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Am Abend vor dem heiligen Christfeste war's; in diamantenem Feierkleide wartete die Erde der Stunde der Geburt des Hochgelobten. Kein Laut ging durch den stillen Wald; unter der Last ihres weißen Schmuckes neigten die schlanken Tannen die Zweige, Dorn und Gesträuch glitzerten im Frost, und tausend schimmernde Sterne fielen hernieder, so oft ein Windhauch die Äste rührte. Jeden Ton vernahm man in der frostklaren Nacht, und der Wanderer, der oben in schweigender Bergeinsamkeit quer durch den Wald strich, konnte nicht Klage führen, daß ihm der Ruf der Christglocken entgangen. Doch schien er ihrer nicht acht zu haben. Das junge Antlitz unter der Pelzkappe schaute nichts weniger als weihnachtsfroh in die Welt hinaus, ein fester herber Zug lag um den Mund, und eine Falte stand zwischen den Brauen. Ab und an stieß er den eisenbeschlagenen Stab mit einer Wucht in den Schnee, als wollte er seinen Zorn an Wurzelwerk und Gestein auslassen.
Plötzlich hielt er an – ein Ton hatte ihn geschreckt. Lauschend stand er auf seinen Stab gelehnt. Voll und klar tönte das alte Wächterlied in die Christnacht hinaus:
»Bleibet wach, bleibet wach!
Es ist heil'ge Weihenacht.
Die Nacht ohnegleichen,
Die Nacht voller Zeichen –
Es ist Weihenacht!«
Die Züge des Mannes wurden noch um einen Schatten finsterer.
»Die Nacht voller Zeichen,« murmelte er, seinen einsamen Gang fortsetzend, vor sich hin, und im Ton seiner Stimme lag's wie Bitterkeit. »Ob mir ein Zeichen würde in dieser Nacht, ich vermöcht's doch nicht zu glauben, auch dir zuliebe nicht, Annita!« Er stieß den Stab in den Schnee und wanderte weiter.
Vor seiner Seele stand das Bild eines braunäugigen Mägdleins, des Ratmannen Herzers Kind, um dessen Liebe er seit Monden warb. Heute, am Christabend, hatte er vor ihrem Vater gestanden und seine Bitte vorgebracht, und der ehrwürdige Mann schien ihm nicht abhold zu sein. Freundlich gemahnte er ihn zum Sitzen, und der junge Freier vermeinte schon gewonnen Spiel zu haben, als der alte Herr, nachdem er das Übliche geredet, plötzlich noch eine Frage tat – eine Frage, wie sie dem künftigen Schwiegervater nicht anstand, dachte Wolf Heinicke, während ihm das Blut in die Wangen schoß – die Frage nach seinem Christenglauben war's. Ins Beichtkämmerlein gehörte sie – war der Ratmann toll, ihm mit dergleichen zu kommen? Aber Liebe und Klugheit gemahnten ihn, den aufsteigenden Zorn zu meistern.
»Ihr wißt's, daß wir evangelisch sind,« erwiderte er scheinbar ruhig, »seit Luthers Lehre in unserer Stadt gepredigt wird, sitzen die Heinickes unter der evangelischen Kanzel und treten alljährlich in heiligen Zeiten zum Gottestisch nach alter Weise.« Bei allem Bemühen, gelassen zu scheinen, klang's wie Trotz durch diese Worte, und Vollrath Herzer schaute prüfend in das Antlitz des jungen Gesellen.
»Vergebt mir,« sprach er freundlich, »gar eindringlich muß ich Euch erscheinen in meinem Nachforschen, aber es handelt sich um das Lebensglück meines Kindes, und solches hängt insonderheit davon ab, ob der Mann, dessen Ehegemahl sie wird, das Christentum nicht allein als die Form betrachtet, die er seinem sittlichen Leben verleiht, sondern ob es die Kraft und der Inhalt desselben ist – mit einem Wort, ob der Glaube an unsere Erlösung der Kitt ist, der Mann und Weib verbindet, daß eines durch das andere geheiligt und gesegnet werde, und sie also miteinander dem Himmel zuwandern!«
Die großen braunen Augen, denen zwei andere so gar ähnlich waren, schauten ihn durchdringend an, als wollten sie bis auf den Grund seiner Seele lesen.
Wolf Heinicke senkte den Blick. Geradeso hatte ihn einst Annita angeschaut, als sie miteinander in der Christnacht dem alten Wächterliede gelauscht und er lächelnd gesagt, es sei doch ein seltsam Verslein, und er verstünd' es nimmer, daß man der alten Legende solche Wichtigkeit beilege. »Die Nacht voller Zeichen« – das klinge doch mehr nach einem Märlein als nach der Wirklichkeit.
»Gott verleih' es Euch in Gnaden, daß Ihr an die Nacht voller Zeichen glauben lernt!« Totenbleich, mit bebenden Lippen hatte sie's gesprochen und ihn stehen gelassen. Wie im Krampf hatte sich seine Hand geschlossen. Mit zornigem Blick hatte er der holden Gestalt nachgeschaut, aber er liebte sie um so heißer seit jener Stunde.
