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Ich traf ihn in dem Sommer, als ich oben in den Wäldern am großen Flusse war.
Jedesmal, wenn ich abends von der Jagd heimkam, saß er auf der Bank vor des Nachbars Blockhaus. Er saß da, das graue Haupt gegen die Mauer gelehnt, und sah gedankenvoll weit in des Nordens helle Sommernacht hinein.
Mein ›Pan‹ war in seine weiße Bärenhündin verliebt. Er konnte so müde sein, daß er sich selbst auf die Füße trat, wenn wir heimkamen, aber sobald ihm die weiße ›Lajka‹, wie man die Nordlandshunde da oben nennt, ins Auge fiel, war die Müdigkeit bei den krummen Liebessprüngen vergessen. So ist es nun einmal mit allem eingerichtet, das die Erneuerung betrifft.
So ereignete es sich, daß Pan und ich ein paar Tage weit oben am Fluß gewesen waren, um neues Land zu suchen. Das wimmelte von Wild, und trotzdem hatten wir nicht viel zu essen bekommen. Meine Streichhölzer waren verpafft, als ich Feuer machen wollte. So mußten wir mit Wasser und Brot vorliebnehmen, obwohl wir hart gearbeitet hatten. Ja Pan wollte vor lauter Durst nicht das trockene Brot kauen, trank aber, so oft er dazu kommen konnte.
Die Sonne hing tief in den Wipfeln und brannte gerade auf das Fell, daß es in den Poren kochte. Nachts aber schliefen wir im Tau und dem Dampf der Kälte.
Wir wurden wund an den Füßen vom vielen Wandern, und auf dem Heimweg verließ Pan die Energie.
Er konnte nicht mehr und mußte allein zurückbleiben.
Da war nichts zu machen. Das Herz war leer, ganz hohl in den Wänden geworden.
Er wollte sich nicht gern von mir trennen, aber nun war er gezwungen, es zu tun.
Er legte sich langsam, reckte die steifen Glieder, streckte schlapp den Kopf von sich ins Gras und schloß die Augen.
Ich hob ihn auf meinen Rücken und setzte ihn mit dem Hinterteil in den Riemen der Jagdtasche. Die Vorderbeine nahm ich um den Hals und hielt sie fest.
So saß er ganz gut, und ich fühlte etwas wie Dankbarkeit sich in ihm regen, als er mich hinter dem Ohre mit seiner fieberheißen Zunge leckte. Ja, ja, es konnte ja sein, daß auch er bei Gelegenheit mir einen Dienst erwies.
So schleppte ich mich mit ihm nach Haus.
Als wir an der Nachbarhütte vorüberkamen, saß der Mann mit dem Bärenhunde draußen auf der Bank, wie er zu tun pflegte. Er sah erst mich fragend an, aber ich hatte keine Lust stehenzubleiben, oder waren es mehr meine Knie, die weitergingen, um nicht zu kurz zu kommen.
»Haben Sie Ihren Hund geschossen?« sagte er halblaut, ohne sich zu rühren, als ich vorbeiging.
»Was zum Teufel, Mann! ...« Da sprang plötzlich Pan rückwärts von meinem Buckel und ließ sich in ein sinnreiches Liebesspiel mit seiner ›Lajka‹ ein. Ich blieb stehen, ging hin und setzte mich auf die Bank neben ihn.
»Ja, entschuldigen Sie,« sagte er versöhnlich. »Ich habe verschiedene Jagden mitgemacht, aber das will ich meinen ... Mein Name ist Nikolajew,« brach er ab und reichte mir die Hand so fest und eigen hart, wie man nur in Rußland die Hand gibt, wenn man damit etwas ausdrücken will, was man nicht sagt.
Ich hatte mir schon gedacht, daß er verbannt war.
So kamen wir dazu, uns kennen zu lernen. Nach und nach wurden wir Freunde.
Er ging ab und zu mit auf Jagd, aber schoß nicht. Um kleines Wild kümmerte er sich nicht. Der Bärenhund blieb zu Haus und bewachte die Hütte.
Eines Tages hatten wir uns am sandigen Ufer gelagert und ein Feuer angezündet, um das Mittagessen zu bereiten und Wasser zum Tee zu kochen.
Die Bekassinen siedeten und brieten in ihrem eigenen Saft. Er floß weiß und duftend aus ihrer überfetten Brust, die durch den Fall des zu Tode getroffenen Vogels geborsten war.
