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Es blieb mir nur der Stolz und die Treu
Und ein Rückblick, klar, ohne Scham und Reu!
Viel Sonnenschein hab ich nicht geschaut –
Mein Haus war nicht auf dem Berge erbaut!
Aber des Lebens Jammer und Schmerz,
Lasten und Sorgen und Kreuz und Not –
Die kennet mein Herz!
In dem hellen, geräumigen Wohngemach eines alten vornehmen Patrizierhauses zu Brüssel saß ein Mann in französischer Kavaliertracht am Schreibtisch. Die Feder lag unberührt; regungslos, mit erloschenem Blick sah er ins Leere, tiefe, bittere Trauer lag über seinem ganzen Wesen, eine Müdigkeit, als sähe er eine große, gewaltige Lebensaufgabe, daran er gearbeitet mit aller Kraft des Leibes und Geistes, zerstört, in Stücke gebrochen für immer.
Es war Graf Axel Fersen. Er war alt geworden; ob auch den Jahren nach ein Mann in des Lebens Blüte, lag doch ein Ernst in seinem Charakter, der ihn im Verein mit einer an Schwermut grenzenden Melancholie viel älter erscheinen ließ, als er war. Graf Fersen hatte von Jugend an das Leben ernst aufgefaßt. Seine Erziehung, seine Kindheit im Hause frommer Eltern hatten diesen Sinn verstärkt, und das Leben selbst hatte ihn gelehrt, wie richtig er es angesehen. Seine Liebe zu der schönen, königlichen Frau war vom ersten Tage an eine schwere Entsagung gewesen, die dem Jüngling die Jugend, dem Manne sein Erdenglück raubte; die Treue aber, die er ihr bewahrte, die tiefe, wunschlose Verehrung für Marie Theresias Tochter – sie trug ein düsteres Sterbekleid, es war, als sollte der stolze Kavalier, der das Auge zu der Frau im Diadem erhoben, nicht ungestraft fürstlicher Minne huldigen. Es war eine harte, schwere Zeit, da er ihr Botschafter war, ihr Vermittler an fremden Höfen, der Treuste unter der geringen Schar der Treuen, die dem sinkenden Thron Leben und Ehre weihten – eine lange, bange Zeit des Hoffens und Verzagens mit ihrem täglichen Auf- und Niedergehen der Gefahr, mit ihrer brennenden Ungewißheit, ihren nagenden Sorgen. Ein hartes, saures Leben war's, ein Leben, das den einsamen Mann früh alterte und weiße Fäden durch das Haar des noch nicht Vierzigjährigen zog.
Und dann war der Tag gekommen, auf den er gewartet mit fiebernder Angst, mit jenem verzweifelten Mut, der bis zum letzten Augenblick die furchtbare Botschaft von sich weist: »sie kommt nicht, heute noch nicht!« – Aber sie war doch gekommen. Seit einer Stunde war sie in seinen Händen, und nun brannte der Schmerz in seinem Herzen wie ein Feuer, das alles verzehren will. Es war ihm, als wär er's nicht selbst, der still und tatenlos in dem hellen Gemach saß, das seine unermüdliche Arbeit gesehen, seinen nie versagenden Fleiß. Er hatte gearbeitet und gearbeitet, und die Liebe hatte ihm über die Schulter geblickt, die Hoffnung hatte ihn angespornt, und wenn die beiden verzagen wollten, trat die Treue herein und gemahnte: halt aus, noch eine kurze Frist! Bald bist du am Ziel! – Ja, sie hatte recht gehabt, seiner Arbeit ward ein Ziel gesetzt, sein Können hatte ein Ende – was er im geheimen gefürchtet, immer wieder gefürchtet, stand vor ihm schwarz auf weiß: der herzzerreißende Schlußakkord in einem reichen, blühenden Leben, jener erschütternde letzte Gang der Königin zum Schafott.
Graf Fersen wußte, daß dieser Gang nicht das Schwerste für die Frühvollendete gewesen, daß der übermenschlich schwere Kampf, den sie seelisch durchkämpft, tausendmal härter für sie war, als das schmachvolle Ende. Er kannte Marie Antoinette und wußte es, daß ihr stolzer Sinn am schwersten unter den tausendfachen Beleidigungen und schamlosen Anklagen gelitten. Und als sie dann endlich gelernt hatte, das Kreuz ihres Lebens zu tragen und geläutert aus dieser Prüfung hervorging, da war es noch nicht genug des Jammers gewesen, der bitterste Kelch, den sie bis zur Neige leeren sollte, war ihr bis zuletzt geblieben: das systematisch geplante Martyrium ihres liebsten Kindes.
Dies alles zog an der Seele des Mannes vorüber, der alles darangesetzt, Marie Antoinette zu retten. Wie war dies Leben dahingerauscht mit seinem Glanz und seiner Not! Müde blickte er hinauf, über die herbstlichen Bäume; das helle, goldene Licht des Oktobertages, der klare Himmel, der in fast südlicher Bläue strahlte, paßte nicht zu seinem Schmerz; er stützte den Kopf in die Hand und starrte zu Boden.
Es war ihm nicht zu helfen, wenigstens jetzt nicht, noch lange, lange nicht, kaum wußte er, was er noch sollte auf Erden. Es war eine Einsamkeit und Leere bei ihm eingekehrt, eine Leere und Öde, wie er sie nie gekannt. Alles, daran sein Herz gehangen, war ihm genommen, nicht nur jene schöne, unglückliche Frau, seine erste und letzte Liebe, auch das Bewußtsein, das ihm allen Gram um die Gefangene erleichtert hatte, der Gedanke: dein Leben ist ihrer Rettung geweiht, du lebst und arbeitest für sie! Das alles war nun vorüber, mit einem Schlage vernichtet, er war allein mit seinem Schmerz zurückgeblieben.