Und heute, da er alles überwindend vor ihren Vater trat, da begegnete ihm der Ratmann mit der gleichen Mahnung, der gleichen Frage. Liebte Annita ihn nicht? Hatte sie zu dem Vater von jener Christnacht gesprochen? Für solch törichtes Kind konnte er sie nicht halten, seiner Liebe wäre sie unwert gewesen. Aber ein leiser Zweifel fand Eingang in sein Herz; dem Vorgefallenen nachsinnend, stand er da, trotzig an der Lippe nagend. Die Antwort auf diese letzte, eine Darlegung seines innersten Wesens erfordernde Frage kam ihn hart an, denn zu einer Lüge hätte Wolf Heinicke sich nicht erniedrigt.
»Ich glaube an den Schöpfer und Vater aller Menschen, der sich seiner Kreatur annimmt,« sprach er hastig; »jene frommen Sagen, damit unsere Kirche sich schmückt ...«
Er kam nicht zu Ende; die Tür öffnete sich, und eine schlanke Mädchengestalt erschien auf der Schwelle. Das reiche, braune Haar hing in schweren Flechten über das dunkelgrüne, mit edlem Rauchwerk verzierte Gewand der Patriziertochter herab, das, über der Brust tief ausgeschnitten, einen weißen, fein gefältelten Batistlatz sehen ließ. Eine gestickte Tasche und ein Schlüsselbund hingen am Gürtel nieder.
Jäher Schreck malte sich auf Annita Herzers Zügen, als sie, die Schwelle des väterlichen Gemaches überschreitend, Wolf Heinicke erblickte, und scheu und zagend, die Wimpern gesenkt, blieb sie stehen.
Schweigend blickte der Ratmann auf die Tochter, in Kürze erwägend, was das weiseste Tun in diesem Augenblick sein möchte.
»Komm herein, Kind,« sprach er alsdann rasch gefaßt, und als sie den Blick fragend zu dem Vater erhebend eintrat, fuhr er fort: »Annita, Wolf Heinicke hat soeben um deine Hand bei mir geworben! Du kennst ihn von Jugend auf und weißt, was du an ihm hast; du magst ihm selber die Antwort geben!«
Die Jungfrau war abwechselnd bleich und rot geworden, ihr Auge hing an den ernsten Zügen des Ratmannen, als wollte sie die väterliche Meinung in seinem Blicke lesen.
Aber sie las nichts darinnen als den feierlichen Ernst, den diese Stunde mit sich brachte, und zagend schaute sie zu Wolf Heinicke hinüber, der ihr in fiebernder Erregung wartend gegenüberstand. Er sah, wie sie die Lippen bewegte, wie aber die Anrede nicht hervor wollte, und mit einem Seitenblick auf den Ratsherrn faßte er sich ein Herz und brachte aufs neue seine Werbung vor.
Annita hatte zu Boden geschaut, während er sprach; nun hob sie die braunen Augen und sagte leise: »Solange ich denken kann, gehört Euch mein Herz, Wolf Heinicke, und nichts Schöneres gibt's auf Erden für mich, als Euch anzugehören! Aber es ist ein groß und ernst Ding um den heiligen Ehestand, und eines muß in allen Stücken des anderen gewiß sein, bevor es das Jawort spricht!«
Er wollte sie unterbrechen, es fände sich alles zu seiner Zeit, wenn sie nur ihrer Liebe gewiß wären.
Sie aber neigte das schöne Antlitz und sprach: »Es findet sich manches, aber manches findet sich auch nimmer – und ein Weib soll nicht in dem Vertrauen leben, der Mann möchte sich ihr zuliebe zum Glauben kehren. Sagt mir ein Wort,« schloß sie, »und ich bin Euer – glaubt Ihr an den Heiland der Welt?«
Er antwortete ihr nicht. Angstvoll schaute sie zu dem Geliebten empor. Doch als er weiter schwieg, finster zu Boden blickend, da trat sie zu ihm heran und legte die Hand auf seinen Arm.
»Wolf Heinicke,« sprach sie, und die großen Augen standen voller Tränen, während sie zu ihm aufsah, »es naht wieder die Nacht voller Zeichen – ist's so schwer, der Weihnacht Wunder zu glauben?«
Er preßte die Hand vor das Antlitz, als wollten die bittenden Augen ihn zur Lüge verführen.
»Wolf,« flüsterte sie.
Da raffte er sich auf, kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. »Ich vermag's nicht,« stöhnte er. Und als er dann niederblickte in das süße Antlitz, überkam's ihn, er wußte nicht wie, daß er, alles um sich her vergessend, mit erstickter Stimme sprach: »Ich werde Euren Weg nimmer kreuzen, Annita; einsam, wie er ist, wird er bleiben. Aber eines erbitt ich – versagt es nicht dem Gebannten! Laßt mich einmal, dies eine Mal im Leben das Haupt an Eure Brust legen, daß ich das Schlagen eines Menschenherzens fühle, eh' ich hinausgehe in Dunkel und Einsamkeit!«
Er blickte sie an, daß ihr das Herz lauter schlug. Unnennbare Sehnsucht, ihm mit ihrer Liebe das Kleinod des Glaubens zu schenken, trieb sie zu ihm hin; aber sie gedachte daran, wie nutzlos solch Sehnen war, und in dem Bewußtsein dessen, was der höchste Gott von ihr forderte, wich sie zurück.
