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17. Kapitel.
Contra naturam?

Ich weiß nicht, was sich mein Herz gedacht,
Als ich im Lenze gefreit!
Ich weiß nicht, ob Frauenlieb' anders ward
In einer anderen Zeit!
Ich weiß nicht, ob Sehnsucht bestehen kann,
Wo alles welkt und verdirbt!
Ich weiß nicht, was ich vom Leben gewollt,
Wenn alles Lebendige stirbt!

Hat Mutterliebe Ewigkeitswert?
Hat Frauentreu einen Sinn?
Heut' geht das Glück bei mir aus und ein,
Frühmorgen sinkt es dahin! –
Was ist ein Glaube, der hoffnungslos
Seine dunkle Straße zieht?
Was ist der Mensch? Eine arme Blum',
Im Todesschatten erblüht?

Ich weiß nicht, was sich mein Herz gedacht,
Eins aber weiß ich gewiß:
Daß es erfahren und wissen muß,
Was Licht und was Finsternis, –
Daß alles fallen und weichen muß,
Was Gott und den Menschen trennt,
Bis er in jauchzender Seligkeit
Seinen Erlöser erkennt.

Vor kaum einer Stunde stand's fest in Roses Sinn geschrieben: ›Ich kann nicht zu ihm!‹ Jetzt war sie vor dem Hause angelangt, das sie in Zorn und Trotz verlassen. In ihrem Herzen lebte nur eine Sehnsucht: aus dem Munde ihres Mannes das Wort der Verzeihung zu hören. Ob sie ihr Kindlein neugeschenkt in den Armen halten durfte? Zitternd gedachte sie des holden Geschöpfchens, dessen Mutter sie in des Wortes tiefstem Sinne erst werden sollte. Ob ihr diese Gnade gewährt ward? Noch einmal kam der Sturm über sie, der Zweifel. – –

Sie preßte die Hände ineinander. Konnte, durfte sie beten? War das Gebet des Glaubens nicht das königliche Vorrecht des Christen?

Sie war kein Christ. Vielleicht wurde sie's noch einmal, aber noch gebührte ihr dieser Name nicht, heute nicht.

›Doch, es ist dein Recht!‹ rief es in ihr. ›Du darfst es! Für die Ärmsten der Armen ließ sich der Herr ans Kreuz schlagen! Für die Sünder und Irregegangenen! Laß es darauf ankommen, nimm ihn beim Wort! Er hat gesagt: »Wer zu mir kommt, den will ich nicht hinausstoßen!« Schieb doch endlich einmal den kleinen, dürftigen Intellekt beiseite, schieb doch die Wissenschaft beiseite! So groß sie ist, sie ist menschliches Stückwerk, Glaube aber ist ein Gottesgeschenk, Glaube ist Gnade! Göttliche Gnade, die der Mensch annimmt oder verweigert! – Wissenschaft ist sinnlich, Glaube ist übersinnlich. Die beiden haben absolut gar nichts miteinander gemein, liegen auf ganz verschiedenen Gebieten. Wissenschaft kann jeden Tag wechseln, Glaubenswahrheit ist unvergängliches Leben und Seligkeit! – Wag doch den Schritt, dein Wille ist ja frei!‹

Ja, er war frei. Und mit zager Hand griff sie nach ihrem alten heiligen Recht, dem Gebet. Wie lange hatte es im Winkel gelegen! – Einmal nur war ein Tag gekommen, da sie's hervorgeholt, aber sie hatte vergessen, wie man's braucht, und brauchte es falsch. Was dem sterbenden Vater das Leben erkämpfen sollte, war kein Gebet, es war ein Experiment. Der Glaube fehlte. Und heute? Es war nicht, was man sonst ein Gebet nennt, viel ärmer, dürftiger als jenes Lippenwerk waren seine Worte, – die Menschenseele, die nicht mehr aus noch ein weiß, die Mutter, die um ihr einziges Kind zittert, fragt nur nach einem: ob Gott sie hört. –

In tiefem Dunkel lag das Haus. Nur die Kinderstube und der Salon in der ersten Etage waren erleuchtet. Es war ganz klar, alles drehte sich um Bubi. Und schon ging es auf zehn.

