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»Terror«

» Zum Tode verurteilt, und das Todesurteil vollstreckt von der revolutionären Kampforganisation«, so lautet das Manifest der Revolution. Aber die russische Regierung meldet: »Am 3. Januar wurde der Präfekt von St. Petersburg, Seiner Kaiserlichen Majestät Generalmajor à la suite, W. F. von der Launitz ermordet. Der Täter schoß sich eine Kugel durch den Kopf, und wurde gleichzeitig von einem Säbelhieb getroffen.«

Das ging so zu:

Am Abend des 2. Januar erhielt von der Launitz eine Einladung des Prinzen von Oldenburg, zur festlichen Einweihung einer neuen Abteilung im Institut für experimentelle Medizin, dessen Protektor der Prinz ist.

Es waren unter den obersten »Zehntausend« und den Spitzen der medizinischen Welt nur 150 gedruckte Einladungen versandt worden. Der größte Teil der Entbotenen waren fürstliche Personen und Geheime Konferenzräte. Die Auswahl war sehr streng.

Es ist selbstverständlich, daß alle höchststehenden Eingeladenen sich nicht am nächsten Tage einfanden. Die Zeiten waren nicht danach, sich öffentlich zu zeigen. – Und gegen halb elf Uhr waren nur etwa 50 Menschen in der Institutskirche versammelt.

Der Präfekt kam in scharfem Trabe angefahren und hatte gerade Zeit, aus seinem Wagen zu springen und ihn zur Seite fahren zu lassen, als der Prinz von Oldenburg mit Familie in einem großen, roten Auto heransauste.

Herr von der Launitz lief hinzu, um die Honneurs beim Aussteigen »der hohen Herrschaften« zu machen, und folgte ihnen in das große Vestibül der Institutskirche.

Im selben Augenblick kommt ein eleganter Schlitten in Sicht. Das schöne Pferd bewegt sich in dem langen, eleganten Lauf, der der russischen Traber unvergleichliche Eigenschaft ist. Man konnte an der Art, wie es ging, sehen, daß der pelzbekleidete Herr im Schlitten seine Zeit eingeteilt hatte und sich weder unter die ersten drängte, noch fürchtete, zu spät zu kommen.

Während er aus dem Schlitten stieg, sagte er ein paar Worte zum Kutscher, der nickte und im Schritt fortfuhr.

Der junge, dunkle Mann ging mit kühler Sicherheit die Treppe hinauf, an mehreren Dutzend Gendarmen, Schutzleuten und Geheimpolizisten vorbei.

Keiner von ihnen beachtete ihn weiter. Das Fuhrwerk war entweder einer der besten Lichatsche oder Privateigentum, und der junge Herr war ohne Zweifel Arzt und aus der besten Gesellschaft.

Die Geheimpolizisten, die oben auf der Treppe standen, sahen seine kostbare Pelzmütze und den Kragen und seine brennenden Augen in dem bleichen Gesicht Stufe für Stufe ihnen entgegenkommen. Und die, die unten auf der Straße standen, sahen schließlich nur seine schwarzen Beinkleider, seine seidengestickten Strümpfe und die schwarzen Lackschuhe.

Krasiwyi Barin! Ein stattlicher Herr! murmelten die Schutzleute, als der Neuangekommene vorübergegangen war.

Drinnen im Vestibül reichte er dem Portier seine gedruckte Einladung und sagte höflich mit Interesse:

»Ist Seine Hoheit der Prinz von Oldenburg schon da?«

Der Portier bejahte gedämpft und ehrerbietig diese Frage und griff zum rechten Ärmel des jungen Herrn, um ihm aus dem Pelz zu helfen.

Er zog langsam den Arm aus dem Pelzärmel, und als er nach dieser Bewegung sich zum Portier wandte und den linken Arm vom Pelz befreite, sagte er vollständig gleichgültig, schon auf dem Wege zum großen Spiegel:

»Ist auch der Präfekt schon da?«

»Jawohl! ... Der Gottesdienst beginnt sofort,« antwortete der Portier und stand nach militärischer Art stramm.

Der junge Herr untersuchte äußerst umständlich seine Toilette im Spiegel.