»Wolf Heinicke, wie dürft Ihr von mir begehren, was ich Euch nicht geben darf? Ihr sündigt nicht allein an der eigenen Seele, Ihr treibt auch mich zur Sünde!« sprach sie mit weißen Lippen. Und dann war er aus dem Gemach gekommen, er wußte nicht, wie. Erst als der Ostwind ihm durch das Wams fuhr und, den Schnee von den Tannen wehend, ihm ins Antlitz trieb, kam ihm das Geschehene zur Besinnung, und ohne Pfad und Ziel stürmte er durch den winterlichen Wald.
In seiner Seele brannten Zorn und Haß – wider Gott, der ihm das Unglück gesandt, wider Annita, das Mägdlein mit dem spröden Sinn und dem stolzen Herzen, das sich seiner Frömmigkeit rühmte, wider den Ratsherrn, dessen ehrliche, sein Bekenntnis fordernde Frage sein Glück vernichtet hatte. Daß er im Grunde mit sich selbst haderte, gestand er sich nicht. Andere hatten seine Leidenschaften entfesselt, seinen Zorn entfacht, er war das Opfer einer harten Vorsehung, das Opfer menschlicher Blindheit und Torheit. An ein Ammenmärlein sollte er glauben? Wahrlich, ein seltsam Ansinnen war's, das man dem zum Manne Erwachsenen stellte, eine Herabwürdigung seiner sittlichen Kraft, welche den Glauben an die Offenbarung von den Lippen eines Kindes von ihm forderte. War's nicht genug, daß er Gott im Himmel Vater hieß? Was sollte ihm ein Erlöser – er war sich keiner sonderlichen Schuld bewußt, gerade und ehrenhaft war er durchs Leben gegangen, und kein Makel haftete an seinem Namen. Es war zum Tollwerden! Das Beste und Liebste, das er begehrt, zerstörten ihm diese Herzers mit ihrem frömmelnden Wesen – dreinschlagen hätt' er mögen und das Gewebe von Sang und Sage vernichten, das ihre Sinne verblendet. Aber bei all diesen Gedanken war ihm nicht wohl ums Herz: es plagte ihn ein seltsames Etwas, das er nicht zu deuten wußte, und finster schritt er weiter durch den Schnee. Das Wort eines schlichten Mannes klang ihm im Herzen: niemand habe das Recht, Gott Vater zu heißen, ohne durch den Glauben an Jesum Christum, ohne die feste Gewißheit seiner Erlösung durch den Sohn Gottes. Dazu gehörte freilich ein Bedürfnis nach Erlösung – doch wohin schweiften seine Gedanken?
Der Mond verbarg sich hinter den Wolken, nur einzelne Sterne blitzten am Himmel. Er stand still – über all dem Hasten und Drängen hatte er gänzlich die Richtung verloren. Seltsame Laute drangen an sein Ohr. Mit verhaltenem Atem lauschte er. »Donnerwetter,« kam's von seinen Lippen, »das sind Wölfe!« Er mußte fern von allen betretenen Pfaden sein, ein Grausen überlief ihn. Näher und näher kam das Heulen, und hüben und drüben klang wilde, blutlechzende Antwort. Er tastete nach dem Dolch, der einzigen Waffe, die er bei sich führte – sie steckte im Gurt, und die Rechte löste sich nicht mehr vom Schaft. Und ringsum tauchten glühende Lichter auf, paarweise funkelten sie unheimlich im Dickicht – die Lust zum Fluchen war ihm vergangen.
Näher und näher kam der Feind, der Mond war hinter den Wolken hervorgekommen. Wolf Heinicke erkannte seine Lage – dem sicheren Tode schaute er ins Antlitz, eine kurze Spanne Zeit noch und er stand vor Gott. – –
Heulend drängten die hungernden Raubtiere heran, ein Sprung und sie saßen ihm an der Kehle.
»Die Nacht ohnegleichen!
Die Nacht voller Zeichen!
Es ist Weihenacht!«
Feierlich klang's herauf, wie aus tiefer Vergangenheit. – –
Ein Schauer wie der Hauch des Todes umwehte ihn – war's nicht zu spät für ihn? Als ein erlöstes Gotteskind hatte er sein Heil von sich gestoßen; würde er heute, da er um Gnade betteln ging, Barmherzigkeit erlangen? Er mußte es wagen, nicht allein um sein Leibesleben, seine lebendige, erlöste Seele stand am Rande der Hölle ...
»Herr Gott, barmherziger Heiland, erbarme dich meiner in dieser heiligen Nacht!« Er stieß es hervor, wie ein Schrei klang sein Gebet zum Himmel.
Der Wind hatte sich in Sturm verwandelt. Ächzend neigte sich der verschneite Wald, gewaltige Schneewehen türmten sich im Dickicht, krachend stürzten die Äste, wie Federkiele geknickt sanken die Tannen seufzend zu Boden.