Sie wankte und lehnte sich an die Mauer.

›Das Kind wird sich erkältet haben und man ist in Aufregung über deine Abwesenheit, das ist alles!‹ flüsterte die Stimme, die sie tagsüber wohl zwanzigmal gehört. ›Gewiß, du hast hier und da gefehlt, aber deines Mannes hartes Wort war gänzlich unberechtigt. Es war unerhört! Leistest du jetzt Abbitte, so hat er für alle Zeiten Oberwasser, so ist's aus mit deiner Selbständigkeit!‹

Das Wort kam zu spät. Die junge Frau zuckte schmerzlich darunter zusammen, aber sie sprach: ›Ich hab's verdient. Zudem – was ist seine Schuld gegen das, was ich auf mich lud!‹

Klopfenden Herzens trat sie ein. Die Haustür war zum Glück noch offen. Ungesehen gelangte sie in den Korridor.

Leise schritt sie über den Läufer. Vom Treppenabsatz klangen Stimmen.

»Doktor Wenden ist noch da,« sagte die Köchin. »Er hat den Kleinen eiskalt gebadet. Ich hörte, wie er zu unserem Herrn sagte: ›Es geht auf Tod und Leben, aber es ist das einzige Mittel, welches wir in diesem Falle noch anwenden können, wenn ich mir auch wenig davon verspreche.‹ Dann stöhnte jemand, und ich hörte, wie Herr Doktor sagte: ›Wir wollen's versuchen!‹«

»Eiskaltes Wasser?« sagte das kleine Hausmädchen aus dem Parterre.

»Kaltes Leitungswasser, und dann haben sie noch Eis hineingetan! Natürlich ist das Kind nur einen Augenblick drin gewesen!«

»Glauben Sie, daß es …« Die folgenden Worte übertönte die Elektrische.

Die Köchin eilte hinein. Die andere lief die Treppe hinab.

Frau von Benz drückte sich in eine dunkle Ecke. Ohne sie zu bemerken, schlüpfte das junge Ding in die Parterrewohnung.

Rose war's, als solle ihr das Herz stille stehen. Mit zusammengepreßten Lippen und angehaltenem Atem schlich sie die Treppe hinauf. Die Küchentür stand offen. Alles war still. Die Mädchen wurden jedenfalls vorne gebraucht.

Auf den Zehen ging sie über den Flur.

Die Tür des Kinderzimmers war angelehnt. Sie sah durch den Spalt in den matt erleuchteten Raum. Ihr erster Blick fiel auf Bubis Wiegenbettchen. Still und friedlich lag das Kind in den Kissen. Rose schwindelte es. War es tot? –

Zwei Schritte davon am Wickeltisch hantierte eine ältere, sympathisch aussehende Person mit Wärmflaschen und frischer Wäsche.

Rose atmete auf. Leise, leise trat sie ein.

Erstaunt blickte die Fremde auf die schlanke, vornehme Erscheinung. Wer war das schöne, junge Mädchen, das zu so später Stunde unvermutet eintrat? Forschend sah sie in das blasse Gesicht. Nein, das war eine Frau, und es konnte nur eine sein! Und diese eine durfte sie nicht zurückweisen, selbst in diesem Augenblick allerhöchster Gefahr nicht.

Scheu blickte Rose die Matrone an. Ein feines Rot färbte ihre Wangen. Das Schwierige ihrer Lage drängte sich ihr auf.

Die alte Frau merkte es. Es war wohl nicht der erste Einblick, den sie in ein fremdes Haus tat; sie mochte manches geschaut haben, das düsterer war, als das, was sich hier abspielte, ob es sich auch unter Glanz und Flitter verbarg.