So schien es wenigstens.

Aber es kann ja auch sein, daß es mehr sein Gesichtsausdruck war, den er so umständlich untersuchte.

Er schien zufrieden mit dem Resultat und ging ruhig und sicher durch das mächtige Vestibül in die Institutskirche. Der Gottesdienst hatte gerade begonnen. Kein Mensch kümmerte sich weiter um ihn.

Jeder dachte für sich, nachdem er sich umgesehen hatte, daß ihn einer der anderen kennte. Übrigens sah er aus wie jeder andere elegante, gebildete junge Mann in schwarzem Anzug und Lackschuhen.

Er ging, augenscheinlich bedacht, kein Geräusch zu machen und zu stören, vor in den Saal, und als er zwischen die anderen Gäste glitt, war in jeder seiner Bewegungen das Zuvorkommende und höflich Entschuldigende, das unwillkürlich entwaffnet.

Er stellte sich gerade hinter von der Launitz und versank in die scheinbar vollständige Hingabe an Gott und die Messe, die ein untrügliches Zeichen hoher Geburt und exklusiver Erziehung ist.

Es lag etwas über ihm, das gleichzeitig kriechend und protzig war.

Ja, er hatte es gelernt, vor dem Angesicht seines Herrn und Schöpfers zu stehen! ...

Als die Messe zu Ende ging, sah er plötzlich auf den Mann gerade vor ihm und begann so langsam, zuvorkommend, höflich entschuldigend, wie er gekommen war, zum Ausgang zu gehen.

Als er so weit gekommen war, blieb er stehen und sah ungeduldig und suchend in die Kirche, als warte er auf jemanden, den er drinnen unter den anderen nicht gesehen hatte.

Es kam auch etwas Nervöses in sein Gesicht. Er wechselte die Stellung und räusperte sich.

Plötzlich schwiegen die Stimmen der Messe in der Kirche. Sie wurden abgelöst von gedämpften und feinen Menschenstimmen.

Vornehme Worte und Lächeln und unterwürfige Verbeugungen ...

Es war der Fürst von Oldenburg, der sich verabschiedete und sich mit der Fürstin samt dem Gefolge entfernte.

Herr von der Launitz lief geschäftig hinterher, um zum Wagen das Geleit zu geben.

Der junge Mann am Ausgang hatte eine so vollendet ehrerbietige Haltung, als die Herrschaften vorübergingen, daß der Fürstin gewiß der Gedanke an Jugend und Schönheit kam, als sie ihn erblickte. Er folgte ebenfalls – mit zehn Schritt Abstand.

Aber der Abstand wurde zwischen dem Fürstenpaar und dem Präfekten unversehens größer. Er war stehengeblieben, um einen schnellen Händedruck mit einem Bekannten auszutauschen.

Als er weiter eilte, ging plötzlich eine gewaltsame Veränderung mit dem jungen Mann hinter ihm vor.

Mit einem einzigen, energischen Griff hatte er die Hand in die innere Brusttasche gejagt, die Faust um den rauhen Schaft seines Browning geballt, gezielt und geschossen.

Das Ganze hatte eine Sekunde gedauert.

Drei Schüsse waren gefallen, und von der Launitz war zusammengebrochen.

Man konnte sehen, daß er in die Schultern getroffen war.

Dann entstand eine Pause von einer Sekunde. Der Terrorist stand mit einem Sprunge über den Gefallenen gebeugt. Im selben Nu feuerte er drei Schuß gerade nach unten, wo von der Launitz' heiße, entsetzte Augen unter ihm im Weltenraum brannten.

Eine der drei Kugeln löschte sie aus.

Der Gefallene streckte sich krampfhaft, und gleichzeitig richtete sich der Terrorist mit einem Ruck empor, hielt blitzschnell seinen Browning gegen seinen Gaumen, feuerte, streckte die Arme hoch, brach in den Knien zusammen und erhielt im selben Moment einen Säbelhieb mitten in das nach oben gerichtete Gesicht.

Es war einer der anwesenden Offiziere, der mit gezogenem Degen herzugelaufen war.

Er hieb noch einmal zu und trennte die eine Schulter vom Hals.

