der Vergangenheit noch moderten, um dort als kindische Albernheiten überwundener Zeiten bestaunt und verlacht zu werden;
wenn als größte Beleidigung die Frage: »Was geht dich das an ?« – und als stärkste aller Vermahnungen die: »Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten« gelten würde;
wenn man sich langsam daran gewöhnt haben würde, endlich als Mensch unter gleichberechtigten und selbstbewußten Menschen zu leben, statt unter anmaßenden, gewalttätigen und eingebildeten Beamten einerseits, und autoritätsseligen, verkümmerten und eingeschüchterten »Bürgern« andererseits, unter lauter fleißigen Menschen, statt unter Nichtstuern und Laffen hier, und versklavten Arbeitstieren dort – unter freien Menschen, die sich nichts mehr sagen zu lassen brauchten, aber sich auch nichts mehr herausnehmen durften;
wenn der Kapitalismus, der die Arbeit in der Form des Zinses, und der Kommunismus, der sie »zum Besten aller« bestahl, als das erkannt waren, was sie in Wirklichkeit waren – als Räuber, und so die Frage von Mein und Dein ihrer Klärung um ein gutes Stück näher gerückt war;
wenn die Menschen es endlich satt bekommen hatten, sich in Form von Steuern berauben zu lassen, weder durch die Hand der brutalen Gewalt, noch durch die, welche sich bei brüderlicher Umarmung in ihre Taschen stahl;
wenn die Möglichkeit eines jederzeit freien Berufswechsels, die Aussicht auf eine abwechselungsreiche Tätigkeit, die Arbeitslust hob;
wenn es wieder eine Lust war zu leben: für den Arbeiter, weil er sah, wie sein Kredit sich hob und seine Arbeit sich voll bezahlt machte; für den Kaufmann, weil die Geschäfte florierten; für den Unternehmer, weil sich seiner Initiative alte wie neue Wege erschlossen; und weil allen ihre Arbeit ermöglichte, den Grund zu eigenem Vermögen und damit zu wirtschaftlicher und politischer Unabhängigkeit zu legen;
wenn der Wettbewerb im ganzen Verkehrswesen das Reisen wieder zu einem Vergnügen machte, und das Publikum, statt sich von Eisenbahn und Post, alles, auch das Unmöglichste bieten lassen zu müssen, wieder seine Wünsche äußern durfte, wie deren Erfüllung durchzusetzen imstande war, und der Vergleich sodann ergeben würde, welch gradezu vorsintflutliche Institute beide, Post wie Eisenbahn, unter dem staatlichen Regime und seinen Privilegien gewesen waren;
wenn Gerichte, falls sie sich noch als notwendig erweisen sollten, keine Strafgerichte mehr, sondern nur noch Schiedsgerichte sein würden, und Schadloshaltung das alleinige Prinzip der Strafverfolgung, und an die Stelle ganzer Bibliotheken voll verschimmelter Gesetze das eine, für jeden faßliche getreten war, das oberste, überall und allein gültige: »Achte die Freiheit deines Nächsten, wenn du willst, daß die deine geachtet werde«;
wenn mit zunehmendem Wohlstand das allgemeine Niveau der Bildung sich hob, das Interesse an Kunst und Wissenschaft sich verallgemeinerte und die Liebe zum Schönen nicht nur bei einzelnen, wenigen, sondern – wenn auch nicht bei der Masse – so doch bei den vielen eine Stätte fand;
wenn die Aufhebung jeder geistigen Bevormundung die Kritik entfesselte und es keinen Übelstand mehr gab, der – durch schuldige und schuldbewußte Autoritäten in dieser Kritik unterdrückt und gedeckt – sich der öffentlichen Beurteilung entziehen konnte, sondern vielmehr sofort an den Pranger gestellt wurde; wenn diese selbe Kritik dafür aber gelernt haben würde, an der Schwelle des Hauses haltzumachen und sich aufs strengste jeder Einmischung in private Angelegenheiten zu enthalten, wollte sie nicht eine Entrüstung sondergleichen überall entfachen;
wenn die Geheimsprache, mit der sich die Regierenden, die Diplomaten und die Banken, die Ärzte und die Apotheker wie mit einem Schutzwall umgaben, dem gesunden Verständnis erschlossen war;