Man ist gründlich und in sich gekehrt, wenn man an seinem eigenen Lagerfeuer im Walde liegt. Das Gefühl erwacht in der Tiefe der Erinnerung an die Männer der Urzeit und ihrer Herzen rote Lust. Etwas Vergessenes und Mächtiges wiegt sich golden im schweren Wogenschlag des Blutes. Der ewige Erdenstaub ist's, der vor den Augen zittert und flimmert. Nur unter freiem Himmel einsam und fern vom breiten Wege fühlt man, was man ist, wenn man das Ohr auf die schwarze und keimende Erde legt! Man ist allein, man ist etwas, das war und ist, und was doch nie gewesen ...
Nikolajew richtete sich auf, spuckte den übriggebliebenen Zuckerrest in die Hand und goß einen neuen Trunk Tee in seinen Krug.
»Ja ... es ist merkwürdig mit der Jagd ... das wird wohl immer den Menschen im Blute sitzen,« sagte er vor sich hin. »Und was hat das Ganze für einen Zweck? Wer wird sich unserer erinnern, wo werden die Spuren unseres Kriegspfades zu finden sein, wenn die Erde kalt und dunkel mit ausgebranntem Schoß weiter durch den Raum rollt? ... Einst wird das geschehen ... Und doch jagen und jagen wir nach dem Glück, dem neuen, dem unerreichbaren, dem flüchtigen Wild, überall.«
Nikolajew setzte den Krug fort und blickte mit zusammengekniffenen Augen über den Fluß.
»Und doch hat es einen Zweck!« fuhr er heftig fort und ballte die Faust. »Der Trieb in uns, das Leben zu besitzen, es vollkommen zu machen, kann niemals sterben, selbst wenn die Erde in Atome von Gas zersplitterte, hinaus in die Unendlichkeit des Raumes ... Ich fühle, wenn ich so über den Fluß blicke, ein brennendes Verlangen, noch einmal auf das Leben loszujagen und gejagt zu werden. Eines Tages endet es damit, daß ich wieder im Fluß verschwinde ... Ich hab's satt, mich jeden Abend daheim zu melden. Die Zeit ist da! Der Pfeil geht von Hand zu Hand ...«
»Der Pfeil? ... Im Fluß verschwinden?« fragte ich erstaunt.
»Ja, ich rettete mich einmal in die Newa. Das ist nun lange her. Ich hab's Ihnen nie erzählt. Aber heute mußte ich daran denken. Das war auch eine Jagd auf Leben und Tod.«
»Wie das?«
»Ich habe Ihnen doch erzählt, daß ich eine Reihe von Jahren im Gefängnis gesessen habe und dann hierher verbannt wurde. Aber wäre ich damals im Fluß gefaßt worden, so ... ja, so würde ich hier nicht sitzen ... Dann faßten sie mich später von hinten auf der Gasse, ganz unerwartet für sie wie für mich. Aber trotz allen Anstrengungen konnten sie aus meiner Vergangenheit nichts herausfinden, und so kam ich verhältnismäßig billig davon, na ...«
Nikolajew drehte sich langsam und umständlich eine Zigarette.
»Wir haben uns ja nun soviel Jagdgeschichten erzählt. Es ist das beste, diese gleich mitzunehmen. Ich mußte vorher daran denken, als ich dalag, und meine Gedanken ganz im allgemeinen beim Jagen weilten, und der Fluß dort breit und tief dahinglitt ...
Sie können sich ja wohl denken, daß ich zu den Veteranen der Revolution gehöre. Das ist kein Geheimnis mehr ... Und ich hielt mich damals auch von Zeit zu Zeit in Petersburg auf, bald als Iwanow, bald als Petrow, mit anderen Worten: unter Namen, die ebenso gewöhnlich sind, wie mein eigener. Eines Tages, als ich gerade aus meinem Hotelzimmer gehen will, klopft es an die Tür, und ein geschniegelter und affektierter Affe stürzt freudestrahlend, als kenne er mich, auf mich zu. Aber ich sah ja gleich, wes Geistes Kind er war.
»'n Tag, mein lieber Nikolajew! Wie freue ich mich, Sie wiederzusehen.« Verstehen Sie, er nannte mich ganz frech bei meinem richtigen Christennamen, mir gerade ins Gesicht.
»Entschuldigen Sie, Sie irren,« antwortete ich recht unfreundlich.