Und die Augen der Wölfe funkelten dicht neben dem Menschenkinde, das in Todesnöten zu Gott schrie. Schon streifte ihn warmer Atem – ein letzter, verzweifelter Gedanke durchzuckte ihn. Mit einem Sprunge suchte er dem furchtbaren Kreise, der ihn enger und enger umschloß, zu entweichen; aber das kampfeslustige Gefolge heftete sich an die Fersen des flüchtigen Mannes. Schon fühlte er einen sinnbetäubenden Schmerz, und mit übermenschlicher Anstrengung schleuderte er die Wölfin von den Schultern, der Stahl blitzte im Mondlicht, blutige Fetzen, zerrauftes Wolfshaar flogen in den Schnee, und der Sturm trieb sein Spiel damit. Am Ende seiner Kraft sandte Wolf Heinicke einen lauten Hilfeschrei in die Nacht hinaus; aber schon folgten neue Feinde seiner Spur. Schwer hing's an Wehr und Gewand, von einem zum andern blitzte der Dolch, und dem Tode ins Antlitz schauend, befahl er Gott seine Seele.
Plötzlich ging eine neue Bewegung durch die wilde Schar, als drängten fremde Gewalten in ihre Reihen. Leuchtende Helle brach durchs Gezweig, über dem weißen Wiesengrunde schwebte ein strahlendes Kreuz, vom Glorienschein umflossen.
Wie gebannt blickte der wunde Mann auf die lichte Erscheinung.
»Die Nacht voller Zeichen!« – Der Sturm verschlang die Worte, wildes Ringen war rings um ihn her, Heulen und Zähnefletschen, dazwischen machtvoller Streitruf wie von Menschenstimmen. Eine gewaltige Tanne löste, vom Sturm gewirbelt, die Wurzeln von felsiger Wand und stürzte talabwärts. Herabfallend riß sie Wolf Heinicke nieder, ein brechender Ast traf sein bloßes Haupt, und sinnlos sank er in den Schnee. –
Die Morgendämmerung brach an, mattes Licht säumte die Bergspitzen. Die Wölfe lagen tot im Dickicht oder waren verjagt. Wacht haltend schritten treue Hunde um das einsame Waldkloster, die unliebsamen Gäste fernhaltend.
Durch den Schnee aber ging ein stiller Zug. Auf tannendurchflochtener Bahre trugen die Mönche einen todwunden Mann, die Augen geschlossen, das junge Antlitz bleich bis in die Lippen.
Die Klosterkirche, wo sie ihre unterbrochene Feier gehalten, stand noch, wie sie dieselbe verlassen, weit geöffnet, und das heilige Zeichen, das dem Fremdling zum Glauben verholfen, leuchtete hell über der Krippe, wo das himmlische Kind in Windeln, auf Stroh gebettet, lag. Lieblich war der Ausdruck in den kleinen Zügen, eines frommen Meisters Werk. In der Hand aber hielt das Christkind eine blühende Rose; ein Mönch hatte sie in seiner Zelle gezogen und in der heiligen Nacht in die Krippe gelegt.
Als die Klosterbrüder mit dem Wunden am Kirchlein vorüberkamen, läutete die Glocke zur Frühmesse. Da reckte der Mann stöhnend die Glieder und öffnete die Augen. Sorglich hielten sie an, und ein greiser Mönch neigte sich liebreich über ihn. Er aber hatte das Kreuz erschaut, das durch die geöffneten Pforten in den Wintermorgen hinausleuchtete; ein Ausdruck stillen Friedens breitete sich über das bleiche Antlitz, die Lippen regten sich leise.
»Die Nacht voller Zeichen!« flüsterte er. Dann schloß er die Augen wieder, todmüde.
»Es muß eine sonderliche Bewandtnis mit dem Wächterliede für den Mann haben,« dachte Benedictus, der Alte, und gebot, die Bahre emporzuheben. »Gott sei dir gnädig, du junges Leben!« sprach er, fürbaß schreitend.
Unten lagen die Täler im Weihnachtsschnee, durch die klare Luft zogen Glockenklänge herauf. Fröhlich schaute der Greis in die Ferne; seine Augen schweiften über die stillen, verschneiten Berge, als erwarte er einen geliebten Gast zum heiligen Christ.
Sie hatten den Klosterhof durchschritten. Auf den steinernen Stufen wandte Benedictus ein letztes Mal den Blick, und hellauf leuchtete sein Auge: in rosenfarbenem Glanz lagen die Schneeberge, die Weihnachtssonne war aufgegangen.
*
Über das Gebirge waren die Tauwinde gezogen, der Schnee schwand auf den Höhen, und der Waldbach hüpfte über die Felsen wie sonst im Lenz, froh, der harten Fesseln ledig zu sein. Warm und sonnig war's oben im Walde, wo die stille, weltvergessene Cistercienserabtei lag. Veilchenblau schimmerte das Stücklein Erde, das die frommen Brüder in einen Garten gewandelt. Sehnsüchtig blickten die goldbraunen Spitzen der Buchen über die Mauer – ein paar kurze, warme Stunden noch, und alle Knospen sprangen.