wenn nach dem Fortfall der sogenannten Autorenrechte der dann freie Nachdruck der geistigen Produktion eine ungeheure Verbreitung sichern, und nach dem Fall der Patentmonopole der Erfindergeist nicht gelähmt, sondern im Gegenteil beflügelt werden würde;
wenn sich die Menschen überzeugten, um wieviel reiner und schöner die freien Bündnisse der Liebe waren als die dumpfen und engen Betten der Ehe, und wieviel schöner und gesünder die ihnen entsprossenen Kinder, und wie die Freiheit der Liebe der beste Schutz war gegen Verführung, Unsittlichkeit und sexuelle Erkrankungen;
wenn die privaten Schulen in ihren Resultaten die staatlichen weit hinter sich gelassen haben und aus ihnen freie, selbständige und aufrechte Menschen hervorgehen würden, statt verbildete, unfrohe, in ihrem geistigen Wachstum gehinderte und verbogene Staatskrüppel; wenn sich die Universitäten in Wahrheit zu freien Hochschulen gewandelt hatten, statt fälschlich nur den Namen solcher zu tragen; wenn diese und zahllose andere Vorteile der Freiheit greifbar beglückende und nicht mehr leugbare Wirklichkeit geworden waren, weil es keine Macht mehr gab, die natürliche Entwicklung zu ihnen zu hindern, zu unterbinden und zu stören;
wenn alles dies gekommen war, »wie von selbst«, gegen den Willen der Feinde der Freiheit und über sie hinweg, als die natürliche Folge des Sturzes dieser Macht: des Staates –
gewiß: selbst dann würde es immer noch Unbelehrbare geben, deren Vorurteile sich hartnäckig jeder Erkenntnis verschlossen, sogar der der Wirklichkeit, auch dann noch immer solche und neue Feinde der Freiheit nicht bekehrt und weiter am Werke sein, ihr zu schaden, aber in Ohnmacht am zwecklosen Werk, bis auch sie endlich verstummen mußten, weil niemand mehr auf sie hörte und alle sie verlachten! ...
Ernst Förster lebte – sah, prüfte, las und dachte, alles in dem Lichte der errungenen Freiheit, und besprach das Beste mit seinem Freunde.
Mehr und mehr begannen für ihn die Menschen in zwei Lager zu zerfallen: in die, welche selbst in Frieden leben und andere in Frieden leben lassen wollten, ohne sich, sei es direkt oder indirekt, an ihrer Vergewaltigung in irgendeiner Form oder zu irgendeinem Zweck zu beteiligen – in Freunde der Freiheit, also in Anarchisten (mochten sie sich noch so sehr dagegen wehren, so bezeichnet zu werden); und in die, welche versteckt oder offen, mit Hilfe irgendeiner Gewalt, mochte sich diese Gewalt nun Staat oder sonstwie nennen, andere ihren Zwecken dienstbar zu machen suchten – Feinde der Freiheit daher in jedem Falle und niemals Anarchisten (mochten sich einige unter ihnen auch so nennen).
Mit einem Wort, in anständige Menschen und in unanständige: in Menschen, die die Verträge hielten, die sie geschlossen hatten und alle anderen Verträge als unberechtigt ablehnten; und in Menschen, die anderen ihre Verträge, mit Hilfe einer Majorität und in Form von Gesetzen, aufzwangen und diese Verträge noch dazu »ihr Recht« nannten.
So sah er jetzt die Menschen.
Er liebte die, welche ihr eigenes Leben lebten und ihre Arbeit taten, ohne sich viel um die anderen und ihr Urteil zu kümmern, die einfachen, starken Naturen, deren Kraft nicht darin beruhte, daß sie auf den Tisch hieben und unausgesetzt nach Gewalt riefen, sondern in dem stillen und unaufdringlichen Bewußtsein ihres eigenen Wertes ihren selbsterkannten Weg gingen; er liebte die innere Höflichkeit wirklich guter Manieren in gegenseitigem Verkehr, die keine äußere und leere Form war, sondern Takt und Selbstzucht; er liebte die Gespräche, die nicht bei jedem dritten Wort in Fragen plumper Neugier und Vertraulichkeit ausarteten, sondern diktiert waren von der Achtung vor dem Eigenleben und der Überzeugung des anderen – er liebte diese Menschen und – fand sie so selten!