So tat sie, als sei's ganz selbstverständlich, daß die junge Mutter so spät heim kam und erst jetzt nach ihrem todkranken Kinde sah. Wer wußte denn, was geschehen war! Sie hatte freilich gehört, daß Frau von Benz Studentin der Medizin sei, daß sie vom Haushalt wenig verstehe, – nun ja, welche junge Frau verstand denn etwas davon? und das Studieren war einmal Mode! Da durfte man der einzelnen nicht allzu scharfe Vorwürfe machen! – Das mußte sich der Mann vorher überlegen! Aber da verliebten sich die Herren in ein hübsches Gesicht und nachher mußte die arme Frau es büßen, wenn sie von anderen Dingen mehr verstand, als von Haushalt und Kinderpflege.

Mitleidig blickte sie in das junge Gesicht. War die Frau schön! Verdenken konnte man's dem Manne nicht!

Und dann legte Rose mit einem flehenden Blick den Finger an die Lippen.

Nein, sie konnte sie nicht fortschicken! Beruhigend nickte sie ihr zu. Rose war's fast, als sei ihre alte Bunken wieder da.

Unwillkürlich schweifte der Blick der jungen Frau zur Tür des Salons. Sie war angelehnt. Ob ihr Mann mit Doktor Wenden nebenan war?

Alles war still. Fragend sah sie die Wärterin an. Die schien es nicht zu bemerken.

Und dann trat sie mit leisem, zagendem Schritt auf das Bettchen zu.

Die Pflegerin behielt sie im Auge. Der Moment gebot große Vorsicht; sie aber trug die Verantwortung.

Rose verriet jedoch mit keinem Blick, keiner Bewegung, was in ihr vorging. Minutenlang stand sie, der Matrone den Rücken zugewandt, ruhig am Fußende des Wiegenbettchens. Dann klang ein tiefer Seufzer durch die Stille des Krankenzimmers. Sie trat einen Schritt vor und kniete neben dem schlafenden Kinde nieder.

Die Alte sah, wie die schlanke Frauenhand, die den breiten Trauring trug, auf dem Wiegenrand bebte, wie die junge Mutter angespannt den Atemzügen des Kleinen lauschte. ›Armes Ding,‹ dachte sie, ›du hast was durchgemacht!‹

Und leise ging sie an das andere Ende des Zimmers.

Rose hatte alles um sich her vergessen. Sie wußte: ihr Kind lebte! Das gab ihrer Seele Flügel, das richtete ihren gebrochenen Mut auf, das verlieh ihr Kraft für die kommende Zeit! Das Bewußtsein: Gott vermag Wunder zu tun! und er tut sie!

Ein selig Erleben zog in ihr Herz. Über ihrem Wege ging ein hoher Schein auf.

Ganz still kniete sie neben ihrem Liebling. Kaum wagte sie, sich zu regen. Ein Kinderschlaf ist so leicht gestört. Mit Entzücken lauschte sie den immer ruhiger werdenden Atemzügen. –

Und dann klang eine Stimme an ihr Ohr: »Benz, ich muß dir's sagen, ich habe keine Hoffnung!«

Wie ein Donnerschlag traf sie's. Die Augen starr auf das weiße Gesichtchen gerichtet, umklammerten ihre Hände den Wiegenrand. Keine Hoffnung? Herr Gott im Himmel, was bedeutete das? War Mutterliebe blind, daß sie die Anzeichen des nahenden Endes nicht verstand? Nein, tausendmal nein! Dies ruhig atmende Kind lag nicht im Sterben! – Es gab nur eine Erklärung: wenige Augenblicke, nachdem Doktor Wenden das Kinderzimmer verlassen, war die Krisis eingetreten. Rose atmete auf. Das Schwerste war ihr erspart geblieben – wahrlich, unverdient!

Die hellen Tränen liefen ihr über die Wangen.