Auf der Klosterwiese, wo die Himmelsschlüssel blühten, klangen allerlei Lieder. Drosseljubel stieg empor, und der Bruder Kellermeister, der gedankenverloren am Waldsaum wandelte, schien über den linden Lüften die Weingeisterlein vergessen zu haben und sonnte, einen munteren Fink behaglich belauschend, die Tonsur. Es war hier doch schöner als unten bei dem alten Faß – hätt' er beides vereinen können und an grüner Waldstätte die Weinprobe halten, es wär' ihm ein Stücklein Himmel zur Erde gefallen. Aber das hätte sich nicht mit Klosterzucht und Sitte gereimt – seufzend lenkte der Alte seine Schritte heimwärts, im stillen erwägend, daß es bei allem Ungemach dieses Lebens doch ein begehrlich Los bleibe, der Bruder Kellermeister zu sein. Oftmals hatte er sich um den vollen, goldigen Strauß Himmelsschlüssel gebückt, den er in der Rechten trug; schmunzelnd schaute er darauf nieder und wischte sich den Schweiß von der Stirn, den die ungewohnte Arbeit hervorgetrieben.
»Ach ja, man wird alt!« murmelte er vor sich hin. Doch schien ihn solche Erkenntnis nicht allzusehr niederzudrücken, denn das Lächeln auf dem runden Antlitz mit den klugen, stahlgrauen Äuglein ward immer pfiffiger und schalkhafter. Plötzlich blieb er stehen und legte den Finger an die Nase. »Ob es allemal eine Sünde ist, eine Lüge zu sprechen?« sagte er überlegend – »eine Lüge, die das Beste will und dem Nächsten Liebes erweiset? Kommt mir da der Gedanke, wenn ich unserm kranken Gast die Himmelsschlüssel in die Zelle trag' als einen Gruß seiner Liebsten, sollt' er da nicht in Bälde genesen? Mich will's bedünken, es sei ein besser Heilmittel als Pflaster und Kraut.« Er blickte gedankenvoll auf die Blumen in seiner Hand. »Gar zu gern schaut' ich einmal das liebe Schätzlein, von dem er im Traume geredet; braune Augen hab' ich mein Lebtag gern gehabt und ein rotes Mündlein dazu!« Er wandte sich um – jäh erschrocken blieb er stehen. Vor ihm stand der Prior. Obschon der Greis wegen seiner Milde von den Brüdern hochverehrt und geliebt wurde, so ward's doch dem Bruder Kellermeister bei seinem Anblick schwül zu Sinn und, die Augen niederschlagend, fuhr er mit der Linken über die Tonsur.
»Ja, ja, so geht's, Bruder Heribert,« rief gut gelaunt der Prior. »Wandelt er wie ein verliebtes Bürschlein umher, pflückt Frühlingsblumen zum Strauße und redet von braunen Augen und roten Lippen – ziemt solches dem ehrbaren Bruder Kellermeister eines heiligen Konvents? – – Aber wart' nur, du sollst deinen Willen haben, freilich anders, als du's geplant; denn also mit der Wahrheit zu fahren, wie du's ersonnen und soeben den Waldvöglein vertraut, ist ein Unding! Komm mit mir!«
Da blieb denn dem Bruder Heribert nichts anderes übrig, als dem Vorgesetzten zu folgen. Schweigend und darüber nachsinnend, welche Strafe der hochwürdige Herr ihm auferlegen möchte, wanderte er den schmalen Wiesenpfad hinter ihm drein, ab und an einen ärgerlichen Blick auf die Himmelsschlüssel, die unschuldige Ursach seiner Kümmernis, werfend.
Im Klosterhof war's lind und warm. Dort saß auf dem Bänklein unter der Linde ein bleicher Mann und sonnte die matten Glieder. Die Rechte trug er in der Binde; müde blickten die Augen in die schöne Welt, als vermöchten sie sich des Lenzes nimmer zu freuen. Zu dem Plätzlein, da der Genesende saß, lenkte der Prior seine Schritte. Freundlich grüßte er des Klosters kranken Gast, der fast vier Monde in einer der stillen Zellen todwund darniedergelegen.
Ein helles Leuchten zog über das junge Antlitz beim Anblick des ehrwürdigen Mannes. Der fromme Prior mochte manch bange Stunde drinnen am Lager mit durchkämpft haben, denn ein Zug tiefer Dankbarkeit mischte sich in die Freude, die aus den blauen Augen strahlte. Dann ließ Wolf Heinicke den Blick weiter schweifen: auf der behäbigen Gestalt Bruder Heriberts blieb er haften, der wie ein gescholtenes Kind mit seinem Sträußchen seitab stand.