»Ich irre? Wie können Sie nur so etwas sagen? Kennen Sie mich wirklich nicht mehr? Mich, der ich Ihren Vater und Ihre Mutter kenne. Wissen Sie nicht mehr, wir wohnten auf dem Lande zusammen, einen ganzen Sommer? Ich freute mich so, als ich hörte, daß Sie zur Stadt gekommen sind ... Nikolajew ist zur Stadt gekommen, hörte ich ... ja ...«
»Sie wollen mich wohl mystifizieren, was? Soll ich Ihnen erst meinen Paß zeigen, um mich von der Ehre Ihrer Bekanntschaft zu reinigen? ...«
»Das hatte ich nicht gedacht. So alte, gute Freunde zu vergessen ...«
»Freunde sagen Sie! Zum Teufel mit solchen Freunden!«
Ich konnte mich nicht länger beherrschen. »Da ist die Tür! Verstehen Sie! Augenblicklich!«
Ich ging auf ihn zu, und er verschwand schleunig, indem er mich aus den Augenwinkeln anschielte.
Ich war entdeckt oder hatte höchstens einen Tag Zeit, von ihnen beobachtet, mich zu bewegen. Gegen Abend fassen sie mich, wenn sie sehen, daß ich nicht dumm genug bin, sie auf die Spur meiner Kameraden zu führen. Sie haben keine Eile. Ich bin in der Falle, und sie können jederzeit den Deckel zuklappen. Ja, ja, ein Tag ist ein Tag. Es muß so bleiben, dachte ich und faßte die Türklinke.
Aber mein Koffer! Ja der ist verloren. Hemden, Kragen und zwei Paar Unterkleider sind drin ... Nein, mehr nicht ...
Als ich unten auf die Straße kam, stand da ein anderer Spitzel, einer dieser Hunde, die mit einem Rubel täglich abgefüttert werden. Ich sah ihn sofort im Gewimmel des Trottoirs. Wenn man gezwungen ist, sich für diese Leute zu interessieren, empfindet man sie sofort mit allen Sinnen. Sie fallen heraus aus der gleichgültigen Menge, gerade wie die meisten Schauspieler aus der Wirklichkeit herausfallen, die sie vorstellen sollen. Die Wirklichkeit ist erhaben, aber die Kopie ist das fast nie ...
Wir spazierten nun auf dem Newskij auf und ab, und an verschiedenen anderen Orten. Das wird langweilig auf die Dauer, namentlich unter solchen Verhältnissen. Der andere hatte sicher mehr Vergnügen daran und stand in ständiger Verbindung mit anderen derselben Koppel ... Doch gehe ich zu ehemaligen Bekannten hinein, bringe ich sie ins Unglück. Der Dwornik und der Portier, alle stecken mit ihm unter einer Decke.
Ich komme an dem großen Hotel vorbei und gehe in die Restauration, als suche ich jemanden, und gehe wieder aus dem anderen Ausgang hinaus, wo die Zureisenden vorfahren. Aber er steht da und liest eine Theateranzeige. Ich sehe gleichgültig auf meine Uhr und rufe mir den Lichatsch, der mir das beste Pferd zu haben scheint.
»He, du bist nicht besetzt!«
»Nein, Herr!«
»Hast du ein gutes Pferd?« sage ich halblaut, indem ich in die offene Kalesche springe. »Fahr geradeaus!«
Er fährt in scharfem Trabe los, daß die Gummiräder über das Steinpflaster tanzen und springen.
Etwas später erhebe ich mich von meinem Sitz:
»Wenn du in fünf Minuten am Nikolaibahnhof sein kannst, kriegst du fünf Rubel Trinkgeld.«
Er holte nur sanft mit beiden Armen aus und drehte die Zügel um das Handgelenk. Der Traber beugte den Kopf fast bis in die Brust und ging los in rasendem Tempo. Ich halte das Geld bereit, als ich einige Minuten nachher beim Eingang zum abgehenden Zuge hinausspringe. Glücklich und wohlbehalten komme ich hinüber zum Ausgang der Ankunftsstation. Ich atme leichter ... Aber draußen davor steht ein Radfahrer und sieht sich um, während er vor Unruhe an den Nägeln kaut. Der andere war also bei der Abgangsstation geblieben. Ich beherrsche mich, nehme mein Notizbuch vor, als notiere ich etwas und gehe dann so dicht an ihm vorbei, daß ich fühle, wie mich seine Augen versengen.
»He, Lichatsch!«
»Jawohl! Herr!«
Noch einmal dasselbe! Wir fliegen an allen Equipagen vorüber auf der rechten Fahrbahn des Newskij. Man hört nur den wahnsinnigen Trab des Pferdes auf der glatten, holzgepflasterten Straße ... Ich sehe mich um. Der Radfahrer liegt hart am rechten Hinterrad. Mit einer Bewegung, als wolle ich meinen Hut halten, stoße ich ihn schnell vom Kopf und greife gleichzeitig dem Kutscher fest in den rechten Arm.