Leise wollte sie sich erheben. Da sah sie, daß die Pflegerin sich dem Salon näherte.

Wieder klang Doktor Wendens Stimme: »Benz, ich mußt' es dir sagen, – aber bei Gott ist kein Ding unmöglich!«

Und wieder folgte das schwere, erdrückende Schweigen.

Mit heißer Sehnsucht wartete die junge Frau auf ein Wort ihres Mannes; zaudernd verhielt die Alte den Schritt.

Sekunden verstrichen. Rose dünkten sie eine Ewigkeit.

Die Matrone legte die Hand auf die Türklinke.

Da rief eine Stimme, heiser vor Erregung: »Wenden, kannst du beten?«

»Ja,« klang die ruhige, klare Stimme des jungen Arztes, »aber du kannst es auch! Du bist kein Determinist, Benz! Du kannst wollen! Du kannst, du mußt zu Gott kommen, du selbst! Er hört jeden, der ihn anruft!«

Wieder ein banger Seufzer. »Auch den, der ihn verworfen hat?«

»Auch den! Das Kreuz ist für alle da!«

Dann war's still. Hüben und drüben.

Die beiden Frauen verharrten in reglosem Warten.

Die welke Rechte der Alten lag still auf der Klinke; über der Wiege des schlafendes Kindes falteten sich die Hände der Jungen. – – Ahnten die zwei, daß da drinnen ein Gebet aufstieg, heiß und wortlos, ein Gebet, das nur Gott versteht!? Vor wenigen Augenblicken hatte eine unten auf dunkler Schwelle gestanden, die hatte solch' Gebet gewagt. Spann es seine goldenen Fäden weiter, von einem zum anderen?

Der hohe Schein auf dem dunklen Wege ward heller und heller – – – –

»Herr Doktor!« klang leise die Stimme der Alten vor der geöffneten Tür.

Wenden trat ein. Sein erster Blick fiel auf Roses Antlitz. Es sagte ihm alles.

Und dann beugte er sich über die Wiege.

Im selben Moment schlug der Kleine die Augen auf und lächelte seine Mutter an.

Doktor Wenden traten die Tränen ins Auge. Schweigend drückte er die Hand der jungen Frau.

Dann winkte er der Pflegerin, das Zimmer zu verlassen und ging in den Salon.

»Das Kind ist gerettet!« sagte er, die Hand auf die Schulter des Freundes legend, mit bebender Stimme. »Um deinetwillen, Benz! Daß du den Gott erkennest, der Gebete erhört!«

Dann ging er.

Der andere faßte sich an die Stirn. Träumte oder wachte er?

Ein Gott, der Gebete erhörte!

Und sein Kind lebte!

War's menschenmöglich?

›Bei Gott ist kein Ding unmöglich!‹ hatte Wenden gesagt.

Bei Gott! – Von nun an wollt' er's halten und bewahren. Denn diese Rettung ging über das Menschenmögliche hinaus.

Er trat in das Kinderzimmer.

Da erhob sich eine dunkle Gestalt von den Knien und trat langsam, gesenkten Hauptes auf ihn zu.

Erschüttert blickte er sie an, eine bange Frage im Auge.

Sie aber sank weinend zu seinen Füßen nieder.

»Rose!« Erschrocken hob er sie auf und zog sie in seine Arme. »Rose, kannst du mir vergeben?« Seine Stimme erstickte.

Sie sah ihn voll an.

Ein Ausdruck lag in ihrem Antlitz, den er nie darin gesehen. Lange hatte er darauf gehofft, gewartet, – nun war er da, lieblicher, zarter noch, als er's gedacht.

Er drückte sie an sich. Unverwandt blickte er in die schönen, bewegten Züge.

Da schlang sie beide Arme um seinen Hals und sagte mit leiser, weicher Stimme: »Ich dir?«

Druck von Lehmann & Bernhard, Hofbuchdrucker,
Schönberg i. Meckl.

 


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