Der tote Terrorist war halb auf von der Launitz gefallen, aber ein anderer Offizier mit dem Revolver in der Hand griff ihm in den schlaffen Arm, zog ihn zur Seite und schoß ihn in den Leib.

Eine so eindrucksvolle Persönlichkeit mußte er gewesen sein, daß zwei russische Offiziere seine Leiche für ihresgleichen im Kampfe ansahen ...

Das Fürstenpaar zuckte nervös mit den Schultern: »Entsetzlich! Gott wie ruchlos! Bringen Sie ihn hinein! Bringen Sie ihn hinein!«

Dann sausten sie davon in dem roten Auto.

Herr von der Launitz' dicker, livrierter Kutscher griff in die Zügel und jagte wie ein Irrsinniger die herrenlosen Pferde durch die Stadt, um »der gnädigen Frau« das Unglück zu melden, während die Ärzte den sterbenden Präfekten ins Institut für experimentelle Medizin trugen.

Polizei und Gendarmen umzingelten den Ort und verhafteten mir nichts dir nichts sogleich zwei Unschuldige, die aus Neugierde herzugelaufen waren.

Eine halbe Stunde später hatten sich die höchsten Untersuchungs- und Anklagebehörden eingefunden, um ein Protokoll aufzunehmen.

Aber der tote Terrorist hatte nichts bei sich, das zu seiner Identifizierung hätte dienen können.

Alle Zeichen in den Kleidern waren ausgeschnitten oder -gebrannt. Er hatte noch einen geladenen Browning in der Tasche, aber die Fabriknummer war, wie in dem leeren, ausgefeilt.

Man konnte nur die Fakta konstatieren und die Leichen wegdirigieren, die eine nach Haus zur Präfektin, die andere in eines der Anatomiezimmer der Militärarztakademie.

Da steht der Kopf des Terroristen noch in Spiritus ...

Sie photographierten ihn im Anzug und Lackstiefeln und nackend ohne einen Faden am Leibe.

Sein gespaltenes Gesicht sieht auf den Photographien aus wie ein offenes Geschwür ... Danach wird es schwerhalten, den Mann wiederzuerkennen.

St. Petersburg sprach von nichts anderem. Alle interessierten sich für die kleinsten Einzelheiten, und besonders die Polizei.

Die besten sichtbaren und unsichtbaren Leute waren auf den Beinen. Aber es war gar keine Spur da, wo man hätte anfangen können.

Hinzugezogene Schneider stellten fest, daß seine Pelzmütze und der Pelz wahrscheinlich in Moskau gemacht waren, die Handschuhe in Warschau. Der Anzug war unbestimmbar, die Wäsche vom Feinsten, aber woher? ...

Und die gedruckte Einladung? Man hätte ja in der Kanzlei des Prinzen von Oldenburg untersuchen können, wer von den Eingeladenen nicht gekommen war ... Aber da es sich um die Höchststehenden handelte, hatte es aus formellen Gründen seine Schwierigkeiten.

Wie hatten die Terroristen nur erfahren, daß der Präfekt bei der Einweihung dabei sein würde? Er war vom Prinzen durch ein eigenhändiges Schreiben eingeladen ...

Alles rätselvolle und unlösbare Fragen!

Von Fall zu Fall zeigt es sich, daß die terroristischen Organisationen die russische Staatspolizei weit überragen.

Denn der Terrorismus ist wie eine Passionsblume, die nur wächst, wo gelitten wird.

Rußlands gemütserregte Jugend ist von einer religiösen Sehnsucht nach dem Martyrium ergriffen, nach dem großen Opfer für all der andern Seligkeit.

Kein gekaufter Diktator, der, umgeben von allen menschenmöglichen Sicherheitsmaßregeln, Chancen hat, das Leben zu behalten, kann diese Sehnsucht unterdrücken.

Denn der, der das Martyrium auf sich nimmt, opfert alles ohne Bedenken und ist unüberwindlich. Ja, er ist unsterblich! Und das russische Volk wird sich seines Namens sicher erinnern und ihn bewahren unter all den anderen, die einen namenlosen Tod für Rußland auf sich nahmen.


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