»Halt! Halt doch! Dummkopf, mein Hut!«
Er hält unwillkürlich das Pferd so nach rechts an, daß es mit den Hinterbeinen unter sich die Straße entlang rutscht. Der Radfahrer kann nicht rechtzeitig bremsen. Er will ausbiegen, gleitet aber, fällt.
»Daß er doch die Kniescheibe bräche!«
»Fahr zu! Da sind zehn Rubel. Du bekommst noch zehne zu, wenn du wie der Leibkutscher des Zaren fährst. Fahr zu! Ich muß eine Dame auf dem Dampfer treffen! Laß Hut Hut sein! Ich habe eine Mütze in der Tasche! ...«
Wir fliegen dahin zu einer der Landungsbrücken der Flußdampfer. Kein Dampfer da ... Da bei der nächsten pfeift man zum dritten Mal! ... Ich springe während der Fahrt ab. Einige Sekunden später bin ich hinüber auf den Dampfer geentert, der schon die Schraube im Gang hat ...
Aber da oben kommt der verfluchte Radfahrer. Er liegt auf der Lenkstange und trampelt auf Leben und Tod ... Also ist er mit dem Schreck davongekommen! ... Ich hatte gehofft, daß er das Genick brechen würde. Ich strengte mich an, um langsam zu atmen, und machte mich gleich daran, eine aufgedonnerte, geschminkte Schönheit zu unterhalten, um die Aufmerksamkeit von mir zu lenken.
Sie entsann sich gut, daß wir uns schon einmal gesehen hatten ... Es begann zu dunkeln. Die Dampfer und die Prahme auf dem Fluß zündeten die Laternen an.
Ich stehe und spreche leicht und flott mit der Dame, während mein Gehirn arbeitet, daß es in den Schläfen hämmert. Er steht natürlich an der nächsten Landungsbrücke und wartet auf mich. Wenn ich ihn wieder treffe, schieße ich ihn nieder oder jage ihm mein Messer in die Lunge. Ich kann ihn nicht wiedersehen. Vielleicht sind da auch Schutzleute oder Gendarmen, um mich zu ergreifen.
Ich ziehe meinen Mantel aus und knöpfe die Jacke zu, indem ich nach achtern gehe, wie um auf die Schraube zu sehen. In demselben Augenblick beuge ich mich stark nach vorn und lasse mich mit dem Kopf zuerst in den Fluß plumpsen. So lange wie möglich halte ich mich unter Wasser und schwimme mit allen Kräften quer durch den Fluß. Ich schwimme unter Wasser, solange noch eine einzige Blase Luft in mir ist, komme dann an die Oberfläche mit Nase und Augen und lasse mich langsam vom Strome treiben.
Der Dampfer ist nicht mehr zu sehen. Jede Minute ist kostbar. Komme ich nicht gleich an Land, haben sie Zeit, Hunderte von Spitzeln an die Kaimauern zu tuten.
Ich schwimme hinüber auf eine der Kaitreppen zu. Da stehen Menschen. Laß sie stehen, soviel sie wollen. Komme ich jetzt nicht raus, kriege ich Krämpfe.
Ich triefe von Wasser, als ich herauskomme, und die, die da stehen, sehen mich an, gleichzeitig fragend und teilnahmslos. Keiner von ihnen hat einen Auftrag für mich, und ich höre nicht, was sie sagen.
Eine Droschke! Sie halten überall, und ich krieche in eine von ihnen und fühle mich so glücklich, denn ich bin wieder allein ...«
Nikolajew sah an sich hinunter.
»Ja, als ich mit den Freunden gesprochen und trockenes Zeug bekommen hatte, sorgten wir natürlich dafür, daß unsere Spur kalt wurde.«
Wir gingen schweigend heim ... In der Zeit hierauf befiel Nikolajew eine Unruhe. Er konnte andauernd auf demselben Fleck auf und ab gehen.
Eines Abends, als wir uns trennten, sagte er:
»Rußland ruft ... Leben Sie wohl!« und noch etwas murmelte er, was ich nicht verstand.
Den nächsten Tag war er fort.
Die Landespolizei war fleißig, aber Nikolajew war und blieb fort. Er war im Fluß verschwunden.
Ich habe nie wieder von ihm gehört. Aber wenn er noch am Leben ist, heißt er auf keinen Fall noch Nikolajew.