Der Prior setzte sich neben den Kranken. »Der Bruder Kellermeister,« sagte er, »hat eine Botschaft ins Städtlein zu tragen, in des Ratmannen Herzers Haus. Soll er einen Gruß von Euch mit hinabnehmen? – Längst schon wollt' ich einen der Brüder hinabsenden, aber gefahrvoll waren die Wege nach des Winters Unbill, so daß ich nicht ohne Not den Befehl geben durfte. Heut' ist's ein leichter Abstieg voll Sonnenglanz und Lenzeslust, gern zög' ich selbst zu Tal und brächt' einem braunäugigen Mägdlein frohe Kunde,« setzte er mit schalkhaftem Lächeln hinzu; »aber die Gicht verbietet den alten Gliedern solch kühne Fahrt – so mag Bruder Heribert ziehen, daß sie's endlich erfahren unten im Tal, daß Wolf Heinicke nicht im Kampf mit den Wölfen den Tod fand.«
Mit hochroten Wangen hatte der Genesende seinen Worten gelauscht, nun faßte er des Priors Hand. »Zu den Herzers sendet Ihr ihn, Hochwürden?« fragte er in fiebernder Hast. »Sagt ihr – doch nein – sagt ihr nichts! Sie wird nimmer nach mir fragen!«
»Aber so sie nach Euch fragt?« entgegnete lächelnd der Greis. Er wollte seinem Gaste nicht erzählen, daß Vollrath Herzer schon vor Wochen selbst im Kloster gewesen und nach ihm gefragt – nicht nur nach des Leibes Genesung, insbesondere auch, ob der Schaden, daran seine Seele gekrankt, in der heiligen, wunderbaren Nacht die Heilung gefunden. Der edle Prior, der nicht danach gefragt, ob's ein Martinischer war, den Gott vor seine Schwelle gelegt, sondern dem kranken Manne als ein Christ geholfen und beigestanden in den Nöten des Leibes und der Seele, hatte dem Ratsherrn die Antwort geben können, auf die er gehofft, und fröhlich zog Vollrath Herzer seine Straße. Doch noch schwieg er daheim dem blassen Töchterlein gegenüber, das so tapfer sein Leid und seine Sorge niederkämpfte.
Der Prior aber hatte seine eignen Gedanken dabei, als er Bruder Heribert für seine auf der Klosterwiese ersonnene Lüge zum Liebesboten der schönen Annita erkor, und nochmals befragte er seinen Gast, ob er dem Mönch keinen Auftrag mitzugeben habe. – »So sie dennoch nach mir fragt?« sprach gedankenvoll der bleiche Mann. Es schien, als könnte er nicht daran glauben. Endlich raffte er sich empor. »Er soll ihr sagen,« sprach er mit bebender Stimme, »der Mann, der das Christwunder ein Märchen geheißen, glaube an die Nacht voller Zeichen!«
»An die Nacht voller Zeichen – an das Gotteslamm mit der Siegesfahne,« sprach mild der Prior und legte dem jungen Gesellen die Hand auf die Schulter.
»Ja,« klang warm und froh die Antwort, »an die Wunder unserer Erlösung!«
Er drückte leise die welke Hand, in seinen Augen leuchtete es.
Der Abt erhob sich, freundlich nickte er Wolf Heinicke zu und wandte sich zum Gehen. Seitab unter den knospenden Buchen stand Heribert. Der Prior trat zu ihm. Dem Bruder Kellermeister aber graute vor dem Weg ins Tal und noch mehr vor der Botschaft.
»Heribert,« begann, vor ihm stehen bleibend, der Greis, »gnadenvolle Zeit ist's, und morgen feiern wir die Auferstehung des Herrn. An dem Freudentage der Christenheit will ich eines Fehls nicht gedenken, und die Lüge, die du zu begehen dich anschicktest, sei vergeben! Aber hüte dich, ferner solch Spiel zu treiben! Auch die im Scherz geredete Unwahrheit stellt sich dem Gottesgebot entgegen, und nimmer kannst du die Folgen ermessen; oder wußtest du's, daß der kaum Genesende die Glücksbotschaft ertragen werde?«
»Vergebt mir,« bat kleinlaut der Mönch. »Das Knospen und Blühen, die Frühlingsgewalt, die uns drängt und hebt, ließen mich mein Klosterkleid vergessen!«
»Nicht dein Kleid, nicht deinen irdischen Stand vergaßest du, mein Sohn! Gottes Gebote gelten aller Welt, dem Laien so gut als dem Geistlichen! Dich selbst vergaßest du und was du sein sollst, und fast wär' dir die Lust des Scherzes zur Sünde geworden. Doch es sei vergessen – niemand vernahm deine Gedanken, als dein Herrgott, die Waldvöglein und der greise Prior – und sie alle wissen zu schweigen!«
Ehrerbietig zog Heribert die Hand des Vorgesetzten an die Lippen.
»Mach dich jetzund auf,« fuhr dieser fort, »ich will dir einen Brief an Vollrath Herzer, den Ratmann, mitgeben. Wenn du das Jungfräulein erschaust, so vermelde ihr solches: Der Mann, der das Christwunder ein Märlein geheißen, glaube an die Nacht voller Zeichen. Die Himmelsschlüssel magst du ihr bringen zum Zeichen, daß es oben in den Bergen Frühling ist. Ein Bekenntnis über die Historie des Straußes erlaß ich dir, obschon du's verdienst, solches vor dem Mägdlein abzulegen. Um die Zeit des Abendläutens bist du wieder daheim.«
Er ging dem Reuigen voran, dem Kloster zu, und bald wanderte Heribert, der Kellermeister, leichten Herzens talwärts, rüstig ausschreitend, den Kopf voll froher Gedanken, und einen vollen, duftigen Strauß Himmelsschlüssel in der Rechten.