Und er haßte die Menschen, die in unermüdlicher Geschäftigkeit ihr Leben damit verbrachten, für andere »zu sorgen«, für andere, die ihrer Sorge gar nicht bedurften und sie nicht wollten, und die sich dabei so unendlich wichtig vorkamen; die nichts anderes taten, als sich vom Morgen bis zum Abend um die Angelegenheiten ihrer Mitmenschen zu kümmern, die sie nichts angingen; die unausgesetzt mit Forderungen herumliefen, idealen, ethischen und moralischen, oft aber auch sehr materiellen, die sie auf jede Weise ihren Opfern aufzureden, und, wenn das nicht ging, aufzuzwingen suchten; die die, welche sie »ihre Nächsten« nannten, unablässig erziehen, bessern und veredeln wollten, aber aufschrien, sobald es die Verhältnisse wirklich von Grund aus zu ändern und umzustürzen galt; die ohne Aufhören redeten und schrieben und nie Zeit fanden, zu denken – er haßte diese Menschen und fand sie überall, auf den Straßen und den Plätzen, in den Gesellschaften und auf den Versammlungen, in den Parlamenten und den »gesetzgebenden Körperschaften«, wie sie die öffentliche Meinung unausgesetzt mit allen Mitteln bearbeiteten und ganze Bibliotheken wie die endlosen Spalten der Zeitungen mit der Flut ihres seichten Geschwätzes füllten ...
Fand überall, zwischen jenen wenigen und diesen vielen, die Halben, die Unentschlossenen, die Unlogischen, die dachten, aber nie imstande waren, einen Gedanken auch wirklich zu Ende zu denken und seine Folgerungen zu ziehen: betrübend und erheiternd zugleich zu sehen, mit welcher Naivität sonst ganz ehrenwerte Männer, die selbst völlig unfähig waren, andere zu bestehlen oder zu betrügen, Handlungen der Gewalt, den Diebstahl des Staates, entschuldigten, verteidigten und mit ihrer Stimme unterstützten, sobald hinter ihnen die »Autorität« stand, und sich ihr willig und kritiklos unterwarfen, weil sie ohne diese ihres Lebens und ihres Eigentums verlustig zu gehen und in das »Chaos der Anarchie« zu versinken fürchteten.
Und er fand, weder liebens- noch hassenswert, den mit Gott und der Welt, vor allem aber mit sich selbst zufriedenen Bürger, wie den »politisch aufgeklärten« und zielbewußten« Arbeiter mit seiner Un- und Einbildung, fand ihn in Massen und überall ...
Nichts zog ihn hin zu ihnen allen. Nichts hatte er gemeinsam mit ihnen. Denn sein Herz gehörte denen, die sich empörten, nicht mit Dolch und Dynamit, sondern die sich empörten mit ihrem ganzen Leben, indem sie es außerhalb der Gesellschaft stellten, deren Gesetze nicht die ihren waren, deren Moral sie verachteten und deren Taktik sie haßten – außerhalb und damit gegen sie; die den Mut, den großen Mut, bewiesen, ihr Leben für sich zu führen, als wirksamsten und einzigsten Protest; es führten, wie er, Ernst Förster, das seine führte, und um das er, wie er lachend immer wieder sah, beneidet wurde von gar manchem, so einfach, so mühselig in vielem und so einsam es oft war.
Einsam, nicht weil er es sein wollte, sondern weil er nicht anders als einsam sein konnte in einer Zeit des Übergangs, wie die es war, in der er lebte, wo der Boden sich erst vorbereitete und derer noch so wenige waren, die dachten und fühlten, wie er. Gerne, er gab es zu, hätte er in einer anderen gelebt, in einer Zeit ohne dies tägliche Elend und diese stündliche Erniedrigung um sich her, einer anderen von größerer Kultur und besserer Sitte, unter anderen Menschen, unter freieren, unter freien. Aber er lebte nicht in einer solchen Zeit und mußte sich abfinden mit der, in die er gesetzt war, dieser Zeit, deren Kennzeichen die Sentimentalität und die Brutalität waren (er, der keines von beiden, weder brutal, noch sentimental war).
Leben hätte er mögen unter Menschen, die das alte Laissez-faire, Laissez-aller zu ihrem Leitspruch gemacht hatten, nicht in dem alten, beschränkten Sinne, den die Nationalökonomie dem Wort gegeben, sondern in dem weiten, anarchischen des »leben und leben lassen«, unter solchen wie der gewesen sein mochte, der gesagt hatte – was für ein guter Anarchist war er sicherlich gewesen! –: »Ich bekümmere mich kaum um meine eigenen Angelegenheiten, geschweige denn um die der anderen« ... Und wie gut müßte es sich nicht leben lassen in jener sagenhaften Abtei von Thelema, über deren Eingangspforte als einziges Gebot stand: »Tue, was dir gefällt!« – Denn alles Elend der Welt, mehr und mehr erkannte er es, kam im Grunde nur daher, daß sich ein Teil der Menschen anmaßte, die Verantwortlichkeit für den anderen Teil zu übernehmen, ihn zu erziehen, zu beaufsichtigen, zu gängeln, zu leiten, zu – regieren. Oder vielmehr daher, daß sich dieser andere Teil diese unverschämte Bevormundung gefallen ließ, statt die Ungerufenen und Ungebetenen samt und sonders zum Teufel zu jagen!