Und die Schatten des Todes, das blutige Geschick seiner Liebe umspannen den einsamen Mann mit ihren düsteren Schleiern. Er hatte längst zum Tiefsinn geneigt – der Schmerz seines Lebens scheuchte den letzten Rest von Frohsinn und Sonnenschein aus seinem Herzen. Wohl hielt ihn seine tiefe Frömmigkeit aufrecht, aber sie konnte die physische Not, jene unheilbare Schwermut, die nach dem Tode der Königin über ihn hereinbrach, nicht aufhalten, wenn sie auch zeitweise das Dunkel erhellte. Graf Fersen wurde das Opfer der Liebe und Treue, die sich selbst verzehrt, die Wunde seines Herzens wurde auf Erden nicht geheilt.
Stunde um Stunde hatte er an seinem gewohnten Platze gesessen, in seinen Schmerz vertieft. Schon mehrere Male hatte der treue François hereingeblickt, aber er wagte es nicht, seinen Herrn, der ganz die gewohnte Frühstücksstunde vergessen zu haben schien, aus seinen Gedanken aufzustören. Endlich jedoch bot sich ihm eine willkommene Gelegenheit, Gérard Sérévan kam die Stufen des Fersenschen Quartiers herauf und fragte nach seinem Freunde.
Da öffnete sich auch schon die Tür des stillen Gemaches, wo die beiden Kavaliere täglich beisammengesessen und an dem Rettungsplan für die unglückliche Königin gearbeitet hatten.
Erschrocken blickte Sérévan in das Antlitz des Grafen; es schien ihm um Jahre gealtert zu sein. Mit stummer Frage hing sein Auge an den schmalen Lippen, um die der Gram seine tiefen Linien gegraben; gebeugt, müde, gebrochen stand er vor ihm, der stets zu den Schönsten und Stattlichsten unter den Edelleuten gezählt.
Die Tür hatte sich hinter ihnen geschlossen.
»Fersen,« sagte Sérévan endlich, das peinvolle Schweigen brechend, »was ist geschehen?«
Da ging ein Schmerzensausdruck über das Antlitz des Grafen, der ihn alles verstehen ließ.
»Es ist vorüber!« sagte er, zum Schreibtisch weisend, mit fremder, klangloser Stimme. Dann nahm er den Freund bei der Hand und reichte ihm die kurze Notiz, welche er vor wenigen Stunden empfangen.
Die hellen Tränen rannen über das klare, mannhafte Antlitz des ehemaligen Gardedukorps. Schweigend drückte er Fersen die Hand, es wollte ihm kein Wort über die Lippen. Er wußte es, der Mann, der ihm gegenüberstand, bewahrte der königlichen Märtyrerin nicht nur das treue Andenken, das er selbst mit einer Schar edler Royalisten ihr bewahrte; in seiner Seele brannte ein größerer Schmerz, ein Schmerz, den kein Menschenwort lindert und stillt. Gerard kannte ihn, jenen Schmerz, der nicht gestört sein will, der nicht erträgt, daß man ihn berührt – er dachte an eine mondhelle Sommernacht im Faubourg St. Germain zurück, wo er, aus tiefen Wunden blutend, in einem dunklen, zerstörten Gemach gesessen, die Leiche seines Weibes im Arm. Er wußte, in solchen Stunden tut dem Menschen das Alleinsein wohl – das Alleinsein mit Gott.
»Fersen,« sagte er, »ich komme heute abend wieder; sollten Sie mich früher brauchen, so wissen Sie es ja, daß ich jederzeit zur Verfügung stehe! Adieu, mon ami!«
Der andere nickte ihm mit schwermütigem Lächeln zu und drückte seine Hand.
»Ich danke Ihnen, Sérévan,« sagte er und geleitete ihn zur Tür. – – –
»So wird es bleiben,« dachte der Marquis, während er seiner nahen Wohnung zuschritt, »wen das Leben zerbrochen hat, der wird nicht wieder jung,« und seine Gedanken eilten zurück zu dem stolzen Kavalier, den der Schmerz in der Blüte der Jahre zum alten Manne gemacht. Graf Fersen wurde nach dem Tode der Königin unheilbar schwermütig. Der Schwedenkönig Gustav der Vierte überhäufte ihn mit Ehren, er wurde Seraphinenritter, Kanzler der Akademie zu Upsala und schwedischer Reichsmarschall, aber als Mensch ist er einsam geblieben. Am 20. Juni 1810 fand sein Leben ein gleich trauriges Ende, wie das der schönen Königin, deren Kavalier er gewesen. Bei Gelegenheit der Beisetzung der Leiche des Kronprinzen Christian August in Stockholm wurde er von einem erregten Volkshaufen ermordet. Der Jakobinerhaß war dem Aristokraten und hochherzigen Royalisten in die nordische Heimat gefolgt und forderte sein Blut für die Treue, die er dem unglücklichen französischen Herrscherpaar bewahrt. Als er unter den Stockschlägen und Dolchstichen seiner Feinde niedersank, faltete er die Hände und rief: »Mein Gott, der du mich zu dir rufst, ich bete für meine Feinde, denen ich vergebe!« Sein weißes Haupt neigte sich im Tode, er stieß einen letzten Seufzer aus und verschied. Die Geschichte vergleicht sein Versöhnungsgebet mit den Worten des heiligen Stephanus, des ersten Märtyrers, der im Tode seinen Mördern vergab.