*
Auf dem erhöhten Fenstersitz ihres Jungfernstübchens saß Annita Herzer und blickte in den Frühlingsabend hinaus. Warm und lind war die Luft, im Garten dufteten die Veilchen, und durch die knospenden Zweige der Kastanien blickten die Sonnenstrahlen und grüßten das Mädchen drinnen unter dem efeuumsponnenen Fensterbogen.
Draußen tönte der Ruf der Mittagsglocke, und zugleich scharten sich oben im Rund des Turmes die Hornisten der Stadt, um nach alter Sitte am Schlusse der Woche ein Lied zu blasen, bestimmt nach den Zeiten und Festen der Kirche. Heute, am stillen Samstag, zog's ernst und mahnend über das blühende Land, das schon im österlichen Schmuck zu prangen schien, und manch leichtsinniges Menschenkind blickte still empor und reumütig nach innen; klang doch des alten Decius Bußlied gar zu ergreifend, wie ein Weckruf aus dem Schlafe der Sünde:
»O Lamm Gottes, unschuldig
Am Stamm des Kreuzes geschlachtet,
Allzeit erfunden geduldig,
Wiewohl du wurdest verachtet!
All Sünd' hast du getragen,
Sonst müßten wir verzagen –
Erbarm' dich unser, o Jesu!«
Das Mädchen drinnen im Erker stand lauschend am Fenster; dann kniete es nieder und neigte das Haupt über die gefalteten Hände: »All Sünd' hast du getragen, sonst müßten wir verzagen. – Erbarm dich unser, o Jesu! – All mein Sorgen und Zweifeln vergib, alle Sünde nimm mir ab! Wie du es fügst, laß mich's hinnehmen, was du versagst, lehr' mich entbehren – nur laß mich dein Gotteskind sein und bleiben.«
Sie hatte sich erhoben. Es lag ein Ausdruck festen, klaren Willens auf dem jungen Antlitz, von Sieg und Überwinden zeugend, von der Stille des Herzens, das Leid und Anfechtung wohl berühren, aber nicht zu Boden werfen. Gleich darauf saß sie am Stickrahmen, ihre ganze Aufmerksamkeit den goldenen Lilien und Rosen zuwendend, die in kunstvollem Gewinde das kostbare Velum zierten.
Da klangen Schritte in der Halle; Vollrath Herzer betrat das Gemach seiner Tochter. »Annita,« sprach er, und seine Stimme klang froh bewegt, »drüben sitzt ein Klosterbruder, aus den Bergen kommt er und hat eine Botschaft für dich!«
Das Mädchen hatte sich erhoben. »Eine Botschaft für mich?« kam's hastig von ihren Lippen. »Sagt mir's, von wem, Väterlein!« flüsterte sie, dunkel erglühend, und legte die Hand auf den Arm des Ratmannen.
Er blickte lächelnd in das liebliche Antlitz, das sie ahnungsvoll zu ihm erhob. »Frag' ihn selber,« erwiderte er, die Hand auf den braunen Scheitel seines Kindes legend und die weiße Stirn küssend – und mit klopfendem Herzen folgte ihm das Mädchen aus dem Gemach.
Drüben aber saß der Bruder Kellermeister mit hochroten Wangen in größter Erwartung. Wolf Heinickes braunäugiges Schätzlein zu sehen war für den Mann, der zwanzig Jahre in der Stille des Klosters geweilt, ein Ereignis, das nicht alle Tage vorkommt, und nun gar dem holden Kinde eine Botschaft zu überbringen – das Herz schlug dem ehrbaren Klosterbruder bei dieser Aussicht, und unruhig blickten die munteren Äuglein zum Eingang.
Da öffnete sich die Tür. Nein – er konnte es dem bleichen Gaste des Klosters nimmer verargen, daß er von dieser Jungfrau geträumt, daß ihr Bild seine Seele erfüllte Tag und Nacht. Wie gebannt hing sein Blick an der Patriziertochter, die, das dunkle Auge fragend auf ihn gerichtet, vor ihm stand.
»Ihr habt eine Botschaft an mich, ehrwürdiger Bruder,« sprach sie freundlich, den Gast zum Sitzen gemahnend, »ich bitte Euch, nennt mir Namen und Auftrag dessen, der Euch sandte.«
»Den letzteren werd' ich entrichten, den Namen zu nennen, ward mir nicht geboten – leichtlich erratet Ihr ihn, Jungfräulein,« sagte er lächelnd. Dann fuhr er, das Antlitz in ernste Falten legend, fort: »Oben in der Cistercienserabtei ward winterslang ein Gast gepflegt, den die Wölfe befallen. Als ein Genesender sitzt er jetzund unter der Klosterlinde und freut sich des Lenzes und wiederkehrender Kraft. Der trug mir auf, so ich Euch in Eures Vaters Hause begegnete, sollt' ich Euch solches vermelden: Der Mann, der das Christwunder ein Märlein geheißen, glaube an die Nacht voller Zeichen!«
Da leuchteten die braunen Augen hellauf, und Bruder Heribert dachte in seinem Sinn, sie seien in ihrer strahlenden Fröhlichkeit noch tausendmal schöner denn zuvor.