Einer seiner vielen Gänge, auf denen er sich die Stadt wiedergewann, führte ihn auf ihre höchste Höhe, die gekrönt wurde von der mächtigen Zwingburg des Glaubens und des Wahns: Montmartre ...
Aus ihren ungezählten Schloten dampfend, in ihren eigenen silbergrauen Dunst wie in wallende Schleier gehüllt, lag zu seinen Füßen die herrliche Stadt, dehnte und streckte sich, wie in wohligem Behagen, bebte von überströmendem Leben, verlor sich in dämmernde Fernen, überallhin in die Ebene, bis an die Füße ihrer Höhenzüge, und sandte zu ihm herauf das Brausen und Fauchen ihrer rastlosen, ihrer ewig rastlosen Arbeit ...
Und er suchte ihre Türme und Kuppeln, ihre Straßenzüge und Brücken, nannte sie sich in der Freude des Wiedererkennens und konnte sich nicht trennen von dem einzigen Bilde, während er auf dem Plateau des um diese Jahreszeit schon leeren Restaurants, das halb über dem Abhang hing, hin und her schritt.
Wieder war es ein Herbst geworden, und früh begannen die ersten Lichter in der Tiefe aufzuleuchten.
Und ein anderer Abend fiel ihm ein, längst vertaucht in die Tiefen der Vergangenheit, jener erste Höhengang in Knabentagen über die niedrigen Hänge der kleinen Stadt, stickige und verhaßte Enge unter sich, aber trotzigen Mut in der jungen Brust ... und in derselben Minute, wie durch eine seltsame Gedankenfolge jener andere, zweite, die Berglehnen der Schweizerstadt entlang, grüne Gelände und den schimmernden See zu Füßen, weißen Alpengipfeln sich gegenüber und um sich den weichen Duft neuen Weines in der reinen Luft, ein seliger Finder, der rastlose Sucher, und doch allein mit sich ...
Aufwärts, aufwärts war der Weg gegangen, aus dumpfem Drange empor zur Erkenntnis, von einer zur anderen, von einer zur anderen, zu immer neuen und bis zur letzten ...
Allein war er auch heute noch, der Mann, allein mit sich und seinem Reichtum.
Warum teilte er ihn nicht? – Warum hatte er nicht längst begonnen, ihn zu teilen? – – Nicht zum ersten Male fragte er es sich.
Auch die Antwort hatte er sich oft gegeben. Aus Furcht, noch nicht reif genug zu sein in jeder der ungeheuren Fragen, noch nicht würdig genug, um hier mitsprechen zu dürfen; noch das Letzte nicht klar und bestimmt genug sagen zu können; und so noch warten zu sollen.
Heute fiel ihm auch der Spruch wieder ein, nie vergessen, oft wiederholt, den er einmal abgelesen von der Giebelwand eines alten Hauses; und eine seiner Zeilen kam ihm wieder:
»Die Feder das Schwert besiegen tut« ...
Nie hatte er die Feder bisher geführt, um eine eigene Ansicht zu äußern, nie war sie ihm etwas anderes gewesen, als das Handwerkszeug, mit dem er sich sein tägliches Brot verdiente. Das würde sie noch oft sein müssen.
Er fühlte so gar nicht den Beruf in sich, die Menschen zu belehren, oder gar sie zu »bessern«; immer waren ihm diese Präzeptoren und Heilande der Menschheit ein klein wenig lächerlich vorgekommen und meist reichlich unverschämt. Und ganz fremd war ihm das Gefühl der Verpflichtung, gegen sich und andere, irgendwelcher Verpflichtung in dieser Beziehung gegen sich und seine »Nebenmenschen«.
Aber ein anderes war es wohl doch, Erkanntes zu sagen, ruhig und einfach zu sagen, und dann zu warten, ob andere es aufnehmen oder beiseite liegen lassen wollten.
Hier war ein starker Unterschied. Er erkannte ihn klar in dieser Stunde seines dritten Höhenganges.
Ihm war, als höre er die Stimme wieder, die ihn früher so oft gerufen und die ihn jetzt noch einmal rief, diesmal zur Arbeit für sie; und ihm war, als höre er die seines Freundes in ihr, wie er ihm sagte: Wie können wir frei sein, solange die anderen es nicht sind? – Und wie können sie frei werden, wenn sie nicht wissen, wovon und wie, nicht wissen, wie wir es wissen? – Und: Wir müssen es ihnen sagen, die wir es wissen. Wir sind so wenige erst, die erkannt haben, worauf es ankommt. Der Kampf ist schwer, und wir haben nur die eine Waffe – diese kleine Feder aus Stahl gegen das mächtige Schwert der Gewalt. Wir müssen sie führen. Keine Arbeit kann entbehrt werden. Auch die deine nicht ... Denn wenn wir uns nicht rühren, mäht uns der Feind weiter ... So sprach Auban und Förster wußte, daß er recht hatte.
Ja, die Arbeit war schwer. Nicht daß der Feind so übermächtig war, machte sie so schwer, sondern daß sich alles verbündet zu haben schien, sie zu hindern und zunichte zu machen. Es war eine Welt von Dummheit und Voreingenommenheit, von Haß und Lüge, von Bosheit und Niedertracht, gegen die es zu stehen galt.
In der Behandlung fast jeder Materie wurde heute wenigstens ein bescheidenes Maß von Vorkenntnissen erwartet und verlangt. Wer über »den Anarchismus« sprach und schrieb, konnte alle vollständig entbehren, durfte darauf lossprechen und schreiben, ohne befürchten zu müssen, sich lächerlich zu machen, selbst mit dem größten Unsinn nicht. Wer gegen ihn war, wurde gehört und beklatscht; wer für ihn war, totgeschwiegen und verfolgt.
Dem Gegner war jedes Mittel recht, und er benutzte sie alle.
Wo man der Sache nicht nahe kommen konnte, suchte man die, welche man fälschlich ihre Führer nannte und die nur ihre Vertreter waren, zu diskreditieren und lächerlich zu machen – den einen, der leider nur allzuweit davon entfernt war, es zu sein, indem man ihn zum Millionär machte, weil zufällig ein Namensvetter in Amerika ein solcher war; und den anderen, indem man ihn in Beziehung zu Menschen und Dingen brachte, mit denen er nie auch nur das geringste zu tun gehabt hatte. Aber mehr fast noch als diese unter dem sicheren Schutze der Unkenntnis vorgebrachten Lügen und Verleumdungen schadete die unerbetene Hilfe, die aus Kreisen kam, in denen der Anarchismus so etwas wie Mode zu werden begann. Unter jenen Horden fauler und nichtsnutziger Jünglinge, die die Kaffeehäuser bevölkerten, lächerliche Karikaturen sogenannter »Übermenschen«, schien man sich des Wortes (mehr wußte man ja nicht von ihm) als einer Art neuer Sensation zur Aufkitzelung erschlaffter Nerven bemächtigen zu wollen, um mit ihm den gehaßten Bourgeois zu erschrecken und zu »epatieren«, und wo sonst irgendeine Erkenntnis aufzudämmern begann, gleich wurde sie von einem neuen Schlagwort verwirrt und erstickt. Da prägte ein redlicher Flachkopf das Wort vom »Edel-« und da ein unehrlicher, trüber und trunkzerstörter das vom »Salon-Anarchisten«, und alles stürzte sich darauf, selig, nun nicht denken zu brauchen, aber mitreden zu können. Denn jetzt wußten sie es: es gab böse und gute Anarchisten. Die bösen waren die, welche die Bomben warfen; die guten aber die, die in den Gesellschaften herumliefen, um dort Proselyten, besonders unter den Damen, für ihre Weltanschauung zu ködern. Es lag natürlich kein Grund vor, weshalb ein Anarchist nicht in Gesellschaft gehen sollte, wenn es ihm dort gefiel. Gesellschaft, wirklich gute Gesellschaft, war sicherlich eine der feinsten Blüten unserer Kultur, wenn sie auf dem Prinzip der höchsten, persönlichen Freiheit beruhte: der eifersüchtigen Enthaltung und Einmischung in die Angelegenheiten des anderen; der Vermeidung alles dessen, was diesen verletzen konnte; der strenggeübten Beherrschung, die man mit dem Wort Takt bezeichnete. Aber gab es eine solche Gesellschaft in diesem Sinne heute noch? – Was sich heute Gesellschaft nannte, war ein Gemisch von Klatsch und Tratsch, leerem Geschwätz über gleichgültige Dinge und bodenloser Langeweile, zu der man sich gegenseitig verpflichtet fühlte. Und weil er, Ernst Förster, das wußte, ging er in keine.
Man konnte also ein Anarchist sein, auch wenn man die Gesellschaft besuchte, ebensogut, wie man ein Christ und ein Anarchist zugleich sein konnte; und man konnte ein Anarchist sein, obwohl man Kapitalist war, brauchte es aber noch nicht zu sein, weil man nur ein ausgebeuteter Lohnsklave war.