Sie aber fragte nicht nach dem Namen des Klostergastes; sinnend blickte sie nieder auf den Strauß Himmelschlüssel, den ihr der Mönch gebracht; und fast schlug sein Gewissen, daß er ihr nicht den Geber genannt. Doch nun vermochte er's nimmer, und in den Anblick des lieblichen Bildes versunken, tröstete er sich damit, er dürfe dem Mägdlein die Freude nicht rauben.
Draußen mahnte ihn die Glocke zum Aufbruch.
»Habt Ihr mir eine Botschaft mitzugeben, Jungfräulein?« fragte er.
Da hob sie das Antlitz und erwiderte, sich hoch aufrichtend: »Saget dem Manne, die Jungfrau, die ihm um seines Unglaubens willen den Verspruch geweigert, bewahre ihm um seines Glaubens willen die Treue!« Sie reichte dem Mönche die Hand. »Gehabt Euch wohl, und so Ihr wiederkehrt, vergeht nicht, meines Vaters Haus zu grüßen.« Damit war sie hinaus.
Bald darauf schritt Bruder Heribert die Gasse entlang. Gedankenvoll sah er vor sich nieder, als bewegten ernste Dinge sein Gemüt. Als er den Waldsaum erreicht hatte, wo der grüne, einsame Anstieg zum Kloster hinanführte, blieb er stehen, tief Atem holend. »Ach ja,« seufzte er, »es ist doch eine schöne Gottesgabe, die echte, treue Minne!« Eine Träne stahl sich in die lustigen Äuglein, als er den Stab in die Erde stieß und rüstig weiter wanderte, seiner efeuumsponnenen Zelle zu, wo die reine Gottesmutter aus dem Eichenschrein niederblickte auf den Mann, der in heißem Kampf mit irdischem Sehnen und Begehr auf den Knien lag.
*
Mond und Jahr waren dahingegangen. Tief verschneit lagen die Lande, und die Glocken der Christnacht sandten ihr jubelndes Geläut weit über die stille Stadt und das mondbeglänzte, schimmernde Gebirge. Markt und Straßen waren hell, überall brannten die Christbäume hinter den Scheiben und warfen ihren Schein auf die Gasse. Nur ein hohes, giebelreiches Haus, von dessen Erkern man auf Markt und Rathaus blickte, ermangelte des weihnachtlichen Schmuckes. Dunkel blickten die Fenster in den Winterabend hinaus, nur durch die Vorhänge des Frauengemachs schimmerte matt das Licht einer Ampel.
Fragend schauten die Vorübergehenden empor; nahm's doch jeden wunder, daß im Hause des jungen Ratmannen Wolfgang Heinicke kein Christbaum brannte. Als einer der Getreusten hielt er sich zu Gottes Wort und Tisch, und sein Haus galt als eine Stätte christlicher Zucht und Sitte.
Doch der Christbaum sollte noch kommen. Noch war ja keine Hand frei, die Kerzen anzuzünden; denn oben in Frau Annitas Gemach war das himmlische Kind selber erschienen und hatte eine wunderliebliche Weihnachtsgabe gebracht. Bleich und still ruhte das junge Weib unter dem hohen, eichenen Betthimmel, und die strahlenden Augen blickten nieder auf das kleine blonde Köpfchen, das an ihrer Seite lag. Wie ein Traum zog die vergangene Zeit an ihrer Seele vorüber, von dem Tage an, da sie dem Manne, der in den Schrecken der Winternacht das Heil seiner Seele gefunden, die Treue gelobt, bis heute, da Gott ihr in heiliger Mitternachtsstunde ihr erstes Kind in die Arme gelegt, und die Hände über dem Schatz faltend, den sie empfangen, neigte sie sich demütig unter der Segensflut.
Da öffnete sich die Tür. Heller Lichterglanz strömte herein, näher und näher kam's, und zu Füßen des Lagers hob eine schlanke, grüne Tanne die Zweige und breitete sie über die Wiege. Fröhlich blickte die junge Mutter in die strahlende Helle. Da neigte sich der Mann, der die Weihnachtstanne hereingetragen, über Weib und Kind und sagte, ihre Stirn küssend: »Annita, gedenkst du der Nacht voller Zeichen?«
Hellauf leuchteten die braunen Augen, wie einst, da der Mönch aus dem Cistercienserkloster vor dem Mägdlein gestanden mit großer, seliger Botschaft. »Ja, ich gedenke daran,« erwiderte sie; »ist's nicht, als wollt' uns der Hochgelobte zwiefach segnen in dieser heiligen Nacht?«
»Segnen und mahnen,« sprach er ernst, »daß wir Kindern und Kindeskindern den Schatz des Glaubens bewahren!« Er drückte die schmale Hand, die den Ehering trug, und strich leise über das Köpfchen seines Kindes.
Da tönte vom Turm die Mitternachtsstunde, er horchte auf. Feierlich zogen die alten, ehrwürdigen Klänge des Wächterliedes über die schlafende Stadt:
»Bleibet wach, bleibet wach!
Es ist die heil'ge Weihenacht!
Die Nacht ohnegleichen,
Die Nacht voller Zeichen –
Es ist Weihenacht!«