Und ebensowenig lag ein Grund vor, weshalb ein Anarchist kein Millionär sein sollte. Das Traurige war nur, daß diese Bewegung noch immer vergeblich nach einem solchen suchen mußte, ohne ihn finden zu können. Denn zum Kriegführen gehört bekanntlich Geld. Während es aber heute keinen Wahnsinn gab, dem nicht Mittel in Massen zuströmten, und um so reichlichere, je größer dieser Wahnsinn war, fehlten hier selbst die bescheidensten, und alles lag auf den Schultern einzelner. Was hätte sich nicht tun lassen – welche Bücher hätten nicht gedruckt und verbreitet, welche geistige Propaganda hätte sich nicht entfalten können! – Aber so war es: zur Erhaltung des Gefängnisses, in dem sie saßen, trugen alle bei: zu seinem Sturz keiner. Wann würde dieser Sache, der wichtigsten, der einzig wichtigen, ihr wirklicher Millionär kommen?.. Auf den Schultern der wenigen lag einstweilen die ganze Bürde. Woher auch wohl, als von ihnen, woher sonst wohl, als von ihnen, woher sonst wohl konnte die soziale Frage ihre wahre Antwort finden?
Nicht von denen natürlich, die von dem Staate oder der öffentlichen Meinung in irgendeiner Weise abhängig waren. Nicht von der sozialen Wissenschaft: sie stand in dem Dienst des Staates, wurde von ihm kontrolliert und beeinflußt. Es wurde zwar von ihr so schön gesagt, daß »ihre Lehre frei sei«. Aber bei der Begründung dessen, was wirklich frei war, hörte ihre Freiheit der Forschung auf, und es gab keinen angestellten Professor auf der ganzen Welt, der es hätte wagen dürfen, an diese Frage auch nur zu rühren, ohne mit sofortiger Disziplinaruntersuchung und Dienstenthebung bestraft zu werden und sich weiterer Verfolgung auszusetzen. Nicht von der »Literatur«. Denn die Literaten aller Art waren zwar nicht vom Staat direkt, wohl aber von ihren Zeitungen, und diese wieder von ihrem Publikum abhängig, und lieber, als die Gunst beider zu verscherzen, schrieben sie Lügen über Lügen. Beschämend aber und traurig war es zu sehen, daß selbst die unabhängigsten und vorurteillosesten, die sonst jeder Frage zuleibe gingen, hier haltmachten und in einem Bogen um sie herum schlichen.
Von wem also? –
Nur von den Einzelnen, die so unabhängig waren, daß sie um ihr Brot nicht zu bangen brauchten, und mutig genug, um der Verurteilung ihrer Zeit gleichgültig die Stirn zu bieten. Das waren nur wenige.
Er war einer von ihnen. Was konnte ihn hindern und wer, seinem Leben den Sinn zu geben, den er für den richtigen hielt? Wenn er die erste Hälfte seines Lebens an die Ergründung der Fragen gesetzt, die ihn am meisten bewegt, warum sollte die andere nicht ihre Erfüllung in deren Beantwortung finden, wenn diese Arbeit ihm höchste Freude und stärkste Befriedigung zugleich bot?
»An die Arbeit!« sagte er vor sich hin.
Es war wie ein Entschluß.
Eine unendliche Dankbarkeit war in seinem Herzen für alles, was ihm das Leben gegeben – gegen sie, die ihn dieses Leben leben gelehrt und ihm Wert verliehen. Freiheit – sie hatte die Brust des Knaben mit erster, scheuer Sehnsucht nach ihr erfüllt; den Jüngling geleitet durch alle Irrnis und ihm die tiefste Freude gegeben, der keine andere gleichkam, eine Freude, die gleich weit entfernt war von Hochmut und Überhebung, wie von Furcht und Aberglaube, die Freude des Erkennens; und dem Manne endlich sich selbst geschenkt.
Auf jede Frage war ihm Antwort geworden; nie brauchte er vergebens zu fragen.
Sie hatte ihm den Weg gezeigt und sich selbst als Weg und Ziel zugleich; ihn denken gelehrt und unterscheiden; ihn den besten Geistern seiner Zeit nahegebracht und ihm den Freund verbrüdert, der ihn verstand.
Sie hatte ihn getröstet und erhoben, ermutigt und beruhigt. –
Freiheit! – Erfühlte ihren Atem wieder in dieser Stunde, den brausenden Schöpferatem der Welt, der die kranke Lehre von Schuld und Vergebung, von Sünde und Vergeltung, von Pflicht und Verantwortung hinwegfegte und in der ewigen Erneuerung jedes Menschenwesens sich selbst verkündete. Und sah sie selbst:
Arme Freiheit! – Geschändet und entehrt von den Söldlingen der Gewalt; verraten und verkauft (und täglich aufs neue) von den Menschen, die sich ihre Freunde nannten; besudelt und bespien von Verleumdung und Haß; getreten, verstoßen, mißhandelt und, was schlimmer war als alles, mißverstanden und verkannt in einer Zeit, die sich die Zeit der Aufklärung nannte und alles zu verstehen vorgab, – lächelte sie jedem mit dem mütterlichen Lächeln des Verzeihens zu, der zu ihr kam, und streng blickten ihre gütigen Augen nur auf die Fanatiker und Zeloten, die Ethiker und die Moralisten, die sie ihren unlauteren Zwecken dienstbar machen zu können glaubten, wie sie abweisend und in flammendem Zorn auf den blicken konnten, der sie nehmen wollte mit Gewalt! ...
Arme und doch so reiche Freiheit! – Teure Freiheit! – So teuer, so unentbehrlich dem Menschen, daß selbst in seiner tiefsten Erniedrigung ihr Name allein noch als letzte Hoffnung leuchtete, ein Wort nur noch, und doch das Wort, ohne das heute selbst der mächtigste Tyrann sich nicht eine Stunde hätte halten können – versprechen wenigstens mußte er sie, um selbst ertragen zu werden, er, der sie den Menschen doch so wenig zu geben vermochte, wie irgendein anderer, weil Freiheit nicht gegeben, sondern nur genommen werden konnte.
Geliebte und ersehnte! – Ewiger Traum der Völker, die sich ihm hingeopfert; unsterbliche Sehnsucht so zahlloser, mutiger und edler Herzen, die ihr Leben für sie gegeben; unzerstörbares Ideal so vieler großer und starker Geister, die an ihm irre geworden und zerschellt waren, da es ihnen ewig nur ein Ideal geblieben war und sie dem wesenlosen keinen Inhalt zu geben vermocht – wann würde die ersehnte endlich kommen, um späte Wirklichkeit zu werden? –
Wann aus den erträumten Himmeln herniedersteigen auf die Erde, um heimisch zu werden unter ihren Menschen? –
Wann endlich erkannt werden, erkannt als das Gesetz der Notwendigkeit? – Wann Leben werden?! ...
Und wann endlich der Opfer müde, die für sie gebracht waren und immer wieder gebracht wurden?
Und er hörte die Antwort:
Wenn die Menschen nicht mehr für sie zu sterben, sondern zu leben bereit sind; und wenn sie erkannt und verstanden haben, daß das hieß: für sich leben!
Wieder sah er, während er (der letzte Gast, auf der menschenleeren Terrasse) hin und her schritt, hinunter auf die einzige Stadt, nun ein Meer von Licht und Nacht, und konnte sich nicht trennen von dem Anblick zu seinen Füßen, und wieder überkam ihn, wie so oft, die Liebe zum Leben mit ihrer vollen Macht, zu diesem Leben, das jeder nur einmal lebte und das doch so wenige nur besaßen; das so reich, so groß, so schön hätte sein können und so arm, so kleinlich, so häßlich war, weil dieser sterben mußte, damit jener es lebte; und dessen Lohnes beide verlustig gingen, weil sie seinen Sinn verkannten.
Denn in Unsinn verkehrten sie seinen Sinn.
Wem, der es unbefangen betrachtete, mußte sich nicht bei zahllosen Gelegenheiten und immer wieder die Frage aufdrängen, ob er noch unter vernunftbegabten Wesen lebte oder ob nicht diese ganze Welt vielmehr ein Irrenhaus war, in dem die einen sich einbildeten, über die anderen herrschen zu dürfen, und diese glaubten, jenen dienen zu müssen – so sinnlos war der Gebrauch, den sie von den Worten machten, und so absurd und lächerlich erschienen ihre Handlungen!
Dort lag es, dies Narrenhaus der Welt. Tanzten dort unten die Narren nicht ihren fratzenhaften Tanz hinter Gitterstäben um das Phantom ihrer Einbildung? – –
Lange noch sah Ernst Förster hinunter in das Meer von Nacht und Licht. Aber je länger sein Blick es umfaßte, um so mehr schien es ihm, als söge langsam das Licht die ungeheuren Massen von Dunkel ein, tränke sie und löse sie auf in sich ...
Der Jüngling war zum Mann geworden.
Ein Mann war der Sieger.
Er näherte sich der Mittagshöhe seines Lebens.
Seine Züge waren schärfer geworden, aber ihr Ausdruck war der einer gleichmäßigen und ruhigen Freundlichkeit, und derselbe ruhige Ernst war auch in seinem ganzen Wesen.
Er war nicht das, was die Menschen liebenswürdig nennen, und manche, die ihn kennen lernten, nannten ihn schroff. Er sprach ihnen zu wenig, dachte zu viel und ging den Dingen zu sehr auf den Grund. Die meisten wußten daher nichts mit ihm anzufangen, und seine Logik war ihnen unbequem, während sie seine Ansichten in ihren trüben und wirren Vorstellungen nicht in Einklang zu bringen vermochten mit seiner einfachen Persönlichkeit.
Denn diese war in nichts auffallend oder vordrängend. Er liebte es nicht, mit ihr andere zu belästigen, und nur wer ihn länger und näher kannte, mochte von den Kämpfen ahnen, die auch ihn durchschüttert.
Von fast peinlicher Genauigkeit in der Einhaltung freiwillig übernommener Verpflichtungen, selbst belangloser Abmachungen, erkannte er nur solche – freiwillig eingegangene – an und wies alle anderen als unberechtigt von sich.
Im Gespräch war der Mann noch zurückhaltender, als es der Jüngling schon immer gewesen war; mehr und mehr suchte er seinen Antworten das Gepräge einer schlagfertigen Kürze zu geben, und nie nahm er das Wort, bevor der Partner nicht sein letzes gesprochen. Er dachte nach, wenn er sprach, und er haßte große und leere Worte. Selten wurde er erregt. Aber gedankenlosem Geschwätz gegenüber war er nicht mehr so geduldig wie früher, wenn er bedachte, wie kurz das Leben und wie kostbar die Zeit war. Er brach dann lieber das Gespräch ab, statt es zwecklos fortzusetzen.
Seine Entschlüsse faßte er nicht mehr leicht. Aber einmal gefaßt, war es schwer, ihn von ihrer Ausführung abzubringen, und nie gab er eine Sache auf, bevor er nicht ihre Unmöglichkeit eingesehen. Das machte sein Leben oft schwerer, als es nötig war, und er wußte es. Aber er konnte nichts gegen seine Natur.
Seine Gleichgültigkeit gegen so vieles, was das Leben anderer mit Wichtigkeit erfüllte, war grenzenlos; aber unerschütterlich seine Ehrfurcht vor dem, was er als wertvoll und unvergänglich erkannt. Und er kannte keine Furcht: weder vor Gott, noch vor den Menschen.
Er hatte gar keine Achtung vor den »Größen«, die von anderen zu solchen gemacht und nur groß waren, weil sie so genannt wurden; und die höchste vor allen, die es wirklich waren, aus sich selbst heraus und in eigener Kraft.
Er wußte nicht, ob das Schicksal des Menschen »in den Sternen geschrieben« stand. Aber unter allen erschien ihm sicherlich das als das traurigste: sein Leben festgelegt zu haben, nicht mehr aus ihm, aus sich selbst herauszukönnen, es aus einem Winkel heraus zu sehen und so in Bitterkeit zu altern; und das begehrenwerteste: nie zu wissen, was noch kommen konnte, und immer glauben, das Schönste und Beste müsse noch kommen ...
Er war ein durch und durch unsentimentaler und in seinen Überzeugungen ganz unbeeinflußbarer Mensch; ein Mensch mit viel Härte in sich und unbeugsam in dem als richtig Erkannten, aber ein Mensch ohne eine Spur von Grausamkeit.
Und er war heiter und glücklich, wie ein Mensch es ist, dessen Leben eine große unverlierbare Liebe erfüllt, und der nur eine Macht kennt, der er sich beugt – die Notwendigkeit. Nicht mehr in dem Symbol eines Raumes, dessen Tore verschlossen waren, um erst geöffnet werden zu müssen, und in dessen Mitte ein düsteres Gebilde drohte, sah er jetzt das Leben – offen und unermeßlich breitete es sich vor ihm aus, wogte und flutete, rauschte und brandete, lockte und drohte; und er lebte es.
Es war voll Licht für den, dessen Augen sonnenhaft waren und stark genug, das Dunkel und seine Schatten zu durchdringen und sie zu besiegen.
Die Stimme, Hauch erst und ferner Klang, dann Ruf und Verheißung, war Leben selbst geworden, Erfüllung und Gewährung alles dessen, wonach er sich einst so heiß gesehnt, was er so treulich gesucht und dann endlich gefunden.
Er hatte das Leben gesucht und die Freiheit gefunden, die allein Leben ist.
Er hatte den Sinn des Lebens erkannt.
– In seinen klaren Augen die Flamme, Schwälen einst und Rauch, Brand und Glut, in seinen Augen die Flamme war Licht.
Ende